Venezuela und die zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Jonathan Frühling, Infomail 1239, 17. Dezember 2023

Geschichte Venezuelas von 1998 – 2013

1998 wurde Hugo Chaves zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Dies war der Startpunkt einer Linksentwicklung auf dem südamerikanischen Kontinent. Diese Art des Linkspopulismus wurden nach Chaves als Bolivarismus bezeichnet (in Anlehnung an den antikolonialen General Símon Bolívar, der als wichtigste Person des antispanischen Befreiungskampfes im Norden des Kontinents gilt). Die politische Grundlage dieser Regierungssysteme war die Verstaatlichung einige Schlüsselindustrien. In Venezuela ist dabei vor allem Ölindustrie zu nennen. Von den so generierten Staateseinnahmen wurden vielfältige soziale Programme finanziert. Es gab zur Zeit Chaves genügend Wohnraum, günstige Bildung und gute Krankenversorgung. Außerdem wurden Arbeitsrechte verbessert und solid Renten- und Sozialsysteme eingeführt. Dadurch gewann Chaves ein großes Ansehen bei der Linken weltweit, besonders aber bei der verarmten Bevölkerung Venezuelas.

Allerdings ist dies keineswegs ein “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”, was von Chaves und ähnlichen Regierungen in Bolivien, Ecuador oder Argentinien immer behauptet wurde. Tatsächlich handelte es sich um einen Klassenkompromiss. Trotz Verstaatlichung eines Teils der Industrie blieb das Privateigentum an Produktionsmitteln überall voll intakt. Ausbeutung von Arbeitskraft und damit eine Generierung von Mehrwert blieben Grundlage der Wirtschaft. Deshalb billigte die Bourgeoisie diese Regime. Außerdem schafften die sozialen Reformen politische Stabilität, die auch für die Bourgeoisie von Vorteil war. Streiks, die über den beschränkten Reformismus hinausgingen und die Klassenzusammenarbeit gefährdeten, wurde auch in Venezuela unter Chaves brutal niedergeschlagen. Zudem entwickelte sich ein durch und durch korrupter Staatsapparat, der letztlich der Bourgeoisie und vor allem sich selbst dient.

Ab 2013: Das Scheitern des Bolivarismus

Wie wir bereits Ende der 90er Jahre vorausgesagt haben, musste der Bolivarismus scheitern, da die Interessen der Bourgeoisie und der Lohnabhängigen absolut gegensätzlich sind und deshalb nicht ewig befriedet werden können. Der Zeitpunkt war gekommen, als 2013 die Ölpreise einbrachen. Die Sozialprogramme mussten dann zurechtgestutzt werden. So verlor die Regierung einen guten Teil der unterdrückten Klassen als Unterstützer:innen. Linke Proteste wurden von der Regierung brutal unterdrückt, das Land entwickelte sich ab 2013 unter dem neue Präsidenten Maduro vollständig zu einer Diktatur. Das beides entfremdete noch mehr Menschen von der Regierung. Auch die Profite der Bourgeoisie wurden mit der Wirtschaftskrise schmaler. Sie hatte damit genug vom Klassenkompromiss und wollte von diesem Zeitpunkt an eine durch und durch bürgerliche Regierung. Auch die USA sah nun die Möglichkeit gekommen, einen Regimechange herbeizuführen. Sie verhängte schon unter Obama ab 2015 immer mehr Sanktionen, die letztlich das Ziel hatten, das Land völlig in den Ruin zu treiben und so die Regierung zu destabilisieren. Damit waren Obama und später Trump leider erfolgreich. Heute existiert quasi eine völlige Blockade gegen Venezuela und jedes Land, welches mit Venezuela handelt, wird selbst sanktioniert. (Gerade am 20.10.2023 wurden die Sanktionen gelockert, da der Präsident Maduro Wahlen für 2024 angekündigt hat). Außerdem gibt es allerhand Sabotage von Seiten der herrschenden Klasse innerhalb des Landes.

Dass sich das Regime halten kann, liegt vor allem daran, dass die Armee die Regierung unterstützt und die führenden Generäle Angst haben, ihre Machtstellung unter einer USA-treuen und neoliberalen Regierung zu verlieren. Außerdem gibt es noch Teile der unterdrückten Klassen, die dem Regime die Treue halten, weil sie wissen, dass sie vom Neoliberalismus noch weniger zu erwarten haben. Außerdem gibt es auch regierungstreue Milizen, die neben der Armee existieren, und die einen Putsch schwieriger machen würden, als z.B. in Bolivien.

Wirtschaftliche und soziale Krise in Venezuela 2023

Venezuela ist heute durch die US-Blockade und den Widerstand der Bourgeoisie innerhalb des Landes heute faktisch ein failed state. Das Land ist einer der ärmsten der Welt. Das BIP liegt kaufkraftbereinigt bei 200 Mrd. US-Dollar. Das durchschnittliche pro Kopf Einkommen mit rund $ 3400 (2022) ist das 159. niedrigste der gesamten Welt. Die Wirtschaft ist seit 2013 um ein Drittel geschrumpft. Die Inflation ist von 2013 bis 2017 von 40 % auf 428 % gewachsen. Seit 2017 die US-Sanktionen greifen, ist sie auf unvorstellbare 65.000 % gestiegen, um dann bis 2022 auf 200 % zu sinken (Prognose für 2023: 400 %)  (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/).

Das Geld ist so wertlos geworden, dass es in Kolumbien an Touris verkauft wird und daraus zum Teil Handtaschen hergestellt werden. Es gab auch immer mal wieder Währungsreformen, die vorsahen einige Nullen zu streichen. An der realen Situation hat das natürlich nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit ist auch explodiert. 2018 erreichte sie einen Wert von über 35 % (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/). Viele Menschen haben deshalb ihre Lebensgrundlage verloren und sind hungernd auf der Straße gelandet; das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. In dem Zuge der Krise ist auch die Gangkriminalität explodiert. Venezuela ist heute das gefährlichste Land Südamerikas. Selbst für die, die überleben können oder konnten, bot und bietet das Land keine Zukunft mehr.

Zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Aufgrund dieser grausamen Lage habe bis 2023 über 7 Millionen Menschen das Land verlassen. Dies ist nach Syrien die größte Flüchtlingsbewegung, die es momentan auf der Welt gibt. Rund 6 Millionen haben in Südamerika und der Karibik Zuflucht gesucht, alleine 2,5 Millionen in Kolumbien. (Quelle: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/venezuela)

Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat zum Teil Trinkwasser und Hilfspakete entlang der Flüchtlingsrouten zur Verfügung gestellt und geholfen die Menschen als Geflüchtete zu registrieren. Allerdings sind die Programme völlig unterfinanziert. Programme zur Ernährung, Bildung oder dem Schutz von Kindern mussten nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden. Eigentlich bräuchte es nur 61 Millionen US-Dollar pro Jahr für die Finanzierung der Programme (ungefähr 3/4 des Geldes, was Deutschland für eine F-35 Kampfjet ausgibt oder 1/1640 des 100 Mrd. Sondervermögens der Bundeswehr). Aber 2023 waren nur 12 Prozent davon finanziert, also schlappe 7,3 Millionen (ungefähr 2 Leopard 2 Kampfpanzer) (Quelle: ebd.). Die Menschen werden als faktisch völlig im Stich gelassen.

Situation der Geflüchteten in Südamerika

Wie überall, wo Menschen zu Fuß flüchten, sind sie dabei von massiven Gefahren durch Wetter, Tiere und im besonderen Menschen bedroht. Hunger, Krankheiten und (sexuelle) Ausbeutung gehören für diese Menschen zum Alltag. Die Situation der Geflüchteten ist auch in ihren Zielländern in Südamerika katastrophal. Durch Corona sind diese Länder sowieso schon wirtschaftlich zerrüttet. Die Mittelklassen sind erodiert, Armut und Kriminalität grassieren wie nie zuvor. Formelle Arbeit zu finden ist als illegale Geflüchtete natürlich unmöglich, zumal der informelle Sektor in Ländern wie Kolumbien oder Peru 80% der Arbeitskräfte umfasst! Die Länder basieren also faktisch fast ausschließlich auf einer Schattenwirtschaft, in der es keine Arbeitsrechte gibt. Zudem gibt es sehr viel Diskriminisierung und Entrechtung, was dazu führt, dass Venezulaner:innen entweder gar nicht oder zu schlechteren Löhnen eingestellt werden. So lassen sich die einheimischen Lohnabhängigen gegen die Geflüchteten ausspielen. Viele landen völlig mittellos auf der Straße und geraten so in die Fänge der Mafia, die sie für ihre Zwecke missbraucht. Frauen bleibt oftmals keine andere Möglichkeit als sich für Hungerlöhne kontrolliert von der Mafia zu prostituieren. Männer werden dazu eingesetzt Schutzgeld einzutreiben oder Kriege gegen andere Gangs zu führen. In Kolumbien sind sie auch den sozialen Säuberungen der Gangs und reaktionären Bewohner:innen ausgesetzt, die wahllos Geflüchtete, Prostituierte und Drogenabhängige ermorden.

In Peru müssen sie als Sündenbock herhalten. Ähnlich wie in Ecuador rutscht das Land momentan in Chaos ab. Raubüberfälle, Morde und Schutzgelderpressung breiten sich rasendschnell im Land aus. Grund dafür sind die Verarmung des Landes durch Corona und durch die korrupten und neoliberalen Regierungen, die sich nur in die eigene Tasche wirtschaften und dem Kapital wortwörtlich den Weg freischießen, statt ernsthaft eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung in dem Land anzustoßen. Durch die Regierung, das Parlament und die große bürgerlichen Medien wird jedoch das Narrativ verbreitet, dass die Schuld alleine bei den Geflüchteten aus Venezuela liegt, die per se kriminell sein. Ähnlich wie wir das aus Deutschland mit der Hetze gegen Geflüchtete kennen, werden hier alle tatsächlichen Verbrechen von Venezulaner:innen aufgebauscht und dadurch ein Zerrbild erzeugt. Das mittellose Geflüchtete zum Teil tatsächlich in die Kriminalität abgedrängt werden, ist natürlich durch die Diskriminierung und die Verweigerung der Integration zu erklären. Die Schuld muss hier also ganz klar bei der Regierung gesucht werden. Die Idee, dass die Geflüchteten das Land ins Chaos stürzen, ist allerdings zu wirksam, um von den eigenen Verbrechen abzulenken und das Land unter einer reaktionären Idee zu einen, als das die Regierung mit dieser Politik brechen würde.

Kampf dem Imperialismus und Kapitalismus!

Die Geflüchtetenkrise Venezuelas zeigt deutlich, wie der US-Imperalismus, der gescheiterte Populismus und Nationalismus bzw. Chauvinismus den Kontinent in den Ruin treiben. Als Revolutionär:innen müssen wir deshalb gegen alle diese Übel gleichzeitig vorgehen. Wir müssen für ein sofortiges Ende der Blockade Venezuelas eintreten, die die Basis dieser Krise ist. Obwohl wir die Politik von Maduro ablehnen, sollten wir die Regierung trotzdem gegen die von der USA unterstützen Putschversuche verteidigen. Der Kampf für bürgerliche Rechte, wie freie Wahlen, mehr gewerkschaftliche Rechte oder Pressefreiheit, verdient natürlich vollste Unterstützung. Allerdings brauchen wir einen Umstürz von links, der mit dem korrupten Regime Maduros Schluss macht und es durch wahren Sozialismus unter einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung ersetzt und das Land nicht an die herrschende Klasse und die USA ausliefert.

In den anderen Ländern Südamerikas müssen wir gegen die chauvinistische Spaltung der Lohnabhängigen kämpfen. Wir müssen uns gemeinsam gegen die Bosse organisieren und dürfen uns nicht gegen unsere Klassengeschwister aus Venezuela ausspielen lassen. Unsere Feind:innen sind letztlich die gleichen. Die Grundlage dieser Politik muss natürlich die gewerkschaftliche Organisierung aller Lohnabhängigen in den gleichen Organisationen sein. Die Grenzen müssen offen sein und es muss jeder Person in allen Ländern die gleichen Rechte zugestanden werden. Nur das kann uns dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und für ein Leben in Freiheit näherbringen.




Der Westen und Venezuela: „Demokratische“ Heuchelei

Susanne Kühn, Neue Internationale 235, Februar 2019

Bundesregierung und EU schlossen sich rasch der
Unterstützung der pro-imperialistischen, rechten Opposition in Venezuela an.
Die USA und ihre engsten Verbündeten erkannten den selbsternannten
„Interimspräsidenten“ Guaidó innerhalb kürzester Zeit an und machten deutlich,
dass sie sich mit nichts weniger als dem Sturz von Maduro und seinem Regime
zufriedengeben wollen. In Washington und bei der „demokratischen“ Opposition
wird offen ein militärisches Eingreifen erwogen.

Das Kabinett Merkel und die EU schlugen – wie so oft – einen
scheinbar mehr vermittelnden Weg ein. Maduro wurde ursprünglich eine „Frist“
von einer Woche eingeräumt. Sollte er bis dahin unter dem Druck von Diplomatie,
Sanktionen und kriegerischen Drohungen keine „freien Wahlen“ ausgerufen haben,
so würden auch sie den „Demokraten“ Guaidó anerkennen.

Der Unterschied zwischen den beiden Mächten besteht in den
Mitteln. Während die einen auf die sofortige Kapitulation und den Rücktritt
Maduros setzen, schlagen die anderen „schrittweise“ durch Neuwahlen vor. Nachdem
sich Venezuela weigerte, der Erpressung durch die EU folge zu leisten, erkannte
sie auch Guaidó an.

Beide imperialistische Mächte eint schließlich das Ziel:
Aufräumen mit den „Roten“, mag sich ihr „Sozialismus“, ihre Wirtschaftspolitik,
ihr Regime auch noch so weit von einer realen sozialen Umwälzung entfernt
haben. Die USA erhoffen sich von einer Zuspitzung und direkten Konfrontation,
ihre traditionelle Dominanz wiederherzustellen zu können. Deutschland und die
EU setzen auf „Verhandlungen“, um so bei der Neuaufteilung des Landes auch ein
bisschen mitzureden.

Die Sorgen um „Demokratie“, „Menschenrechte“ und die
Zivilbevölkerung sind nicht nur vorgeschoben, sie sind auch unglaubwürdig wie
selten: kaum ein/e rechte/r, populistische/r PolitikerIn aus der „westlichen
Wertegemeinschaft“, der/die Guaidó nicht als Vertreter seiner/ihrer
„Demokratie“ auszumachen weiß. Die SachwalterInnen der „Demokratie“ – ob nun
rechts-populistisch, liberal, grün oder sozialdemokratisch – verschließen ihre
Augen vor der Gefolgschaft eines Guaidó, vor seinen Zielen, vor den
Klasseninteressen, die er vertritt. Sie verkommen zu mehr oder weniger enthusiastischen
Gefolgsleuten von Trump, Pence und Pompeo, zu nützlichen IdiotInnen des
US-Imperialismus oder zynischen Gefolgsleuten der schwächelnden EU.

Wie rasch sich die Lage weiter zuspitzt, ob es den
westlichen Mächten gelingt, bedeutende Teile des Militärs auf ihre Seite zu
ziehen, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen. Die Linke, die
Gewerkschaften, alle ArbeiterInnenorganisationen müssen sich in dieser
entscheidenden Phase ohne Zögern gegen jede imperialistische Einmischung und
Intervention, ob durch Diplomatie, Sanktionen oder Waffengewalt, stellen. Sie
dürfen zugleich dem Regime Maduro keinen politischen Blankoscheck ausstellen
oder Kritik an seiner Politik verheimlichen. Aber ein Sieg der Rechten und der
imperialistischen Mächte würde für die ArbeiterInnenklasse und die Masse der
Bevölkerung eine Niederlage mit enorm reaktionären Auswirkungen auf ganz
Lateinamerika bedeuten. Daher: Nein zur „demokratischen“ Heuchelei! Hände weg
von Venezuela!




Venezuela: Nein zu dem von den USA geförderten Putschversuch!

Liga für die Fünfte Internationale, 25.1.2019, Infomail 1039, 26. Januar 2019

Der Machtkampf hat in Venezuela eine neue Phase erreicht. Es
wird wahrscheinlich ein entscheidender Punkt sein. Am Mittwoch, dem 23. Januar,
rief sich Juan Guaidó, bisher Vorsitzender des rechts dominierten Parlaments,
bei einer Massenkundgebung der Oppositionskräfte zum Interimspräsidenten des
Landes aus. Donald Trump und die US-Regierung erklärten innerhalb weniger
Minuten ihre Unterstützung für diesen selbsternannten Präsidenten und erkannten
ihn als den einzigen legitimen Vertreter des Landes an.

„Ich werde weiterhin das volle Gewicht der wirtschaftlichen
und diplomatischen Macht der Vereinigten Staaten nutzen, um auf die
Wiederherstellung der Demokratie in Venezuela zu drängen“, verlas der
US-Präsident aus einer vorbereiteten Erklärung.

Dies war natürlich nicht nur eine Bestätigung des Kampfes
der rechten Opposition, Präsident Nicolás Maduro zu stürzen und die politische
Macht zu übernehmen, sondern auch ein Aufruf an die venezolanischen
Streitkräfte, sich gegen das bolivarische Regime zu erheben und durch einen
Putsch die „Demokratie wiederherzustellen“.

Kein Wunder, dass so illustre DemokratInnen wie der
halbfaschistische brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, der neoliberale
argentinische Präsident Mauricio Macri oder der rechtskonservative
kolumbianische Präsident Iván Duque in diesen Chor einfielen. Imperialistische
Demokratien wie Kanada, der Präsident des Europäischen Rates der EU, Donald
Tusk, und seine Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica
Mogherini, folgten schnell der Führung durch die USA. Obwohl es ihnen nicht
gelungen ist, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu erpressen,
diesem Beispiel zu folgen, haben sie 12 lateinamerikanische Staaten dafür
gewonnen, eine Erklärung abzugeben, dass sie Maduro nicht als Präsidenten
Venezuelas anerkennen.

Einige Länder, Kuba, China, die Türkei, Russland und
Nicaragua, haben die Machtgelüste der Rechten abgelehnt, aber China, Russland
und die Türkei haben dies eindeutig für ihre eigenen politischen,
wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen getan. Ausgerechnet von ihnen
kommt die Ablehnung der „Einmischung in andere Länder“ wie eine heuchlerische
und zynische Farce daher.

Kein Wunder, dass diese selbsternannten VerteidigerInnen der
nationalen Souveränität wenig Resonanz unter den Massen der Welt finden werden.
Noch wichtiger ist, dass sie nichts tun werden, um den venezolanischen Massen,
den ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen des Landes zu helfen, ihre
Errungenschaften aus dem ersten Jahrzehnt der „Bolivarischen Revolution“ zu
verteidigen.

Nicht minder absurd sind Versuche von Ländern wie Mexiko und
Spanien, als Vermittler zwischen der Regierung Maduro, der Opposition und deren
imperialistischen UnterstützerInnen zu fungieren. Nur IdiotInnen können
glauben, dass die venezolanische Opposition, die einen umfassenden Kampf um die
Absetzung Maduros und die Errichtung eines Pro-US-Regimes eröffnet hat,
geschweige denn Trump selbst, den Putsch in seinen entscheidenden Tagen zu
stoppen aufrufen würden. Nur wenn sie ihr Ziel verfehlen, könnten sie
versuchen, solche VermittlerInnen einzusetzen, um eine „Übergangszeit“
einzuleiten, aber nur, um am Verhandlungstisch zu gewinnen, was sie auf der
Straße nicht erzwingen konnten.

Die entscheidende Frage für die Opposition ist im Moment
nicht „Demokratie“, sondern ob sie die Loyalität der Armee zum Regime brechen
kann. Verliert Maduro die Unterstützung der Generäle oder das Oberkommando
selbst die Kontrolle über wichtige Teile der Armee, würde dies zu einem mehr
oder weniger blutigen Sturz des Präsidenten oder aber zu einem Bürgerkrieg
führen. Zu diesem Zeitpunkt wären die USA eindeutig bereit, entweder offen selbst
unter Vorwänden wie der „Verteidigung“ ihrer Botschaft oder ihrer Staatsangehörigen,
durch militärische Unterstützung der Opposition oder Hilfe bei der Intervention
ihrer brasilianischen oder kolumbianischen Verbündeten einzugreifen. Die
kommenden Tage dürften entscheidend für die zukünftige Entwicklung sein.

Kämpft gegen die Rechte, aber keine Illusionen in Maduro!

Mit dem Ziel, Maduro zu stürzen, versucht die Rechte
eindeutig, die derzeitige wirtschaftliche, soziale und politische Krise des
bolivarischen Regimes zu nutzen. In den letzten Jahren wurde Venezuela von
negativen internationalen Wirtschaftsentwicklungen wie sinkenden Ölpreisen und
steigenden Schulden getroffen. Die verzweifelten Maßnahmen der Regierung haben
die Situation verschlimmert und es der „bolivarischen“ Bourgeoisie, den
BürokratInnen und VermittlerInnen ermöglicht, sich zu bereichern, während die
Massen verarmt sind.

Die Hyperinflation hat die nationale Währung praktisch
wertlos gemacht. Sie hat den Massen die Möglichkeit genommen, für ihre Lebensbedürfnisse
zu bezahlen, abgesehen von den wenigen mit Zugang zu Fremdwährungen. Sie hat
die Geschäfte leer gelassen. Kein Wunder, dass die rechte, pro-amerikanische
Opposition in der Lage war, Teile der verarmten Massen um sich zu sammeln,
obwohl die westlichen Pro-Putsch-Medien diese Unterstützung durchaus
überbewerten dürften.

Als die wirtschaftliche und politische Lage immer prekärer
wurde, wandte sich Maduro der Repression und der Wahlmanipulation zu, weil
unter Chávez keine wirkliche Demokratie geschaffen wurde, die auf Delegiertenräten
von ArbeiterInnen, Armen und Bauern/Bäuerinnen basierte, und weil die Armee
nicht durch eine Volksmiliz ersetzt wurde. So konnten die Massen selbst nicht
handeln, die wirtschaftlichen und moralischen Grundlagen ihres
Selbstbewusstseins wurden untergraben und die Opposition konnte über die besser
gestellten Mittelschichten hinaus an Massenunterstützung zulegen.

