Brasilien: Zwischen zwei Wahlgängen

Dave Stockton, Infomail 1201, 9. Oktober 2022

Entgegen den Meinungsumfragen des Landes, die Lula da Silva einen klaren Sieg in der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen voraussagten, zeigt das Ergebnis – 47,9 % für Lula und 43,6 % für Bolsonaro – der Abstimmung vom 2. Oktober, dass sein Gegenkandidat, der rechtsextreme Demagoge Jair Bolsonaro, immer noch die Chance auf einen Überraschungssieg am 30. Oktober hat. Er schnitt besser als erwartet in Brasiliens südöstlicher Region ab, die die bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais umfasst.

Darüber hinaus hat die extreme Rechte ihre Position bei den Wahlen zum Senat gefestigt. Bolsonaros falsch benannte Liberale Partei (PL) gewann 14 Sitze gegenüber nur 8 Sitzen für Lulas Arbeiter:innenpartei (PT) und wurde damit zur größten politischen Gruppe im Oberhaus. Die PL belegte mit 99 Sitzen auch den ersten Platz in der Abgeordnetenkammer, die jedoch, da sie nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, von den 20 Parteien des sogenannten „großen Zentrums“ (Centrão) mit 148 Sitzen dominiert wird. Dieses wird jedoch von einem Verbündeten Bolsonaros, Arthur Lira (Progressistas, PP), angeführt, der von Bolsonaro großzügig finanziert wurde, um seine Verbündeten zu wählen.

Auch bei den Gouverneurs- und Senatswahlen erzielten die Anhänger:innen Bolsonaros und anderer rechter Parteien ein besseres Resultat als erwartet, obwohl die PT die Stadt São Paulo mit einem Vorsprung von 10 Prozent gewann. Sie erreichte im Nordosten und in Minas Gerais, einem wichtigen Wahlbezirk, durchaus ihr Wahlziel.

Die anderen Präsidentschaftskandidat:innen, die nun von der zweiten Runde ausgeschlossen sind, waren Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Bewegung der Brasilianischen Demokrat:innen (MDP) mit vier Prozent und Ciro Gomes von der Mitte-Links-Partei der Demokratischen Arbeit (PDT) mit knapp über drei Prozent. Kommentator:innen gehen davon aus, dass ihre Wähler:innen eher zu Lula als zu Bolsonaro wechseln werden, aber das Umwerben ihrer Führer:innen wird Lula im Wahlkampf für die zweite Runde wahrscheinlich weiter nach rechts rücken.

Polarisierung

Lulas „Sieg“ in der ersten Runde ist also alles andere als ein Gewinn für die Linke. Die Wahl von Geraldo Alckmin, einer konservativen bürgerlichen Persönlichkeit, zu seinem Vizepräsidenten bedeutet in Verbindung mit der Macht der Rechten im Kongress und in vielen Provinzen, dass von ihnen im Amt nichts Radikales zu erwarten ist. Selbst wenn Lula sich aus ihrer Zwangsjacke befreien und Reformen zugunsten der Arbeiter:innenklasse vorschlagen würde, hätten die Rechten in Alckmin einen weiteren Michel Temer, der 2016 den „institutionellen Putsch“ gegen die PT-Präsidentin Dilma Rousseff anführte.

Offensichtlich gibt es unter großen Teilen der Arbeiter:innenklasse, der schwarzen, indigenen und LGBTIAQ-Gemeinschaften, vielen progressiven Teilen der Frauen, der Jugend und der Mittelschicht enormen Hass und Angst vor Bolsonaro. Viele einflussreiche Wirtschaftskreise unterstützen jetzt Lula als das kleinere Übel wegen Bolsonaros katastrophaler Politik in den Bereichen Covid und Wirtschaft. Seine Regierungsbilanz ist eine Katastrophe, angefangen bei der Übernahme von Donald Trumps Politik der Verleugnung und des Werbens für Quacksalbermedizin, die zum Tod von 700.000 Menschen geführt hat. Die Aufhebung von Umweltschutzgesetzen und die offene Förderung des Abbrennens und der Abholzung von noch mehr Amazonas-Regenwald haben zu einer Verdoppelung der CO2-Emissionen in den Jahren 2019/20 im Vergleich zum Durchschnitt des vorherigen Jahrzehnts geführt.

Zu Bolsonaros arbeiter:innenfeindlichen Wirtschaftsreformen gehören die sogenannten Arbeits- und Rentenreformen und die Kürzung des Familienunterstützungsprogramms „Bolsa Família“.  Im Jahr 2019 erlebte dieses Programm den stärksten Rückgang in der Geschichte: Die Zahl der empfangenden Familien ging von 14 Millionen auf 13 Millionen zurück, während die Zahl derer, die in der Schlange standen, um das Programm zu erhalten, 1,5 Millionen überstieg. Die Zahl der Brasilianer:innen, die Hunger leiden, stieg von Ende 2020 bis Anfang 2022 von 19,1 Millionen auf 33,1 Millionen, das sind etwa 15,5 Prozent der Bevölkerung. Bei einer jährlichen Inflationsrate von 8,73 Prozent können diese Zahlen nur noch schlimmer werden.

Bolsonaros Ideologie und Rhetorik weisen sicherlich starke Anklänge an den Faschismus auf, und seine Anhänger:innen verüben gewalttätige, sogar mörderische Angriffe auf Persönlichkeiten der Arbeiter:innen- und anderer fortschrittlicher Bewegungen. Es handelt sich jedoch noch nicht um eine voll entwickelte faschistische Massenmiliz, die in der Lage wäre, eine faschistische Diktatur zu errichten. Auch die oberen Ränge der brasilianischen Bourgeoisie rufen nicht zu einem solchen Ergebnis auf. Das Gleiche gilt für Washington, ganz zu schweigen von den imperialistischen Mächten in der Europäischen Union.

Sie würden Lula eindeutig bevorzugen, vor allem einen gezähmten Lula mit Alckmin als Vizepräsidenten. Alckmin war bis vor kurzem einer der wichtigsten Führer einer der größten Parteien der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB. Für die Wahl wechselte er zu einer kleineren Partei. Während seiner Zeit als Gouverneur von São Paulo ließ er Lehrer:innenstreiks niederschlagen und Demonstrationen unterdrücken und war Mitinitiator des so genannten Pinheirinho-Massakers im Jahr 2012, bei dem mehr als 1.500 Familien – zwischen 6.000 und 9.000 Menschen – mit Hubschraubern, Panzern, Pferden und Tränengas aus den größten Favelas, den Elendsquartieren der Region, vertrieben wurden. Er ist auch nicht einfach nur Vizepräsident. Er bringt in Lulas „breites Bündnis“ (Volksfront) eine Koalition von Parteien und Abgeordneten ein, die die wirtschaftlichen und sozialen Grenzen jeglicher echter Reformen festlegen werden.

Bolsonaro und die Gefahren  eines Putsches

Vor der Wahl sagte Bolsonaro: „Wenn ich verliere, dann weil die Wahl gefälscht wurde“, und seine massenhafte reaktionäre Anhänger:innenschaft wäre sicherlich zu einem weitaus ernsthafteren Versuch fähig, an der Macht zu bleiben, als die Anhänger:innen von Donald Trump, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol stürmten.Die brasilianische Gesellschaft ist eindeutig von einem reaktionären Block um Bolsonaro polarisiert, ähnlich wie Trump und die Republikaner:innen in den USA. Wahrscheinlich hat er  jetzt mehr gut bewaffnete Anhänger:innen als Trump bei der Erstürmung des US-Kapitols, so dass eine Wiederholung dieses Vorgangs vermutlich noch blutiger und zerstörerischer sein würde. Bolsonaro selbst hat praktisch einen Umsturz versprochen, der auf der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses beruht.

Zwei Faktoren mögen dagegen sprechen. Erstens: Angesichts der Position der Mehrheit der Bourgeoisie, der Mehrheit ihrer Parteien, der Haltung Bidens, der potenziellen Stärke der Arbeiter:innenpartei, des CUT-Gewerkschaftsverbands und anderer gesellschaftlicher Kräfte wäre dies ein komplettes Abenteuer.

Die deutliche Stärke, die Bolsonaros Kräfte bei den Wahlen an den Tag gelegt haben, lässt einen logischeren Weg vermuten, seine Position in den Gouverneursämtern und im Senat sowie die unzweifelhafte Sympathie der Polizei und eines Teils des Oberkommandos der Armee zu nutzen, um eine Regierung Lula-Alckmin zu blockieren und vereiteln.  Schließlich werden die nächsten Jahre wahrscheinlich von einer weltweiten Wirtschaftskrise geprägt sein, und die Regierung wird nicht über die Mittel für soziale Reformen verfügen, die Lula in den Jahren 2003 – 2010 zur Verfügung standen. Ob Bolsonaro dieses Maß an Geduld aufweist, werden wir bald sehen.

In jedem Fall sollten die Arbeiter:innen und alle Unterdrückten Brasiliens nicht darauf warten, dass die fortschrittliche Bourgeoisie und die liberalen Imperialisten im Ausland, geschweige denn die Streitkräfte des Landes, die Demokratie verteidigen. Man kann auch nicht erwarten, dass Lula sich mutiger oder entschlossener verhält als Salvador Allende 1973 in Chile. Ein entwaffnetes Volk, wie geeint es auch sein mag, wird immer besiegt werden. Die Arbeiter:innen- und Volksorganisationen müssen mehr tun als nur demonstrieren. Sie müssen Delegiertenräte und bewaffnete Milizen bilden, um sich gegen Bolsonaros Banden und gegen jede Intervention des Militärs zu schützen.

Revolutionär:innen, die dem klaren Rat von Leo Trotzki aus den 1930er Jahren und der Praxis von Lenin aus dem Jahr 1917 folgen, sollten Lula-Alckmin weder an der Urne noch nach dem Wahlgang Vertrauen aussprechen. Wir sollten nur Arbeiter:innen- und sozialistische Kandidat:innen (einschließlich der PT) unterstützen, wenn diese unabhängig von allen bürgerlichen Parteien sind. Wir sollten für alle PT- und sozialistischen Kandidat:innen stimmen, die dies tun und in den Massen gut verwurzelt sind, gerade um die Kräfte der Klassenunabhängigkeit zu stärken. Mit ihnen sollten wir eine Einheitsfront bilden, die in der Lage ist, nicht nur Bolsonaro, sondern auch Lula-Alckmin zu bekämpfen, wenn diese die Rechte und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen angreifen.

Eine Regierungskoalition mit der Bourgeoisie wird nicht in der Lage sein, lebenswichtige Reformen durchzuführen, die die Arbeiter:innenklasse braucht, sondern wird zusammen mit den Gewerkschaften der CUT die Arbeiter:innen dazu drängen, Opfer zu bringen und ihren Kampf zu zügeln, um diese Regierung im Amt zu halten. Das wiederum wird die Kräfte der Arbeiter:innen und aller anderen fortschrittlichen Strömungen schwächen. Was die Verteidigung gegen einen Bolsonaroputsch angeht, so befürworten wir eine Einheitsfront der PT, der Gewerkschaften, kleinerer Parteien wie der PSOL und der PSTU sowie der kommunistischen Parteien, um ihn zu besiegen. Wir plädieren jetzt dafür, dass sie Verteidigungseinheiten bilden, um jeden Angriff auf die Regierung von rechts abzuwehren.

Gleichzeitig müssen wir für die Bildung von Aktionsräten kämpfen, an denen sich alle Kräfte der Arbeiter:innenklasse und des Fortschritts beteiligen. Wir müssen für ein Programm revolutionärer antikapitalistischer Maßnahmen gegen Inflation, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung eintreten, Land für Landlose, Selbstbestimmung und Landrechte für indigene Gemeinschaften und geplanten Widerstand gegen Umweltzerstörung fordern.




Wahlen in Brasilien – der Kampf geht in eine neue Etappe

Markus Lehner, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Seit fast einem Jahrzehnt befindet sich die brasilianische Wirtschaft in der Krise. Das einstige „Schwellenland“ wird von Stagnation, Inflation und Arbeitslosigkeit gebeutelt. Weit über die offiziellen Zahlen hinaus sind über 50 Millionen Brasilianer:innen ohne Arbeit, weitere mehr als 30 Millionen prekär beschäftigt – für einen großen Teil der brasilianischen Bevölkerung ist das tägliche Überleben damit zur Hölle geworden.

Diese Situation hat sich durch den teilweisen Zusammenbruch des Gesundheitssystems während der Pandemie noch verschärft. Nicht nur, dass über 700.000 Menschen im Gefolge von Corona gestorben sind, haben sich durch die praktisch nicht vorhandene Pandemiepolitik die Arbeitsausfälle so gehäuft, dass auch wirtschaftlich ein schwerer Einbruch erfolgte. Zu dieser ökonomischen, sozialen und gesundheitspolitischen Krise kommt die Verschärfung der ökologischen, die neben der wahnwitzigen Abholzung im Amazonas-Regenwald auch vermehrt zu durch den Klimawandel bedingten Katastrophen führt. Die soziale Spaltung in Brasilien betrifft auch verstärkt Indigene, Nicht-Weiße, Frauen und LGTBIAQ+-Menschen, die nicht erst seit der Bolsonaro-Regierung unter verstärkten Angriffen auf ihre Rechte leiden.