Zusammen mit den Nachwirkungen der Weltfinanzkrise wurde
damit die Utopie der „Bolivarischen Revolution“ auf grausame Weise enthüllt,
eine Strategie, die auf dem Glauben beruht, dass es möglich sei, die Interessen
des venezolanischen Großkapitals, das privilegierte Leben der städtischen
Mittelschicht mit verbesserten Lebensstandards und kulturellen Bedingungen für
die ArbeiterInnen, die Bauern/Bäuerinnen und die Armen über Sozialprogramme in
Einklang zu bringen.

Bereits unter Chávez geriet dieses utopische „sozialistische“
Projekt in seine eigenen Widersprüche, unter Maduro wurde das Regime zu dem einer
permanenten Krise. Im Gegenzug musste es seine eigene Macht zunehmend auf das
Militär und die staatliche Bürokratie stützen und damit die eigene soziale
Basis noch mehr untergraben. Politisch gesehen wurde sein diktatorischer Aspekt
immer offener und er wandte sich auch gegen die linke bolivarische Opposition,
indem es eine bonapartistische Präsidentschaft mit pseudodemokratischen Formen
wie der selbst gewählten „konstituierenden Versammlung“ kombinierte.

Es ist zwar klar, dass sich die bolivarische Regierung und
Maduro als unfähig erwiesen haben, Venezuela aus der aktuellen Krise zu führen,
aber es wäre falsch und einseitig, nur ihre Inkompetenz und Korruption für die
aktuelle Krise verantwortlich zu machen. Der Putschversuch ist Teil eines
reaktionären Rollback in ganz Lateinamerika, wo die USA und wichtige Teile der
nationalen Bourgeoisien allen reformistischen oder linkspopulistischen
Regierungen den Krieg erklärt haben.

Ein Erfolg des Putsches von Guaidó würde weder den Armen
noch den Massen in irgendeine Weise zugutekommen. Er würde nur ein weiteres
rechtsgerichtetes Regime einführen, um die Macht der multinationalen
US-Konzerne und der traditionellen Oligarchie wiederherzustellen. Es würde
keines der sozialen Probleme lösen und sicherlich auch nicht die Abhängigkeit
des Landes von Weltmarkt und Imperialismus in Frage stellen.

Der Putsch könnte die USA gegenüber ihren russischen und
chinesischen RivalInnen stärken, die in Venezuela etwas Fuß gefasst haben und er
würde das kubanische Regime weiter isolieren. Das ist natürlich die eigentliche
Absicht des Weißen Hauses. Sicherlich wird jedes Regime, das durch einen
erfolgreichen Putsch gebildet wurde, nicht „demokratisch“ sein. Vielmehr wird
es alles in seiner Macht Stehende tun, um alle wirtschaftlichen, sozialen und
organisatorischen Vorteile zu zerstören, die die Massen unter Chávez erlangt
haben und die Maduro noch nicht einkassiert hat.

Deshalb sollten die ArbeiterInnenklasse, die Bauern und Bäuerinnen
sowie die Armen in Venezuela den Putsch nicht unterstützen. Sie müssen ihn vielmehr
bekämpfen, aber ohne Illusionen in Maduro und seine Politik. Sie müssen nämlich
jede politische Unterstützung für sein katastrophales Programm zurückziehen.

Stattdessen müssen sie Sofortmaßnahmen fordern, damit sie
einer US-Intervention oder der Armee trotzen können, wenn sie zur Unterstützung
der Rechten übergeht. Sie müssen die Bewaffnung der ArbeiterInnen, der Bauern/Bäuerinnen
und der Armen fordern, die einen von den USA gesponserten Putsch verhindern
wollen!

Sie müssen auch Maßnahmen fordern und selbst Schritte
unternehmen, um die Knappheit der lebenswichtigen Vorräte an Nahrungsmitteln,
Treibstoffen und medizinischen Hilfsgütern anzugehen, um das brennende Problem
des Hungers zu lösen, das vor allem durch die Sanktionen der USA und das Horten
von Waren verursacht wird. Dies kann nur durch die Beschlagnahme des Besitzes
der PrivatkapitalistInnen in diesem Bereich und durch die Schaffung direkter
Verbindungen zwischen Stadt und Land erreicht werden.

Solche Schritte könnten natürlich nicht nur dazu beitragen,
dem Putschversuch zu trotzen, sondern auch die politische und wirtschaftliche
Krise zu bewältigen; die Notwendigkeit einer revolutionären Alternative zur
bolivarischen Führung, der „Boli-Bourgeoisie“ und der Bürokratie anzupacken.
Venezuela leidet nicht unter „zu viel Sozialismus“, sondern unter einem Mangel
an sozialistischen Maßnahmen. Nur durch entschlossenes Handeln in diesem
Bereich kann die Krise angegangen, ein Notfallplan unter der Kontrolle der
ArbeiterInnen und Massen durchgesetzt und eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung
geschaffen werden.

Internationale Solidarität

Angesichts der Einmischung durch die USA und ihre
Verbündeten dürfen die ArbeiterInnenklasse und die Linke international nicht
beiseitestehen. Sie müssen sich gegen die Unterstützung der Konterrevolution in
Venezuela durch die ImperialistInnen und andere reaktionäre Regime auflehnen.

Sie müssen Proteste gegen den Putsch und
Solidaritätsaktionen organisieren. Sie müssen die gesamte ArbeiterInnenbewegung
unter den Slogans „Hände weg von Venezuela! Nieder mit dem von den USA
unterstützten Putsch!“ vereinen.

Sie müssen den vollständigen Erlass der Auslandsschulden
Venezuelas fordern und sich jeder Anerkennung des „Interimspräsidenten“ oder
der Hilfe für die rechte Opposition widersetzen!

Die Bedeutung der Entwicklung in Venezuela für die
internationale ArbeiterInnenbewegung darf nicht unterschätzt werden. Auch wenn
sie Maduro und seinem Regime keine politische Unterstützung gewährt, muss sie
anerkennen, dass dessen Sturz durch die rechte Opposition eine Niederlage nicht
nur für einen korrupten, „linken“ Bonapartismus, sondern auch für die
ArbeiterInnenklasse und die Masse der Bevölkerung bedeuten würde. Er wäre ein
weiterer Sieg für die extreme Rechte, den Neoliberalismus und den
US-Imperialismus und sicherlich ein großer Schritt in Richtung weiterer solcher
Versuche in Ländern wie Bolivien oder Kuba.

Ein Sieg der Kräfte der Reaktion würde nicht nur Maduro
verdrängen. Es wäre ein Putsch gegen die ArbeiterInnenklasse und die Masse der
Bevölkerung mit dem Ziel, eine Lösung der venezolanischen Krise zu ihren
Gunsten zu verhindern.

Die Katastrophe des „Bolivarianismus“ beweist die
Notwendigkeit, sich einer echten revolutionären Perspektive zuzuwenden, die die
Enteignung der großen KapitalistInnen, den Ersatz der stehenden Armee durch
eine Miliz der werktätigen Massen und eine Planwirtschaft unter der Leitung der
ArbeiterInnen umfasst. Es braucht, kurz gesagt, die Perspektive der permanenten
Revolution, die auch die Ausbreitung dieser Revolution auf alle Länder der
Region und darüber hinaus einschließt.




Führt Hugo Chavez eine sozialistische Revolution an?

Simon Hardy, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Seit seiner Wiederwahl zum Präsidenten im Dezember 2006 hat Hugo Chávez seine Pläne für einen Übergang zum „Sozialismus“ und für eine neue, vereinigte sozialistische Partei umrissen. Er behauptet sogar, Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution zu unterstützen. Simon Hardy wirft einen kritischen Blick auf Chávez‘ Politik und skizziert die Aufgaben von RevolutionärInnen.

Wir leben in einer Periode großer Massenbewegungen gegen Neoliberalismus und Imperialismus. In den vergangenen 10 Jahren sind Millionen von AktivistInnen auf dem Erdball zusammengekommen und haben den Aufbau von Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung in ihren ökonomischen und militärischen Formen erörtert. Konferenzen wie die europäischen und Weltsozialforen legen Zeugnis ab von den Diskussionen über den Weg vom Widerstand zum Sieg.

Die Rolle von Politik und besonders der politischen Parteien waren dabei immer ein Streitpunkt. In der Anfangszeit der Bewegung Ende des vorigen Jahrhunderts bis 2002 zeigte sich ein Wiederaufschwung von anarchistischen und libertären Ideologien, was sich im Aufkommen von Bewegungen wie People’s Global Action und Reclaim the Streets sowie in der Beliebtheit von Schriften wie John Holloways „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen” widerspiegelte.

Der Regierungsantritt von Lula und einer Reihe sich links gebender Präsidenten in Lateinamerika und die Debatte um die Notwendigkeit von alternativen linken Parteien hat die Frage von politischer Macht wieder in die Bewegung hineingetragen. Dies führte zum Aufkommen der Position, dass politische Macht notwendig sei, um die volle Skala der Forderungen aus der Bewegung zu erfüllen, was von Leuten wie Holloway bestritten wird.

Dies drückt die Umschichtung der Arbeiterbewegung und die Forderungen der radikalisierten Massen nach einem politischen und wirtschaftlichen Wandel auf höchster Ebene aus und ist gegen den vorherrschenden Neoliberalismus gerichtet. Wie wir schon in Fifth International Band 2, Ausgabe 1 hingewiesen haben, läuft dies widersprüchlich ab, denn die reformistischen Regierungen in ihren sozialdemokratischen und populistischen Schattierungen haben sich dem neoliberalen Druck des Finanz- und Monopolkapitals angepasst.

Nun scheint das Regime von Hugo Chávez in Venezuela diesen Trend umzukehren. Statt nach rechts zu rücken, haben sich Chávez‘ Bekundungen in den 9 Jahren seiner Amtszeit radikalisiert, seine Sozialprogramme haben zur Anhebung des Lebensstandards geführt und Schneisen in die Armut der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung geschlagen.

Auch auf den Sozialforen hat Chávez Stellung dagegen bezogen, dass die Sozialbewegung nicht an der Machtfrage rühren dürfe. Vor 20.000 begeisterten AnhängerInnen erklärte er auf dem Weltsozialforum 2005, die Bewegung müsse eine „Machtstrategie” haben. Das war eine unverhohlene Gegenposition gegen die Führung des Weltsozialforums, die ihr Forumkonzept des „offenen Raumes” heftig gegen das eines „Orts der Macht” favorisiert.

Sein Sozialprogramm hat sich die Wut der venezolanischen herrschenden Klasse und der Imperialisten Washingtons zugezogen. Zweimal haben sie versucht, ihn zu stürzen: zunächst 2002 durch einen klassisch lateinamerikanischen Militärputsch und dann durch eine Amtsenthebung durch eine Volksabstimmung. Beide Male musste sich Chávez des Rückhalts der venezolanischen Arbeiter- und Armenmassen versichern, die auf die Straße und zu den Wahlurnen mobilisiert wurden, um seine Macht zu sichern. Trotz mächtiger Opposition regiert er weiterhin als einer der langlebigsten demokratisch gewählten Präsidenten Lateinamerikas.

Nach dem jüngsten Erdrutschsieg von über 62% und mehr als 7 Millionen Stimmen bei den Wahlen im Dezember 2006 kündigte Chávez einen weiteren Linksruck als Vertiefung der „sozialistischen Revolution” in Venezuela an: „Ich habe gesagt, dass der 3. Dezember kein Ankunfts-, sondern ein Abfahrtspunkt ist. Heute fängt eine neue Epoche an (…) Der Hauptgedanke ist die Vertiefung, Verbreiterung und Ausbreitung der sozialistischen Revolution (1).“

Diese kühne Erklärung verheißt einen Gezeitenwechsel in Chávez‘ Politik seit der Amtsübernahme 1998. Damals überschritt sein Programm nicht die Grenzen eines radikal bürgerlichen Nationalismus. Es war beschränkt auf die Beendigung des korrupten Zweiparteien-Begünstigungssystems und auf eine neue republikanische Verfassung, die sehr stark von den Ideen des pan-lateinamerikanischen Nationalisten Simon Bolivar geprägt war.

Chávez‘ Verkündigungen nach dem jüngsten Wahlsieg scheinen eine neue und bedeutsame Entwicklung vorzuzeichnen. Sie enthalten Versprechen zur Verbesserung seiner eigenen Verfassung, um Venezuela ausdrücklich zu einer „sozialistischen Republik” zu machen, zweitens die „Abschaffung des bürgerlichen Staates” und die Schaffung eines von ihm so genannten „Munizipalstaates” sowie die Durchführung einer Reihe von Verstaatlichungen. „Alles was privatisiert worden ist, soll wieder staatlich werden“, meinte Chávez. Er zitierte nicht nur das Gedankengut von Marx und Lenin, sondern sagte auch: „Ich bewege mich sehr auf Trotzkis Linie – der permanenten Revolution (2).“

Die Ereignisse in Venezuela sind unstrittig von außerordentlicher Bedeutung für AntikapitalistInnen und Radikale auf der ganzen Welt. Chávez‘ kometenhafter Aufstieg zur Macht und sein radikales Programm stellen die Frage nach Verständnis und Einschätzung des Wesens der sozialistischen Revolution im 21. Jahrhundert. Nicht nur die Frage nach der Möglichkeit für Staaten der südlichen Hemisphäre, einen anderen wirtschaftlichen Weg als den des Neoliberalismus einzuschlagen, nein, auch die nach der Richtigkeit der klassisch Marxschen Annahme, dass der Sozialismus nicht über das Parlament erreicht werden kann, wird aufgeworfen.

Der Sinn dieses Artikels liegt in der systematischen Untersuchung der Politik von H. Chávez und ihrer Verbindung zum weltweiten Klassenkampf und zu politökonomischen Entwicklungen. Folgende Bereiche und Fragen sollen hier behandelt werden:

• die politischen Wurzeln von Hugo Chávez und die Hintergründe seines Machterfolgs;

• Chávez‘ Radikalisierung und der Druck der Massen;

• Trotzkis Verständnis des Linksbonapartismus als Rahmen für die Einordnung von Chávez und seines Verhältnisses zu den Massen;

• der Grad der Herausforderung für den Kapitalismus durch Chávez‘ Reformprogramm;

• die venezolanische Arbeiterklasse, die bolivarische Bewegung und die Linksopposition gegen Chávez;

• Chávez‘ Programm der 3. Amtsperiode, die „5 Triebkräfte des revolutionären Prozesses“;

• die Haltung revolutionären KommunistInnen zu Chávez und seiner Bewegung.

Der Aufstieg von Hugo Chávez

Venezuelas Kapitalistenklasse ist eine der schmarotzerhaftesten und oligarchischsten Lateinamerikas. Sie stützt sich auf Großgrundbesitzer und die Entstehung einer heimischen Industrie durch gewaltige Einkünfte aus den riesigen Ölvorkommen des Landes. Venezuela ist der fünftgrößte Ölexporteur der Welt und steht an vierter Stelle der Lieferanten für die USA, was 2004 11,4% der Einfuhren für die US-Ökonomie ausmachte. Venezuela verfügt über große Vorräte, weit mehr als die USA, die nur 22 Milliarden Barrel im Vergleich zu den 77,8 Milliarden Venezuelas fördern können. Außerdem verfügt Venezuela im Orinoko-Gürtel über weitere 260 Milliarden Barrel schweres Rohöl, was es durch die Krise im Nahen Osten und die Unterbrechungen des Nachschubs in den nächsten Jahrzehnten für die USA immer wichtiger werden lässt (3).

Die Beziehungen zwischen Venezuela und den USA haben die Innenpolitik des Landes bestimmt. Jahrzehntelang haben die Spitzenmanager der staatlichen venezolanischen Ölgesellschaft Petroleos de Venezuela Sociedad Anónima (PdVSA) das Unternehmen als „Staat im Staat” betrieben, sich die eigenen Taschen gefüllt und eine privilegierte Elite gebildet. All das war in den Nachkriegsaufschwungjahren möglich und reichte bis in die 1970er, bevor sich als Folge der Krise im Nahen Osten 1973 der Ölpreis vervierfachte. Die Öleinkünfte wurden verwendet, um das ökonomische Modell der Importsubstitution anzuwenden, das von den meisten Ländern der „Dritten Welt“ damals bevorzugt wurde. Sie trachteten danach, die Binnenwirtschaft in industriellen Fertigungsbereichen aufzubauen, statt auf Importgüter zu setzen. Teile des Ölreichtums kamen über hohe Löhne für die Facharbeiter der Etablierung einer Arbeiteraristokratie zu Gute (4).

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts regierten in Venezuela zumeist Militärpräsidenten, oft ausgesprochene Diktatoren, unterbrochen nur von wenigen demokratischen Zwischenzeiten wie die von Rómulo Betancourts Präsidentschaft 1945-1948, ehe 1958 ein Volksaufstand die Militärherrscher verjagte. Die großen bürgerlichen Parteien profitierten vom Rückzug der Militärs, so Betancourts Accion Democratica, vielfach als sozialdemokratische Partei eingestuft, da sie bis heute Mitglied der Sozialistischen Internationale ist. In Wahrheit aber hängt sie wie die meisten Parteien der Sozialistischen Internationale in Lateinamerika der liberalen Bourgeoisie an. (5) Ferner gab es eine Christlich Demokratische Partei namens Copei sowie eine kleinere Partei, die Union Republicana Democratica.

Ihr Abkommen, der „Punto Fijo Pakt“, legte die abwechselnde Regierungstätigkeit von beiden bürgerlichen Hauptparteien fast 40 Jahre lang fest. Die venezolanische Gewerkschaftsbewegung, die Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV), die von einem Kern von Facharbeitern der Ölindustrie geführt wird, ist eng mit der Accion Democratica durch eine mächtige Bürokratie verbunden. Der Puntofijismus ermöglichte es der Elite des Landes und ihren „Arbeiterhandlangern“, sich in großem Ausmaß durch Korruption und Vetternwirtschaft zu bedienen. Er schloss jegliche eigenständige Äußerung der sozialen Bedürfnisse der Arbeitermassen und der anwachsenden Stadtarmut aus.

Doch als in den 80er Jahren der Ölpreis fiel, geriet Venezuela wie viele andere Teile der Südhalbkugel in tiefe ökonomische Schwierigkeiten. Wegen der verhältnismäßigen Wohlhabenheit schlugen sie jedoch erst 1983 durch, als Präsident Luis Herrera Campins die venezolanische Währung, den Bolivar, abwertete, was das Ende einer Ära versinnbildlichte. Mit Venezuelas Wirtschaft ging es steil bergab. In der Folge stieg die Arbeitslosigkeit gewaltig. Die Barrios, Elendssiedlungen an den Stadträndern, wucherten. Die Schattenwirtschaft erreichte Ausmaße, unter denen heute noch ungefähr 50% der venezolanischen Arbeitsbevölkerung beschäftigt sind.

1987 nahm der Internationale Währungsfonds (IWF) die Konsolidierung Venezuelas ins Visier. Gemeinsam mit der Accion Democratica-Regierung von Präsident Carlos Andres Perez wurde ein Strukturanpassungsprogramm aufgelegt, das in seiner neoliberalen Linientreue seither prägend ist für die Sanierungsprojekte in halbkolonialen Ländern. Es sah vor: strenge Beschneidung öffentlicher Ausgaben und der Löhne, einen freien Wechselkurs, Aufhebung von Handelsbeschränkungen, Streichung von Subventionen für einige Grundversorgungsgüter sowie die Einführung von Verbrauchersteuern. Dies bedeutete ein jähes Ende des nach Autarkie strebenden Einfuhrersatz-Wirtschaftsmodells und eine Wende zum Neoliberalismus. Ein Anstieg der Benzinpreise bedingte einen deutlichen Preisruck für Verkehrs- und Verbrauchsgüter.

Folge davon war 1989 einer der ersten Massenwiderstände (El Caracazo) gegen den IWF. Der Aufruhr von Caracas breitete sich so schnell überall aus, dass den linken politischen Gruppen und sympathisierenden Teilen der Armee kaum Zeit blieb, sich daran zu beteiligen. Innerhalb von zwei Tagen reagierte der Staat mit brutaler Unterdrückung, die Dunkelziffer der vom Staat Getöteten liegt bei 3000 (6). Viele der Opfer wurden in Massengräbern beigesetzt. Obwohl die Erhebung Perez nicht von seiner Politik abbrachte, kostete sie die beiden Hauptparteien und das Punto Fijo-System den Rest an Vertrauen in den Massen. Perez wurde zur Verantwortung gezogen und 1993 seines Amtes enthoben.

Die Unterdrückung und die Rolle der Armee darin empörten Teile des Offizierskorps. Unter ihnen war Hugo Chávez, Oberst in einem Fallschirmjägerregiment.

Er hatte am 24.7.1983 bereits eine militärische Geheimorganisation gegründet, das Movimiento Bolivariano Revolucionario 200 (MBR 200). Dieses Datum wurde bewusst schicksalsträchtig gewählt, es war der 200. Geburtstag von Simon Bolivar, dem berühmtesten Führer der antikolonialen Unabhängigkeitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika, volkstümlich „Befreier” genannt. Bolivar bewunderte die nordamerikanische Revolution 1776-1782, fürchtete aber auch die Vormachtstellung der sich ausweitenden Republik im Nordteil gegenüber dem Süden Amerikas. Er sah die Gefahr, dass ein geteiltes Lateinamerika Nordamerika ausgeliefert sein würde und befürwortete deshalb eine Vereinigung Südamerikas in einem Bundesstaat nach dem Vorbild der USA. Seine politischen Vorstellungen deckten sich mit den damals vorherrschenden radikal-kapitalistischen Ideen des Liberalismus. Chávez und seine Kameraden legten Bolivars Auffassungen als Künder des Antiimperialismus und Widerstands gegen die USA aus.