Politische Dauerkrise

Zu dieser Gemengelage gesellt sich seit dem Sturz der letzten PT-Regierung (Partido dos Trabalhadores; Partei der Arbeiter:innen) die politische Krise. Das mit dem „Übergang“ von der Militärdiktatur in den 1980er Jahren geschaffene politische System funktioniert nur durch ein komplexes Geflecht an politischen Parteien, die über mehr oder weniger offene Korruption mit den unterschiedlichen Kapitalgruppen verbunden sind. Über diese Form der „Kooperation“ wird ihre Unterstützung für Regierungen vermittelt.

Während des Wirtschaftsaufschwungs der frühen 2000er Jahre war die PT unter Lula in der Lage, für eine gewisse Zeit die Arbeiter:innenklasse in dieses System einzubinden und somit die sozialen, ökologischen und politischen Konflikte zu kanalisieren. Weil sie im Gegensatz zu den meisten offen bürgerlichen Parteien über eine Massenorganisation verfügte, war sie unter Kontrolle einer reformistischen Führung sogar eine gewisse Stabilitätsgarantin für den brasilianischen Kapitalismus.

Mit Beginn der Krise zwischen 2012 und 2015 setzte die Bourgeoisie jedoch zunehmend auf den Bruch mit der PT und eine neoliberale Radikalkur. Der Putsch gegen Dilma ermöglichte unter Temer „Reformen“ der Arbeitsbeziehungen (weitgehende Informalisierung der Arbeitsverträge), Austrocknung der öffentlichen Haushalte (Verankerung von Schuldenbremsen in der Verfassung) und eine Beschleunigung von Privatisierungen. Die Unbeliebtheit Temers und die wachsende Protestbewegung drohten, 2018 die PT wieder an die Macht zu bringen – worauf die Bourgeoisie auf die Karte des Rechtspopulismus in Gestalt des bis dahin unbedeutenden Rechtsaußen Jair Bolsonaro setzte.

Bolsonaro und die Bourgeoisie

Auch wenn die Ideologie Bolsonaros und seine Rhetorik Anklänge an den Faschismus aufweisen, so hatte er bei der Wahl keine Massenbewegung und faschistische Milizen in einer Zahl hinter sich, die notwendig gewesen wäre, um tatsächlich ein faschistisches Regime zu errichten. Auch wenn Kräfte im bewaffneten Staatsapparat seine rechte Politik unterstützen und auch in der Regierung die Zahl der Militärs anstieg, so wurde doch in Brasilien keine faschistische Diktatur errichtet, die die Arbeiter:innenbewegung insgesamt zerschlägt und atomisiert, auch wenn die wachsende Zahl an repressiven Aktionen und politischen Morden nicht verharmlost werden darf.

Die Regierung Bolsonaro war zudem durch große Widersprüche zwischen den verschiedenen bürgerlichen Kräften geprägt, die dieses Regime unterstützen. Der Rechtsaußen war nie in der Lage, diese divergierenden Interessen und Machtzentren zu einer einheitlichen Politik zu formen. Das Ergebnis war ein absurdes Chaos von halbherzigen Maßnahmen, die ihren Gipfel in der völlig wirren Coronapolitik fanden. Es ist kein Wunder, dass auch große Teile der Bourgeoisie inzwischen Bolsonaro nicht mehr als Präsidenten haben wollen. Im Vorlauf zur Präsidentenwahl kam es bei einschlägigen Meetings von Unternehmer:innen und Vertreter:innen der US-Administration zu eindeutigen Stellungnahmen gegen eine erneute Präsidentschaft Bolsonaros, die zunächst in der Suche nach einem/r „dritten“ Kandidat:in mündeten. Als dies scheiterte, kam die PT wieder ins Spiel.

Nach dem Dilma-Putsch wurde versucht, die PT auszugrenzen, wenn nicht gar zu zerschlagen. Zentral dabei waren der Prozess und die Inhaftierung von Lula. Als wenn die Korruption nicht im Zentrum des politischen Systems des Kapitalismus in Brasilien stünde, wurden die PT und allen voran Lula zu ihrem Zentrum erklärt und ihr dafür stellvertretend der Prozess gemacht („Lava Jato“-Prozesse, benannt nach der sog. Autowaschaffäre). Doch die PT überlebte und blieb sogar Kern von Protesten gegen die Temer-Reformen und ihre Fortsetzung unter Bolsonaro.

PT, Lula und Alckmin

Die PT und der von ihr geführte Gewerkschaftsdachverband CUT erwiesen sich auch als wichtig, um die wachsenden Massenproteste zu kanalisieren und wieder in Richtung Alternativen bei Wahlen zu lenken. Die Angst vor weiteren Protesten und die Unzufriedenheit mit Bolsonaro führten die Bourgeoisie wohl dazu, die PT wieder als Teil der Lösung ihrer Probleme zu sehen. Plötzlich wurde „entdeckt“, dass bei den Prozessen gegen Lula Unregelmäßigkeiten passiert waren. Das oberste Gericht annullierte seine Verurteilung und stellte seine vollen politischen Rechte wieder her.

Lula begann danach, sofort die Karte des „Anti-Bolsonaro“ zu spielen. Unter dem Motto, dass es vor allem darauf ankomme, eine weitere Präsidentschaft Bolsonaros zu verhindern, sollte es oberstes Ziel der PT und ihrer Unterstützer:innen sein, nicht auf die Straße zu gehen, sondern ein „breites Bündnis“ für die kommende Präsidentschaftswahl zu schmieden. Für dieses fand sich denn auch einer der wichtigsten Vertreter der brasilianischen Bourgeiosie, Geraldo Alckmin, als „running mate“ für die Kandidatur zur Präsidentschaft (für die nun die Liste Lula-Alckmin von der PT unterstützt wird).

Alckmin ist nicht nur einer der prominentesten Politiker der wichtigsten Partei der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB (auch wenn er formell für die Wahl zu einer kleineren bürgerlichen Partei übergetreten ist). Er war für diese nicht nur 2006 Präsidentschaftskandidat gegen Lula, sondern auch langjähriger Gouverneur der wichtigsten Region Brasiliens, Sao Paulo. In Sao Paulo unterdrückte er nicht nur auf brutale Weise Streiks (wie den großen Lehrerstreik) und Demonstrationen (wie die gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr), er war auch Mitverantwortlicher für das „Pinheirinho-Massaker“ bei der Zwangsräumung einer der größten Favelas in der Region. Alckmin ist nicht nur als Wirtschaftsliberaler bekannt, er bringt auch eine entsprechende Koalition von Parteien (oder besser gesagt Abgeordneten) in das „breite Bündnis“ ein, die letztlich bei einer Regierung Lula-Alckmin die wesentlichen politischen Linien vorgeben werden (d. h. ohne die die PT nicht die Spur einer Mehrheit im Kongress haben würde). Zudem verkörpert Alckmin als Vizepräsident wieder die Möglichkeit, im Ernstfall den Dilma-Putsch diesmal gegen Lula durchzuführen.

Polarisierung und Putschgefahr

Die Wahl ist klar zwischen Lula/Alckmin und Bolsonaro polarisiert. Andere Kandidat:innen werden es nicht in den zweiten Wahlgang schaffen, sollte Lula nicht sowieso schon im ersten Wahlgang gewinnen. Natürlich stellt eine zweite Amtszeit von Bolsonaro eine große Bedrohung dar, da er inzwischen beachtliches repressives Potenzial angesammelt hat. Er hat seine Stellung im Staatsapparat und gegenüber den bewaffneten Organen genutzt, um nicht nur dort seine Anhängerschaft auszubauen, sondern auch große bewaffnete Unterstützerorganisationen aufzubauen (von pensionierten Militärpolizist:innen, über Jägervereine, bis zu Biker:innen und bewaffneten Milizen der Agrobosse). Ein Sieg Bolsonaros würde daher sicherlich eine Steigerung der Repression bedeuten.

Für den wahrscheinlichen Fall einer Wahlniederlage wird jetzt von immer abenteuerlicheren Putschdrohungen aus dem Bolsonaro-Lager berichtet. Ein solcher Putsch wäre angesichts der mangelnden Unterstützung durch große Teile der Bourgeoisie und der US-Administration zwar tatsächlich reines Abenteurertum – ist aber deswegen nicht ausgeschlossen. Gegen diese rechte Gefahr muss die Arbeiter:innenklasse ihre Einheitsfront aufbauen und sie mit ihren Mitteln bekämpfen (inklusive dem Aufbau von Selbstverteidigungskräften und eigenen Milizen). Sollte es tatsächlich zu einem Putsch und einer folgenden Repressionswelle kommen, müsste sofort eine Massenbewegung bis hin zum Generalstreik diesen sofort zu Fall bringen. Es wäre hier fahrlässig, auf die „demokratischen“ Teile in Armee, Parteien, Gerichten und Staatsapparat zu setzen (wie jetzt in den verschiedenen offenen Briefen suggeriert wird). Die Gefahr eines solchen halbfaschistischen Putsches könnte nur durch entschlossene Massenaktion gestoppt werden. Diese würde zugleich die Allianz von PT und CUT mit der Bourgeoise massiv unter Druck bringen, weil Alckmin ganz sicher keine bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der Arbeiter:innenklasse auf der Straße sehen will.

Volksfront und Wahltaktik

Eine Lula/Alckmin-Regierung dagegen würde tatsächlich eine Fortsetzung der Temer’schen „Reformen“ bedeuten. Auch wenn Lula eine Revision der Arbeitsmarkt- und Haushaltsdekrete verspricht, ist angesichts seines Bündnisses klar, dass dies höchstens Kosmetik bleiben wird. Dies betrifft auch die Fortsetzung der Privatisierungspolitik und lässt angesichts der Haushaltslage auch keine wesentliche Verbesserung der Sozialleistungen für die Millionen von notleidenden Brasilianer:innen erwarten. Angesichts der zu erwartenden weiteren Verschlimmerung der wirtschaftlichen und ökologischen Krise wird somit die Enttäuschung über die nächste Lula-Präsidentschaft sehr schnell einsetzen.

Mit Lula als Präsident werden zugleich die PT und die CUT wachsende Massenproteste noch weiter zurückzuhalten versuchen. Wenn es dann der Linken nicht gelingt, eine alternative Führung zu PT/PCdoB aufzubauen, wird der Massenunmut notwendigerweise wiederum den rechtsextremen Rattenfänger:innen in die Hände spielen (ob mit Bolsonaro, seinen Söhnen oder welchem Clown auch immer an der Spitze).

Wie Trotzki schon an Hand der Volksfront in Frankreich in den 1930er Jahren nachgewiesen hat, stellen diese und ihr Elektoralismus samt bürgerlicher Koalitionspolitik die beste Vorbereitung für die nächste Welle der rechten Mobilisierung bis hin zum Faschismus dar. Für Volksfronten als solche kann es daher niemals auch nur eine kritische Wahlunterstützung geben. Das trifft aber wie in Frankreich in den 1930er Jahren natürlich nicht für die Kandidat:innen der reformistischen Parteien in der Volksfront zu, sofern deren Wahl möglich ist, ohne die offen bürgerlichen gleich mitzuwählen. Revolutionär:innen können daher nicht für die Liste Lula/Alckmin bei den Präsidentschaftswahlen stimmen, weil diese nur im Paket ankreuzbar ist. Eine Stimme für Lula/Alckmin kommt daher unwillkürlich nicht nur einer für Lula, sondern auch für den bürgerlichen Kandidaten, also die gesamte bürgerliche Koalition, gleich.

Anders verhält es sich mit einzelne Kandidat:innen der PT, aber auch der mit ihr verbündeten PCdoB oder der PSOL für Sitze im Kongress. Für die Wahl dieser Kandidat:innen fordern wir ihre Wähler:innen jedoch auf, sie zum Bruch mit der bürgerlichen Koalition, zum Widerstand gegen die neoliberale Regierungspolitik unter welcher Führung auch immer und zur Unterstützung der Massenproteste gegen Krise und rechte Gefahr zu zwingen. Wir fordern von PT, PCdoB, PSOL und CUT, eine Minderheitsregierung gestützt auf die Mobilisierung ihrer Anhänger:innen zu bilden.

Brasilianische Linke

Die brasilianische Linke hat eine intensive Auseinandersetzung mit der Kandidatur Lulas hinter sich. Ausgehend von den Kampagnen zu seiner Befreiung haben sich nach seiner Entlassung bald Initiativen zu „Lula Presidente“ gebildet, die das mit Massenprotesten und einer reinen PT-Kandidatur verbinden wollten (z. B. so die PCO). Tatsächlich war dies auch geeignet, um dann gegen die sich abzeichnende Lula/Alckmin-Liste Widerstand in der PT und den anderen Parteien (insbesondere der PSOL) zu entfalten. Dieser fand tatsächlich breite Resonanz, wurde jedoch letztlich durch die undemokratischen Manöver von Parteiapparat und Lula selbst umgangen und kaltgestellt.

In der PSOL trat deren bekannteste Führungsfigur, Guilherme Boulos (ihr letzter Präsidentschaftskandidat und Kandidat als Gouverneur für Sao Paulo), sofort mit Begeisterung für die Unterstützung der Lula/Alckmin-Koalition ein. Doch in der Partei gab es beträchtlichen Widerstand, der auch in der Frage der Aufstellung einer eigenen Kandidatur kumulierte. So argumentierte eine der 25 Tendenzen innerhalb der PSOL, die „Esquerda Marxista“ (in der die Sektion der IMT aktiv ist), dass es gegen die Volksfront notwendig sei, im ersten Wahlgang eine/n eigene/n Kandidat:in aufzustellen – um dann im zweiten Wahlgang notwendigerweise gegen Bolsonaro für Lula/Alckmin, also auch für den offen bürgerlichen Kanidaten, zu stimmen. Die MAIS (aus der PSTU 2016 wegen deren Weigerung, gegen den Temer-Putsch zu mobilisieren, ausgeschlossen und heute eine PSOL-Tendenz) argumentierte dagegen, dass die Massenmobilisierungen zu schwach seien, und daher Lula/Alckmin zu wählen, zur Abwehr der faschistischen Gefahr nötig wäre. Letztlich wurde der Disput undemokratisch auf einer dazu eigentlich nicht legitimierten „Delegiertensitzung“ mit 35:25 Stimmen für die Lula-Unterstützung entschieden.