Beeinflusst war der junge Chávez auch von Douglas Bravo, dem alten Führer eines Guerrillafeldzugs, der von der Kommunistischen Partei Venezuelas ausging und von Anfang der 60er bis Mitte der 70er Jahre dauerte, sowie von dem venezolanischen marxistischen Historiker und KP-Mitglied Federico Brito Figueroa. Natürlich hatte auch das Beispiel von Fidel Castro und Che Guevara Einfluss auf Chávez‘ politischen Werdegang und auf seine „antiimperialistische” und später „sozialistische” Auslegung von Bolivars Ideengut abgefärbt. Diese waren anachronistisch und geschichtlich unhaltbar – doch Chávez suchte nach volkstümlichen Helden. Überhaupt ist es ein Wesenszug seiner Politik, dass er immer bestrebt ist, an seinem Götterhimmel neue Helden erstrahlen zu lassen, ohne Rücksicht auf Zusammenhänge und Folgerichtigkeit.

Seine Beweggründe in den 80er Jahren speisten sich aus dem Streben, Venezuela unabhängig vom US-Imperialismus zu machen, den Traum von einem geeinten Lateinamerika zu verwirklichen, der sozialen Ungleichheit und Armut durch eine gerechte Verteilung des Ölreichtums zu begegnen und die Korruption und Günstlingswirtschaft der Elite Venezuelas zu beseitigen. Wie viele andere junge Offiziere mit plebejischem Hintergrund hatte er eine gemischt eingeboren-afrikanisch-spanische Herkunft. Seine Eltern waren Lehrer. Er erlebte die Anmaßung der „weißen” Elite und die schmerzliche politische, ökonomische und kulturelle Unterordnung unter die Herrschaft des nordamerikanischen Kolosses hautnah. Sein Tatendrang führte ihn mit anderen jungen Offizieren zusammen. Die Erörterung der Gründe für die Knechtschaft des Landes mündete in der festen Absicht, diesen Zustand zu beenden.

Später sagte Chávez rückblickend: „Wir besaßen den Wagemut, eine Bewegung in den Reihen der Armee Venezuelas zu gründen. Wir hatten die Korruption satt und schworen, unser Leben unverzüglich der Schaffung einer revolutionären Bewegung und dem revolutionären Kampf in Venezuela und Lateinamerika zu widmen (7).“

Die MBR 200 stellte einen Flügel des Offizierskorps aus der unteren Mittelschicht, der Arbeiterklasse und der Eingeborenen dar. In ihren politischen Anschauungen war sie radikal nationalistisch und populistisch. Sie wollten die Erniedrigung ihres Landes durch die Imperialisten im IWF nicht länger hinnehmen und putschten 1992 erfolglos gegen Perez. Doch nur 10% der Armee folgten Chávez, die schlechte Vorbereitung zog Isolation und Niederlage nach sich. Chávez gab auf, durfte aber eine Fernsehansprache halten, gerichtet an die Bezirke außerhalb von Caracas, wo der Putsch gelungen war. Darin erklärte er: „Kameraden, leider sind zurzeit die Ziele, die wir uns gesetzt haben, in der Hauptstadt nicht erreicht worden. D.h. hier in Caracas ist es uns nicht gelungen, die Macht zu übernehmen. Wo ihr seid, habt ihr eure Sache gut gemacht, aber es ist nun an der Zeit, die Angelegenheit zu überdenken. Es werden sich wieder neue Gelegenheiten ergeben, und das Land wird sich bestimmt anschicken können, einer besseren Zukunft entgegen zu gehen (8).“

Das „Zurzeit“ vermittelte seinen Anhängern den Gedanken, auf eine spätere Gelegenheit zu warten und sich darauf einzustellen. Der gescheiterte Putsch und die Ansprache machten Chávez zu einer landesweit bekannten Persönlichkeit, fast schon zu einem Helden für jene, die unter Perez‘ Sparpolitik zu leiden hatten.

Chávez wurde zwei Jahre später auf Erlass des neuen Präsidenten aus dem Gefängnis entlassen. Obwohl er sein Hauptziel verfehlt hatte, konnte er doch etwas anderes erreichen. Die Zweiparteienherrschaft war völlig unterhöhlt. Die Massen wählten 1993 mit Rafael Caldera einen neuen Präsidenten, der sich von der Copei-Partei gelöst und Anfang des Jahres eine neue, die Konvergenz-Partei, formiert hatte. Seine Wahl an der Spitze einer Koalition von kleineren links-gerichteten Parteien beendete die Zweiparteienherrschaft. Gewählt wurde er auf einem demagogisch verpackten antineoliberalen Programm, das aber in nur zwei Jahren wieder zu Gunsten einer Pro-IWF-Politik fallen gelassen wurde. Das eröffnete die „künftige Gelegenheit”, auf die Chávez gewartet hatte.

Chávez und die MBR 200 bauten eine Massenbewegung auf, der ein Netzwerk von örtlichen Basisorganisationen, den „Bolivarianischen Zirkeln“, zugrunde lag. Diese trafen sich auf Massenversammlungen in den Barrios, traten für Verbesserungen des täglichen Lebens ein und kündigten einen Kampf um die Präsidentschaft in den Wahlen von 1998 an. Kurz vor den Wahlen formte Chávez die MBR 200 in die „Bewegung für die 5. Republik“ (MVR) um. Sein Programm verkündete die Beseitigung des Punto Fijo-Systems, der korrupten „Parteienherrschaft,” wendete sich an das Volk und gegen die politische Elite und die Reichen und nutzte hierfür das gesamte Wörterbuch des lateinamerikanischen Populismus.

Chávez verband dies mit der Betonung, dass seine Präsidentschaft der Bevölkerung eine neue Art von Demokratie bescheren sollte. Dies müsse über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung und die Entscheidung der gewählten Volksvertreter über eine neue Verfassung geschehen. Zum Inhalt solle sie die Ausmerzung von Bestechung und Korruption, die Verteilung der Einkünfte aus den Rohstoffen des Landes an die Armen und Entrechteten sowie das Auftreten gegen die Bedrohung durch den Weltpolizisten USA und seines Werkzeugs, des IWF, haben. Er wollte den VenezolanerInnen ihre Selbstachtung wieder geben.

All dies nannte Chávez die „bolivarische Revolution” und bestritt, dass es sich um eine sozialistische Revolution handele. Sein überwältigender Sieg 1998 mit 56% der Stimmen, die zum Großteil aus den ärmsten Bevölkerungsschichten kamen, zeigte die Hoffnungen und Erwartungen, die sein Programm geweckt hatte.

Washington betrachtete Chávez‘ Erdrutschsieg mit unverhohlener Feindseligkeit. Die ersten Jahre seiner Amtszeit waren jedoch weniger gegen den US-Imperialismus gerichtet als vielmehr der Erstürmung der verfassungsmäßigen Festungen des Puntofijismus gewidmet. Es entstand eine neue bolivarianische Verfassung während einer einjährigen Debatte in der verfassungsgebenden Versammlung. Jene wurde Ende 1999 angenommen und bildete die Grundlage für das politische Programm des Chávez-Regimes.

Sie brachte die gesellschaftlichen Rechte des Volkes ausführlich zur Sprache und zeigte viele Arten, sich ihrer durch Volksentscheide zu bedienen. Nahezu alle vollziehende Gewalt und die gesetzgeberische Initiative gingen aber auf den Präsidenten über.

Im Dezember 1999 wurde die neue Verfassung von 71,8% der abstimmenden Bevölkerung gut geheißen. Im Juli 2000 wählten über 60% Chávez wieder als Präsidenten.

Chávez scharte eine Reihe von Beratern um sich, die aus der bolivarianischen Bewegung in der Armee und den sozialen Bewegungen in der MVR kamen. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörten die Säuberung von Teilen der alten Bürokratie in der staatlichen Ölgesellschaft PdVSA sowie Gesetzgebungs- und Rechtsreformen. Ein großer Teil der Richter wurde wegen Verstrickung in Korruptionsaffären entlassen.

Die Elite wehrt sich

Die Kapitalistenklasse verhielt sich bis 2001 relativ ruhig, als Chávez die „49 Erlasse” herausgab. Diese forderten die Beendigung von Privatisierungen, setzten eine beschränkte Landreform in Gang und kündigten eine stärkere Nutzung der PdVSA-Einkünfte für soziale Projekte im Sinne der Armen an. Das reichte, um den Aufschrei der Bosse und Landbesitzer hervor zu rufen und führte zu einem Bruch in der bolivarischen Bewegung. Die eher bürgerlich ausgerichteten Teile stellten sich auf die Seite der Opposition und meinten, diese Erlasse gingen zu weit, darunter auch Luis Miquilena, einer von Chávez engsten Beratern.

2002 trafen Chávez‘ Versuche, die PdVSA zu reformieren und so den Ölkonzern unter unmittelbare Regierungskontrolle zu stellen, auf den heftigen Widerstand von PdVSA-Managern und Gewerkschaftsbürokraten. Am 9. April entließ Chávez 7 geschäftsführende Mitglieder des Unternehmens. Die Privatmedien, die bürgerlichen Parteien und der CTV mobilisierten sofort eine Solidaritätskundgebung für die geschassten Chefs. Am nächsten Tag rief der CTV einen Generalstreik aus. Zwei große rivalisierende Demonstrationen begegneten sich in der Innenstadt von Caracas. Auf der einen Seite tummelten sich bürgerliche, kleinbürgerliche und arbeiteraristokratische Demonstranten, die Hauptteilnehmerschaft der anderen stellte die städtische Armut. Die Privatmedien behaupteten, dass auf die Anti-Chávez-Demonstranten Schüsse abgegeben worden wären und einige von ihnen getötet hätten. Sie lasteten dies Chávez und seinen Anhängern an. Dies wurde jedoch als vorbereitete Provokation zurückgewiesen. Später stellte sich anhand von Amateuraufnahmen heraus, dass die Schüsse zunächst aus der Anti-Chávez-Demonstration heraus abgefeuert worden waren.

Lucas Romero, der Oberbefehlshaber der venezolanischen Streitkräfte erklärte in einer Rundfunksendung, Chávez hätte ihm gegenüber seinen Rücktritt eingereicht und wäre auf einen Militärstützpunkt gebracht und dort festgesetzt worden. Die Militärführer ernannten Pedro Carmona, den Vorsitzenden des venezolanischen Verbandes der Handelskammern (Fedecameras) zum neuen Präsidenten des Landes. Sein erster Erlass erklärte alle von Chávez eingebrachten wichtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen für null und nichtig und löste unter dem Jubel von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Anhängern die Nationalversammlung und die gesamte Gerichtsbarkeit auf. Eine unpassendere Handlungsweise ist kaum vorstellbar. Kein Wunder, dass Carmonas Präsidentschaft nicht einmal 48 Stunden hielt.

Chávez‘ Absetzung und Carmonas Erlasse verursachten Massenunruhen im ganzen Land und insbesondere in Caracas. Niedere Offiziersränge und Mannschaftsdienstgrade riefen zu massenhafter Unterstützung eines Gegenputsches, der Chávez wieder ins Amt bringen sollte, auf. Die MVR und die bolivarischen Zirkel waren im Stande, die Massen zu Riesenkundgebungen auf die Straße bringen. Das spaltete die Koalition der Verschwörer und auch die Armee, die sich mit übergroßer Mehrheit hinter Chávez stellte und dies mit großen begeisterten Versammlungen bekundete. Diese Soldaten besetzten den Präsidentenpalast wieder, warfen Carmonas Clique hinaus und befreiten Chávez fast ohne Gegenwehr aus der Gefangenschaft. Am 13. April waren Chávez wieder an der Macht und seine Feinde noch mehr diskreditiert und entwaffnet.

Während des missglückten Putschversuches hatten sich 19 lateinamerikanische Länder dagegen ausgesprochen. Die US-Regierung jedoch, die hinter diesem Staatsstreich steckte, hatte sofort Carmona anerkannt. Obwohl mehrere Offiziere vor Gericht gestellt wurden, wurden die meisten der Hauptakteure des Komplotts von 2002 nur in den Ruhestand versetzt. Chávez‘ Getreue in der Armee erhielten Beförderungen.

Dennoch war die herrschende Klasse nicht vollends entmutigt. Ende 2002 zettelten die Bosse eine Aussperrung in der Ölindustrie an, bemäntelten ihn als Streik, der die venezolanische Wirtschaft lähmte und vielen Tausenden Arbeitslosigkeit und Armut brachte. Die reiche Elite, denen die Medien gehören, begann eine Kampagne gegen Chávez und stellte ihn als Diktator hin, der auf Teufel komm raus die heimische Wirtschaft zerstören wolle (9). Chávez rächte sich, indem er viele der alten Manager und ebenso 18.000 PdVSA-Angestellte aus der mittleren Verwaltung und Facharbeiter feuerte, die die Aussperrung unterstützt hatten.

Viele der einfachen ArbeiterInnen hatten sich gegen die Aussperrung zusammen getan und arbeiteten in den verschiedenen Unternehmensbereichen der PdVSA weiter. Massenkundgebungen fanden statt, um Chávez Rückhalt zu geben. Die ArbeiterInnen besetzten Fabriken, die von deren Bossen aus Solidarität mit der PdVSA-Aussperrung geschlossen worden waren. Schließlich konnte die Aussperrung durchbrochen werden, und Fedecameras misslang es, die Bevölkerungsmehrheit von der Gefolgschaft für die bolivarianische Revolution abzuhalten.

Die korrupte und privilegierte Schicht von unternehmerfreundlichen Bürokraten, aus der sich die Führung der CTV zusammensetzte, unterstützte den Staatsstreich und die Aussperrung. Chávez-Anhänger und antikapitalistische Teile der Gewerkschaften lösten sich davon und errichteten eine neue Organisation: die Nationale Arbeitergewerkschaft UNT. Sie stieg rasch zum stärksten Verband im Land auf.

2004 trachteten die Kapitalisten erneut danach, Chávez abzusetzen, indem sie ein Gesetz zur Amtsenthebung durch Volksabstimmung nutzen wollten, das sinnigerweise in die Verfassung der 5. Republik eingebracht worden war. Chávez aber ging auch hier als Sieger hervor, weil 59% gegen seine Abberufung als Präsident stimmten.

Der Wunsch von Teilen der internationalen Kapitalistenklasse, Chávez zu stürzen, ist vielfach schriftlich belegt. Z.B. hat The Economist zum Regimewechsel aufgerufen (10). Von mehreren neokonservativen Politikern der USA ist das Einschreiten in Venezuela gefordert worden. Auch Organisationen wie das National Endowment for Democracy (Nationale Stiftung für Demokratie) oder das American Center for International Labour Solidarity (Amerikanisches Zentrum für internationale Arbeit’nehmer’solidarität), das mit dem CTV verbunden ist, haben Chávez‘ Herrschaft ins Wanken zu bringen versucht (11).

All dies beweist, dass die Imperialisten und ihre Handlanger in den kapitalistischen Eliten Lateinamerikas ihre Positionen und Pläne seit dem Putsch gegen Salvador Allende in Chile 1973 nicht geändert haben. Sie fürchten selbst eingeschränkte Verstaatlichungen mit Entschädigungen und Landreformen von lateinamerikanischen Regierungen und werden alle Hebel in Bewegung setzen, um sie zu stürzen.

Die Radikalisierung von Chávez

Die Massenmobilisierung zur Rettung von Chávez beförderte eine Radikalisierung der Arbeiterschaft und Armut. Sie hatten das Heft des Handelns in die Hände genommen. Sie selbst waren es, die den Putsch vereitelt hatten, zusammen mit den niederen Offiziersrängen und Mannschaftsdienstgraden der Armee. Sie hatten dies vollbracht, als Chávez selbst handlungsunfähig war. Die Inmarschsetzung seiner gesellschaftlichen Basis hat auch Chávez nach links rücken lassen. Seine Stellung hat ihn erkennen lassen, dass sein Überleben verknüpft ist mit der Umsetzung der Reformen zu Gunsten der Massen und mit ihrer Verbreitung durch die bolivarischen Zirkel und die Misiónes, die besonderen Körperschaften mit dem Auftrag, das Bildungswesen, Gesundheit und Landreform auf Vordermann zu bringen (12).

Chávez war gezwungen, sich unmittelbarer denn je auf die Massen verlassen zu müssen, sie zu organisieren und in begrenztem Maß auch zu bewaffnen. Er kündigte im April 2005 zunächst die Formierung von Zivilmilizen an. Im März 2006 begann ein größeres Übungsprogramm für etwa zwei Millionen Reservisten. Die Bewaffnung von weiten Teilen der Bevölkerung ist ein offenkundiger Meilenstein und zeigt einen deutlichen Aufschwung des revolutionären Kampfes.

Doch die Waffenausgabe erfolgt unter strenger Aufsicht der bolivarischen Zirkel. Die Waffenkontrolle übt die MVR aus, die Milizen unterstehen dem persönlichen Befehl von Chávez. Er rechtfertigte die Aufstellung dieser Miliz mit der Gefahr durch ausländische Intervention und konterrevolutionäre Aktion durch reaktionäre Kräfte. Aber was geschieht, wenn die Armee wieder ihren Oberbefehlshaber verhaftet oder wenn Chávez umgebracht wird? Was, wenn Chávez selbst die Milizen gegen linke Kritiker einsetzen will? Diesen Möglichkeiten müssen die ArbeiterInnen ins Auge sehen und sie durch die Forderung nach Demokratisierung, Ausdehnung und Organisation nicht nur in den Barrios, sondern v. a. auch in den Betrieben auszuschalten versuchen. Denn diese Armee ist keine wirklich demokratische und wählt nicht ihre Offiziere selbst und wacht nicht über die eigenen Waffenlager.

Seit Chávez‘ Hauptrückhalt sich von der Armee auf die verschiedenen Mobilisierungen, die ihn gegen Angriffe von rechts verteidigen mussten, verlagert hat, sah er sich genötigt, ernsthaftere Maßnahmen zu ergreifen, um Armut und Analphabetismus auszumerzen.

Chávez‘ Regime ist also ein Beispiel für großen gesellschaftlichen Druck von Seiten des Imperialismus und der Unternehmer, die ihn loswerden wollen – und von Seiten der städtischen Armut, der Bauern und Arbeiterklasse, die ihn an der Macht halten. Unter Ausnutzung der verfassungsmäßigen Befugnisse seiner Präsidentschaft, seiner Kontrolle über eine gesäuberte Armee sowie einer rührigen und organisierten Massenbewegung hat Chávez eine ganz erhebliche Machtfülle angehäuft.

Linker Bonapartismus

Nach marxistischen Begriffen ist dieses „Regime des starken Mannes” als Bonapartismus zu werten. Karl Marx hat diesen Begriff zuerst in seinem Buch „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte” beschrieben. In Zeiten ansteigender Klassenkämpfe kann ein Führer sich zum scheinbaren Schiedsrichter über die unversöhnlichen Klassen aufschwingen und zum „Mann des Schicksals” werden, der die Staatsgewalt ausübt, oft seine Stütze in der Armee und der Bauernschaft hat, aus der sich die Armee großenteils rekrutiert. Louis Bonaparte war ein Neffe Napoleons und kam in Frankreich nach der Revolution 1848/1849 an die Macht.

Die ArbeiterInnen kämpften im Februar 1848 auf den Barrikaden, aber die Bourgeoisie ergriff die Macht und errichtete eine demokratische Republik an Stelle der Monarchie. Doch die Arbeiterschaft gab nicht auf und nach ihrem missglückten Aufstand im Juni 1848 entpuppte sich die Republik als brutale Diktatur über die Arbeiterklasse. Binnen Jahresfrist hatten sich die bürgerlichen Republikaner unglaubwürdig gemacht. Um einem erneuten Arbeiteraufstand oder einer vernichtenden Niederlage bei den nächsten Wahlen vorzubeugen, beriefen die Oberschichten der Bourgeoisie Louis Napoleon als Spitzenkandidaten auf einem scheinbar arbeiterfreundlichen, antibürgerlichen Programm. Kaum gewählt, führte er aber einen Staatsstreich gegen die Republik und machte sich selber zum Kaiser.

Marx untersuchte diese Vorgänge und schätzte die Situation als eine Lage ein, in der der bürgerliche Staat der unmittelbaren Kontrolle der Parteien und üblichen politischen Elite der Kapitalistenklasse entzogen ist. Nichtsdestotrotz ist der Zweck des Bonapartismus, die soziale Herrschaft der Bourgeoisie, den Besitz und die Kontrolle über die Industrie, die Banken und das Land zu retten – auch um den Preis, die Berufspolitiker zu entlassen. Ein solcher Bonapartismus ist allgemein eine Form von Konterrevolution, die entweder dazu dient, eine beginnende Revolution zu verhindern oder eine revolutionäre Periode zu beenden, in der sich die Arbeiterklasse als unfähig erwiesen hat, die Macht zu erobern und die Gesellschaftskrise zu lösen.

Das gilt sowohl für imperialistische Länder wie für die halbkoloniale Welt. Pinochets Putsch in Chile 1973 ist ein gutes Beispiel dafür. Umgekehrt bezeugt die Geschichte in anderen halbkolonialen Ländern, dass ein „Mann des Schicksals” nicht in jedem Fall die Massen unterdrücken und revolutionäre Ereignisse beenden muss, sondern sie sogar zu verkörpern scheint: Führer, welche die Armee und große Teile der Arbeiter- und Bauernschaft hinter sich wissen und gegen die bürgerliche und grundbesitzende Elite und den Imperialismus vorgehen.

Trotzki begegnete diese Form von Bonapartismus in Lateinamerika, als er im Januar 1937 nach Mexiko ausgewiesen wurde. In dieser Zeit (1934-40) bekleidete dort Lázaro Cárdenas das Präsidentenamt. Als einziger Regierungschef war er bereit, dem Führer der russischen Revolution Aufenthaltsrecht zu gewähren. Er stand in einer Auseinandersetzung gegen die amerikanischen und britischen Ausbeuter Mexikos. Cárdenas hatte das Eisenbahnwesen und die mexikanische Ölindustrie, die sich damals in britischer und amerikanischer Hand befand, verstaatlicht und trotzte einem Handelsboykott und Störversuchen seitens der Imperialisten. Er führte auch eine bedeutende Landreform durch, die die Bauerndörfer, die Ejidos, mit kommunalen Besitzrechten ausstattete. Ihr Anteil an der Gesamtlandnutzung Mexikos stieg von 3 auf 20%. Der überwiegende Teil des Bodens blieb jedoch in Händen der Hazienderos und Großagrarier.