Als „linke Alternative“ zu Lula/Alckmin kandidiert jetzt vor allem (wie immer) die PSTU im Zusammenhang des „Revolutionär Sozialistischen Pols“. Die Kandidatinnen für die Liste (darunter mit Raquel Temembé die einzige indigene Vizepräsidentschaftskandidatin) haben im brasilianischen Wahlsystem keine Chance. Parteien, die nicht im Kongress vertreten sind, verfügen außerdem über keinen Zugang zu Medien und TV-Debatten. PCB und PU werden auch unter einem Prozent der Stimmen bleiben. Doch sind diese Parteien nicht nur ungenügend in der Klasse verankert (auch wenn die PSTU eine Rolle in den Gewerkschaften spielt), sie sind auch gegenüber den großen Illusionen der Massen in Lula und PT blind.

Dabei spielt die PT auch aufgrund ihrer Rolle in der CUT eine entscheidende Rolle in der Organisierung und Kanalisierung aller klassenbasierten Proteste in Brasilien. Damit werden bestimmte Teile der PT natürlich auch bei Protesten gegen eine Lula/Alckmin-Regierung dabei sein. Es kann daher nicht nur darum gehen, eine eigenständige, neue Partei aufzubauen (oder wie die PSTU sich als solche zu präsentieren), sondern man muss auch Taktiken entwickeln, die Massen von ihrer bisherigen Führung zu brechen. Daher ist es ein Fehler, solche schlecht verankerten Eigenkandidaturen (auf letztlich linksreformistischen Programmen) auch noch mit einer sektiererischen Position gegenüber der Wahl einzelner PT/TCdoB/PSOL-Kandidat:innen für die Kongresswahlen zu verbinden. Dies trifft auch auf die MRT (brasilianische Sektion der FT) zu, die zwar eine richtige Kritik an der Lula/Alckmin-Liste (und auch an der falschen „Faschismus“-Analyse eines großen Teils der linken Lula-Untersützer:innen) übt, aber als Wahlposition nur die Option der Unterstützung der PSTU sieht – und natürlich der Vorbereitung der Kämpfe nach der Wahl. Die MRT-Vision der Verbindung aller gegenüber Lula kritischen Kräfte von MRT, PSTU, PCB, PU ist in diesem Zusammenhang nicht nur unrealistisch, sondern verkennt auch, dass beträchtliche Teile der Aktivist:innen und Avantgardeelemente, die jetzt mit Bauchschmerzen Lula wählen, entscheidend sein werden für den Kampf um den Aufbau der Protestbewegung nach der Wahl.

Letzteres mussten wir auch in der Diskussion mit unserer eigenen Sektion erkennen. Auch wenn wir programmatisch bezüglich der zentralen Forderungen eines revolutionären Aktionsprogramms mit ihr vollkommen übereinstimmen, gibt es taktische Differenzen. Nachdem der Kampf gegen die Unterstützung der Lula/Alckmin-Liste in der PT und PSOL verloren war, stellte sie fest, dass ein überwältigender Teil der Arbeiter:innenavantgarde und der Vertreter:innen sozial Unterdrückter nunmehr trotz aller Bedenken zur Wahl von Lula/Alckmin entschlossen ist, um Bolsonaro zu verhindern. Hinzu kommt, dass in der polarisierten Situation die Gefahr eines „faschistischen Putsches“ in der Linken (vor allem durch die PT) so überzeichnet wird, dass alle, die nicht für Lula/Alckmin stimmen wollen, sofort als indirekte Unterstützer:innen von Bolsonaro gebrandmarkt werden.

So richtig die Erkenntnis ist, dass die aktuelle Polarisierung massenhafte Illusionen in die PT befördert hat und diese große Teile der Klasse wie der Avantgarde organisiert, so begingen unsere Genoss:innen den Fehler, für eine kritische Unterstützung von Lula-Alckmin einzutreten, auch wenn sie gleichzeitig vor dem sicheren Verrat einer solchen Regierung warnen und zum Kampf dagegen aufrufen. Aus den oben genannten Gründen halten wir eine kritische Wahlunterstützung für eine Volksfront für einen schweren taktischen Fehler. Nachdem sich diese Differenz nicht lösen ließ, legte die Liga Socialista ihre Mitgliedschaft in der Liga für die Fünfte Internationale als Sektion nieder. Wir hoffen allerdings, dass sich im Zuge der Auseinandersetzungen nach der Wahl diese Differenzen wieder lösen lassen, und wir unterhalten weiter geschwisterliche Beziehungen zu den Genoss:innen. Ungeachtet dieser Differenz unterstützen wir sie jedoch im Kampf gegen rechts und die schweren Auswirkungen der Krisen in Brasilien. Wir rufen dazu auf, den Kampf der brasilianischen Arbeiter:innen und Unterdrückten gegen Verelendung und faschistische Gewalt weltweit vor und nach der Wahl zu unterstützen.




USA: „Unsere“ Demokratie retten!??

Christian Gebhardt, Infomail 1199, 20. September 2022

Die Republikanische Partei ist darauf aus, „unsere“ Demokratie zu stürzen. Die bevorstehenden midterm elections (Zwischenwahlen) werden eine Wahl zwischen einer extremistischen Autokratie und der „besten Demokratie“ sein, die wir je auf Erden gesehen haben. Zumindest versucht die Demokratische Partei, uns das drei Monate vor den Zwischenwahlen im November weiszumachen. Aus Angst, ihre hauchdünne Mehrheit zu verlieren, verweisen die Demokrat:innen auf die Tatsache, dass immer mehr republikanische Vorwahlen auf den von Trump unterstützten und nicht auf den „gemäßigten“ Kandidaten hinauslaufen. Diese radikalen Anhänger:innen Trumps würden nicht nur eine Bedrohung für die demokratischen Rechte (z. B. Abtreibungsrechte oder die Homo-Ehe), sondern auch für die Demokratie als Ganzes darstellen.

Und da ist ein Körnchen Wahrheit dran. Die Ergebnisse der Vorwahlen zugunsten der Hardcore-Trumpanhänger:innen bei den kommenden Zwischenwahlen sind nicht nur ein Zeichen für den anhaltenden Einfluss des Trumpismus innerhalb der Republikanischen Partei, sondern auch ein Zeichen für einen anhaltenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft, selbst nachdem Trump sein Amt niedergelegt hat. Die Republikanische Partei befindet sich mitten in einem Rechtsruck, der von einer Basis von Wähler:innen angeheizt wird, die an die „große Lüge“ des Wahlbetrugs glauben und Druck auf „gemäßigte“ Republikaner:innen ausüben, damit diese sich entweder vorerst zurückhalten oder ihre Politik ändern. In jedem Fall spricht dies für einen Rechtsruck der Republikanischen Partei, der für Revolutionär:innen nicht allzu überraschend kommt. Unabhängig davon, ob dieser Rechtsruck aus echter Überzeugung oder Opportunismus erfolgt, stellt er dennoch eine reale Bedrohung für viele demokratische Rechte der US-Arbeiter:innenklasse insgesamt dar: z. B. Angriffe auf Abtreibungsrechte, die Homo-Ehe, das Wahlrecht usw.

Insgesamt lässt sich die derzeitige Situation in den USA als eine Polarisierung charakterisieren, in der die extreme Rechte in Zusammenarbeit mit der christlichen Rechten immer mehr Einfluss gewinnt und bestimmte Punkte ihrer Agenda durchsetzen kann.

Aber wer sind diese „Gemäßigten“?

Die Demokratische Partei fordert die gemäßigten republikanischen Teile auf, zur Vernunft zu kommen und die Realität der derzeitigen Republikanischen Partei zu erkennen. Eine Person, die in diesem so genannten moderaten Haufen am beliebtesten ist, ist Liz Cheney, eine Politikerin, die in 93 % der Fälle für die Politik von Donald Trump gestimmt hat und nicht als Teil des „progressiven Flügels“, was immer dieser Begriff auch bedeuten mag, innerhalb der Republikanischen Partei bekannt war. Mit ihrer Verteidigung der härtesten Formen des wirtschaftlichen Neoliberalismus gegen die Arbeiter:innenklasse und von Waterboarding (Kopf unter Wasser Drücken) und anderer Folter als legitime außenpolitische Optionen hätte sie noch vor zwei Jahren von keinem Mitglied der Demokratischen Partei als „gemäßigt“ bezeichnet werden können.

Was hat sich also geändert? Cheney hat sich in die Herzen der Demokrat:innen gespielt, indem sie gegen Trumps Verwicklung in den Angriff auf den Kongress am 6. Januar Stellung bezog, ihre Rolle im Ausschuss „6. Januar“ übernahm und für Trumps zweites Amtsenthebungsverfahren stimmte. Obwohl dies wichtige politische Positionen gegen Trumps Form des Autoritarismus waren, können sie ihr früheres politisches Leben als Hardcorepolitikerin des rechten Flügels, die politisch genauso ruchlos war wie ihr berüchtigter Vater, der ehemalige republikanische Vizepräsident Dick Cheney, nicht vergessen machen.

Wahlstrategie der Demokratischen Partei für die Zwischenwahlen

Es stellt sich also die Frage: Warum loben die Demokrat:innen jetzt Cheney? Zwar könnten wir ihnen zugute halten, dass sie glauben, Liz Cheneys Politik hätte sich grundlegend geändert und sie sei nun eine respektvolle Verbündete. Doch selbst wenn die Demokrat:innen dumm genug sind, das zu glauben, deutet das eher auf ihre übergreifende, fehlgeleitete Strategie für die Zwischenwahlen hin, ein Thema, das viel wichtiger ist.

Cheney als gemäßigt darzustellen und sie und ihre Anhänger:innen aufzufordern, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und diese zu stärken, bedeutet, dass die Demokrat:innen einerseits versuchen, Druck auf republikanische Gesetzgeber:innen auszuüben, damit diese entweder in bestimmten Fragen mit ihnen stimmen oder aus der Reihe tanzen und die Partei ganz wechseln. Andererseits beschwören sie diese republikanischen „Gemäßigten“ sowie Unabhängige und unentschlossene Wähler:innen, für die Demokratie, und das bedeutet genauer gesagt, für die Demokratische Partei zu stimmen.

Für uns Revolutionär:innen ist es wichtig festzustellen, dass die Arbeiter:innenklasse – wenig überraschend – in dieser Strategie keine Rolle spielt. Statt sich an der Arbeiter:innenklasse zu orientieren, um den Aufstieg der extremen Rechten und des Trumpismus in den USA zu bekämpfen, versuchen die Demokrat:innen, uns davon zu überzeugen, sich mit Leuten zusammenzutun, die für den politischen Rechtsruck, mit dem wir es zu tun haben, mitverantwortlich sind. Das demokratische Establishment nimmt zudem eine Haltung ein, die den Interessen der Arbeiter:innenklasse zuwiderläuft, indem es diese Debatte derzeit nutzt, um den progressiven Flügel innerhalb der Demokratischen Partei anzugreifen, weil er „zu radikal“ und in Wirklichkeit nicht besser als die radikalen Republikaner:innen sei – eine widerliche Form der Gleichsetzung „beider Seiten“. Auch wenn wir die politische Strategie dieses progressiven Flügels ebenfalls grundlegend ablehnen, sehen wir es als notwendig an, auf diesen Angriff hinzuweisen und die Mitglieder dieses Flügels aufzufordern, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit der Demokratischen Partei zu brechen!

Die bürgerliche Demokratie – der Klebstoff, der sie zusammenhält

Die DemokratIsche Partei verkündet natürlich nicht offen, dass ihre Strategie eigentlich nicht darin besteht, den Trumpismus im Namen der Arbeiter:innen zu bekämpfen. Sie behauptet, dass der Kampf für Demokratie der wichtigste sei und sich alle um ihn scharen sollten. Wer sich gegen die Demokratische Partei stellt, auch wenn er/sie von links kommt, gehört zum falschen Lager und ist es daher nicht wert, mit jenen Kräften zusammenzuarbeiten. Dieser Aufruf, „unsere Demokratie“ zu verteidigen, ist der Klebstoff, der diese Strategie zusammenhalten und die Aktivist:innen der Arbeiter:innenbewegung an die Demokratische Partei binden soll, auch wenn  diese nicht auf der Seite der Arbeiter:innenklasse steht.

Doch niemand erwähnt den Charakter dieser „Demokratie“. Sie wird als abstraktes, natürliches Gesetz dargestellt statt als das, was sie wirklich ist: ein Form der Demokratie, die der herrschende Klasse, der Bourgeoisie nützt! Eine gesellschaftliche Struktur, die dazu da ist, den Kapitalismus und seine zerstörerischen Kräfte zu beherrschen und zu verteidigen. Eine „Demokratie“, die die Krisenlast auf die Schultern der Arbeiter:innenklasse legt, während sie dafür sorgt, dass die Profite für die Kapitalist:innen weiter fließen. Kurz gesagt, eine Demokratie, die wir als Revolutionär:innen überwinden und durch eine Arbeiter:innendemokratie und einen Arbeiter:innenstaat ersetzen wollen! Einen Staat, der wirklich vom Volk und für das Volk geführt wird und nicht durch ein Marionettenspiel, das die Kapitalist:innen vollständig begünstigt.

Wir brauchen eine Arbeiter:innenpartei!

Der Kampf für eine abstrakte Demokratie, in Wirklichkeit einer für eine bürgerliche Herrschaftsform, liefert keine Option für US-Arbeiter:innen. Anstatt innerhalb der Demokratischen Partei zu arbeiten und versuchen, für fortschrittlichere Positionen und Einfluss innerhalb einer Partei zu kämpfen, die sie nicht will – wie Bernie Sanders, die DSA oder Vertreter:innen wie die Squad uns glauben machen wollen –, brauchen wir einen offenen und sauberen Bruch mit der Demokratischen Partei. Dieser sollte zu einer Arbeiter:innenpartei führen, einer Partei, die wirklich die Perspektive der Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe in den Vordergrund stellt, nicht nur, wenn es darum geht, mehr Einfluss oder Stimmen bei Wahlen zu gewinnen, sondern die auch die täglichen Kämpfe der arbeitenden Menschen in den USA führen kann. Eine Partei, die sich mit den laufenden Streikwellen, den Kämpfen gegen die Abschaffung der reproduktiven Rechte, der Wahlrechtsbeschränkungen, der Homo-Ehe und all den anderen Angriffen auf die demokratischen Rechte, die derzeit stattfinden, befasst. Eine Partei, die eine Koalition aus Vertreter:innen all unserer aktuellen Kämpfe für einen vereinten Gegenschlag bilden wird. Eine Partei, die den Arbeiter:innen endlich die Möglichkeit gibt, über ihre Politik und ihr politisches Programm selbst zu entscheiden.

Organisationen wie die Demokratischen Sozialist:innen Amerikas oder das Arbeiter:innennetzwerk Labor Notes sollten eine solche Initiative anführen und lokale Zweigstellen bilden, um eine Struktur für eine politische Debatte zu schaffen, die sich auf die Ausarbeitung eines Programms und eines Kampagnenplans konzentrieren sollte. Diese Debatten sollten nicht nur die Basisorganisationen der Arbeiter:innenklasse einbeziehen, sondern auch die Gewerkschaften auffordern, sich zu beteiligen, ihre Verbindungen zu der Demokratischen Partei zu lösen und sich einer solchen Initiative mit voller Kraft anzuschließen. Auch wenn wir wissen, dass sich die Gewerkschaftsführung nicht freiwillig an einer solchen Initiative beteiligen oder sie gegebenenfalls sabotieren wird, sollten wir zu ihrer Beteiligung aufrufen. Auf diese Weise wird  der Mitgliedschaft der faule Kern der Gewerkschaftsführung vor Augen geführt und liefert uns die perfekten Argumente, um mit ihr zu brechen und sich unserer Sache anzuschließen.

Wir Revolutionär:innen müssen uns in einer solchen Initiative engagieren und für eine revolutionäre Perspektive kämpfen. Wir sollten uns als revolutionäre Strömung innerhalb einer solchen Initiative organisieren, basierend auf einem revolutionären Aktionsprogramm. Wir argumentieren für dieses Programm und versuchen, so viele Mitglieder wie möglich zu sammeln, um für dieses Programm sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei zu kämpfen. Eine solche Taktik würde unweigerlich zu zwei möglichen Ergebnissen führen: Entweder wir gewinnen am Ende die Mehrheit der Partei für unser revolutionäres Programm und schaffen so eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, oder sie führt zu einer offenen Spaltung innerhalb der Initiative mit reformistischen und zentristischen Kräften. Eine Spaltung, die jedoch eine stärkere und gezieltere revolutionäre Organisation in den USA hervorbringen würde. Eine Organisation, die es uns Revolutionär:innen ermöglichen würde, in den aktuellen Kämpfen der Arbeiter:innenklasse mit einer stärkeren Stimme für unsere revolutionären Ideen zu streiten, z. B.: die Notwendigkeit der Überwindung der bürgerlichen Demokratie durch die Einführung der Arbeiter:innendemokratie und Bildung eines Arbeiter:innenstaates!




Proteste gegen Abtreibungsverbote in den USA

Interview mit einer Aktivistin, REVOLUTION (Zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de), Infomail 1194, 28. Juli 2022

In den USA hat der Oberste Gerichtshof im Juni dieses Jahres ein Urteil erlassen, welches den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einschränken und sogar verbieten kann. Mehrere Bundesstaaten haben bereits angekündigt, die Rechte auf Abtreibungen massiv anzugreifen. Als Reaktion kam es in vielen US-amerikanischen Städten zu Massenprotesten. Wir haben in diesem Interview mit der Aktivistin Lara (Instagram @Lara.islinger) vor Ort gesprochen.

Wer bist du? Wo bist du organisiert?

Ich bin Lara (sie/ihr) und wohne eigentlich in Hamburg. Ich verbringe den Sommer damit, in New York für Shout Your Abortion (SYA) zu arbeiten. SYA ist eine Organisation, die sich für die Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt – mit kreativen Aktionen und dadurch, dass wir Menschen eine Plattform geben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Aufgrund der aktuellen Situation, also des Urteils des Supreme Court und der Abtreibungsverbote in vielen Staaten, fokussieren wir uns aktuell auf den Zugang zu sicheren Abtreibungen insbesondere durch Abtreibungspillen – egal ob legal oder nicht.

Seit einigen Wochen, bin ich bei New York City For Abortion Rights aktiv, ein sozialistisch-feministisches Kollektiv, das Demos und sogenannte Clinic Defenses organisiert.

Inwiefern bist/warst du Teil der Proteste gegen die neuen Abtreibungsverbote? Was ist dein Ziel?

Gemeinsam mit New York City For Abortion Rights und anderen linksfeministischen Gruppen habe ich einen Protest am Tag der Supreme-Court-Entscheidung organisiert, zu dem 20.000 Leute gekommen sind. Mir ging es bei der Demo vor allem darum, Solidarität auszudrücken mit Menschen in republikanischen Bundesstaaten, in denen nun Abtreibungsverbote und Einschränkungen gelten. Abgesehen von einem erhöhten Andrang in den Abtreibungskliniken wird sich in New York durch das Urteil wenig ändern. Trotzdem spüren wir auch hier den Einfluss von Abtreibungsgegner:innen, da wir sogenannte Clinic Defenses organisieren. Das sind Proteste und Blockaden gegen Abtreibungsgegner:innen, die zu Kliniken prozessieren, eskortiert vom NYPD, und dort Patient:innen belästigen – mitten in New York City.

Am Montag, dem 4. Juli, war ich mit Shout Your Abortion in Washington DC. Wir haben vor dem Supreme Court einen Stand aufgebaut, an dem wir Limonade verschenkt und Informationen zu Abtreibungspillen verbreitet haben, die man in allen 50 Staaten über die Organisation Aid Access bestellen kann – auch ohne schwanger zu sein (sog. advanced provision). Unser Motto lautet ,Fuck SCOTUS. We’re doing it anyway’. Dieses illegitime, undemokratische Gericht kann uns nicht aufhalten.

Dazu will ich unbedingt betonen, dass das Urteil natürlich Konsequenzen hat, die grausam und ungerecht sind. Unter der Kriminalisierung von Abtreibung (und Fehlgeburten) leiden am meisten Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören – insbesondere Schwarze; Indigene und weitere People of Color; die LGBTQ+-Community; Menschen mit Behinderung; Menschen, die im ländlichen Raum leben; junge Menschen und arme Menschen.

Wie nimmst du die Proteste wahr? Welche Gruppen sind am Start?

Mir geben die Proteste Kraft. Ich finde es gut, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen, um unserer Wut Ausdruck zu verleihen, und als Zeichen der Solidarität mit allen Menschen, die von den Abtreibungsverboten betroffen sind. Die feministische Bewegung nehme ich als zersplittert wahr. Viele linke Aktivist:innen wenden sich vom liberalen, weißenMainstreamfeminismus ab. Andererseits spüren wir in New York eine starke Solidarität von anderen linken Gruppen sowie von den neu gegründeten Gewerkschaften (z. B. der Starbucks-Gewerkschaft), die sich unseren Protesten anschließen.

Wir distanzieren uns von Gruppen, die sogenannte die-ins organisieren, sich mit Blut beschmieren oder Kleiderbügel zu Protesten mitbringen. Unser Punkt ist ja: Wir gehen nicht zurück in die 1960er und frühen 1970er Jahre, bevor Roe entschieden wurde, und als viele Menschen aufgrund unsicherer, illegaler Abtreibungen gestorben sind. Wir wollen keine Angst schüren, sondern Hoffnung machen. Der große Unterschied ist, wir haben heute Zugang zu Abtreibungspillen und wir haben ein Netzwerk von Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung leistet. Wir werden dieses Urteil nicht befolgen. Wir werden nicht aufhören abzutreiben. Wir werden nicht aufhören, uns gegenseitig zu helfen, und wir werden nicht aufhören, für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.

Kamala Harris hat als Antwort der Demokraten dazu aufgerufen, diese Entscheidung mit der Stimmabgabe bei den Zwischenwahlen doch noch zu kippen – hältst du das für realistisch?

Die Biden-Regierung und die Demokrat:innen betonen, dass sie Abtreibungsrechte verteidigen wollen, aber ihre Bemühungen auf Bundesebene halten nicht Schritt mit dieser Rhetorik. Die Tatsache, dass die Demokrat:innen in Washington nicht in der Lage sind, Abtreibungsrechte zu stärken, obwohl sie das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, hat viele Wähler:innen enttäuscht. Ich spüre deutlich die Frustration über die Untätigkeit der Demokrat:innen auf Bundesebene und höre in linken, feministischen Kreisen immer wieder das Wort ‚desillusioniert‘.

Es stimmt: Das Supreme-Court-Urteil hat das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt mehrerer wichtiger Zwischenwahlen katapultiert. Die Wahlen in den Bundesstaaten (etwa von Gouverneur:innen, Generalstaatsanwält:innen, Richter:innen und der Legislative) könnten nun darüber entscheiden, ob Millionen von Amerikaner:innen Zugang zu legalen Abtreibungen haben oder nicht. Viele haben aber das Gefühl, dass die Demokrat:innen – angesichts der hohen Inflation und der niedrigen Zustimmungsraten für Präsident Biden – den Unmut über das Urteil ausnutzen, um Wähler:innenstimmen zu erhaschen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie sie den Zugang zu Abtreibung in den USA gewährleisten und FLINTAs unterstützen werden.

Wenn aber doch noch nicht alles verloren ist: Welche Perspektive siehst du dann noch für FLINTAs in den USA?

Ich lege große Hoffnung in feministische Solidarität und Netzwerke – national und international. Anders als die Demokrat:innen haben wir uns spätestens seit dem Leak des Entwurfs im Mai darauf vorbereitet, dass Roe fallen wird. Wir verbreiten Informationen zu Abtreibungspillen, die per Post in alle 50 Staaten verschickt werden können und sehr sicher sind. Dabei hilft uns Plan C und die europäische Organisation Aid Access. Außerdem gibt es ein solides Netzwerk von regionalen Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung für Abtreibungen leistet. Ich habe auch mitbekommen, dass als letzter Ausweg Abtreibungspillen aus Mexiko geschickt werden – kostenlos von dortigen feministischen Kollektiven als Akt der Solidarität mit FLINTAs in den USA. Unser Motto lautet: ‚We will save us.‘ Wir retten uns selber.

Was wünschst du dir von der Bewegung? Und wie können wir hier in Deutschland/der EU sie unterstützen?

Ich wünsche mir von der Bewegung, dass wir uns mehr auf praktische Fragen konzentrieren. Unser Fokus sollte sein: Wie können wir Menschen dabei helfen abzutreiben? Die vollständige Legalisierung von Abtreibung ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor – aber nicht der einzige.

Wenn ihr wen aus den USA kennt, könnt ihr Ressourcen zu Abtreibungspillen und Advanced Provision teilen, zum Beispiel Plan C oder Aid Access. Ein großes Problem ist, dass nur 1 von 5 Amerikaner:innen darüber Bescheid weiß. Wenn ihr Geld übrig habt, könnt ihr spenden. Dafür empfehle ich das National Network of Abortion Funds, das Spenden auf regionale Abortion Funds aufteilt und Aid Access bzw. die europäische Mutterorganisation Women on Web. Meine DMs sind immer offen für Fragen. Bitte nicht vergessen: Wir kämpfen in Deutschland den gleichen Kampf: Der §218 muss weg, genau wie weitere Schikanen für ungewollt Schwangere wie Pflichtberatung, Wartezeit und die Gehsteigbelästigung durch Abtreibungsgegner:innen vor Praxen. Der Zugang muss verbessert werden, insbesondere durch die Schließung von Versorgungslücken. Wir sind nicht frei und gleichberechtigt ohne den bedingungslosen und legalen Zugang zu Abtreibung.

Für eine ausführlichere Analyse des Gerichtsurteils und dessen Folgen, aber auch der Frage, warum Abtreibungsrechte eigentlich so stark umkämpft sind und wie wir sie verteidigen können, schaut gerne in unseren Artikel dazu:http://onesolutionrevolution.de/usa-wie-wir-abtreibungsrechte-wieder-zurueck-erkaempfen-koennen/ .