Politischen Beistand erhielt Cárdenas durch Armee und die von ihm ermunterte Gewerkschaftsbewegung und bäuerliche Organisationen. Cárdenas säuberte und reformierte die Gewerkschaften, entfernte Anhänger der alten Elite und ersetzte sie durch Stalinisten wie Lombardo Toledano an der Führung. Er förderte auch die Wiederbelebung der Kulturen der eingeborenen Bevölkerung sowie die Arbeit linker Künstler wie der Maler Rivera, Siqueiros und Orozco.

Trotzki war an den Erfahrungen von Cárdenas und des nationalistischen Widerstands gegen die britischen und US-amerikanischen Imperialisten interessiert. In Lateinamerika befand sich die Arbeiterklasse in einem frühen, aber kämpferischen Stadium der Selbstorganisation Die Bauernschaft war verarmt, aber rebellisch, die Bourgeoisie schwach und fast völlig abhängig von fremdem Kapital. Trotzki beschrieb, wie die Herrscher dieser Staaten einen besonderen Charakter annehmen können und baute darauf seine Thesen zum Bonapartismus besonderer Art auf:

„In den industriell zurück gebliebenen Ländern spielt fremdes Kapital eine entscheidende Rolle. Daher rührt die verhältnismäßige Schwäche der nationalen Bourgeoisie in Bezug auf das nationale Proletariat. Dies erzeugt besondere Bedingungen für die Staatsmacht. Die Regierung dreht sich zwischen ausländischem und einheimischem Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem verhältnismäßig starken Proletariat. Das gibt der Regierung einen bonapartistischen Charakter besonderer Art, einen unterscheidbaren Charakter. Sie erhebt sich sozusagen über die Klassen. Sie kann entweder dadurch regieren, dass sie sich zum Werkzeug des ausländischen Kapitalismus macht und das Proletariat in den Ketten einer Polizeidiktatur hält, oder dass sie ein Manöver mit dem Proletariat macht und sogar so weit geht, ihm Zugeständnisse zu machen und somit die Möglichkeit eines gewissen Handlungsspielraums gegenüber den ausländischen Kapitalisten erlangt (13).“

Trotzki sagt weiter, dass der bonapartistische Staat sogar der Arbeiterklasse selbst die Verantwortung für staatliche Unternehmen übertragen kann. Das Verhältnis von Staat und Arbeiterklasse nimmt einen neuen dynamischen Verlauf, wenn die fortschrittlichen Forderungen der Arbeiter und Bauern, deren Rückhalt die linksbonapartistischen Führer brauchen, teils durchgesetzt, andererseits aber vom Staat kontrolliert und reglementiert sind, etwa durch Volksentscheide. Der Staat kann solche Maßnahmen erlassen als Folge von Forderungen aus der Bevölkerung, aber sie stoßen stets an die Grenzen des Privateigentums.

Welche Haltung nehmen RevolutionärInnen zu den fortschrittlichen Maßnahmen von Linksbonapartisten ein? In einer Schrift über die Enteignungen der imperialistischen Ölkonzerne in Mexiko führte Trotzki 1938 aus: „Ohne Illusionen oder Furcht vor Verleumdungen werden die klassenbewussten Arbeiter dem mexikanischen Volk in seinem Kampf gegen die Imperialisten beistehen. Die Enteignung von Öl ist weder Sozialismus noch Kommunismus. Aber sie ist eine außerordentlich fortschrittliche Maßnahme nationaler Selbstverteidigung (14).“

Im Folgenden warnt er davor, Illusionen in den sozialistischen Charakter solcher Maßnahmen oder gar des Regimes zu säen: „Das internationale Proletariat hat keinen Grund, sein Programm mit dem Programm der mexikanischen Regierung zu identifizieren. Revolutionäre brauchen ihre Farbe nicht zu wechseln, sich nicht anzupassen und mit Schmeicheleien zu arbeiten wie die GPU-Schule der Höflinge, die im Augenblick der Gefahr die schwächere Seite verraten und verkaufen (15).“

Trotzki betont: Obgleich die Arbeiter die fortschrittlichen Enteignungsmaßnahmen des nationalen Regimes unterstützen müssen, sollen sie aber niemals der Herrschaft des bürgerlichen Staates über sich selbst Unterstützung geben, auch nicht in Gestalt eines volkstümlichen oder „sozialistischen” Bonaparte. Die Aufrechterhaltung der völligen Unabhängigkeit der Klasse ist von grundlegender politischer Bedeutung, besonders angesichts populistischer und „linker“ Führer.

In Lateinamerika nimmt dieser eben dargestellte Linksbonapartismus fast unausweichlich die Form des Populismus an. Michael Löwy, ein Theoretiker der 4. Internationale beschrieb in einem Aufsatz „Populismus, Nationalismus und Klassenunabhängigkeit in Lateinamerika” den Populismus treffend: „Populismus ist eine politische Bewegung und drückt sich in unterschiedlichen Organisationsformen aus (Partei, Gewerkschaft, verschiedene Zusammenschlüsse usw.) Er steht unter bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kontrolle und der charismatischen Führung eines Caudillo (Führers). Einmal an der Macht folgt diese Bewegung, die vorgibt, ‚das Volk‘ in seiner Gesamtheit zu repräsentieren, einer bonapartistischen Linie, vermeintlich über den Klassenteilungen thronend, aber im Grunde die Interessen des Kapitals verfolgend (…) Sie kann auch, besonders bei Druck von unten, den ausgebeuteten Klassen soziale und wirtschaftliche Zugeständnisse machen und/oder wirtschaftliche Maßnahmen antiimperialistischer Art ergreifen (16).“

Der Populismus ist ein starker politisch-ideologischer Zug in Lateinamerika, der in den Traditionen von Lázaro Cárdenas in Mexiko, Getúlio Vargas in Brasilien, Juan Perón in Argentinien, Haya de la Torre in Peru, Víctor Paz Estenssoro in Bolivien und vielen anderen wurzelt. Der besondere Charakter der meisten lateinamerikanischen Länder, ausgebeutet und unterdrückt durch die USA, mit großem Anteil an bäuerlicher Bevölkerung und einer kämpferischen Arbeiterschaft, bietet dort günstige Bedingungen für die Ausbreitung der Formen von Populismus und Bonapartismus.

Der Linksbonapartismus trägt populistische Merkmale, weil die Militanz der Arbeiterklasse aus dieser Sicht politisch aufgelöst und untergeordnet werden muss unter den allgemeinen nationalen Widerstand gegen den Imperialismus mit Teilen der Mittelschicht, Bauernschaft, Staatsverwaltung und sogar patriotischen Kapitalisten, die die Konkurrenz der internationalen Konzerne scheuen oder loswerden wollen.

Der Populismus wendet sich an Teile der herrschenden Klasse und der Mittelschicht, die die Massen – besonders die Bauernschaft und die Arbeiterklasse – kontrollieren wollen, um die Ausprägung von Klassenbewusstsein zu unterbinden.

Der Populismus schwankt zwischen antiimperialistischer und antikommunistischer Rhetorik und Politik, weil er auch zwischen diesen beiden Polen manövriert. Seine Politik gibt sich oft links, trachtet aber immer danach, echtes (kommunistisches) Klassenbewusstsein der Arbeiterbewegung zu hintertreiben und zu isolieren. Der bonapartistisch-populistische Staat will mit seinen Zugeständnissen unabhängige Arbeiterinitiativen verhindern und damit die außerparlamentarischen Aktionen der radikalisierten Teile der Stadtarmut in ungefährlicheres Fahrwasser lenken.

In diesem marxistischen theoretischen Rahmen können wir die Handlungen der chávistischen Regierung und der bolivarianischen Revolution bewerten. Bei der Einschätzung von Chávez‘ Rolle als Linksbonapartist könnten MarxistInnen zwei Fehler unterlaufen: die revolutionären Kämpfe in Venezuela wegen des vorherrschenden Einflusses der radikal kleinbürgerlichen Programme von Chávez und der MVR darin abzuschreiben und zweitens, das Chávez’sche Programm mit dem revolutionären gleichzusetzen.

Es ist aber vielmehr nötig, das Programm als einen – wenn auch verzerrten – Reflex auf die Aktionen der Arbeiterklasse zu begreifen, als Bremse und falschen Wegweiser im Kampf. Es dient nicht dem wahren emanzipatorischen Ziel: der Vergesellschaftung der Produktion. All die Kämpfe um Land, Arbeitsplätze, Produktionskontrolle, Wirtschaftsaufbau zur Ausschaltung von Armut, um Unabhängigkeit vom US-Imperium müssen tatkräftig unterstützt werden – während zugleich das linkspopulistische Programm kritisiert, bekämpft und ersetzt werden muss. Mit dieser Aufgabe beschäftigt sich der zweite Teil dieses Artikels.

Arbeiterkontrolle und Co-Management

In der zweiten Hälfte von Chávez‘ Präsidentschaft erfolgte eine Reihe von Verstaatlichungen von Unternehmen – auf Druck der ArbeiterInnen selbst. Dies ging in zwei Arten vonstatten: Arbeiter-Kooperativen in Staatsbetrieben und Mitverwaltung von Staatsunternehmen. Ursprung davon war die Aussperrung durch die venezolanischen Kapitalisten 2002-2003. Als sie dabei eine Niederlage einsteckten, fuhren die Bosse mit ihrem Klassenkrieg in Guerrillamanier fort. In einem Betrieb nach dem anderen wollten sie die ArbeiterInnen für die Kosten der Aussperrung bluten lassen, indem sie ihnen keine Löhne mehr zahlten oder die Zahlungen verzögerten. Einige Firmen meldeten sogar Konkurs an, was in den meisten Fällen nur eine weitere Waffe des wirtschaftlichen Klassenkrieges war, um das Chávez-Regime zu erschüttern. „Bankrotte”, d. h. Bilanzfälschungen, Arbeitskräfteabbau und Kapitalverlagerung sind zu den Haupttaktiken der venezolanischen Kapitalistenklasse geworden.

Daher gehören Betriebsbesetzungen zu den Schlüsseltriebfedern der venezolanischen Revolution. So lernen die ArbeiterInnen das Führen ihrer eigenen Betriebe und üben Macht gegenüber ihren Chefs aus. Der Kampf kann auch als Schule für den Sozialismus dienen, wo die ArbeiterInnen lernen, die Wirtschaft zu verwalten und den Weg zum Sozialismus für die Gesamtgesellschaft zu erörtern.

Die Betriebsausschüsse können politische und organisatorische Zentren bilden und Verbindungen zu anderen Betrieben herstellen. Aber sie können die Arbeiterklasse auch auf den Irrpfad der Verwaltung des Kapitalismus zurückführen. Alles hängt von der jeweiligen politischen Richtung ab. Das lässt sich anhand von Beispielen belegen.

Eines der bekanntesten davon ist die Übernahme der Papierfabrik Venepal, neuerdings: Invepal. Die Firma ging Bankrott und entließ 900 ArbeiterInnen. Nach einer 77wöchigen Besetzung und einem langen Rechtsstreit übernahm die Regierung das Unternehmen mit 51%iger Staatsbeteiligung und der Übergabe des Restes an die Belegschaft. Eine Betriebsversammlung entscheidet über die Unternehmenspolitik.

Den ArbeiterInnen wurde von ihrer Führung eingeredet, die Gewerkschaftsmitgliedschaft aufzugeben, weil dies nunmehr überflüssig wäre, denn sie würden jetzt von einer Genossenschaft vertreten. Gewinne und Vergünstigungen fließen an den einzelnen Arbeiter statt zurück in die Kassen eines nationalen Plans. Die Führung der Fabrik wurde im November 2005 auf einer Massenversammlung mit 260 zu 20 Stimmen abgelöst und eine neue Vertretung gewählt. Diese demokratische Entscheidung durch eine Vollversammlung wurde vom Ministerium für Volkswirtschaft angefochten, weil es für sich die Mehrheit der 51% Staatsbeteiligung beansprucht, was sich demzufolge auch in der Unternehmensführung niederschlagen müsse. Das beweist, wie gefährlich diese Art von „Co-Management” ist.

Das Beispiel Venepal brachte das Thema Arbeiterkontrolle wieder auf die politische Tagesordnung. Es gab viele Besetzungen, Forderungen nach Verstaatlichung wurden im ganzen Land erhoben und erhielten Unterstützung von Chávez.

Im Gegensatz dazu haben die Cadafe-Arbeiter bei der staatlichen Stromversorgungsgesellschaft nur eine Zweifünftelvertretung im Koordinationskomitee, das lediglich befugt ist, Empfehlungen auszusprechen. Die ArbeiterInnen haben zusammen mit Mitgliedern von Fetraleac, einem Gewerkschaftsverband, der die Kraftwerksarbeiter vertritt, auf den Mangel an Beteiligung der Beschäftigten bei der Führung des Betriebes hingewiesen.

Eine weitere Übernahme gab es bei der Aluminiumgesellschaft Alcasa, die jahrelang mit Verlust arbeitete und wo eine ähnliche Spaltung zwischen Arbeiterschaft und Staateigentum eintrat. Die 2.700 Beschäftigten haben nun ihren eigenen Verwalter gewählt: Carlos Lanz, einen ehemaligen Guerrillakämpfer. In weniger als einem Jahr stieg die Produktivität um 10%. Rafael Rodriguez, der in der Regierung verantwortlich ist für den Wirtschaftsaufbau, beleuchtet die Unterschiede zwischen Alcasa und der Tradition der sozialdemokratischen Mitbestimmung in Deutschland. Für ihn ist Mitbestimmung ein Übergang zur Selbstverwaltung und zum Aufbau des Sozialismus auf „praktische Weise”. Der Betrieb stellt auch Schulen, Gesundheitsversorgung und Waffenausbildung bereit.

Lanz gab 2005 dem International Viewpoint ein Interview, in dem er ein System von vorherrschender Demokratie in der Fabrik beschrieb, aber auch bestätigte, dass alle wichtigen Beschlüsse oder Auseinandersetzungen vom Staat gefällt und gelöst werden. Er erklärte außerdem, welche politische Absicht hinter dem Mitverwaltungsprogramm der Regierung steckt. Er wertete die Politik des Mitgestaltungsprojekts bei Alcasa als Konzept zum „friedlichen Aufbau des Sozialismus” und fuhr fort:

„Als Marxisten und Gramscianer wollen wir eine Gegenmacht aufbauen. Dazu haben wir ein Zentrum für gesellschaftspolitische Schulung eingerichtet, dass Arbeiter sich in dieses Vorhaben einklinken können. Dies ist mit allen möglichen Namen belegt worden, kommunistischer Katechismus usw. Aber nach und nach haben die Arbeiter dieses Bildungsprogramm angenommen. Jetzt sind es bereits mehrere hundert. Nun können die Arbeiter, wie es auch beabsichtigt war, die Schulung schon mehr und mehr selber leiten.“

Nach der Lage des Eigentums an den Produktionsmitteln befragt, gab er folgende Auskunft: „Sie bleiben in staatlicher Hand. Wie plädieren nicht für eine Art von Co-Management, die das Kapital an die Arbeiter verteilt oder sie mit ihm verbindet, oder Aktien an die Lohnabhängigen ausgibt. In Venezuela liegt das Problem nicht so sehr im Bereich des Privateigentums, sondern der Staat besitzt schon die wichtigen Güter des Landes: den Hauptanteil an Grund und Boden, Öl, die großen Firmen. Für uns besteht eher die Schwierigkeit in der Umverteilung und dem Umbau des Staates in sozialistischem Sinne. Deshalb sehen wir die Beteiligung an der Unternehmensführung nicht auf die betriebliche Ebene beschränkt, sondern sie sollte sich auf das gesamtgesellschaftliche Umfeld und alle Fragen bis hin zu militärischen erstrecken. Aber auf diesem Gebiet sind wir leider noch nicht sehr weit fortgeschritten.“

Diese Auszüge zeigen krass, wie schwach die ideologische und politökonomische Seite des bolivarischen Reformprogramms ist. Die Schriften von Gramsci zu Macht und Gegenmacht sind besonders in den letzten 20-30 Jahren nicht von ungefähr von Reformisten und Postmodernisten benutzt worden, um die Notwendigkeit einer neuen Hegemonie in Form von politischer und sozialer Teilhabe an Stelle einer Enteignung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse hervor zu heben (17).

Lanz bezieht sich auf diese reformistischen Voraussetzungen und kommt zu dem widersprüchlichen Argument, es sei nicht notwendig, volle Arbeiterkontrolle oder die Betriebsführung zu erlangen, da der Staat der Hauptagent ist. Gleichzeitig aber gesteht er ein, dass sie bei der Demokratisierung des Staates „noch nicht sehr weit fortgeschritten” sind. Lanz umgeht die Frage nach dem Klassencharakter des Staates und dem Verhältnis von Betrieben (Genossenschaft oder Co-Management) zur übrigen Marktwirtschaft.

Ohne Arbeiter- und Volkskontrolle des Staates in Gestalt von Räten und angesichts des Fortbestehens der Marktökonomie haben die Reformen einen staatskapitalistischen Charakter.

Diese miteinander verknüpften Tatbestände verunmöglichen die Schaffung eines wirkungsvollen landesweiten Produktionsplans, wie Berichte über beklagenswerte Misswirtschaft bestätigen. In einem der Mitbeteiligungsunternehmen kauft z.B. der Staat alle Hemden, um die Produktion am Laufen zu halten. Diese Verschwendung erinnert an den Produktionsprozess in der Sowjetunion, wo der bürokratisierte Plan und der Mangel an Demokratie es den Planern erschwerte zu entscheiden, welche Waren ge¬braucht wurden und welche nicht.

Die Betriebsbesetzungen und Verstaatlichungen haben jedenfalls bislang eine sehr begrenzte Rolle in der „bolivarischen Revolution” gespielt. Chávez verkündete 2005, dass 700 Unternahmen des Landes brach lägen und entweder durch Co-Management-Verstaatlichungen oder Kooperativen übernommen werden sollten. Zumindest zu dieser Zeit hielt er den Kapitalisten den Friedensölzweig hin und bot ihnen Hilfe bei der Bewältigung nachgewiesener ökonomischer Schwierigkeiten an. Von diesen 700 sind dann auch nur wenige vom Staat übernommen worden (18).

2006 wurde die „Revolutionäre Front der besetzten Betriebe“ gegründet im Anschluss an einen Kongress über Besetzung und Arbeiterkontrolle in Lateinamerika. Das Ziel dieser Organisation ist „die Ausweitung der Enteignung und Verstaatlichung der venezolanischen Industrie unter Arbeiterkontrolle“. Aber die Behinderungen durch Staatsfunktionäre zeigen auch, dass es in der bolivarischen Bewegung und dem Arbeitsministerium viel Opposition gegen diese Gedanken gibt – ungeachtet dessen, was Chávez über die Arbeiterselbstverwaltung von Betrieben gesagt haben mag. Auch einige der führenden Befürworter der Arbeiterkontrolle haben keine Klarheit, was sie eigentlich bedeutet und wie sie zum Bruch mit dem kapitalistischen Markt beitragen soll.

Landreform

Die Methode von Staatseingriffen, um unproduktive oder ums Überleben kämpfende Wirtschaftsbereiche anzukurbeln, hat auch bei Chávez‘ Landreform Einzug gehalten. Auch hier bleibt Chávez‘ Programm auf die Übernahme nicht genutzten und schlechteren Landes beschränkt – mit anderen Worten: Landstücke in Privatbesitz, die brach liegen. Deshalb wird deren „Enteignung“ nicht die Profite ihrer Besitzer beeinträchtigen. Bauern wurden 2005 per Gesetz dazu ermuntert, anzufangen Ländereien zu besetzen und zu fordern, dass die Regierung sie an das Volk aushändigt.

Richter und Polizeichefs vor Ort, die die Bauern wieder vom Land vertrieben, vereitelten diese Bemühungen aber. Eine große Ranch, die 2005 nationalisiert wurde, gehörte Lord Vestey, einer Person an 56. Stelle der Reichen Britanniens, der in ganz Südamerika über Grund und Boden verfügt. Das löste einen Sturm aus. Doch seitdem sind nur wenige Großgrundbesitzer betroffen gewesen. Es gibt sogar eine Chávez wohl gesonnene Vereinigung von Landbesitzern und Farmern, die seine Bestrebungen unterstützen, das Landesinnere wieder zu bevölkern.

Es sind eher die Sozialmaßnahmen des Regimes als seine bis dato eingeschränkten Verstaatlichungen, die die Massen in ganz Lateinamerika in Aufregung versetzen und zu dem begeisterten Empfang geführt haben, der ihm auf den Weltsozialforen widerfahren ist. Auf einem Kontinent, der 20 Jahre Neoliberalismus erlitten hat und ein großes Maß an Armut aufweist, kommt das nicht überraschend. Diese Programme sind zweifellos beeindruckend.

Die Misiónes

Seit 2003 hat Chávez Millionen Dollar in die Misiónes und andere soziale Projekte investiert, die Analphabetismus und Volkskrankheiten bekämpfen. Das Angebot an freier Gesundheitsfürsorge in Venezuela erreicht nun ungefähr 54% der Ärmsten. Die Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen stellen einen wichtigen Sieg dar, der unter Chávez und der MVR erzielt worden ist.

Die Misión „Barrio Adentro“ (In Nachbarschaft) wurde im März 2003 in einem verarmten Stadtteil der venezolanischen Hauptstadt gegründet. Von hier aus breitete sich das Beispiel übers ganze Land aus. Mehr als 15.000 kubanische Doktoren, MedizinspezialistInnen, ZahnärztInnen und selbst SporttrainerInnen wurden in neuen Gemeindekrankenhäusern für 250 $ monatlich angestellt. Das ist viel weniger als die Gehälter, die Privatärzte verdienen, doch es ist mehr, als ihr Entgelt auf Kuba betrüge. Die Regierung behauptet jetzt, dass 18 Millionen, fast 70% der Bevölkerung, in diesen Kliniken behandelt werden. Seitdem wurden in den letzten drei Jahren vier Diagnostikzentren gegründet und neue Hospitäler errichtet.

Dieses enorme Werk wurde parallel zum existierenden öffentlichen und privaten Gesundheitswesen vollbracht, nicht als dessen Bestandteil. Das trifft auf alle Misiónes zu, die als separater Staat im Staat konzipiert und von MVR-Mitgliedern und AktivistInnen der bolivarischen Zirkel unterhalten wurden und von der Armee unterstützt werden. Dies dient einem doppelten Zweck: nicht nur die Sofortreformen umzusetzen, die die Leute verlangen, sondern auch als Mittel, Chávez‘ Einfluss auf die verarmten Massen zu steigern.

Der Widerspruch in diesem Sozialprogramm liegt darin, dass es nicht mittels Transformation des Staats erreicht worden ist, was Säuberungen korrupter Beamter erfordert hätte, sondern ihn unbehelligt ließ und die Missionen parallel dazu in Gang brachte. Der bürgerliche Staat ist oft, wie bei der Agrarreform, Misión Zamora, dazwischen gegangen und hat versucht, die Praxis dieser bolivarischen Zirkel zu durchkreuzen.

Auf anderen Gebieten müssen die Sozialmaßregeln noch eine gewisse Strecke zurücklegen. So gibt es noch eine gewaltige Zahl von Menschen, die in der prekären Schattenwirtschaft arbeiten. Von den geplanten 120.000 neuen Häusern ist bisher nur die Hälfte gebaut worden.

Die Misiónes sind auch vollständig abhängig von Venezuelas riesigem Ölreichtum. 2004 trugen die Profite aus dieser Branche ca. 25 Mrd. $ bei. Venezuela versorgt Kuba mit 53.000 Barrel unter dem Marktpreis im Gegenzug für die Dienstleistungen tausender ÄrztInnen, LehrerInnen, SporttrainerInnen und anderer Fachleute. Die Erdölgewinne liefern nicht nur die materielle Unterfütterung für die Sozialprogramme. Sie subventionieren auch viele Teile der Wirtschaft, wie die verstaatlichten Fabriken, von denen viele an niedriger Produktivität kranken und ohne Staatshilfe keine lebensfähigen Unternehmen wären.

Die Bedeutung des Öls spiegelt die einfache Tatsache wider, dass Venezuela fest in die Weltwirtschaft mit all ihren Widersprüchen eingebunden bleibt. Eine ihrer Ironien ist die enge Wirtschaftsbeziehung mit den USA. Trotz aller diplomatischen und politischen Spannungen zwischen Washington und Caracas seit 1998 bleibt der Handel mit den Vereinigten Staaten umfangreicher als der mit irgendeinem anderen Staat. Er umfasst beträchtliche US-Einfuhren von Agrarprodukten und gewerblichen Waren wie venezolanische Ölausfuhren. 2006 bezifferten die venezolanischen Importe von US-Gütern ein neues Hoch im Wert von etwa 6,4 Mrd. Dollar. Dank v. a. des Ölexports beläuft sich der Außenhandelsüberschuss mit den USA auf ungefähr 26,4 Mrd. $. Dieser Handel machte 2005 55% der Aus- und 33% der Einfuhren aus (19).

Die Abhängigkeit der Maßnahmen vom Marktwert eines einzelnen Rohstoffs soll weltweit allen als Warnung dienen, die glauben, das Chávez-Programm biete eine Alternative zum vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodell.

Sozialistisch oder kapitalistisch?

Diese Analyse des Wirtschaftskonzepts des Chávez-Regimes enthüllt dessen tiefe nationale und globale Klassenwidersprüche. Wie die Konflikte um die Landbesetzungen bestätigen, haben Kapitalisten und Grundbesitzer noch einen bürgerlichen Staat und eine Armee parat, die ihre Eigentumsrechte achten und wo notwendig verteidigen. Darüber hinaus mag der Staat ein zentraler Akteur in der Wirtschaft, besonders durch seine Rolle in der Erdölindustrie, sein; aber er arbeitet nicht darauf hin, das Funktionieren solcher Kernelemente des Kapitalismus außer Kraft zu setzen wie Warenproduktion, Profit, Wertgesetz, Lohnungleichheiten, Privateigentum und Geld. Im Gegenteil: seine Wirtschaftskraft rührt materiell vom Export einer Ware (Öl) auf den kapitalistischen Weltmarkt, besonders in die Vereinigten Staaten, her.

Somit behält das Staatseigentum, so es überhaupt existiert, einen grundlegend staatskapitalistischen anstatt sozialistischen Charakter. Mit dieser Analyse möchten wir keinesfalls die Bedeutung der dortigen Entwicklungen herunter spielen, besonders der verbreiteten Radikalisierung und Volksverbundenheit marxistischer Politik. Aber sie erkennt den anhaltenden kapitalistischen Grundzug des venezolanischen Staats und der Wirtschaft.

In diesem Zusammenhang rückt die Volksbewaffnung in den Mittelpunkt, um die Auseinandersetzungen um Arbeit, Löhne, Land zu verteidigen und auch für das einzige Mittel zu sorgen, diesen kapitalistischen Staat zu zerstören: die Machtergreifung. Die Chávistas werden sofort kontern, die Volksbewaffnung habe begonnen. Chávez kündigte die Einrichtung der Misión Miranda, der Aufstellung ziviler Milizen im April 2005 an. Im März 2006 startete das erste Ausbildungsprogramm für ungefähr zwei Millionen Reservisten. Waffenkäufe (einschließlich des Erwerbs von 100.000 russischen Kalaschnikows) haben wütende Kritik seitens der kolumbianischen und der US-Regierung ausgelöst. Die Bewaffnung breiter Volksschichten stellt einen bedeutenden Schritt in Venezuela dar. Er hat eine heftige Steigerung des revolutionären Kampfs zur Folge. Doch die Bewaffnung der Reservistenmiliz geschieht allein durch die bolivarianischen Zirkel. Die Waffen werden von den Chávistas und der MVR kontrolliert, und die Miliz ist Chávez persönlich gegenüber verantwortlich.

Es wäre naiv zu glauben, die Miliz werde nur zur Abschreckung fremder Intervention eingesetzt. Sie ist auch eine Warnung an die bürgerliche Opposition, dass Chávez sich vor inneren Unruhen schützen will. Wenn diese Streitmacht gegen die rechten ReaktionärInnen und ihre Putschversuche mobilisiert wird, müssen ArbeiterInnen und SozialistInnen natürlich mit den Chávistas eine Einheit zwecks Niederschlagung des Staatsstreichs eingehen. Im selben Atemzug kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Miliz künftig auch gegen andere gesellschaftliche Kräfte und linke Kritiker an Chávez eingesetzt wird.

Chávez‘ jüngste Vorschläge, die bolivarianische Bewegung in einer politischen Partei zu vereinheitlichen und die Verfassung dahingehend zu ändern, dass die Befristung der Präsidentenamtszeit abgeschafft wird, wecken zusammen mit der Aushebung einer Miliz Erinnerungen an die „realsozialistischen“ bürokratischen Regime des 20. Jahrhunderts. Die Schlüsselfrage lautet: bis zu welchem Ausmaß ist die Arbeiterklasse in der Lage, sich unabhängig vom bonapartistischen Regime zu organisieren und den Weg zum Sozialismus mittels eines revolutionären Programms einzuschlagen? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Studium der Gewerkschaftsbewegung und der extremen Linken entscheidend.

Gewerkschaften und Partei

Die nationale Arbeitergewerkschaft (UNT) wurde sowohl aus den Kämpfen inner- wie außerhalb des alten Dachverbands, der Konföderation venezolanischer Arbeiter (CTV), heraus geformt. Die CTV betrieb Klassenkollaboration mit den Unternehmern und unterstützte Staatsstreich und Aussperrung. Die UNT hat von neuen Arbeitsgesetzen profitiert und ArbeiterInnen organisiert. Ihr Erfolg zeigte sich am Maifeiertag letzten Jahres, als die UNT eine halbe Million ArbeiterInnen aufbot und die CTV weniger als 1000.

Fast 3.000 Delegierte wohnten der 2. UNT-Konferenz vom 25. – 27. Mai 2006 bei. Sie vertraten etwa 1,2 Millionen ArbeiterInnen, die in 700 lokalen und 16 landesweiten Gewerkschaften organisiert sind. Sobald aber Generalsekretär Marcelo Maspero zu reden anfing, ertönten Sprechchöre los: „Wahlen, Wahlen, wir wollen Wahlen“.

Orlando Chirino, ein Erdölarbeiter und Anführer der „Strömung Klassenkampf“, verfügte über die Unterstützung von ca. 70% der Abgeordneten. Er tritt dafür ein, Chávez gegen den Imperialismus zu verteidigen, aber unabhängig von dessen Bewegung zu bleiben. Diese Strömung forderte Wahlen, weil die UNT-Leitung von Beginn im August 2003 sich selbst ernannt hatte.

Die Minderheitsgruppen wie die Bolivarische Arbeiterschaft (FBT) und die autonome Gruppierung, wuchsen aus den Auseinandersetzungen gegen die CTV hervor. Sie unterstützen Chávez stärker. Einige haben Verbindungen zu Teilen des Arbeitsministeriums.

Die kleine „revolutionär-marxistische Strömung“ (CMR), die der Internationalen Marxistischen Tendenz angeschlossen ist, trug vor, die Konferenz solle ein Programm für die UNT und einen Aktionsplan diskutieren, um die Arbeiterklasse in den Mittelpunkt des revolutionären Prozesses zu rücken. Ein solches Programm, sagte sie, muss für Arbeiterkontrolle über die Fabriken kämpfen, für die Verstaatlichung der Industrie unter demokratischer Kontrolle mit Beteiligung der arbeitenden Klasse, für die Abschaffung des kapitalistischen Staats und seine Ersetzung durch einen revolutionären Arbeiterstaat.

Das ist gut. Doch die CMR stellte das der Notwendigkeit, einen Vorstand zu wählen, entgegen. Das genieße keinen Vorrang, argumentierte sie. Bezüglich der Schwerpunkte machte sie gemeinsame Sache mit der Betonung der Chávistas, eine Kampagne für die Wiederwahl des Präsidenten durchzuführen. Sie sagten: „Die Schlacht für die Wiederwahl des Präsidenten ist untrennbar vom Ringen um die Lösung der gravierenden Probleme, die Arbeiter und die breite Bevölkerungsmehrheit weiter erdulden, sowie der Notwendigkeit, den Sozialismus aufzubauen.“

Weit daneben! Die wirkliche Schlacht dreht sich um die Unabhängigkeit der Arbeiterschaft und den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei, die die Macht erobern kann!

Tatsächlich beschuldigte die CMR jene, die „die UNT weg von der bolivarischen Bewegung abspalten wollen“, des „Ultralinkstums“. Das war zweifelsohne ein versteckter Fingerzeig auf die Partei für Revolution und Sozialismus (PRS), die die Verbindungen der UNT zur Regierung kritisch beäugt und mit der Chirino-Gruppierung zusammenhängt. Diese stellt fest, es sei Pflicht von SozialistInnen, Schulter an Schulter mit den Massen zur Verteidigung Chávez‘ gegen imperialistische Überfälle zu stehen. Gleichzeitig fordert sie die Bildung einer „revolutionären Massenpartei“. Es ist sogar im Gespräch, bei Kommunalwahlen KandidatInnen gegen die bolivarianische Bewegung aufzustellen, um die Staatsbürokraten oder „Kapitalisten, die rote Barette tragen“ bloßzustellen.

Die PRS, deren Kader hauptsächlich aus der morenistischen Tradition stammen, befürwortet die Enteignung des Bürgertums unter Arbeiterkontrolle und kämpft für soziale Revolution auf Weltebene. Aber ihr Programm ist bei der Frage, was die bürgerliche Staatsmaschine ersetzen soll und wie die Arbeiter das erreichen können, sehr ausweichend. Trotz dieses linkszentristischen programmatischen Zuges ist dennoch die PRS momentan die fortschrittlichste politische Organisation in Venezuela mit einer echten Arbeiterbasis.

In diesem Zusammenhang sollten wir Chávez‘ Aufruf vom 18. Dezember 2006 für eine gemeinsame Partei betrachten, um die Parteienkoalition zu vereinigen, auf der seine Macht beruht. Er forderte seine UnterstützerInnen auf, ihre existierenden Parteien aufzulösen und eine neue Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) zu gründen.

Chávez behauptet, die Vielzahl an Parteien, die seine Regierung stützen, sei ein Hindernis für die Herausbildung seines Sozialismus im 21. Jahrhundert: „Wir brauchen eine Partei, keine Buchstabensuppe, mittels der wir mit Lügen übereinander herfallen und die Leute anschmieren.“ Er unterstrich seine Entschlossenheit und sagte, dass jene Parteien, die sich nicht auflösen wollen, seine Regierung verlassen müssten.

Chávez‘ Aufruf ist dazu gedacht, die Entstehung einer wirklichen Arbeiterpartei zu verhindern. Genauso ist die Weigerung der Chávistas, Funktionäre vom UNT-Kongress wählen zu lassen, ein klares Indiz, dass sie nicht darauf eingestellt sind, sich der Arbeiterdemokratie zu beugen, besonders wenn sie von der Linken geschlagen werden könnten.

In der gegenwärtigen Periode ist es offensichtlich schwierig für diese Kräfte, welche nach Klassenunabhängigkeit streben, dem Druck, sich dem Populismus von Chávez unterzuordnen, zu widerstehen. Andernfalls beginge man den politischen Fehler des Sektierertums. Doch die politische Unterordnung unter Chavez muss beendet werden!

Bei den Präsidentschaftswahlen beging die PRS einen bedeutenden taktischen Fehler. Sie rief zur Stimmabgabe für Chávez auf, anstatt ihren eigenen Kandidaten auf Grundlage eines Programms von Übergangsforderungen aufzustellen. Sie hätte die Kampagne nutzen können, um eine Aufforderung nach Vertiefung der fortschrittlichen Maßnahmen der Regierung Chávez zu kombinieren mit der Klarstellung, dass PRS und Classistas Venezuela gegen imperialistische Angriffe und konterrevolutionäre Experimente durch die Kapitalisten in Schutz nähmen. Sie hätte aufgezeigt, warum die Lohnarbeiterklasse die führende Kraft in der Revolution werden, warum sie ihre eigene Partei organisieren und für die Errichtung einer Arbeiterrepublik in Venezuela als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten Lateinamerikas kämpfen muss.

Die PRS tat das jedoch nicht! Offensichtlich wäre es politischer Selbstmord, die PRS einfach in Chávez‘ neue Partei hinein aufzulösen. Es wäre aber ein grober Schnitzer, beiseite zu stehen, wenn Chávez seine Vereinigte Sozialistische Partei gründet. RevolutionärInnen sollten an allen Debatten und Versammlungen teilnehmen und dafür eintreten, dass die Programmfrage – die Strategie für den Sozialismus – so demo¬kratisch diskutiert werden muss wie der Grundzug von Parteistruktur und Organisation. Die PRS muss wie jede andere Arbeiterorganisation – sei es Partei, Gewerkschaft oder Stadtteilorganisation – volle demokratische Rechte fordern und erkämpfen, einschließlich des Rechts, öffentlich Fraktionen und Tendenzen zu bilden.

Fünf Triebkräfte der Revolution

Wir haben die politischen Ursprünge von Chávez analysiert, ihn als Linksbonapartisten gekennzeichnet und auf den begrenzten, bürgerlich-volkstümlerischen Grundzug seines Reformprogramms verwiesen. Innerhalb dieses Rahmens haben wir seinen Aufstieg in Zusammenhang mit dem politischen und geschichtlichen Umfeld neoliberaler Globalisierung und des Widerstands dagegen gestellt. Im letzten Teil dieses Artikels schauen wir auf den radikalen Wandel in Chávez‘ Rhetorik, seit er im Dezember 2005 mit über 60% der Stimmen wiedergewählt wurde. Chávez hat seither eine Reihe bemerkenswerter Verlautbarungen über die Notwendigkeit, die „sozialistische Revolution“ zu vertiefen, von sich gegeben.

Am 8. Januar, anlässlich der Vereidigung seiner neuen Minister, kündigte er ein Programm an, das sich um fünf „Triebfedern“ des revolutionären Prozesses dreht. Chávez nannte als erste von ihnen ein Ermächtigungsgesetz, das ihm gestattet, Verordnungen mit voller Gesetzeskraft zu erlassen. Das sei, argumentierte er, das „Grundgesetz“ des ganzen bolivarisch-sozialistischen Projekts. Als der Einwand kam, das würde ihm ein Jahr lang gewähren, Dekrete zu erlassen, gab er bekannt, er würde sie für die Nationalisierung der Industriezweige nutzen, die unter Vorgängerregierungen privatisiert worden waren. „All das, was privatisiert ist, lasst es verstaatlichen“, sagte er.

Unmittelbare Zielobjekte umfassen die Elektrizitätsgesellschaft Electricidad de Caracas und den Medienriesen CA Nacional Teléfonos de Venezuela (CANTV). Diese Übernahme würde dem von der Opposition kontrollierten Fernsehkanal RCTV den Stecker herausziehen. Er hatte unablässig gegen Chávez mobilisiert – einschließlich während all der misslungenen Staatsstreiche und Destabilisierungskampagnen der letzten acht Jahre. Die Regierung würde auch die Mehrheitsanteile am Ölprojekt im Orinokogürtel übernehmen, gegenwärtig ein Gemeinschaftsunternehmen mit mehreren Auslandsfirmen, darunter Exxon Mobil und BP.

Die zweite dieser Antriebskräfte ist eine weitere Verfassungsänderung einschließlich der Feststellung, der venezolanische Staat sei ein „bolivarisch-sozialistischer“. Er erklärte: „Wir bewegen uns gerade auf eine sozialistische Republik Venezuela zu und das gebietet eine tief greifende Reform unserer nationalen Verfassung. Wir stürmen vorwärts Richtung Sozialismus und nichts und niemand kann das verhindern.“ Eine andere konstitutionelle Reform, die er vorgeschlagen hat, ist ein Ende der Begrenzung der Zahl an Amtsperioden, die eine Person zum Präsidenten gewählt werden kann.

Der dritte Motor ist der Ausbruch eines neuen Elans für „bolivarische Volkserziehung“, der die „neuen Werte vertiefen und die alten von Einzelgängertum, Kapitalismus und Egoismus sprengen“ werde. Als vierten nannte er „eine neue Machtgeometrie für die nationale Landkarte“, um ärmere Randzonen des Landes zu wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung zu verhelfen.

Schließlich ist der fünfte Antrieb, was er als „Explosion von Gemeindemacht“ bezeichnet. Chávez schlägt vor, den jüngst geschaffenen Stadtteilräten von 200-400 Familien in den Barrios (Vororten) mehr Macht zu verleihen. Jeder davon wird Deputierte für den Gemeinderat wählen. Er hat angekündigt, dass 2007 5 Mrd. $ dafür ausgegeben werden. Tatsächlich peilt er an, dass diese Räte die existierende Staatsstruktur nach und nach ersetzen. Was gebraucht wird, sagt Chávez, ist, „den bürgerlichen Staat abzubauen“, weil alle Staaten „ins Leben gerufen wurden, Revolutionen zu verhindern“. Zweifellos werden einige Zentristen und Stalinisten diese Räte zu Sowjets erklären – das wäre jedoch ein Irrtum und eine große Täuschung der venezolanischen Massen.

Die Räte werden eng mit den Misiónes verknüpft sein und ein Forum für die Teilhabe der Bevölkerung vor Ort an der Ausstattung mit sozialen Dienstleistungen darstellen. Die Gefahr besteht darin, dass sie „parallel“ zum Staat aufgestellt sind, letztlich aber unter Einfluss und Vorherrschaft von Chávez blieben. Somit mangelt es ihnen an wirklicher Klassenunabhängigkeit von Organisationen wie den Sowjets der russischen Revolution.

Bei all seiner Redekunst hat Chávez keine Maßnahmen ins Auge gefasst, die Staatspolizei zu entwaffnen und abzuschaffen oder Räte der Mannschaftssoldatenränge gefordert, die die Macht der Generäle herausfordern könnten. Besonders kritisch ist, dass Chávez den bolivarischen Staat eher als die Arbeiterklasse für die Schlüsselfigur bei der Führung der Revolution hält.

Das spielt auch bei seiner Position zur Verstaatlichung mit. Für die venezolanische Kapitalistenklasse und die Imperialisten ist dies wahrscheinlich der meist umstrittene seiner Vorschläge, bedroht er doch ihre Kontrolle über Produktionsbereiche. Chávez hat versichert, dass die EigentümerInnen in allen Fällen entschädigt werden. Das gewährt den früheren Eignern ein garantiertes Einkommen über Jahrzehnte, auf Kosten der Arbeiterschaft und ohne die gängigen Risiken kapitalistischer Investitionen. Es deutet auch die Möglichkeit an, die Nationalisierungen in Zukunft zurückzunehmen. Kurz: es ist weit von Marx‘ Aufruf zur „Expropriation der Expropriateure“ entfernt.

Ohne Organe der Arbeiterproduktionskontrolle wird die Verstaatlichung eine Form von bürokratischem Staatskapitalismus erzeugen statt der Vergesellschaftung der Produktion. Selbst wenn Chávez seinen gestärkten Staatsapparat nutzen sollte, die Kapitalistenklasse vollständig zu enteignen und einen Produktionsplan einzuführen, käme ohne Arbeiterdemokratie bestenfalls ein bürokratisch degenerierter Arbeiterstaat nach dem Modell von Stalins UdSSR dabei heraus – keinesfalls ein demokratischer Arbeiterstaat, der in den Sozialismus übergeht.

Eine wichtige Wahl, die das Chávez-Regime zukünftig treffen muss, ist, ob das Kooperativ- oder Mitverwaltungsmodell verallgemeinert werden soll. Beide weisen in Richtung unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, einer utopischen Variante von Marktsozialismus, die auf Arbeiteranteilen an Kooperativen fußt, bzw. einer bürokratisch-staatlichen Form von Kapitalismus. Chávez glaubt, dadurch, dass er Schlüsselindustrien verstaatlicht und Sozialreformen unterstützt, den Sozialismus einzuführen – ohne Konfiskation des Privateigentums, ohne Inbesitznahme der Großkonzerne, Banken, des Großgrundbesitzes, in Abwesenheit eines Planwesens, das die Funktionsweise des Markts unterdrückt. Solche Maßnahmen stellen keinen Sozialismus dar. Sie bleiben staatskapitalistisch – ein bedeutendes Attribut vieler Länder der „3. Welt“ bis zur neoliberalen Revolution der 1980er Jahre.