Abtreibungsrechte: Angriff auf schwer erkämpfte Errungenschaften

Veronika Schulz, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Unterschiedlicher hätten Gerichte nicht entscheiden können: Ende Juni beschloss der deutsche Bundestag mit den Stimmen der Ampelkoalition sowie der Linkspartei die Streichung von Paragraph 219a, bekannt als „Werbeverbot für Abtreibungen“. Dieser überfällige Schritt ermöglicht Schwangeren künftig einen einfacheren Zugang zu Informationen sowohl über Ärzt:innen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, als auch über die Methoden, die dazu angewandt werden.

Am selben Tag entschied in den USA der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) mit einer Mehrheit konservativer und teils ultrareaktionärer Verfassungsrichter:innen von 5:4 Stimmen, ein knapp 50 Jahre altes Grundsatzurteil zu kippen. Die damalige Entscheidung im Fall „Roe vs. Wade“ garantierte bisher das Recht auf Abtreibung bis zur 23. Schwangerschaftswoche. Das bedeutet, dass bisher in den meisten US-Bundesstaaten Abtreibungen rechtlich nahezu uneingeschränkt möglich waren.

Bereits Anfang Juni war ein im Februar 2022 verfasster erster Entwurf des jetzt verkündeten Urteils über die Nachrichtenseite Politico an die Öffentlichkeit gelangt. Es kam zu spontanen Demonstrationen in über 450 Städten der USA und einem eher verzweifelten Versuch der Demokratischen Partei, das Recht auf Abtreibung durch Kongressbeschluss in einem Bundesgesetz zu verankern. Bisher fehlt jedoch eine Gegenwehr der organisierten Arbeiter:innenklasse.

Dass der Supreme Court ausgerechnet jetzt eine solche Grundsatzentscheidung trifft, hängt auch mit der aktuellen Zusammensetzung des höchsten US-Gerichts zusammen. Ex-Präsident Trump hatte während seiner Amtszeit drei Posten neu besetzt, wodurch sich eine Verschiebung ergeben hat: Von insgesamt neun Richter:innen sind sechs dem konservativen bzw. republikanischen und nur noch drei dem progressiven bzw. demokratischen Lager zuzuordnen. Seine Entscheidung ist jedoch nicht repräsentativ für die Haltung der Bevölkerung zum Thema Abtreibung: Laut Umfragen befürworten um die 70 % der US-Amerikaner:innen „Roe vs. Wade“.

Bedeutung für Schwangere und die Arbeiter:innenklasse

Mit dem neuen Urteil ist der Weg für einzelne Bundesstaaten frei, eigene Gesetze zur Abtreibung und damit Kontrolle über Frauenkörper zu erlassen. Mehrere waren bereits auf dieses Urteil vorbereitet und hatten – teils extreme Verschärfungen bis hin zu (faktischen) Verboten von Schwangerschaftsabbrüchen – bereits als sogenannte „Trigger Laws“ genannte Entwürfe in den Schubladen. Quasi über Nacht sind somit in überwiegend republikanisch regierten US-Bundesstaaten wie Arkansas oder Oklahoma Schwangerschaftsabbrüche für illegal erklärt worden.

Bereits im September 2021 trat das sogenannte „Heartbeat Law“ in Texas in Kraft. Es verbietet Abtreibungen, nachdem ein fötaler Herzschlag in der sechsten Woche festgestellt werden kann – ein Zeitraum, der so kurz ausfällt, dass viele Frauen nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind. Es macht keine Ausnahme bei Vergewaltigung oder Inzest. In Texas drohen Schwangeren, Ärzt:innen oder gar Personen, die anderweitig Abtreibungen unterstützen oder ermöglichen, und sei es ein:e Taxifahrer:in zur Beförderung der Schwangeren, hohe Geld- oder Haftstrafen. Was dies für die akut Betroffenen bedeutet, mag sich niemand vorstellen.

Betrachtet man die Karte der US-Bundesstaaten, ist oder wird mit großer Wahrscheinlichkeit in weiten Teilen des Landes – abgesehen von den liberalen Küstenregionen und vereinzelten Staaten im Norden – entweder ein faktisches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen oder ein sehr eingeschränkter Zugang dazu vorherrschen.

Insbesondere Frauen in ländlichen Gebieten des Mittleren Westens sowie einkommensschwachen, migrantischen und Women of Color wird der Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen weiter erschwert bis verweigert. An diesem Punkt zeigt sich der Klassencharakter des Urteils und seiner Auswirkungen. Zweifelsohne sind auch Frauen der bürgerlichen Mittelschicht betroffen, werden jedoch durch soziale Kontakte und finanzielle Mittel auch weiterhin einen Weg finden, auf sichere Weise abzutreiben.

Dadurch zeigt sich, wie durch solch reaktionäre Politik die Ungleichheiten der kapitalistischen Unterdrückung im täglichen Leben von Frauen der Arbeiter:innenklasse verstärkt werden. Langfristig ist dieses Urteil in einem vermeintlich „demokratischen, liberalen westlichen Industriestaat“ auch ein fatales Signal für reproduktive Rechte von Frauen weltweit. Uns muss klar sein, dass es keine objektive oder neutrale Regierungspolitik oder Justiz innerhalb des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen gibt, erst recht keine Rechtsprechung im Sinne der Arbeiter:innenklasse, die an den Grundfesten des Systems rüttelt.

Gegenwehr

Der Aufschrei in den USA und international ist deutlich zu vernehmen. Gut so! Zehntausende haben auf Straßen und Plätzen demonstriert und werden es weiterhin tun. Doch auch die konservativen und evangelikalen, rechten Abtreibungsgegner:innen demonstrieren und scheuen dabei nicht vor Gefährdungen und Verletzungen der Befürworter:innen zurück. Jüngst war ein Auto eines Anhängers dieser durchgeknallten, entsicherten Mittelklassenbewegung, wie sie sich schon beim von Trump inszenierten Sturm aufs Capitol zeigte, in eine protestierende Menschenmenge gerast – unter Inkaufnahme von Tod und Körperverletzungen.

Über Demonstrationen hinaus müssen sich deshalb gerade angesichts der zu allen erlaubten und unerlaubten Mitteln greifenden Rechten Abtreibungsbefürworter:innen auf den Schulterschluss mit der US-amerikanischen Arbeiter:innenbewegung zubewegen. Es ist deren Potenzial, das das Urteil des Obersten Bundesgerichtshofs kippen kann: durch politische Streiks für die Wiederinkraftsetzung von „Roe vs. Wade“ sowie durch, erforderlichenfalls bewaffnete, Verteidigung von Protesten und Abtreibungseinrichtungen mittels gemeinsamer Selbstverteidigungsstrukturen.

Kampf um Selbstbestimmung als Teil des Klassenkampfes

Das Recht der Frau auf körperliche Unversehrtheit ist durch dieses Urteil nicht länger gegeben. Die Gründe für Schwangerschaftsabbrüche sind vielfältig und unabhängig davon, warum eine Frau sich dafür entscheidet, spielt immer auch die Frage der physischen wie psychischen Gesundheit und die Souveränität über den eigenen Körper eine Rolle.

Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht über unsere Körper und reproduktiven Rechte kann nicht länger warten, er muss jetzt konsequent geführt werden. Da wir uns mehr denn je nicht nur gegen Verschlechterungen zur Wehr setzen, sondern die bisherigen Errungenschaften verteidigen müssen, braucht es endlich eine massenhafte Bewegung der Arbeiter:innen. Deshalb fordern wird national und international:

  • Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen finanziert sein!
  • Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!
  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagraphen sowie der Beratungspflicht!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Kolumbien: Wahlniederlage der Rechten eröffnet nur neue Kampfetappe

Dave Stockton, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei den Wahlen zum Präsidenten und Vizepräsidentin in Kolumbien wurde auf den Straßen der Hauptstadt und anderer Städte mit Jubel begrüßt. Sie löste auch bei führenden Vertreter:innen des linken Flügels in ganz Lateinamerika Begeisterung aus. Der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva erklärte, dass „ihr Sieg die Demokratie und die fortschrittlichen Kräfte in Lateinamerika stärkt“.

Der Erfolg des Pacto Historico (Historischer Pakt) ist in der Tat ein weiterer Sieg für das, was Kommentator:innen als neue Rosa Flut bezeichnen, und fügt sich in eine Liste ein, die nun Andrés Manuel López Obrador, „AMLO“, im Jahr 2018, Alberto Fernández in Argentinien im Jahr 2019, Luis Arce in Bolivien im Jahr 2020 und, in jüngerer Zeit, die Siege von Gabriel Boric in Chile und Pedro Castillo in Peru im Jahr 2021 umfasst. Dass nun auch Kolumbien hinzukommt, gilt als gutes Omen für einen Sieg Lulas bei den Wahlen in Brasilien im Oktober.

Doch weder in Kolumbien noch anderswo sind dies die radikalen Durchbrüche, die man sich im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts von Hugo Chávez oder Evo Morales und dem „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ erhoffte.

Ende der langen Vorherrschaft der Rechten

Nichtsdestotrotz markiert er das Ende der langen Vorherrschaft der harten Rechten in Kolumbien, symbolisiert durch den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, als Kolumbien die Basis für die Unterwanderung linker Regierungen in anderen Teilen des Kontinents war. Zu dieser Vorherrschaft gehörte auch ein fünfzigjähriger Krieg zwischen aufeinanderfolgenden Regierungen, die von brutalen rechten Paramilitärs unterstützt wurden, gegen die FARC- und ELN-Guerilla. Dieser endete jedoch 2016 mit dem unsicheren Friedensabkommen, das zwischen Präsident Juan Manuel Santos und der FARC in Havanna ausgehandelt wurde.

Der Linksruck ist Ergebnis der Massenaufstände von 2019 und 2021 gegen die verhasste Regierung von Iván Duque. Laut einer Umfrage des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien wurden während des Paro Nacional (landesweiter Generalstreik) von 2021 mehr als 80 Menschen von Polizei und Militärs ermordet.

Infolge der Inflation ist der Lebensstandard von Millionen von Menschen stark gesunken. Nach offiziellen Angaben wies das Land mit 140.000 Todesfällen eine der höchsten COVID-Sterblichkeitsraten in der Region auf. Im gleichen Zeitraum wurden 3,6 Millionen Kolumbianer:innen in die Armut getrieben, und die Arbeitslosigkeit erreichte 2021 einen neuen Höchststand.

Der Pacto Historico, Petros linkspopulistisches Wahlbündnis, konnte sich an der gesamten Karibik- und Pazifikküste mit großer Mehrheit durchsetzen: Barranquilla (64,16 %), Cartagena (67,46), Cali (63,76) und Bogotá (58,59). Dennoch bleibt die kolumbianische Rechte extrem stark, nicht nur wegen der 48,0 % der Stimmen für ihren Kandidaten Rodolfo Hernández von der Bewegung LIGA (Liga de Gobernantes Anticorrupción; Liga für Regierende gegen Korruption), ehemaliges Mitglied der Partido Liberal (bis 2015), sondern auch wegen ihrer institutionellen Unterstützung in der Armee und der Polizei sowie der rechtsgerichteten Paramilitärs, die immer noch indigene Aktivist:innen ermorden.

Petro ist Gründer und Vorsitzender von Colombia Humana (Menschliches Kolumbien), einer Partei, die aus den Kommunalwahlen 2011 in Bogotá hervorging und sich auf eine große Zahl von Unterschriften stützte, um seine Kandidatur für das Bürgermeister:innenamt zu registrieren, die er auch gewann. Nach Beendigung seiner Amtszeit kandidierte er bei den Wahlen 2018 für das Amt des Präsidenten der Republik, wurde jedoch von der Wahlkommission abgelehnt. Die Partei war das Ziel von paramilitärischen Banden wie den Schwarzen Adlern, die allein im Jahr 2020 fast ein Dutzend ihrer Aktivist:innen ermordeten.

Einen weiteren wichtigen Faktor, der einen echten Wandel in Kolumbien verhindert, bildet der Einfluss, den die USA auf die repressiven Institutionen des Landes ausüben. Kolumbien ist seit den 1960er Jahren Ausgangspunkt für US-Interventionen in vielen südamerikanischen Ländern, darunter auch im benachbarten Venezuela unter Hugo Chávez und Nicolás Maduro. Am 20. Mai bezeichnete Joe Biden Kolumbien als „einen wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten“ und versprach, die Streitkräfte des Landes weiterhin mit US-Mitteln zu unterstützen und mit ihnen im Sicherheitsbereich zusammenzuarbeiten. Zwei Tage nach seiner Wahl twitterte der designierte Präsident Petro: „Auf dem Weg zu einer intensiveren und normaleren diplomatischen Beziehung habe ich gerade ein sehr freundliches Gespräch mit US-Präsident Biden geführt“.

Pacto Historico

Petros Politik hat sich trotz seiner Mitgliedschaft in der Guerillagruppe M-19 in den 1980er Jahren längst zu einem respektablen Schwerpunkt auf Wahlen entwickelt. Wie andere „neue“ Führer:innen der Rosa Welle spricht er nicht mehr vom „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, sondern von der Notwendigkeit einer echten kapitalistischen Entwicklung für Kolumbien. Er behauptet, sein Ziel sei nicht der Sozialismus, sondern die Überwindung der „vormodernen“, „feudalen“ und „sklavenhalterischen“ Überbleibsel. Dies ist keine neue Idee, sondern eine Version der alten Etappentheorie des Stalinismus. Der Pacto Historico beinhaltet auch eine weitere stalinistische Strategie, die „Volksfront“, d. h. Reformen, die mit Hilfe der fortschrittlichen Teile der Bourgeoisie durchgeführt werden sollen. In diesem Sinne hat er davon gesprochen, „technokratische“ Führer:innen zu wählen, um eine Wirtschaftspolitik zu gewährleisten, die die Zustimmung der internationalen Institutionen findet, womit eindeutig der Internationale Währungsfonds gemeint ist.

Dies verheißt nichts Gutes für politische Maßnahmen, wie das in seinem Wahlprogramm versprochene allgemeine kostenlose Gesundheitssystem, für das seine Massenbasis gestimmt hat. Ein zusätzlicher Hemmschuh für die Sozialpolitik des neuen Regimes ist die Tatsache, dass Petro und Márquez über keine funktionierende Mehrheit in der Legislative verfügen werden. Auch hier macht er der rechten Mitte Avancen, indem er behauptet, er wolle „alle Kolumbianer:innen“ vertreten, begleitet von seiner typisch kränklich-sentimentalen Rhetorik über „Liebe für alle, Reiche und Arme“.

Während des Wahlkampfs bot Petro politische Allianzen mit verschiedenen etablierten bürgerlichen Persönlichkeiten an und präsentierte sich ihnen als jemand, der tatsächlich aus der Mitte heraus regieren würde. Er überließ es der schwarzen Aktivistin Francia Márquez, der Tochter eines Bergarbeiters aus einer der am stärksten marginalisierten Zonen des Landes, die Unterstützung von Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und indigenen Basis- und sozialen Bewegungen aufzubauen.

Nach dem Höhepunkt der Mobilisierungen im April/Mai 2021 hat die Führung des Nationalen Komitees, das sich aus Arbeiter:innen-, Bauer:innen- und Student:innengewerkschaften zusammensetzte, die beiden landesweiten Streiks vom revolutionären Sturz der Regierung Duque, geschweige denn von einem Angriff auf den korrupten und mörderischen kolumbianischen Kapitalismus weggeführt und auf ein Wahlziel, die Kandidatur von Petro, ausgerichtet. Zahlreiche junge Aktivist:innen dieser Bewegung sitzen immer noch im Gefängnis, und Petro hat noch nicht auf die Forderungen nach ihrer Freilassung reagiert und bezeichnete die Demonstrant:innen sogar als „Krawallmacher:innen“.

Gleichzeitig verkündet er seinen Wunsch nach „Liebe zwischen allen Kolumbianer:innen“, sowohl den Reichen als auch den Armen. Das kann nichts anderes bedeuten als Klassenkollaboration zwischen den Ausbeuter:innen und Unterdrücker:innen und ihren Opfern. Eine nach dem Friedensabkommen mit der FARC eingesetzte Versöhnungskommission soll einen Bericht vorlegen. Doch wie für ihr Vorbild in Südafrika wird dies wahrscheinlich ein Mittel sein, um die von staatlichen und rechten Banden unter Uribe und früheren Präsidenten begangenen Verbrechen straffrei zu stellen.

Enttäuschung vorprogrammiert

Es ist sicher, dass Petro und Márquez in den kommenden Jahren oder sogar Monaten ihre Anhänger:innen enttäuschen und entfremden werden, wie die übrigen Vertreter:innen der Rosa Welle auf dem ganzen Kontinent. Zum zweiten Mal wird der Linkspopulismus zeigen, dass seine Politik der Klassenkollaboration, die auf der „Vermenschlichung“ des Kapitalismus beruht, einfach nicht funktionieren wird. Im Moment reden die Unternehmer:innen davon, Petro willkommen zu heißen und mit ihm zusammenzuarbeiten, aber in einer Zeit der wachsenden Wirtschaftskrise werden diese Kapitalist:innen, in- und ausländische, alles Positive, das die Regierung versucht, sabotieren. Ebenso wird der IWF die Regierung mit harten Bedingungen für etwaige Rettungspakete in die Schranken weisen. Daraufhin wird Petro ein Zugeständnis nach dem anderen machen und damit seine eigenen Anhänger:innen demoralisieren. Die einzige Antwort für die Arbeiter:innenklasse, Bauern, Bäuerinnen und indigene Bevölkerung in den Städten und auf dem Land ist die Wiederaufnahme der Mobilisierungen, der landesweiten Streiks, mit denen ein Programm radikaler Lösungen für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Krise auf Kosten der Banker:innen, Geschäftsleute und Landbesitzer:innen gefordert wird.

Die Ausschüsse und Volksversammlungen, die die landesweiten Streiks mobilisiert haben, müssen wiederbelebt werden und zu unabhängigen Organisator:innen der Kämpfe geraten, um Petro und Márquez zu zwingen, ihre radikaleren Versprechen zu erfüllen. Sie müssen auch unabhängig sein von Colombia Humana, der Regierung und der Gewerkschaftsbürokratie, die mit ihnen zusammenarbeitet. Diese Unabhängigkeit muss in Form einer revolutionären Arbeiter:innenpartei politisch werden. Die o. a. Basisorganisationen müssen auch in der Lage sein, sich zu verteidigen und gegen die Sabotage der Bosse und die fortgesetzte Unterdrückung durch die Mörder:innenbanden zu wehren. Das bedeutet den Aufbau von Verteidigungsgruppen.

Die Massen haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, es mit den eingeschworenen Organen der Rechten aufzunehmen. Jetzt müssen die Arbeiter:innenklasse und alle anderen Kräfte des Volkes, die bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften, Frauen und Jugend, für einen wirklich revolutionären sozialen Wandel in Kolumbien mobilisieren. Dies wird zwar ein harter und gefährlicher Kampf sein, aber es ist der einzige Weg, der den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen gerecht wird.




USA: Oberster Gerichtshof versetzt Frauenrechten härtesten Schlag seit Generationen

Internationales Sekretariat, Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1191, 28. Juni 2022

Nun haben die reaktionären Kräfte es geschafft. Am 24. Juni wurden die amerikanischen Frauen nach fünfzig Jahren eines begrenzten verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung dieses Rechts beraubt. Unter dem obszönen Slogan „Recht auf Leben“ und der wissenschaftsfeindlichen Behauptung, Abtreibung bedeute die Tötung von Babys, wurde den Frauen die Souveränität über ihren eigenen Körper entzogen. Kein Wunder, dass Frauen in dem Land, das fast einen halben Kontinent umfasst, auf die Straße gingen, um ihrer Wut und Ablehnung Ausdruck zu verleihen.

Mit einer 5:4-Mehrheit hat der Oberste Gerichtshof das von seinen Vorgänger:innen gefällte Urteil Roe versus Wade aus dem Jahr 1973 aufgehoben, das allen Frauen in den USA das Recht einräumte, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Dieses war bereits durch andere Entscheidungen und durch Bundesstaaten mit reaktionären Mehrheiten in ihren Gesetzgebungen und Gerichten eingeschränkt worden, doch nun haben dieselben Kräfte freie Hand.

Sie werden zweifelsohne dazu übergehen, die schwächeren und partiellen Errungenschaften der LGBTIAQ-Menschen und der People of Color in Bezug auf den Grundsatz der persönlichen Autonomie zu beschädigen. Dies ist ein großer Triumph für die religiösen Fanatiker:innen aller Glaubensrichtungen, die die amerikanische Politik bevölkern, trotz einer der ältesten und fortschrittlichsten Errungenschaften der Verfassung, der Trennung von Kirche und Staat.

Die knappe Mehrheit der Fanatiker:innen in dem nicht gewählten Gericht wurde von Donald Trump geschaffen, dem dreistesten sexistischen Präsidenten seit vielen Jahrzehnten, einem Mann, der stolz zugab, dass er Frauen mehrmals sexuell belästigt hatte. Er besaß die Unverfrorenheit zu behaupten, dass „Gott die Entscheidung getroffen hat“ und dafür verantwortlich sei. Dass dieser obszöne Clown nicht wegen offener Aufwiegelung zum Umsturz der Anerkennung seines ordnungsgemäß gewählten Nachfolgers durch den Kongress im Gefängnis sitzt, sagt viel über den Anspruch der USA aus, das weltweite Vorbild für Demokratie darzustellen.

Wenn die fast zwei Drittel der Amerikaner:innen, die sich gegen die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade ausgesprochen haben, es durchgehen lassen, wird das Leben realer, lebender US-Bürgerinnen gefährdet sein. Das Urteil wird nicht das Ende von Abtreibungen bedeuten, sondern nur das Ende legaler und sicherer. Frauen werden in dem Moment sterben, in dem jeder Staat diese ekelhaft falsch benannten „Pro-Leben-Gesetze“ einführt.

Staaten mit republikanischer Mehrheit können nun Gesetze erlassen, die den Schwangerschaftsabbruch weiter einschränken oder ganz verbieten. 13 haben bereits Gesetze im voraus verabschiedet, die ihnen dies praktisch sofort ermöglichen. Einige, darunter Arkansas, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma und South Dakota, haben dies bereits in Kraft gesetzt, und weitere 22 werden ihnen in Kürze folgen. Frauen in diesen Staaten werden versuchen müssen, in Staaten mit liberaleren Regelungen zu gehen, obwohl die reaktionären Staaten Gesetze vorbereiten, die selbst dies schwer bestrafen.

Abtreibungen werden in den meisten Teilen des Südens und des Mittleren Westens illegal sein, wo es für die Ärmsten, oft Women of Color, schwierig sein wird, in einen Staat zu reisen, in dem sie weiterhin legal bleiben. In vielen Staaten werden Gesetze erlassen, die die Frauen selbst kriminalisieren. Mehr als die Hälfte, 58 Prozent, aller US-Frauen im gebärfähigen Alter, etwa 40 Millionen Menschen, leben in diesen Staaten, und ihre Partner:innen und sogar Taxifahrer:innen die ihnen helfen, werden ebenfalls mit hohen Geldstrafen belegt. Der so genannten „Pille danach“ wird die Illegalisierung angekündigt, und sogar die Empfängnisverhütung wird von den Abtreibungsgegner:innen bedroht.

Es liegt auf der Hand, dass diese rechten Kräfte die Frauen in ihren reproduktiven Fähigkeiten einschränken wollen. Sie sind sich bewusst, dass die fehlende Kontrolle darüber durch die Frauen selbst die Grundlage für die Aufrechterhaltung einer patriarchalischen Gesellschaft ist, und dass sie die Uhr auf ihre archaischsten Versionen zurückdrehen. Die Religionen spüren instinktiv, dass das Leiden der Frauen unter diesem System die Zuflucht zu ihrem spirituellen Opium fördert und die Stimmen für die Rechten erhöht.

Aus all diesen Gründen ist das Recht der Frau auf körperliche Autonomie ein Menschenrecht, das historisch mit demselben Prinzip verbunden ist, das auch der Abschaffung der Sklaverei zugrunde lag: der persönlichen Freiheit. Kein Wunder also, dass die Staaten, die sich darauf vorbereiten, Frauen auf diese Weise erneut zu versklaven, oft diejenigen sind, in denen weiße Vorherrschaft und Polizeimorde an Schwarzen immer noch extrem stark ausgeprägt sind.

Aus demselben Grund sollte der Kampf um die Aufhebung dieses Urteils die Unterstützung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten in den USA finden, einer Mehrheit, die sich im Obersten Gerichtshof überhaupt nicht widerspiegelt und im Senat, im Repräsentantenhaus und in den Verfassungen der Bundesstaaten, in denen die Unterdrückung der Wähler:innenschaft grassiert, in keiner Weise anerkannt wird.

Auf internationaler Ebene müssen die Frauen- und Arbeiter:innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte zur Unterstützung unserer Schwestern in den USA mobilisieren. Die jüngsten Bewegungen in Spanien, Polen, Irland und Argentinien zeigen, was getan werden kann. Überall auf der Welt gibt es die gleichen reaktionären Mächte, die durch die Siege ihrer Gesinnungsfreund:innen in den USA ermutigt werden.

Die Botschaft von Vizepräsidentin Kamala Harris bringt die Antwort der Demokratischen Partei auf den Punkt: „Es ist noch nicht vorbei; die Wähler:innen werden das letzte Wort haben“. Mit Blick auf die Zwischenwahlen, die voraussichtlich die Kontrolle der Republikanischen Partei über den Senat stärken und ihr sogar das Übergewicht im Repräsentantenhaus verleihen werden, lautete ihre Botschaft: „Sie haben die Macht, Führer:innen zu wählen, die Ihre Rechte verteidigen und schützen werden.“

Nein! Die US-Frauen müssen antworten: „Wir haben eine viel größere Macht als das. Wir können dieses erzreaktionäre Urteil kippen und unsere Rechte auf der Straße und am Arbeitsplatz wiederherstellen, indem wir Kliniken und ihre Patient:innen, Pflegepersonal und Ärzt:innen durch direkte Massenaktionen verteidigen.“

Eine Massenbewegung von Frauen und ihren männlichen und transsexuellen Unterstützer:innen gegen das Urteil des Obersten Gerichts vom 24. Juni muss in einem ähnlichen Ausmaß ausbrechen wie die Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020. Sie sollte sich auf die Forderung nach einer Revolution erstrecken, die alle reaktionären Organe und Gesetze hinwegfegt, die sogar den Anspruch der USA, eine demokratische Republik zu sein, entstellen.

Es ist die amerikanische Arbeiter:innenklasse, die diesen Kampf anführen muss, indem sie Massendemonstrationen mit Massenstreiks unterstützt, insbesondere in den Bundesstaaten, die diese abscheuliche Entscheidung anwenden – Staaten, die oft auch über drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze verfügen.