Darum bleibt die Frage nach dem Charakter des Staats, der diese Maßregeln umsetzt, absolut grundlegend. Es gibt gute Gründe, warum MarxistInnen argumentieren, es führe kein reformistischer Weg zum Sozialismus. Denn wir wissen, dass der bürgerliche Staat die Privateigentumsverhältnisse verteidigen wird. Es ist auch in Venezuela unvorstellbar, dass die Bourgeoisie schlicht gestatten wird, dass ihre Wirtschaftsmacht „wegreformiert“ wird. Sie hat schon gegen Chávez zu putschen versucht, als er viel weniger radikal war.

Die Frage ist: Werden die Massen, die Chávez folgen, dies rechtzeitig merken? Werden sie es noch während ihrer Offensive, wenn sie stark sind und das Bürgertum schwach ist, merken oder erst nachdem die Bewegung ins Stocken geraten ist, wenn Chávez begonnen hat, zurückzuweichen? Der Tod des früheren Diktators Augusto Pinochet im Dezember 2006 diente als zeitige Erinnerung an einen möglichen Weg, das herauszufinden – einen blutigen Militärputsch, wie er sich in Chile 1973 zutrug. Eine umfassende Wirtschaftskrise, entweder infolge einer weltweiten Rezession oder wenn es einen Deflationsdruck auf den Ölpreis gibt, könnte die Woge der Reaktion anfachen.

Darum ist es falsch, wenn „SozialistInnen“ argumentieren, einen alternativen Aktionskurs vorzubereiten sei voreilig oder gefährlich – oder dass Chávez sogar Schritt für Schritt eine sozialistische Revolution durchführen könne. Bei Gelegenheit wird die kapitalistische Klasse wieder mobil machen, diesmal mit mehr Unterstützung von ihren herrschenden Klassenkumpanen im Ausland. Welche genaue Form das annehmen wird, bleibt abzuwarten. Es könnten ein Attentat auf Chávez sein, Wirtschaftssanktionen oder eine Invasion; letzteres weniger wahrscheinlich angesichts der Bindung der USA im Mittleren Osten.

Der kubanische Weg?

Natürlich haben Chávez‘ Reden eine extrem feindliche Antwort der Presse ausgelöst. Die New York Times, Washington Post und das Wall Street Journal haben ihn alle bezichtigt, er sei ein Diktator und verwandle Venezuela in ein zweites Kuba. Damit meinen sie eine völlig verstaatlichte und geplante Wirtschaft. Das aber kann Chávez ohne zwei Handlungsausrichtungen nicht tun. Beide würden einen qualitativen Richtungswechsel bedeuten.

Die erste wäre Unterstützung einer wirklich sozialistischen Revolution, d.h. Ergreifung der gesamten Staatsmacht durch die in Arbeiter- und Bauernräten organisierten Massen, die Auflösung der Streitkräfte ins bewaffnete Volk, Enteignung der kompletten Kapitalistenklasse, Vergesellschaftung der Produktion unter demokratischer Planung und Arbeiterkontrolle. Zur Sicherstellung dessen wäre eine revolutionäre Arbeiterpartei notwendig, nicht eine, die dem Präsidenten untersteht oder von ihm abhängig ist. Kurz, es würde beinhalten, dass Chávez selbst von einem Linksbonapartisten zum Mitglied einer revolutionären Partei mutierte. Da so etwas nie vorher passierte, wäre es das Dümmste, darauf zu bauen.

Viele werden aber entgegnen, dass das in der Tat in Kuba geschah. Fidel Castro schaffte den Übergang von einem Populisten zum Oberhaupt eines „kommunistischen“ Staats. Im 20. Jahrhundert hat die Geschichte tatsächlich eine Alternative zur sozialen Revolution, geführt von der Lohnarbeiterschaft und ihrer Partei, gezeigt – eine bürokratische soziale Revolution. In diesem Fall wurde die Arbeiterschaft am Ergreifen der Staatsgewalt gehindert, aber die KapitalistInnen verloren ihre gesellschaftliche und politische Macht.

Castro und seine siegreiche Guerillaarmee kamen als antiimperialistische Volkstümler, nicht als Sozialisten, an die Macht, obwohl Che Guevara und Castros Bruder Raul sich selbst gewiss als Kommunisten betrachteten. Anders als Chávez zerstörten sie jedoch die alte kubanische Armee des Diktators Batista und ersetzten diese durch eine, die auf ihren Guerillakräften fußte. Eine Reihe von entschädigungslose Verstaatlichungen und die Antwort der USA darauf in Gestalt einer Blockade und eines versuchten Putsches (Invasion in der Schweinebucht) trieben Castro zur Etablierung eines degenerierten Arbeiterstaats nach demselben ökonomischen und politischen Modell, wie es damals in der Sowjetunion existierte. Die enorme militärische und wirtschaftliche Unterstützung letzterer spielte eine sehr wichtige Rolle dabei, dass dies eintreten konnte.

Weil die Arbeiterklasse in diesem Verlauf keine bewusste Rolle spielte, weil keine Arbeiterdemokratie in der Revolution aufkam, wurden Castro und Co. zur herrschenden Bürokratie.

Kuba wurde und bleibt ein Einparteienstaat – ohne Arbeiterräte und unter der Herrschaft der Partei- und Militärbürokratie. Er trägt nur Insignien demokratischer Umfragen, Volksentscheide und Wahlen, bei denen keine rivalisierenden Arbeiterparteien zugelassen sind.

Viele der die bürokratische Gesellschaftsumwälzung auf Kuba in den frühen 60er Jahren begünstigenden Umstände existieren nicht mehr. Aber Kuba gibt es noch. Den amerikanischen Imperialismus auch: er wird früher oder später Venezuela blockieren, wenn es ihm weiterhin die Stirn bietet. Solch eine Umwälzung kann darum nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Zudem wird innerhalb Venezuelas wie auf der ganzen Welt eine zunehmende Zahl – einschließlich einiger, die sich als TrotzkistInnen bezeichnen – das als korrekte Richtung befürworten, also „Folgt dem kubanischen Weg!“

Was ist also das Problem mit „dem kubanischen Weg“? Ganz einfach: er führt nicht zum Sozialismus! Sozialismus ist eine Gesellschaft, wo die soziale Gleichheit zunimmt, alle Privilegien abnehmen und die Grundlage für eine vollständig klassenlose Gesellschaft gelegt wird. Um dieses Programm umzusetzen, muss es Arbeiterdemokratie geben, um Bürokratie in Schach zu halten und auszumerzen, den Wirtschaftsplan zu kontrollieren und zu verbessern und zu entscheiden, welche Partei oder Parteien die Interessen der arbeitenden Klasse verkörpern.

Vor allem kann Sozialismus nicht in einem Land aufgebaut werden – nicht mal auf einem Kontinent! Ein Arbeiterstaat muss eine Festung sein, ein Stützpunkt, von dem aus sich die Revolution über den ganzen Erdball ausbreiten kann. Die Isolierung der Revolution, selbst in einem riesigen Land wie Russland, bedeutete am Ende „Vergesellschaftung“ der Knappheit und Armut und private Aneignung der überwältigenden Menge an Vorrechten durch die Partei- und Staatsbürokratie. Der stalinistische Weg – und bei all seinem antiimperialistischen Gerede und Guerillaglanz ist der kubanische ein stalinistischer Weg – ist eine Sackgasse. Wie in Russland, Osteuropa und China führt er zur Restauration des Kapitalismus, wenn nicht vorher eine politische Revolution die Bürokratie stürzt.

Einige Leute werden das bestreiten; weit entfernt, die kubanische Straße einzuschlagen, mache Chávez sich auf den Weg der Permanenten Revolution – Trotzkis Weg.

Permanente Revolution

Bei seiner Einführung ins Präsidentenamt am 10. Januar 2006 unterstrich Chávez die Vorstellung, Venezuela trete in einen achtjährigen Übergang zum Sozialismus ein. Er zitierte nicht nur die Gedanken von Karl Marx und Lenin, sondern sagte auch: „Ich bin eng mit Trotzkis Linie verbunden – der Permanenten Revolution.“

Zuvor berichtete Chávez selbst Folgendes: Als er Ramón Rivero Gonzaléz rief, um ihm den Posten als Minister für Arbeit und Soziales anzubieten, „sagte er zu mir, ‚Präsident, ich möchte ihnen etwas sagen, bevor wir zum Thema kommen … ich bin Trotzkist.‘ Ich sagte ihm: ‚Gut, wo ist das Problem? Ich bin auch Trotzkist! Ich bin Anhänger der trotzkistischen Linie von der Permanenten Revolution.“

Bevor TrotzkistInnen überzeugt werden, Chávez sei ein halber Trotzkist aufgrund seiner Erklärung, er glaube an die Strategie der Permanenten Revolution, sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, dass er sich gleichfalls zum Unterstützer von Jesus, Mao, Fidel Castro und Simon Bolivars erklärt hat.

Aber was genau meint Chávez mit seiner bemerkenswerten Behauptung, der Theorie der Permanenten Revolution anzuhängen? Chávez setzt sie klarerweise gleich mit einem Prozess zunehmender sozialistischer Maßnahmen und einer Form internationaler Ausbreitung der Revolution. Wie wir vorher bemerkten, bleibt Chávez‘ Sozialismus auf einen sehr radikalen Reformismus beschränkt, der auf vereinzelten Verstaatlichungen mit Entschädigungszahlungen statt vollkommener Enteignung der herrschenden Klasse beruht.

Was sein Vorhaben begrenzt, was es grundlegend uneins mit Trotzkis Methode macht, ist, dass bei Chavez der bürgerliche Staat das Subjekt im „revolutionären Prozess“ bleibt. Zusätzlich hat Chávez befreundeten bürgerlichen, volkstümelnden Oberhäuptern in Lateinamerika wie Lula in Brasilien volle politische Unterstützung gewährt. Und er versucht, (kapitalistische) Wirtschaftsintegration in Form von Handels- und Finanzierungsabkommen voranzutreiben.

Diese „Permanente Revolution“ ist meilenweit von der Strategie entfernt, die Leo Trotzki zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausarbeitete. Für Trotzki war der zentrale revolutionäre Akteur die arbeitende Klasse selbst im Bündnis mit der armen Bauernschaft, also die das Volk stellenden Klassen in Stadt und Land – aber nicht „im Volk“ aufgelöst. Es ist notwendig, dass diese Kräfte sich in Räten aus abrufbaren Delegierten, die in den Betrieben, Dörfern, Kasernen und Stadtvierteln gewählt werden, organisieren.

Die Theorie der Permanenten Revolution erkennt die Unmöglichkeit, den Sozialismus per Gesetz einzuführen, ob als Präsidialerlass oder durch ein bürgerliches Parlament. Diese Revolution umfasst das Inbesitznehmen der Staatsmacht und das Zerbrechen der alten Staatsmaschine: Armee, Polizei und Beamtenbürokratie.

Sie muss durch eine gänzlich neue Art von Staatsgewalt ersetzt werden: einen Arbeiterstaat. Dieser würde sich auf einen Rat von Deputierten stützen, der auf Massenversammlungen an den Arbeitsplätzen und in armen Stadtvierteln gewählt und von einer Massenmiliz verteidigt wird. Die Großproduktion wird den Händen der Reichen entrissen. Mittels Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung aller Güter und Dienstleistungen wird sie gemäß einem demokratischen Plan organisiert.

Weit entfernt davon zu glauben, der Sozialismus könne in einem einzelnen Land errichtet werden, kämpft der Arbeiterstaat für die Internationalisierung der Revolution, d.h. für den Sturz der bürgerlichen Klasse in ganz Lateinamerika und weltweit.

Partei und Programm

Permanente Revolution ist kein objektiver Geschichtsprozess, der seinen Weg zum Ziel durch jedes Mittel finden wird, sei es durch einen „sozialistischen Präsidenten“ oder spontane Massenkämpfe. Ihre objektive Grundlage besteht aus einer Verknüpfung einer tiefen Krise der Klassenherrschaft, neoliberaler Globalisierung und Imperialismus sowohl in Venezuela wie international und den massenhaften Widerstandsbewegungen, die sie ausgelöst haben. Aber kein unbewusster oder halbbewusster Prozess kann sicherstellen, dass sich diese Kämpfe die richtige Strategie und Taktik für den Sieg aneignen werden. Damit die Arbeiterklasse die Macht erlangt, die Diktatur des Proletariats errichtet und an den Aufbau einer Gesellschaftsalternative geht, ist eine revolutionäre Partei notwendig, die diese ganze Strategie programmatisch abbildet und unermüdlich die Vorhut in jedem Massenkampf für sich gewinnt.

Der Ausgangspunkt für eine solche Partei ist der Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von jeder Abteilung der herrschenden Klasse und ihrem Staat. Deshalb kann sie der Chávez-Regierung keine politische Unterstützung geben, obwohl sie sie gegen jeden Überfall des Imperialismus und der einheimischen Bürgerklasse verteidigt. In letzter Instanz bleibt die Regierung Chávez eine bürgerliche. Eine politische Unterstützung für, geschweige eine Teilnahme an einer solchen Regierung würden unausweichlich Schutz des kapitalistischen Eigentums und Unterstützung dessen Staatsmaschine gegen die Massen bedeuten.

Eine revolutionäre Partei muss nichtsdestotrotz jede einzelne konkrete arbeiterfreundliche Maßnahme, die die Regierung beschließt, unterstützen. Gleichzeitig würde sie deren Beschränktheit aufdecken und die Lohnabhängigen auffordern, weiter zu gehen, die notwendigen Maßnahmen zu verlangen, um die Massenbedürfnisse ganz zu erfüllen. Das bringt mit sich, in die Aktivitäten der Arbeitenden und der Bevölkerung der Armenviertel einzugreifen, während diese noch ihr Vertrauen in Chávez setzen, aber vor den Gefahren in Chávez‘ Bonapartismus zu warnen: der Konzentration der ausführenden Gewalt in seinen Händen, selbst wenn er sich nach links wendet.

Gewiss ist Chávez gezwungen worden, die Unterstützung der Volksmassen zu mobilisieren, doch er ist ihnen gegenüber in keiner organisierten Weise rechenschaftspflichtig. Er kann massenhaft an sie appellieren, auf dem Weg des Volksentscheids (d.h. nach einem „Ja oder Nein“ für seine Vorschläge fragen). Aber das kann er auch dafür ausnutzen, um jede Opposition niederzuwalzen. Bei all seinen demokratischen Redegesten steht er „über den Massen“ und schwankt zwischen deren Interessen und der Aufgabe, das Kapitaleigentum und die Staatsorgane aufrechtzuerhalten.

RevolutionärInnen müssen das erklären. Andernfalls wird er diese Bonapartenmacht, wenn er sich nach rechts wendet – und das wird er – gegen eine unvorbereitete und vertrauensvolle Masse einsetzen, die schlicht über keine alternative Führung zu Chavez verfügt. Doch er wird diese Macht zuerst verwenden, um solch eine Alternative während ihrer Entstehung zu diskreditieren, zu spalten und – wenn nötig – zu zerstören.

Die Bildung der Classista-Strömung in der UNT und die Gründung der Partido Revolucion y Socialismo zeigen, dass eine Schicht der Lohnarbeiterschaft schon nach Klassenunabhängigkeit von Chávez strebt und gleichzeitig die Massen bestärkt und anleitet, die „bolivarische Revolution“ in eine sozialistische umzuwandeln.

Chávez‘ Entscheidung, eine neue Vereinigte Sozialistische Partei zu bilden, ist ein Versuch, die Entstehung einer unabhängigen und kritischen Arbeiterpartei zu verhindern. Die meisten Parteien, welche Chávez unterstützen, sind trotz all ihres Murrens über seinen Vorschlag, eifrig dabei, sich selbst Posten in Regierung und Staatsapparat zu sichern. Das wird die meisten dahin bringen, in die neue Partei einzutreten und sich Chávez zu fügen.

Chávez besteht darauf: „Diese Vereinigte Sozialistische Partei wird natürlich die demokratischste Partei in der venezolanischen Geschichte sein. Das stimmt; sie wird rundum für Diskussionen offen stehen (20).“

Während niemand sich auf Chávez verlassen sollte, eine neue Partei auf wirklich demokratischer Basis zu gründen, sollten RevolutionärInnen, falls möglich, an der massenhaften Diskussion darüber teilnehmen, woraus das Fundament einer solchen Partei bestehen sollte. Zuerst stellt sich das Thema der politischen Grundlage der Partei, ihres Programms. Welche Ziele soll es verkörpern?

• Welche Lösung schlägt es für die Landfrage vor – nicht nur für Brachland solcher Firmen wie der Vesteys, sondern für die riesigen Güter der venezolanischen Elite?

• Welche Lösung schlägt es für die Fabriken vor – nicht nur der bankrotten Betriebe, deren GeschäftsführerInnen sie schließen wollen, sondern für alle?

• Wo sollen die Quellen erschlossen werden, um die Operationen der Misiónes kräftig auszudehnen, um 50% der Bevölkerung zu beschäftigen, die noch in Elend und Unsicherheit vegetieren?

• Welche Form der Massendemokratie braucht es, den „bürgerlichen Staat zu ersetzen“, können Gemeinderäte in solche Körperschaften umgeformt werden?

• Was soll mit der stehenden Armee, ihrem Offizierskorps und ihren Generälen sowie der Polizei passieren, so dass sie nie wieder gegen das arbeitende Volk eingesetzt werden können?

• Welche bewaffnete Miliz benötigen wir, damit die Massen niemals Opfer eines Militärputschs oder einer imperialistischen Invasion werden?

Ein revolutionäres Programm muss auf diese und viele andere Fragen Antwort geben. Es muss eine klare, zusammenhängende, einstimmige Strategie darstellen, die offen zur Eroberung der Arbeitermacht führt.

In jeder neuen sozialistischen Massenpartei muss es eine offene Programmdebatte geben, mit alternativen Entwürfen, einem Schlusskongress, sie zu verabschieden. Dabei sollen akkurat die unterschiedlichen Tendenzen widergespiegelt werden, die in der Debatte aufgetaucht sind. RevolutionärInnen müssen sich für ein Programm sozialer Revolution, für Arbeitermacht und den Übergang zum Sozialismus aussprechen.

Gleichfalls muss es eine Diskussion um die interne Parteidemokratie geben. Sie erfordert, dass die Leitung und alle ParlamentsvertreterInnen der Partei der Kontrolle und Abrufbarkeit durch jährliche Kongresse und der von ihnen gewählten Exekutivgremien unterliegen. Sie bedarf anerkannter Rechte für die Organisierung von Minderheiten.

Schluss

Dies ist nicht das erste Mal, dass sich halbkoloniale AnführerInnen marxistischer Rhetorik befleißigt haben. Bis zu den 1980er Jahren waren solche Anflüge Gemeingut. Doch die neoliberale Globalisierung und der Zusammenbruch der Sowjetunion änderten das. Die Tatsache, dass Chávez diesen Konsens herausfordert, versinnbildlicht die Wichtigkeit und Bedeutung der Widerstandsbewegungen in den letzten 10 Jahren.

Wäre da nicht der tiefe Schlamassel, in dem der US-Imperialismus in Mittelost steckt, könnten wir sichergehen, dass der verhältnismäßig gedämpfte Zorn, mit dem der Imperialismus auf Chávez‘ reagiert hat, durch ausgesprochen neokonservative Aggression ersetzt würde. Auf keinen Fall können sich Arbeiter- und soziale Bewegungen Selbstzufriedenheit leisten.

Wir müssen zur Verteidigung Venezuelas zur Minute, in der Bush, der US-Kongress und die US-Multis Vergeltungsmaßnahmen versuchen, bereit sein. Die Dringlichkeit der Verteidigung Venezuelas mit vollzählig mobilisierten Millionenkräften ist noch ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit, das Weltsozialforum und die kontinentalen Sozialforen in Kampfeinheiten zu verwandeln, die zur Aktion schreiten können. Chávez selbst forderte just eine solche Entwicklung auf dem WSF 2005 und deren amerikanischem Ableger in Caracas im darauf folgenden Jahr. Damit lag er richtig.

Die sich entfaltenden Ereignisse in Venezuela sind von enormer Bedeutung. Nicht zuletzt wegen der brisanten Themen, die sie für die Weltarbeiterbewegung aufwerfen. Angesichts eines demoralisierten Linksreformismus und eines auf dem Rückzug befindlichen Gewerkschaftertums überredete der Anarchismus viele junge AntikapitalistInnen, es bedürfe keiner Parteien oder eines „Kampfs um die Macht“. Gleichzeitig überzeugte der Postmodernismus viele radikale Intellektuelle davon, dass es keine großartige „Sache“ wie den Sozialismus gebe, kein geschichtliches Subjekt wie die Arbeiterklasse. Jetzt nimmt die Frage der Erringung politischer Macht und ihres Gebrauchs zur Weltveränderung lebendige Gestalt an. Die Worte „Kapitalismus“, „Imperialismus“, „Sozialismus“ und „Revolution“ sind wieder Gemeingut.

Die Frage nach dem Kompass dafür bleibt bestehen: Welche Art Staat kann die Welt verbessern – der bürgerliche oder ein Arbeiterstaat? Welche Art Revolution: eine von der Arbeiterklasse vollzogene, die den kapitalistischen Staat zerschmettert, oder eine von oben durch „sozialistische PräsidentInnen“ herbeigeführte? Welche Sorte Sozialismus: eine Reihe umfassender Reformen in der Verteilungssphäre oder eine demokratische Planwirtschaft, die auf dem enteigneten Eigentum der KapitalistInnen fußt? Welche Partei: eine Parlamentspartei, die bolivarische Reformen vorantreibt, oder eine Partei, die an der Spitze des Kampfes um die Macht steht?