Es geht dabei um mehr als nur um „Sicherheit in Zahlen“. Es gibt die Kraft, alle Säulen des Hauses der Unfreiheit zu stürzen, das von Republikaner:innen und Demokrat:innen gleichermaßen errichtet wurde, als sie die wirklichen Errungenschaften der amerikanischen Geschichte einschränkten und rückgängig machten: die Abschaffung der Sklaverei, die große Gewerkschaftsbewegung der 1930er Jahre, die Errungenschaften der Bürgerrechte der 1960er Jahre und die Errungenschaften der Frauen und LGBTQI in den 1970er Jahren. Aber nichts wird von Dauer oder sicher sein, bis die Klasse und das System, das diese Monster hervorgebracht hat, der sexistische und rassistische Kapitalismus, endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden.




USA: ein Sieg für die Basisorganisation bei Amazon Staten Island

Dave Stockton, Infomail 1187, 10. Mai 2022

Am 1. April 2022 kam es zu einem der eindrucksvollsten Siege für die US-Arbeiter:innenschaft seit langem. Im riesigen Amazon-Lagerhaus JFK8 auf Staten Island, einem von 5 Bezirken in New York City, stimmten bei einer offiziellen, von der Nationalen Arbeitsbeziehungsbehörde (NLRB) durchgeführten Urabstimmung über die Anerkennung der Gewerkschaft 2.654 Beschäftigte dafür und 2.131 dagegen. Nur einen Monat später erhielten die Feierlichkeiten jedoch einen Dämpfer, als am 2. Mai bekanntgegeben wurde, dass eine ähnliche Abstimmung in einem zweiten Lagerhaus auf Staten Island, dem Sortierzentrum LDJ5, in dem rund 1.500 Beschäftigte arbeiten, mit 618 Nein- und 380 Ja-Stimmen gescheitert war.

Amazon Labor Union

Die Gewerkschaft Amazon Labor Union (ALU), die den Sieg am JFK8 organisiert hat, reagierte mit einem Tweet: „Die Organisierung wird an diesem Standort und darüber hinaus fortgesetzt. Der Kampf hat gerade erst begonnen.“ In der Tat hat die Geschäftsleitung des Konzerns die Entscheidung in der größeren Anlage angefochten. Eine Anhörung wird am 23. Mai in Phoenix (Bundesstaat Arizona) stattfinden.

Wie in den meisten Amazon-Werken gibt es auch in Staten Island eine enorme Fluktuation des Personals – etwa 150 % pro Jahr, zum großen Teil wegen der schrecklichen Bedingungen, der lähmenden Arbeitsnormen, des Mangels an Pausen und der hohen Unfallrate. Dies sind wirklich die „dunklen satanischen Mühlen“ des 21. Jahrhunderts.

Der Sieg bei JFK8 wurde von einer Gewerkschaft, der ALU, errungen, die in der Fabrik selbst entstand, unabhängig von großen Verbänden wie der AFL-CIO oder Change to Win. Die Gewerkschaft erhob sich gegen Jeff Bezos, den zweitreichsten Mann Amerikas mit einem Vermögen von rund 200 Mrd. US-Dollar. Gegen den Amazon-Goliath ist die ALU selbst ein junger David. Sie wurde 2020 von Chris Smalls, einem Amazon-Beschäftigten, der entlassen wurde, weil er Proteste gegen die entsetzlichen COVID-19-Sicherheitsbedingungen des Unternehmens angeführt hatte, und einem Team von JFK8-Beschäftigten gegründet, die, wie in New York nicht anders zu erwarten, aus einer Vielzahl ethnischer Hintergründe stammen.

Diese Menschen, die der so genannten Generation-U (für Gewerkschaft) angehören, führten die Aktion an und nicht die „erfahrenen“ professionellen Gewerkschaftsorganisator:innen. Sie taten es einfach, indem sie mit ihren Arbeitskolleg:innen „gewerkschaftlich sprachen“, Telefon-Banking betrieben und soziale Medien nutzten. Es sollte aber auch erwähnt werden, dass sich Ortsverbände (Zweigstellen) der großen Gewerkschaften um die ALU geschart haben, darunter UNITE HERE Local 100, Communications Workers Local 1102, Food and Commercial Workers (UFCW) Local 342 sowie die Coalition of Black Trade Unionists. Es bleibt zu hoffen, dass der Erfolg der Basisorganisation auch auf die bürokratischeren großen Gewerkschaften übergreift und dazu beiträgt, sie zu demokratisieren und für eine militantere direkte Aktion zu gewinnen.

Wie zu erwarten war, fährt Amazon fort, seine Belegschaft einzuschüchtern und zu schikanieren.

In der Zwischenzeit hat Starbucks Workers United – eine Organisation, die der Service Employees International Union (Internationale Dienstleistungsgewerkschaft SEIU) angeschlossen ist – vor kurzem eine weitere Wahl gewonnen, womit die Gewerkschaft 10 von 11 Wahlen seit ihrem ersten Erfolg in Buffalo (Bundesstaat New York) im Dezember für sich entscheiden konnte. In Buffalo haben die Starbucks-Beschäftigten jedoch erneut gestreikt, um gegen eine Ankündigung des 4 Milliarden US-Dollar schweren Konzernchefs Howard Schultz zu protestieren, wonach versprochene Gehaltserhöhungen und Leistungssteigerungen nicht für Standorte gelten würden, die bereits gewerkschaftlich organisiert sind oder eine gewerkschaftliche Organisierung planen.

Diese Entwicklungen kommen nach der Enttäuschung über eine gescheiterte Urabstimmung im Amazon-Bestellausführungszentrum in Bessemer, Alabama, durch die Retail, Wholesale and Department Store Union (Einzel-, Großhandels- und Lagerhausgewerkschaft), obwohl derzeit eine Nachzählung durch die NLRB stattfindet. Der Erfolg der ALU in Staten Island und der Misserfolg in Bessemer sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in New York bei 27 % liegt, während er in Alabama nur 6 % beträgt.

Die NLRB-Vorschriften sind stark auf die Arbeit„geber“:innen ausgerichtet und erlauben es Unternehmen wie Amazon und Starbucks, ihre Beschäftigten an Seminaren gewerkschaftsfeindlicher Berater:innen teilnehmen zu lassen, während sie Gewerkschaftsorganisator:innen den Zugang zu ihren Werksparkplätzen verwehren und das Wachpersonal Flugblätter von Beschäftigten konfiszieren lassen, die es wagen, sie mitzunehmen. Eine Studie des Economic Policy Institute (wirtschaftspolitisches Institut) aus dem Jahr 2019 ergab außerdem, dass die Unternehmensführungen in mehr als 40 % der Gewerkschaftswahlen die gesetzlichen Rechte der Arbeiter:Innen verletzten und in 20 % der Fälle gewerkschaftsfreundliche Lohnabhängige illegal entließen.

Diktatur des Kapitals

Marx wies in „Das Kapital“ darauf hin, dass im Vergleich zur Sphäre der Warenzirkulation, dem Markt, wo alles auf der Grundlage von Gleichheit, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu funktionieren scheint, sobald die Arbeiter:innen die Sphäre der Produktion, den Arbeitsplatz, betreten, eine regelrechte Diktatur des Kapitals herrscht.

Es ist ein äußerst ermutigendes Zeichen, dass Arbeitsplätze, die sich der gewerkschaftlichen Organisierung entziehen sollen, in denen die Unternehmensleitungen ihre Beschäftigten ausspionieren und „Störenfriede“ in fast totalitärer Weise ausmerzen, beginnen, sich zu organisieren und zu wehren. Ermutigend ist auch das Potenzial des Widerstands von Arbeiter:innen in den größeren Gewerkschaftsverbänden, wie die Streikabstimmung von 56.000 Mitgliedern der SEIU-Ortsgruppe 721 im County Los Angeles. Die Ortsgruppe besteht aus Beschäftigten im Bereich der psychischen Gesundheit, Sozialdienstleistungen und Pflege- bzw. Erziehungspersonal, die zu den am meisten ausgebeuteten Arbeiter:Innen gehören und unter den schrecklichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zu leiden hatten.

Nur kämpferische Gewerkschaften, die in der Belegschaft verwurzelt sind und über eine starke lokale, nationale und internationale Unterstützung verfügen, können den im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern oder Kanada niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad überwinden, der die USA seit den 1980er Jahren kennzeichnet.

Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass fast 50 % der nicht gewerkschaftlich organisierten amerikanischen Arbeiter:innen eine gewerkschaftliche Vertretung wünschen. Dennoch erschweren die Gesetze vieler Bundesstaaten die Anerkennung und den Abschluss eines Gewerkschaftsvertrags enorm. Eine grundlegende Änderung der extrem gewerkschaftsfeindlichen Gesetze des Landes ist unabdingbar, wenn diese Beschäftigten überhaupt eine Chance auf eine gewerkschaftliche Organisierung erhalten sollen.

Es muss eine Charta der Arbeiter:innenrechte ausgearbeitet werden, die eine gewerkschaftliche Vertretung in allen Betrieben, einen Gewerkschaftsvertrag und das Streikrecht umfasst, wenn die Arbeiter:innen dafür stimmen, und alle Gewerkschaften, ob groß oder klein, müssen sich verpflichten, dafür zu kämpfen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Charta muss eine Verpflichtung zur Rassen- und Geschlechtergerechtigkeit bei der Einstellung sein.

Aber nur ein Klassenkampf, der so groß oder noch größer ist als in den 1930er Jahren, kann dies bewirken. Was die Arbeiter:innen, die versuchen, ihre gefängnisähnlichen Arbeitsplätze gewerkschaftlich zu organisieren, brauchen, ist die kämpferische Solidarität anderer Arbeiter:innen und der sie umgebenden Gemeinden, die sich national und international ausbreitet, insbesondere im Falle großer multinationaler Konzerne wie Amazon.

Aber die Arbeiter:innen in jedem Betrieb müssen auch die volle Kontrolle über ihre Organisation und über die Streiks behalten, die sie brauchen, um die Arbeitszeit zu verkürzen, die Löhne zu erhöhen und die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ein/e Arbeiter:in der Stufe 1 in Staten Island, der/die Artikel für den Versand staut, kommissioniert oder verpackt, verdient nur 18 US-Dollar pro Stunde und einen Zuschlag von 2 US-Dollar pro Stunde (!) für die Nachtarbeit von Donnerstag bis Samstag, 18:00 bis 6:45 Uhr morgens. Angesichts des rasanten Anstiegs der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise wird die Notwendigkeit eines Lohnkampfes immer dringlicher.

Es liegt auf der Hand, dass jede Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Organisierung eine Wiederbelebung der Klassenpolitik erfordert. In den großen Gewerkschaftskampagnen und Streiks der 1930er Jahre, als Millionen junger wie schwarzer Arbeiter und Arbeiterinnen in die Gewerkschaften strömten, waren es IWW (Industriearbeiter:innen der Welt), sozialistische, kommunistische und trotzkistische Aktivist:innen, die die Kämpfe anführten. Die Sozialist:innen von heute, angefangen bei den 90.000 Mitgliedern der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas, aber auch die kleineren revolutionären Gruppen, sollten sich von der Unterstützung der Kandidat:innen der Demokratischen Partei ab- und sich dem Klassenkampf in den Betrieben und Gemeinden zuwenden. Diese wiederum können zu einem riesigesn Rekrutierungsfeld für eine neue Partei der Arbeiter:innenklasse geraten.

Es scheint, dass selbst Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), die Abgeordnete für den 14. Kongressdistrikt von New York, sich weigerte, ins Lagerhaus auf Staten Island zu kommen, um ihre Unterstützung zu zeigen, und Senator Bernie Sanders kam erst an Bord, als die Schlacht schon gewonnen war. Wie viel weniger kann man von Joe Biden, dem „Freund der Arbeiter:innen“, erwarten? Was kann man von einer Demokratischen Partei erwarten, der Amazon 10 Millionen US-Dollar für Bidens Kampagne im Jahr 2020 gespendet hat?

Wenn Arbeiterkandidat:innen bei Wahlen antreten, sollten sie ihren Wähler:innen auf einer unabhängigen sozialistischen Plattform Rede und Antwort stehen und von ihnen abrufbar sein. Vorzugsweise sollten sie Aktivist:innen mit Erfahrung in Gewerkschaften oder kommunalen Kämpfen sein. Eine Wiederbelebung der organisierten Arbeiter:innenschaft kann dem Aufbau einer echten Arbeiter:innenpartei in Amerika enorm zugutekommen.




USA: der durchgesickerte Gesetzesentwurf und seine Bedeutung für das Recht auf Abtreibung

Marcus Otono, Infomail 1187, 8. Mai 2022

Der kürzlich durchgesickerte „erste Entwurf“ eines Mehrheitsgutachtens des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (SCOTUS = Supreme Court of the United States), mit dem das Urteil Roe versus Wade, das das Recht auf Abtreibung in den gesamten Vereinigten Staaten legalisierte, aufgehoben wird, hat landesweit zu einer Explosion von Wut und Protesten geführt. Der Gerichtshof wird seine endgültige Entscheidung Ende Juni oder Anfang Juli fällen.

Entwurf

In dem Entwurf des berüchtigten rechten Richters Samuel Alito heißt es, die ursprüngliche Entscheidung Roe vs. Wade (RvW) aus dem Jahr 1973 sei „von Anfang an ungeheuerlich falsch“ gewesen. Sie müsse daher aufgehoben werden, ebenso wie das Urteil Planned Parenthood (geplante Elternschaft) gegen Casey aus dem Jahr 1992, das RvW als geltendes Recht und Präzedenzfall bestätigte.