Zunehmend werden RevolutionärInnen diese Fragen im Umfeld einer Revolution, wie sie sich in Venezuela entfaltet, zu beantworten haben, wo aus den gelieferten Antworten Konsequenzen auf Leben und Tod erfolgen werden. Dies ist kein doktrinärer Disput, wie uns jene AktivistInnen erzählen können, die die Krisen von Revolution und Konterrevolution der 1970er Jahre in Bolivien, Chile und Argentinien überlebten. In den kommenden Monaten und Jahren müssen wir alles Machbare unternehmen – praktizierte Solidarität mit schonungslos revolutionärer Kritik verknüpfen – um sicherzustellen, dass in Venezuela und weltweit eine Partei aufgebaut wird, die den Massen ermöglicht, diese Lektionen rechtzeitig zu lernen.

 

Fußnoten

1) http://www.marxist.com/people-voted-revolutionary-project041206.htm

2) http://www.breakingnews.ie/world/Chávez to nationalise companies.09/01/2007

3) „Hugo Chávez: Oil Politics and the challenge to the US“, von Nikolas Kozloff, New York, 2006, S. 8

4) Das Konzept der Arbeiteraristokratie, ursprünglich von Engels gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und von Lenin aufgegriffen, benutzt man, um die privilegierten Schichten der Arbeiterklasse zu beschreiben. Durch wachsende Teilnahme an materiellen Vorrechten bildet sie die materielle Grundlage für reformistische Ideologie innerhalb der Arbeiterbewegung.

5) Hier bezieht sich Sozialliberalismus auf bürgerliche Parteien, die anders als z.B. die Sozialdemokra¬tie in Westeuropa über keine organischen Bindeglieder zur Arbeiterklasse verfügen.

6) S. Richard Gott: „In the Shadow of the Liberator“, 2000, Verso

7) http://en.wikipedia.org/wiki/Revolutionary_Bolivarian_Movement-200

8) http://en.wikipedia.org/wiki/Venezuelan_coup_attempt_of_1992

9) D. Raby: “Red Pepper“, Februar 2003

10) März 2004 http://www.economist.com/world/la/displaystory.cfm?story_id=E1_NVDNSRV

11) http://www.venezuelanalysis.com/articles.php?artno=1148

12) 2003 startete Chávez mehrere Misiónes, vom Staat finanzierte soziale Projekte, um kostenlose Gesundheitsfürsorge, Bildung usw. zur Verfügung zu stellen. Von einigen wurden sie als ‚kurzfristige Maßnahmen gegen Armut‘ tituliert. http://www.venezuelanalysis.com/articles.php?artno=1051

13) L. D. Trotzki: „Nationalised Industry and Workers‘ Management“, 1938

14) ders.: „Mexico and British Imperialism“, 1938

15) ebd.

16) International institute for research and education 1987

17) Siehe: „PERMANENT REVOLUTION“ (Theoretisches Organ von WORKERS POWER BRITAIN) Nr. 7 zum Artikel über Gramsci. Erhältlich über WORKERS POWER/B.

18) http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/4692165.stm

19) S. Romero, 2006, und http://www.state.gov/r/pa/ei/bgn/35766.htm

20) http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article1189




Venezuela am Scheideweg: Eine neue Strategie ist nötig

Martin Suchanek, Infomail 956, 12. August 2017

Die Zusammenkunft der neuen verfassunggebenden Versammlung hat das neuste und wahrscheinlich entscheidende Kapitel in Venezuelas politischer Krise aufgeschlagen. Präsident Nicolás Maduro berief die Versammlung ein, um seinem Regime eine größere demokratische Legitimation zu geben und das Parlament an den Rand zu drängen, das von MUD, einer Allianz rechter Oppositionsparteien, dominiert wird. Dies war eine verzweifelte Maßnahme, um der zunehmenden Instabilität, Inflation und Hungersnot zu begegnen. Sie wird jedoch eher dazu führen, die Grundlage des Rückhalts für die Regierung zu schmälern und sich vermehrt auf die Unterstützung des repressiven Apparats zu verlassen, der selbst unzuverlässig ist. Obwohl sie die verfassunggebende Versammlung nachahmt, die die gegenwärtige Verfassung beschlossen hatte, unterscheidet sich die jetzige Versammlung doch von jener im Juli 1999, die auf dem Höhepunkt der „Bolivarischen Revolution“ gewählt worden war.

Zuspitzung

Eine der ersten Handlungen der neuen Versammlung war die Absetzung Luisa Ortegas von ihrem Posten als Generalstaatsanwältin. Ortega war unter Hugo Chávez ins Amt berufen und noch vor zwei Jahren von Maduro darin bestätigt worden. Sie hatte sich gegen die Einberufung der Versammlung als undemokratisches Manöver gestellt. Ihre Entlassung wird zweifelsfrei von der MUD benutzt, um ihren Anspruch als „Verteidigerin der Demokratie“ zu erhärten.

Die Opposition verurteilte ihrerseits den Aufruf zu einer verfassunggebenden Versammlung, boykottierte die Wahlen und setzte Straßenblockaden und „Streiks“ als Mittel ein. Ungeachtet der Richtigkeit der Stimmenauszählung sichert der Boykott die vollständige Dominanz der Versammlung durch Maduros Anhängerschaft ab und zeigt klar den institutionellen Gegensatz zwischen ihr und dem Parlament. Umgekehrt riefen die „DemokratInnen“ der MUD-Allianz schon vor der Wahl zur Schaffung paralleler staatlicher Institutionen auf, einer Art „runden Tisch“ der „demokratischen Einheit“, was eindeutig auf eine pseudodemokratische Fassade für eine alternative Regierung hinausläuft, die vom pro-imperialistischen rechten Flügel gestellt wird.

Dieser Vorschlag folgt auf eine monatelange Kampagne gegen die Regierung, um Nutzen aus der sich zuspitzenden Wirtschaftslage zu ziehen. Die Wurzeln der Krise des Landes liegen zweifellos in dem Scheitern des Regimes, die Wirtschaft von der völligen Abhängigkeit von Öl zu befreien und neu aufzustellen. Doch die unmittelbaren Auswirkungen wie Hyperinflation, dramatische Nahrungsmittel- und weitere Versorgungsgüterengpässe wurden durch das systematische Horten von Waren und den grassierenden Schwarzmarkt verschärft. Statt die Massen zu mobilisieren und das Recht von Organisationen der Bevölkerung, v. a. von Gewerkschaften und Versammlungen in den Wohlbezirken, anzuerkennen, unmittelbare Schritte zur Lösung der Schwierigkeiten zu unternehmen, nahm die Regierung Zuflucht zu Repression.

Die Opposition in Venezuela ist ihrerseits nicht auf Machtteilung aus, sondern will einen Regimewechsel. Darin wird sie vom US-Imperialismus und anderen Westmächten, allen lateinamerikanischen Regierungen und den Medien in Gefolgschaft des US-Imperialismus bestärkt. In Venezuela repräsentiert die MUD-Allianz die Interessen der alt eingesessenen Oligarchie, die Land und Staat als ihren Privatbesitz behandelt hat. Sie konnte die Mittelschichten, große Teile der Bourgeoisie, der freiberuflichen mittleren Schichten in Stadt und Land, aber auch StudentInnen und selbst desillusionierte ehemalige AnhängerInnen des Regimes um sich scharen.

Bislang war die Opposition allerdings nicht in der Lage, die Armee oder Kerneinheiten davon zu gewinnen. Die Attacke auf Kasernen in Valencia am 6. August durch paramilitärische Verbände, angeführt von früheren Offizieren, zeigt jedoch, dass die Enttäuschung wächst. Außerdem ermutigen die westlichen ImperialistInnen zum Sturz Maduros, auch durch Aufstand und Bürgerkrieg. Washington hat das venezolanische Regime offiziell als „Diktatur“ eingestuft und weitere Sanktionen verhängt. Der wohlbekannte „Demokrat“, der brasilianische Putschist Michel Temer, hat sich in die Kampagne eingeklinkt und gemeinsam mit den übrigen Vollmitgliedern des südamerikanischen Wirtschaftszusammenschlusses Mercosur, Argentinien, Uruguay und Paraguay, Venezuelas Rechte hierin ausgesetzt.

Während die US-Regierung Maduro eindeutig feindlich behandelt, nehmen andere ImperialistInnen eine weniger offen erkennbare Haltung ein. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich als „Vermittler“ angeboten. Doch was könnte eine „Vermittlung“ anderes bedeuten, als der Opposition Zeit und Gelegenheit zu verschaffen, das Regime weiterhin zu untergraben und die Beseitigung oder Kapitulation der bolivarischen Regierung zu erreichen, sei es durch völligen Rücktritt, eine „Übergangsperiode“ oder einen offenen bewaffneten Anschlag?

Politik und Charakter des gegenwärtigen Regimes

In diesem Licht erscheint es als Ironie, dass Maduro selbst schon seit Jahren eine „Vermittlung“ mit der Opposition, oder besser gesagt, mit der venezolanischen Kapitalistenklasse und dem Imperialismus anstrebt. Eine Reihe von unkritischen AnhängerInnen der bolivarischen Regierung wird nicht müde zu erklären, dass sie zu verschiedenen Anlässen Zugeständnisse, Vereinbarungen und die Einbindung von oppositionellen Kräften angestrebt habe. Anscheinend verstehen diese SympathisantInnen nicht, dass die alten Eliten und deren imperialistische UnterstützerInnen kein Interesse daran haben, einen Teil ihres Wohlstands wiederzuerlangen, sondern sie wollen alles wieder haben, und nun sehen sie die Chance dazu.

Die jetzige Wirtschaftskrise begann mit dem Finanzkrach von 2008 und dem Verfall des Ölpreises. Unter Chávez und Maduro beruhte das gesamte bolivarische Projekt, die Umverteilung des Wohlstands im Land, die Sozialprogramme für die Armen sowie gezielte Investitionsanreize für die einheimischen KapitalistInnen allein auf den Einkünften aus Förderung und Vertrieb von Erdöl. Solange der Staat einen Überschuss erwirtschaftete, konnte er wirkliche soziale Errungenschaften für die Armen in Form von Mindesteinkommen und –löhnen aufrechterhalten. Doch die Regierung packte das Problem der Abhängigkeit von Ölexporten nicht an und scheiterte so, die Wirtschaftsstrukturen Venezuelas zu transformieren.

Ein einfacher elementarer Grund ist ausschlaggebend dafür: Weder die Chávez- noch die Maduro-Regierung hat mit ihrer bolivarischen Art des „Sozialismus“ das Privateigentum an Produktionsmitteln angetastet. Statt die imperialistische und einheimische Kapitalistenklasse zu enteignen, trachteten sie danach, die „patriotische“ Bourgeoisie zu ermutigen und eine „Mischwirtschaft“ zu entwickeln, ein geschönter Begriff für die kapitalistische Produktionsform.

Damit konnte weder das ökonomische Erbe der halbkolonialen Strukturen des Landes überwunden noch die traditionell herrschende Klasse beschwichtigt werden. Diese zielte fortgesetzt auf den Sturz des Regimes, obgleich sie nach mehreren gescheiterten Putschversuchen und Wahlniederlagen eine defensivere Strategie fahren und sich „demokratischer“ gebärden musste.

Zugleich nährte die Beibehaltung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und des Marktes sowie das Stützen auf den bürgerlichen Staatsapparat auch die Formierung des Klassenfeindes innerhalb der bolivarischen Bewegung. Viele BürokratInnen und Offiziere „vermittelten“ nicht nur auf bürokratische Weise zwischen gegensätzlichen Klassen, und dies oft zuungunsten der ArbeiterInnenschaft und der Armen, sondern wurden selber KapitalistInnen, die „Boli-Bourgoisie“. Die Armee lancierte ihrerseits eine Anzahl eigener wirtschaftlicher Unternehmungen.

Seit die Einkünfte aus Ölverkäufen die Sozialprogramme nicht mehr unterfüttern konnten, versuchte das Regime sie durch die Abwertung der Währung und Aufnahme von Auslandskrediten fortzusetzen. Dies führte jedoch zu einem gewaltigen Anstieg der Staatsschulden. Venezuela ist trotz riesiger Ölvorräte eines der höchstverschuldeten Länder der Welt. Doch genau wie die Regierung einen ernsthaften Angriff auf das Privateigentum im Land scheute und nur gelegentliche Verstaatlichungen vornahm, meist unter dem Druck protestierender ArbeiterInnen gegen ihre Bosse, so bedient sie weiter bis heute die Schuldenrückzahlung an ihre imperialistischen GläubigerInnen.

Doch all dies konnte nicht den Zusammenbruch der Ökonomie verhindern, die seit 2013 ständig geschrumpft war. Der IWF schätzte den Rückgang des BIP auf 35 % in den letzten 4 Jahren, ein schärferer Einschnitt als bei der US-Wirtschaft zwischen 1929 und 1933. Die ArbeiterInnenklasse, BäuerInnen und die Armen wurden am stärksten von Hyperinflation und wachsender Armut betroffen. Hungersnot ist zu einer weit verbreiteten Erscheinung geworden, nicht in erster Linie als Folge des Nahrungsmangels, sondern der Spekulation, der Warenhortung und einem ausgedehnten Schwarzmarkt geschuldet. All dies ermutigte korrupte bürgerliche Elemente im Staatsapparat, sich zu bereichern. Zudem sehen die ReaktionärInnen die sich zuspitzende Wirtschaftskrise als glänzende Gelegenheit und verschärfen die Lage durch ökonomische Sabotage und Boykott, um die Massen zu demoralisieren, ihre Verzweiflung zu steigern und so die soziale Basis für die PSUV (Sozialistische Einheitspartei Venezuelas) und die Regierung zu unterhöhlen.

Maduros eigene Politik hat bereits das ihre dazu getan. Zwar entsprechen die Behauptungen, das Regime habe überhaupt keine Basis, eindeutig nicht der Wahrheit, aber klar ist auch, dass sein gesellschaftlicher Rückhalt schrumpft. Die verfassunggebende Versammlung war nicht in der Lage, die Opposition zu besänftigen. Ebenso wenig war sie imstande, die bolivarische Bewegung zu begeistern. Was soll eine neue Verfassung bewirken, wenn die Regierung unfähig ist, die brennenden Alltagsfragen zu lösen: den Lebensmittelmangel, die Wiederbelebung des Wirtschaftslebens? Nicht eine mit regierungstreuen Mitgliedern besetzte „verfassunggebende Versammlung“ war vonnöten, sondern einschneidende Maßnahmen zur Enteignung der Reichen, KapitalistInnen, SpekulantInnen sowohl aus den Reihen der Opposition wie auch aus dem „bolivarischen“ Staatsapparat.

Strategie

Das würde aber einen vollständigen Wandel der politischen Strategie und des Programms erfordern. Die jetzige Krise hat die inneren Widersprüche der ganzen populistischen, angeblich sozialistischen Strategie der chávista-bolivarischen Bewegung enthüllt. Sie ist ein untauglicher utopischer Versuch, die Interessen der ArbeiterInnenklasse und Bevölkerungsmassen mit denen der Kapitalistenklasse zu versöhnen, also den Ausgebeuteten und AusbeuterInnen gleichermaßen zu dienen. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung einer solchen Strategie hat die Maduro-Regierung nur weiter nach rechts geführt. Sie ist dem imperialistischen Kapital entgegengekommen, nicht nur dem US-Kapital, sondern auch dem russischen und chinesischen. Dies lässt sich ferner an der zunehmenden Machtkonzentration im Staatsapparat und somit dem bonapartistischen Charakter des Regimes ablesen. Zwar mag es in der Absicht der Regierung gelegen haben, die Lage der Massen zu erleichtern. Dennoch erwies sich dies als unmöglich, weil sie das Privateigentum oder die soziale Macht der KapitalistInnen und ihrer UnterstützerInnen nicht angetastet hat.

RevolutionärInnen dürfen diese Tatsachen nicht verschleiern oder sich zu VerteidigerInnen der Regierung machen wie etliche stalinistische oder linksnationalistische AnhängerInnen der bolivarischen Revolution. Die Kritik muss offen vorgetragen und die Wurzeln des bolivarischen Projekts bloßgelegt werden, denn die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte können nicht verteidigt oder gar ausgeweitet werden, solange dieses illusorische Vorstellung die Bewegung dominiert. Nur ein Strategiewechsel, die Enteignung der ImperialistInnen, KapitalistInnen und GroßgrundbesitzerInnen und die Ersetzung des bürgerlichen „bolivarischen“ Staates durch einen ArbeiterInnenstaat, der auf Räten und bewaffneten Massenmilizen beruht, wird imstande sein, die bereits in Vorbereitung befindliche Konterrevolution zu besiegen.

Angesichts der Offensive der venezolanischen Reaktion und des US-Imperialismus müssen RevolutionärInnen eine politische Alternative zu Maduro aufbauen, eine Strategie für eine sozialistische Revolution entfalten und eine ArbeiterInnenregierung schaffen, die sich nicht auf den bestehenden bürokratischen Apparat oder eine Armee stützt, die weder sozial noch politisch zuverlässig ist. Zugleich muss sie aber auch der drohenden Gefahr einer konterrevolutionären proimperialistischen Machtübernahme oder gar einer von den USA unterstützten bewaffneten Intervention Rechnung tragen.

Historische Parallelen

Obwohl das Maduro-Regime keineswegs eine ArbeiterInnenregierung verkörpert, wäre seine Beseitigung durch die pro-imperialistische Opposition eine Niederlage für die ArbeiterInnenklasse und die Masse der Bevölkerung. Die Situation ist vergleichbar mit der in Chile vor dem Putsch gegen Allende oder dem Bürgerkrieg und der Volksfront in Spanien. Die Volksfrontregierungen, in denen ArbeiterInnenorganisationen sozialdemokratischer bzw. stalinistischer Art zusammen mit bürgerlichen Parteien saßen, beschränkten den Radikalismus der Massen, um einen Kompromiss mit dem Kapitalismus zu schließen. In Venezuela verkörpert die bolivarische Bewegung eine Volksfront von innen. Die PSUV, eine nach Millionen zählende Massenpartei, ist selbst eine Volksfront, eine gegensätzlich Klassenkräfte unter einem populistischen Programm vereinende Kraft. Wie Trotzki schon bemerkte, hat eine solche Formation die inhärente Tendenz zum Bonapartismus, denn sie braucht eine starke Führungsperson, einen Caudillo, um sich als über den Klassen stehend zu präsentieren. Je nachteiliger die Situation wird, desto weiter gedeiht die bonapartistische Herrschaftsform. Je mehr sie sich auf die Ordnungskräfte Bürokratie und bürgerliche Armee zu stützen versucht, desto schneller bereitet sie ihren eigenen Untergang vor.

Wie in Spanien und kennzeichnet Maduros Regime nicht den Beginn einer stabilen Periode nach der Niederschlagung eines revolutionären Klassenkampfs wie im Fall des klassischen Bonapartismus von Louis Bonaparte in Frankreich, sondern bildet ein Krisenregime inmitten einer Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs, der politischen Instabilität und des hitzigen Klassenkampfs. Es ist daher von vorübergehender Natur und wird entweder von einer Regierung abgelöst, die die Krise durch die Enteignung der Bourgeoisie und die Errichtung eines ArbeiterInnenstaats lösen wird, oder von einer proimperialistischen Konterrevolution gestürzt.

Das letztgenannte Resultat wäre eine eindeutige Niederlage für die ArbeiterInnen, BäuerInnen und Armen nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika. Es würde eine enorme Stärkung des US-Imperialismus bedeuten und reaktionäre Kräfte auf dem ganzen Kontinent stärken, am deutlichsten im benachbarten Brasilien. Rund um den Erdball würde dieses Beispiel als „Beweis“ für das Scheitern des „Sozialismus“ und die linke Spielart des Populismus mit dem Ziel der Demoralisierung der ArbeiterInnenklasse und linken AktivistInnen herhalten.

Trotz dieser Bewegung nach rechts wäre es töricht, ja politisch verbrecherisch, die Maduro-Regierung und die rechte Opposition gleichzusetzen. Die Rechten drücken die Interessen der traditionellen Elite als Vorposten der USA aus und wollen die Staatsmacht um jeden Preis zurückerobern. Die PSUV-Regierung und Maduro sind bürgerlich populistische Kräfte, die trotz ihrer Strategie des Kompromisses mit der nationalen Bourgeoisie und imperialistischen Mächten auch eine Massenbewegung verkörpern, selbst wenn ihre eigene Führung sie ständig unterhöhlt. Deshalb besteht die unmittelbare Aufgabe in der Verhinderung des Sturzes des Maduro-Regimes durch die Rechten, in diesem exakten Sinne also in dessen Verteidigung.

Das heißt aber nicht, die Kritik an Maduro und dem ganzen „bolivarischen“ Projekt einzustellen. Es hat keinesfalls den Weg zum Sozialismus geebnet, sondern das Land in eine Sackgasse in Form einer Krise der venezolanischen Gesellschaft manövriert, aus der es nur ein Entrinnen geben kann, wenn es beseitigt wird. Aber diese Abschaffung darf nur das Werk der revolutionären ArneiterInnenklasse sein, und deshalb fordern wir die Bewaffnung und Mobilisierung der ArbeiterInnenschafts- und Nachbarschaftsorganisationen. Viele davon entstanden durch das bolivarische Regime, aber sie müssen sich wandeln von bloßen Hilfstruppen des Regimes zu eigenständigen Kräften.

Einige „trotzkistische“ Strömungen

Hierin nehmen wir bewusst Bezug auf die Taktiken der Bolschewiki vor 100 Jahren, als sie die Bewaffnung der Sowjets forderten, um die Kerenski-Regierung gegen den drohenden konterrevolutionären Putsch des Generals Kornilow zu verteidigen. Genau zu dieser Zeit schloss sich Trotzki der bolschewistischen Partei an. Diejenigen, die heute vorgeblich den Trotzkismus in Venezuela vertreten, haben diesem Programm jedoch den Rücken gekehrt. In einer in International Viewpoint veröffentlichten Erklärung vom 5. August betrachten die „Anticapitalistas“ die Maduro-Regierung als Teil „eines sozialistischen revolutionären und radikaldemokratischen Projekts“, obwohl sie das Regime nicht „bedingungslos unterstützen“, und führen weiter ihre Idee einer „Revolution in der Revolution“ aus, d. h. „Ausweitung der Freiheiten, Bekämpfung der Bürokratie mittels Demokratie, weitere Umverteilung des Reichtums und Bildung von institutionellen Mechanismen, die die Kontrolle über die Ökonomie und den Staat durch die plebejischen Klassen der Bevölkerung garantieren.“

Kein Wort lassen sie verlauten über die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und dessen Ersetzung durch einen ArbeiterInnenstaat, der auf bewaffneten ArbeiterInnenräten beruht und Sofortmaßnahmen ergreift zur Kontrolle über alle Nahrungsmittelvorräte und andere lebensnotwendige Güter und Vorrichtungen und diese dann nach Bedürftigkeit verteilt, das Großkapital enteignet und die Wirtschaft des Landes einer Planung nach dem Bedarf, nicht nach Profit, unterwirft. Zwar sagen diese GenossInnen richtig, es sei „eine Priorität, dem Anschlag des Imperialismus und der herrschenden Klasse Einhalt zu gebieten“, und die RevolutionärInnen sollten mit ihnen zusammen gegen die Rechten stehen, ihre Strategie ist jedoch dieselbe wie die der Menschewiki aus dem Jahr 1917.

Schlimmer noch sind die Positionen der Gruppen aus der morenistischen Tradition in Lateinamerika. Die „Internationale ArbeiterInnenvereinigung“ (UIT), die argentinische Sektion Teil der FIT (Front der Linken und ArbeiterInnen), unterstützt die rechte Opposition und spielt deren Unterstützung seitens des Imperialismus herunter. Andere Gruppen aus derselben Tradition wie die „Internationale ArbeiterInnenliga“ (LIT) und die Fracción Trotskista Cuarta Internacional (FT) gehen nicht ganz so weit, machen jedoch prinzipienlose Zugeständnisse gegenüber den Rechten. Die FT bezeichnet den rechten Flügel und die Chávistas als „gleichermaßen reaktionär“. Das ist nicht „Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse“, wie sie einfordern, sondern eine sektiererischer Weigerung, die ArbeiterInnenklasse angesichts der Offensive der Rechten zu verteidigen. Solche offene Unterstützung für konterrevolutionäre Kräfte (UIT) oder passiver Abstentionismus (LIT, FT) müssen scharf zurückgewiesen werden.

Ein Sturz des Regimes durch die Rechten wäre nicht nur eine Niederlage für Maduro und seinen Führungskreis, sondern v. a. für die venezolanischen Massen. Deshalb müssen RevolutionärInnen ihre klare Kritik und ihr Programm für die Eroberung der Macht durch die ArbeiterInnenklasse und mit der Bereitschaft zu einem Zusammenschluss mit den Kräften gegen die Konterrevolution verbinden. Sie müssen die Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse , der Bauernschaft und der städtischen Armut, die militärische Ausbildung unter Gewerkschaftskontrolle, die Enteignung der Kapitalistenklasse, eine Säuberung der Armee, Polizei und des Staatsapparats von konterrevolutionären Elementen fordern. Dies darf aber nicht durch die Stärkung der Machtbefugnisse des bürgerlichen Apparats, sondern muss durch den Aufbau von ArbeiterInnen- und Bevölkerungsräten geschehen. RevolutionärInnen müssen volle Freiheit für alle Strömungen fordern, die die Errungenschaften der Massen verteidigen wollen. Das Allerwichtigste aber muss der Aufbau einer eigenen politischen Partei sein, die sich auf das Programm der permanenten Revolution gründet.




Krise in Venezuela – Die nächste ‘orangene Revolution‘?

Christian Gebhardt/Martin Suchanek, Neue Internationale 220, Juni 2017

Seit zwei Monaten mobilisiert die rechte Opposition gegen die Regierung Maduro. Dabei beschränkt sie sich längst nicht mehr auf friedliche Massendemonstrationen, sondern greift auch Regierungseinrichtungen oder selbst Armeestützpunkte an der Grenze zu Kolumbien gewaltsam an.

Mindestens 54 Personen sind in den Monaten April und Mai getötet worden. Die Oppositionsführung unter dem Bündnis MUD (Mesa de la Unidad Democrática; Tisch der demokratischen Einheit) will zwar einen „friedlichen Übergang“ der Staatsmacht, aber es zeichnet sich immer mehr ab, dass die Lage in Venezuela auf eine entscheidende Machtprobe zwischen Regierung und Opposition zusteuert.

Im Falle eines Sieges der Opposition droht nicht nur eine Abrechnung mit Maduro und seinen engeren Gefolgsleuten. Es droht vor allem die Zerstörung der Errungenschaften der bolivarischen Revolution z. B. in Form von sozialen Leistungen für die Armen wie auch die Zerschlagung ihrer verbliebenen Strukturen. Eine friedliche Lösung des Konflikts – wenn auch von allen Seiten auf ihre Fahnen geschrieben – ist unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen.

Offensive der Rechten

Die bürgerlichen Medien und westlichen Regierungen stellen die Aktionen der Opposition als Selbstverteidigungsakt gegen die Errichtung einer Diktatur unter Maduro dar. Als Aufhänger und Auslöser der Proteste fungiert dabei die geplante Entmachtung des Parlaments, in dem die MUD über eine Mehrheit verfügt, durch den Präsidenten Maduro. Ein Dekret, das die Stärkung der Präsidialmacht vorsah, wurde zwar Anfang April vom Obersten Gerichtshof aufgehoben – das ändert aber nichts daran, dass die Opposition seither gegen den angeblichen Diktator mobil macht.

Für die Opposition geht es nach mehreren gescheiterten Putschversuchen und Anläufen zum „Regime change“ unter Chávez längst ums Ganze.

Sie sehen sich dabei von drei miteinander zusammenhängenden Faktoren bestärkt: 1. dem Kurs der US-Regierung, 2. der ökonomischen Krise in Venezuela, 3. den inneren Widersprüchen im bolivarischen Projekt, die dessen Versuche, die Interessen des nationalen Kapitals und der Massen gleichzeitig zu befriedigen, mit sich bringen.

US-Imperialismus

Die bolivarische Revolution war dem US-Imperialismus immer schon ein Dorn im Auge. Durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und die konservativen Regimewechsel in Lateinamerika ist dieser US-Interventionismus stärker und noch aggressiver geworden. Es muss nur daran erinnert werden, dass Barack Obama im März 2015 davon sprach, dass Venezuela eine „ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA“ (White House Press Office) darstellen würde. Aber auch dieses Jahr wurde das Säbelrasseln von Seiten der USA schon lauter.

So drohte der Befehlshaber des Südkommandos den USA Anfang April damit, dass „die  sich verschärfende humanitäre Krise“ in Venezuela eine „regionale Antwort“ erfordern würde (Southcom).

Diese rhetorischen Drohungen gingen einher mit aktiven Bemühungen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) unter Federführung ihres Generalsekretärs Luis Almagro, zusammen mit anderen Ländern der Region einen Prozess zur „Wiederherstellung der Demokratie“ im Land einzuleiten. Und US-Außenminister Tillerson ergänzt: „Wir arbeiten mit der OAS zusammen, um in Venezuela eine Verhandlungslösung zu einem demokratischen Übergang zu suchen.“ (amerika 21)

Dabei geht es außer um Venezuela auch um geo-strategische Ziele. Erstens soll der Einfluss Chinas und Russlands zurückgedrängt werden, zweitens würde ein Sturz Maduros durch die Opposition die Rechte in Lateinamerika stärken.

Krise der Ökonomie

Seit 2013 verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage kontinuierlich. Der entscheidende Auslöser ist der Verfall des Rohölpreises von rund 100 auf 35 Dollar je Barrel. Schon vor 2013/14 mussten immer größere Teile der Öleinnahmen zur Schuldentilgung nicht nur gegenüber den USA, sondern z. B. auch China eingesetzt werden. Der Fall des Ölpreises hat dazu geführt, dass die Staatsverschuldung anstieg und mittlerweile der Bankrott droht.

Seit 2014 sinkt das Bruttoinlandsprodukt um jährlich rund 5 Prozent. Gleichzeitig ist die Inflationsrate massiv gestiegen. 2016 soll sie 600-700 Prozent betragen haben. Faktisch hat sich neben dem Bolivar der Dollar als zweite Währung etabliert.

Nach jüngsten Zahlen sind die öffentlichen Ausgaben der Regierung im April im Vergleich zum Vorjahresmonat um 40 Prozent zurückgegangen. In den ersten vier Monaten des Jahres haben sich die Investitionen der öffentlichen Hand im Schnitt um 28,1 Prozent vermindert.

Zugleich verschlechtert sich vor allem seit 2016 die Versorgung mit Lebensmitteln. Das geht zweifellos auch auf bewusste politische Verschärfung durch die Privatunternehmen in der Industrie zurück, hat aber auch ganz „einfache“ ökonomische Gründe. Die KapitalistInnen können einen viel höheren Preis erzielen, wenn sie die Waren nicht auf dem regulären Markt anbieten, sondern auf dem Schwarzmarkt zu Dollarpreisen verkaufen. Zusätzlich heizt das wiederum die Inflation an.

Reaktion der Regierung

Die Regierung Maduro hat auf die verschärfte ökonomische Krise bis heute mit einer Mischung aus Leugnung der Probleme, rhetorischen Schuldzuweisungen an die Imperialisten und immer neuen Zugeständnissen an das Kapital reagiert.

Zu Beginn der Krise wurde deren Ausmaß heruntergespielt. Sodann versuchte die Regierung, durch Handelsanreize den Karren wieder flott zu kriegen. Die Abhängigkeit des Landes von der Ölförderung versuchte man durch Zugeständnisse an das Auslandskapital zu vermindern, insbesondere durch das Mega-Projekt Arco Minero del Orinoco. Auf einem Gebiet von 112.000 Quadratkilometern (mehr als 10 Prozent der Fläche des Landes) sollen im Bundesstaat Bolivar Gold, Coltan, Eisen, Bauxit und Diamanten gefördert werden. Die Erschließungskosten, Profit und Unternehmenskontrolle teilen sich im Rahmen des Projekts der Schweizer Konzern Glencore, der kanadische Gold Reserve und der Staat. Die Folgen für die Umwelt sind kaum absehbar, die Zerstörung des Lebensraums der indigenen Bevölkerung droht. Gegen etwaigen Widerstand wird das Projekt von der Armee gesichert.

Ebenso konnten schon unter Chávez eine Ausweitung des Bürokratismus und die Entstehung einer korrupten Schicht aus Kapitalisten, Beamten, Funktionären – sarkastisch auch Boli-Bourgeoisie genannt – beobachtet werden, die auf dem Rücken der Revolution vor allem ihre eigene „soziale Frage“ im Blick hatte.

Gleichzeitig ging der Staat auch gegen linke Oppositionelle, Gewerkschaften, Basisprojekte vor, die sich den Zugeständnissen an das Kapital entgegenstellten.

In den letzten Jahren trat zweifellos der bonapartistische Charakter des Regimes deutlicher hervor. Zunehmend ging und geht es auf Kosten der eigenen sozialen Basis, der ArbeiterInnenklasse und städtischen Armut.

Die Opposition spielt mit diesen Folgen der Krise, aber auch der Politik des bolivarischen Regimes. Sie stützt sich dabei vor allem auf die Mittelschichten, KleinbürgerInnen, KapitalistInnen, versucht aber auch, die Entfremdung größerer Teile der Massen vom Regime für sich auszunutzen.

Innere Widersprüche des bolivarischen Projekts

Um diesen Zustand zu begreifen, muss man die inneren Widersprüche, den Klassencharakter des Bolivarismus verstehen.

Chávez konnte sich als kleinbürgerlich-populistische Führung an die Spitze der Bewegung stellen und 1999 das Präsidentenamt Venezuelas einnehmen und dieses 2002 verteidigen. Auch wenn während seiner Regierungszeit viele Verbesserungen der Lebensbedingungen der Menschen in Venezuela erreicht wurden, so war seine Politik keinesfalls sozialistisch. Seine Amtszeiten waren geprägt von Links- wie Rechtsentwicklungen, hauptsächlich getrieben durch den Druck der unterschiedlichen Klassen. Als scheinbar über den Klassen stehender linker Bonaparte, der der Bourgeoisie dient, trieben ihn die Ereignisse im (internationalen) Klassenkampf einerseits zur Verbesserung der Lebensgrundlage seiner Massenbasis, aber auch zu Kollaborationen mit den KapitalistInnen und ImperialistInnen auf Kosten gerade dieser Basis.

Ökonomisch ging der Sozialismus der bolivarischen Revolution nie über die Umverteilung des Reichtums hinaus. Verstaatlichungen waren in der Regel auf ökonomisch schwache Betriebe beschränkt und wurden zudem bürokratisch durchgeführt. Die Selbstverwaltungsprojekte blieben entweder marginalisiert oder wurden eng an das Verteilungsnetzwerk der Bürokratie angeschlossen, also inkorporiert. Die ökonomische Basis des Kapitalismus in Venezuela und damit auch die materielle Grundlage der herrschenden Klasse blieb unangetastet.

Der venezolanische kapitalistische Staat wurde unter Chávez nicht zerschlagen, genauso wenig wurde der revolutionäre Bruch gesucht. Er ließ ihn intakt und reformierte ihn lediglich mittels einer neuen Verfassung. Das gleiche galt für die Armee. Auch wenn Chávez die hohen Ränge austauschen ließ, behielt er die Struktur der Armee und die Offizierskaste bei. Noch weniger verändert hat sich bei der Polizei, die als konservativer und der Rechten näher gilt. Von ArbeiterInnen- und SoldatInnenräten sowie von einer ArbeiterInnenmiliz war keine Rede, auch wenn der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ausgerufen wurde und rund um 2008 eine rhetorische Hochkonjunktur feierte.

Durch die Vermittlerrolle zwischen Kapital und ArbeiterInnenklasse konnten kein klares Industrialisierungsprojekt in Gestalt einer Planwirtschaft sowie eine ausreichende Landreform durchgesetzt werden. Hierfür hätte es einen vollen Bruch mit und Enteignung der KapitalistInnenklasse gebraucht, den der Chávismus nicht vollziehen konnte.

Der venezolanische Staat blieb ein bürgerlicher Staat, das Regime ein bürgerliches, das nur vorgab, über den Klassen zu stehen – letztlich aber den utopischen Versuch unternahm, deren gegensätzliche Interessen im Rahmen einer populistischen Reformstrategie auszugleichen.

Das mochte bis zur tiefen Krise 2013 noch möglich erscheinen, weil der gesellschaftliche Reichtum insgesamt wuchs und so auch eine Grundlage für dessen Umverteilung bestand, was sich auch in einer Verbesserung der Lage der Massen ausdrückte. So sank beispielsweise der Prozentsatz der Armen von 50 Prozent 1998 auf 25-30 Prozent 2013, der jener Menschen, die unter extremer Armut leben, halbierte sich im selben Zeitraum von 20 auf 10 Prozent. Die aktuelle Krisensituation stellt selbst das in Frage.

Widersprüchliche Politik Maduros

Nach dem Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 setzte sie auf die Ablösung Maduros. Dieser reagiert darauf wie auch auf die zunehmende Wirtschaftskrise überaus widersprüchlich. Einerseits konzentriert er mehr Macht in den Händen der Regierung und Exekutive. So befindet sich das Land seit Anfang 2016 praktisch in einem Ausnahmezustand. Andererseits werden ständig pseudodemokratische Initiativen wie die „Verfassunggebende Versammlung“ gestartet, die die Opposition irgendwie einbinden sollen. Natürlich lehnt diese das ab. Ihr geht es um den Sturz der Regierung und des bolivarischen Projekts und nicht um „Verständigung“.

Noch viel widersprüchlicher und verheerender ist jedoch die Bilanz Maduros auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Um der Krise in Venezuela Herr zu werden, braucht es keinen Ausgleich oder weitere Zugeständnisse an das Kapital, sondern Eingriffe ins Privateigentum.

Die Sicherung der Lebensmittelversorgung, die Spektulation und Inflation der Preise kann schließlich selbst durch Lohnsteigerungen nicht wettgemacht werden. So wurden zwar die Löhne im Mai 2017 um 60 Prozent erhöht. Damit kann man bei 600-700 Prozent Hyperinflation wenig ausrichten.

Notwendig wäre vielmehr die entschädigungslose Verstaatlichung der ganzen Lebensmittelindustrie und des Großgrundbesitzes. Die Produktion müsste unter ArbeiterInnenkontrolle fortgeführt oder in etlichen Fällen erst wieder aufgenommen werden. Um Spekulation und Schwarzmarkt zu bekämpfen, müssten direkte Beziehungen zwischen den VerbraucherInnen in den Städten über Gewerkschaften oder Stadtteilkomitees, die Männer und Frauen einbeziehen müssten, zu den ArbeiterInnen  und BäuerInnen im Agrarsektor hergestellt werden.

Halbheiten führen in die Sackgasse

Um die Errungenschaften der letzten 2 Jahrzehnte zu verteidigen, müssen die Massen über die Grenzen der bolivarischen Strategie hinausgehen. Um die Revolution zu verteidigen und die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, müssen sie über ihre Halbheiten hinausgehen und das bürgerliche Eigentum in Frage stellen.

Dazu dürfen sich die ArbeiterInnen, Bauern, die städtische Armut jedoch nicht auf den Staatsapparat oder die Regierung verlassen. Sie müssen von Maduro und seinem Regime vielmehr selbst die Mittel zur Sicherung der Revolution einfordern. Einerseits müsste sich das um die Losung der Enteignung, der Kontrolle von Produktion und Verteilung und eines Plans zur Versorgung der Bevölkerung drehen.

Andererseits brauchen sie auch die Mittel zur Verteidigung gegen eine mögliche Konterrevolution. Ein Programm der Lebensmittelversorgung, der Verteilung der Nahrungsmittel an die Bedürftigen, zum vernichtenden Schlag gegen Sabotage und Wucher wird auf den gewaltsamen Widerstand der Rechten stoßen – seien es Schläger der Opposition, deren Paramilitärs, Kriminelle, US-gestützte bewaffnete Kräfte oder Überläufer aus Armee und Polizei zur Rechten.

Dagegen wäre die Bewaffnung der Massen, der Aufbau von Milizen der ArbeiterInnen, Bauern und städtischen Armut ein zuverlässiges Mittel. Die Polizei soll aufgelöst und durch solche Milizen ersetzt werden. Den Massen ergebene Sicherheitskräfte könnten als AusbilderInnen an den Waffen dienen. Es müsste zugleich die Schaffung von SoldatInnenkomitees in der Armee propagiert, gefordert und in Angriff genommen werden, einschließlich der Säuberung von unzuverlässigen und konterrevolutionären Elementen.

Diese Maßnahmen sind notwendig, um die bestehenden Errungenschaften der Revolution, die Versorgung der Massen zu sichern und die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Sie wären zugleich Kampforgane für die Massen, die landesweit verallgemeinert und zu Räten der ArbeiterInnen, SoldatInnen und Bauern ausgebaut und zentralisiert werden müssten. Als solche könnten sie die Grundlage legen, praktisch über den Bolivarismus hinauszugehen. Auf solche Organe – nicht auf den bürgerlich-bürokratischen Staatsapparat – könnte und müsste sich eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung stützen, die für eine demokratische Planwirtschaft, eine sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft eintritt und die Revolution in ganz Lateinamerika vorantreibt.

Die ganze Geschichte des Bolivarismus zeigt, dass die Führung um Maduro dazu nicht bereit ist, sondern am Kurs der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie festhält.

Einheitsfront gegen Konterrevolution

RevolutionärInnen müssten daher eine Politik des gemeinsamen Kampfes gegen die US-gestützte Konterrevolution mit Forderungen an die bolivarische Führung und an Maduro verbinden, den Massen die notwendigen Mittel bereitzustellen, entschlossen gegen die Reaktion vorzugehen, KapitalistInnen zu enteignen und die Repression gegen Linke einzustellen.

Dies ist umso wichtiger, weil ein Sieg der Konterrevolution unter der MUD und dem US-Imperialismus nicht nur ungezügelten Neo-Liberalismus bedeuten würde, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Errichtung einer Diktatur zur Zerschlagung der Massenbewegung, die der Chávismus hervorgebracht hat. Wenn heute die bürgerliche Presse über den Diktator Maduro herzieht, so sollte uns das nicht blind gegenüber der Tatsache machen, dass eine Konterrevolution der alten Oligarchie und des Imperialismus Venezuela kaum ohne extrem diktatorische Maßnahmen in ihrem Sinne „stabilisieren“ wird können.

Es wäre daher politisch kurzsichtig, ja kriminell, den Chávismus mit der rechten Opposition gleichsetzen. Die Tatsache, dass beide „letztlich“ bürgerliche Eigentumsverhältnisse verteidigen, bedeutet keineswegs, dass es für die Massen gleichgültig sein kann, welches Lager wen und wie stürzt. Die drohende Konterrevolution von rechts macht vielmehr eine Einheitsfrontpolitik gegenüber der PSUV und Maduro notwendig, erfordert es, an diese Forderungen zu stellen.

Politischer Bruch und Neubeginn

Eine solche Politik aber darf keineswegs mit einer politischen Unterstützung des Regimes verwechselt werden. Gerade die aktuelle Lage erfordert eine kritische Bilanz der letzten Jahre, sie erfordert einen Bruch mit dieser populistischen Politik des Chávismus und dessen Strategie.

Seine schwankende Politik wird unwillkürlich zu Konflikten mit der ArbeiterInnenklasse und der ländlichen Bevölkerung führen. Um die daraus resultierenden Brüche und Abwanderungsbewegungen vom Chávismus nicht kampflos der rechten Opposition zu überlassen, müssen RevolutionärInnen ein Aktionsprogramm propagieren und die derzeitigen Organisationen der ArbeiterInnenklasse (seien sie auch reformistisch oder populistisch in ihrem Charakter) zu einer Einheitsfront auffordern im Kampf gegen die proimperialistische Rechtsopposition.

In den letzten Jahren haben sich Gruppierungen links von der bolivarischen Partei (PSUV) formiert, andererseits wächst auch die Unzufriedenheit an deren eigener Basis. Auf solche Kräfte müssten sich RevolutionärInnen beziehen und die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären ArbeiterInnenpartei als Alternative zum Bolivarismus betonen.