In den USA ist eine solche Aufhebung durch den Obersten Gerichtshof selten und historisch. Mehr als 50 Jahre lang stützten sich diese Urteile auf das im vierzehnten Verfassungszusatz verankerte Recht auf Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Einmischung in persönliche Entscheidungen. Das Kassieren der bestehenden Urteile würde es vielen Bundesstaaten ermöglichen, drakonische Gesetze zu erlassen, die das Recht der Frau auf die Entscheidung über die Fortsetzung der Schwangerschaft aufheben.

Es wird erwartet, dass die Hälfte der US-Bundesstaaten die Abtreibung in den meisten, wenn nicht in allen Fällen verbieten wird, selbst wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. In der anderen Hälfte, selbst wenn sie legal bleibt, wird der Druck auf Kliniken und medizinische Dienstleister:innen durch Patient:innen aus anderen Bundesstaaten immens sein, so dass Wartelisten entstehen, die es den Frauen unmöglich machen würden, rechtzeitig Zugang zu dem Eingriff zu erhalten.

Die Auswirkungen dieses grausamen Vorgehens rechter Politiker:innen und der allzu mächtigen Kräfte religiöser Bigotterie werden arme Frauen und Frauen aus der Arbeiter:innenklasse sowie ihre Partner:innen, Familien und Freund:innen besonders hart treffen. In Verbindung mit dem jüngsten texanischen Gesetz, das es „interessierten Parteien“ erlaubt, Anbieter:innen von Schwangerschaftsabbrüchen zu verklagen und von diesen Klagen finanziell zu profitieren, wird dieser Angriff auch jene gefährden, die Frauen bei der Suche nach einem Schwangerschaftsabbruch helfen, selbst in einem Staat, in dem das Verfahren legal bleibt. In Texas wurde kürzlich eine Frau wegen Mordes angeklagt, weil sie eine Abtreibung an sich selbst vorgenommen hat.

Sogar Fahrer:innen eines Transportunternehmens wie Uber könnten verklagt werden, weil sie jemanden zu einer Abtreibung fahren. Ehemänner könnten verklagt werden, weil sie die Abtreibung finanzieren, wenn ein abtreibungsfeindlicher Staat Klagen gegen sie zulässt, obwohl der Eingriff in Staaten durchgeführt wird, in denen er noch legal ist. Die Unterstützer:innen der so genannten „Recht auf Leben“-Kampagne werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Eingriff überall zu verbieten. Sie werden auch versuchen, so genannte Plan-B-Medikamente und Intrauterinspiralen zu verbieten, die ebenfalls eine Abtreibung einleiten. Und alle einzelstaatlichen Gesetze, die dies abmildern oder umgehen wollen, könnten durch eine Berufung an denselben Obersten Gerichtshof aufgehoben werden, der Roe vs. Wade überhaupt erst gekippt hat.

Die durchgesickerte SCOTUS-Entscheidung spiegelt nicht die Ansichten der meisten normalen Amerikaner:innen wider. Die letzte Umfrage des Senders CNN ergab, dass 69 % der US-Bürger:innen gegen eine Aufhebung des RvW sind. Darunter waren sogar 72 % der republikanisch eingestellten Wähler:innen. Aber in unserer großartigen Demokratie werden die Ansichten der Mehrheit – selbst wenn sie sich gegen den Druck der rechten Medien, der Kirchen usw. aufbäumen – systematisch vereitelt.

Bürgerliche „Demokratie“ – nicht für die Mehrheit

Mit manipulierten Gesetzgebungsbezirken, massiver Wählerunterdrückung für Schwarze, People of Color und die Arbeiter:innenklasse und direkter Repression, die laut Oberstem Gerichtshof völlig legal ist, können der rechte Flügel, verkörpert durch die Republikanische Partei und begünstigt durch die Demokrat:innen, eine Mehrheit alter weißer Männer in schwarzen Roben (und eine Alibifrau) die Wünsche von fast 70 % der Bevölkerung überstimmen.

Die Demokratische Partei ist nicht viel besser. In seiner Antwort und Forderung nach einem Bundesgesetz zum landesweiten Schutz der Abtreibungsrechte sah sich Biden gezwungen, zunächst die undichte Stelle zu verurteilen. Die zweite Partei des US-Imperialismus hatte 50 Jahre Zeit, ein solches Gesetz zu verabschieden, hat aber nichts unternommen. Es wäre viel schwieriger, eine Mehrheit von 535 Gesetzgeber:innen dazu zu bringen, ein Abtreibungsgesetz auf Bundesebene aufzuheben, als die Zusammensetzung eines neunköpfigen, nicht gewählten Gremiums von Jurist:innen zu ändern, um das Gleiche zu tun. Dennoch tat sie nichts und zog es vor, den Schwarzen Peter dem Obersten Gerichtshof zuzuschieben, anstatt ihre Wählbarkeit durch den Schutz des Abtreibungsrechts zu riskieren.

Sie reden viel über die Rechte der Frauen, vor allem, wenn sie keine Macht haben, das Ergebnis zu beeinflussen, aber am Ende mehr für die Demokrat:innen stimmen und spenden. Die Reaktion von Senatorin Elizabeth Warren zeigt dies deutlich. „Ich bin wütend, verärgert und entschlossen“, sagte sie auf einer Demonstration vor dem Gericht. Ihre Antwort? „Der Kongress der Vereinigten Staaten kann Roe vs. Wade als Gesetz des Landes beibehalten – er muss es nur tun“. Sie bezog sich damit auf das Gesetz zum Schutz der Gesundheit von Frauen, das im März im Senat scheiterte, weil alle Republikaner:innen und der demokratische Senator Joe Manchin aus West Virginia, ein erbitterter Feind jeder fortschrittlichen sozialen Reform oder demokratischen Maßnahme, die Biden in sein Gesetzgebungsprogramm aufgenommen hatte, dagegen waren.

Selbst die Held:innen der „extremen“ Linken in der US-Politik, Bernie Sanders und Alexandria Ocasio Cortez, gingen nicht über „mehr wählen und spenden“ hinaus, indem sie die Abschaffung der Taktik überzogener Redezeit (Filibuster) und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zum Schutz der Abtreibungsrechte forderten. Das ist als Hilfsmaßnahme natürlich schön und gut, aber angesichts der Zusammensetzung des derzeitigen Kongresses nutzlos. Sie sollten sich eher an Millionen von Menschen auf der Straße wenden, als im Kongress Reden zu halten.

Die Grundlage für das ursprüngliche Urteil wurde aus der im 14. Zusatzartikel der US-Verfassung verankerten „Privatsphäre“ abgeleitet. Alitos Urteilsentwurf und die Zustimmung der Mehrheit zu diesem heben alle Rechte auf, die auf diesem wichtigen Zusatz beruhen. Wenn es nicht ausdrücklich in der Verfassung steht, kann es nicht abgeleitet werden, so die verdrehte Logik der derzeitigen Mehrheit des Obersten Gerichtshofs. Das bedeutet, dass jeder Staat, der ein Gesetz zur Einschränkung oder Regulierung des privaten Verhaltens einer Person erlassen will, dies tun kann. Einige Beispiele für persönlichen Umgang, der eingeschränkt werden könnte – aber dabei muss es nicht bleiben –, sind unter anderem die Homo-Ehe, Trans-Rechte, die Ehe zwischen verschiedenen Ethnien, individuelle Sexualpraktiken, Waffenrechte für Unterdrückte und eine ganze Reihe anderer Verhaltensweisen, die von den Gesetzgebern:innen in verschiedenen rechtsgerichteten Staaten als „abweichend“ angesehen werden könnten.

Der rechte Flügel und seine superreichen Förder:innen werden alles tun, um jeden Fortschritt bei der Förderung der individuellen Rechte umzukehren, um den weißen, männlich dominierten Siedler:innenstaat an der Spitze zu halten. Oberste Schiedsrichterin über diese Gesetze wird jenes Gericht sein, das die Schleusen zur Unterdrückung geöffnet hat.

Was die Mehrheit für „gerecht“ hält, gilt nicht, wenn es um die Ausübung der Staatsgewalt geht. Die Mehrheitsherrschaft war immer ein Mythos, aber einer, der in Zeiten aufrechterhalten werden konnte, in denen die Profitraten des Kapitalismus die Angriffe nicht zu ungeheuerlich machten. Der Schleier, der den Mythos vor einer Überprüfung schützte, wird zerrissen und zerfleddert, so dass die hässliche Wahrheit des Autoritarismus zum Vorschein kommt. Die Aufgabe der revolutionären Sozialist:innen besteht darin, die Schlussfolgerungen für die US-Arbeiter:innen zu ziehen, dass das Ziel einer Arbeiter:innendemokratie und einer sozialistischen Wirtschaft zur Orientierung für Millionen werden muss.

Wie kann man sich wehren?

Obwohl die vom Obersten Gerichtshof geplante Entscheidung seit Monaten angekündigt worden war, hat diese Indiskretion Millionen Menschen schockiert. Die große Herausforderung besteht darin, der Empörung Taten folgen zu lassen. Auf Biden oder die Demokratische Partei mit ihren hauchdünnen Mehrheiten im Kongress zu warten oder sich auf die Zwischenwahlen im November zu konzentrieren, wäre fatal.

Nur die direkte Aktion von Millionen Menschen, die die Regierungs- und Profitmaschinerie zum Stillstand bringen und bereit sind, sich den Gerichten und der Polizei zu stellen, kann die Richter:innen, die Politiker:innen und die Polizei dazu zwingen, sich zurückzuziehen und die Souveränität der Frauen über ihren eigenen Körper (und den von LGBTIAQ-Personen) in jedem Bundesstaat der Union anzuerkennen.

Spontane Demonstrationen haben sich vor dem Obersten Gerichtshof in Washington und in vielen anderen Städten versammelt, aber es werden große Mobilisierungen nötig sein, so schnell wie möglich, die nicht nur die Frauenbewegung einbeziehen, die wir unter Trump erlebt haben, sondern alle fortschrittlichen Kräfte, die durch diese Entscheidung bedroht sind.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklasse in den Gewerkschaften mobilisiert werden muss, von denen fast die Hälfte Frauen sind, und dass die nicht organisierten Betriebe erreicht werden müssen, um Aktionen durchzuführen, die die Wirtschaft treffen. Rollierende Streiks, Sit-ins am Arbeitsplatz, informative Streikposten und mehr sollten in Betracht gezogen werden, bis ein Bundesgesetz verabschiedet wird, das das Recht der Frau schützt, selbst zu entscheiden, was sie mit ihrem Körper macht. Wenn möglich, sollten die Aktionen auf lokaler, einzelstaatlicher, regionaler und nationaler Ebene koordiniert werden, um eine maximale Wirkung zu erzielen.

Langfristig brauchen wir eine politische Partei, die den Bossen die Stirn bietet, nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf den Straßen, an den Arbeitsplätzen und in den Gemeinden im ganzen Land. Wir brauchen eine politische Partei der Arbeiter:innen und der Unterdrückten, und das ist definitiv nicht die Demokratische Partei. Sie hatte ihre Chance, und in ihrer sklavischen Ergebenheit gegenüber dem Kapitalismus, dem Staat und dem System der Bosse hat sie bewiesen, dass sie in einem echten Kampf um unser Leben wertlos ist.

Kurz- und mittelfristig müssen Sozialist:innen an vorderster Front jeder Bewegung stehen, die eine „Untergrundbahn“ der Unterstützung aufbaut, um Abtreibungswillige dorthin zu bringen, wo sie die medizinische Versorgung erhalten können, die sie brauchen, sei es in einem anderen Staat oder einem anderen Land.

Wir müssen uns auch an vorderster Front an militanten Demonstrationen beteiligen, die im ganzen Land kontinuierlich stattfinden. Das kann keine einmalige Angelegenheit sein. Das Land „unregierbar“ zu machen, bedeutet nicht die liberale Idee, zu einer Demonstration zu gehen und dann zu einem Champagner-Brunch. Es bedeutet tägliche, wöchentliche, monatliche Demos und Sit-Ins, Arbeitsunterbrechungen und Besetzungen, die den Alltagstrott stören. Es bedeutet, immer wieder Festnahmen und Schlimmeres zu riskieren. Es bedeutet, ein Schwurgerichtsverfahren zu fordern, um das Gerichtssystem zu stören und Arbeiter:innentribunale zu fordern, damit die schlimmsten Straftäter:innen gegen Frauen und die Bevölkerung verurteilt werden.

Die Democratic Socialists of America (DSA), die größte selbsternannte „sozialistische“ Gruppierung in den USA, sollte bei all diesen Aktionen eine führende Rolle übernehmen und nicht nur den Lockvogel für die Demokratische Partei bei Wahlen und der Mittelbeschaffung spielen.

Gewerkschaften und DSA-Ortsverbände sollten Aktionen koordinieren, um unorganisierte Arbeiter:innen in den Kampf einzubeziehen. Das letztendliche Ziel sollte ein unbefristeter Generalstreik sein, bis die Tyrannei der Minderheit in dieser Frage überwunden und gestürzt ist. Dies würde den Weg zu einer echten, d. h. einer „Arbeiter:innendemokratie“ in den Vereinigten Staaten weisen.

All diese Maßnahmen und mehr werden in diesem Kampf erforderlich sein. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu denken, dass dieses Urteil nicht für einen selbst gilt. Die Auswirkungen von Alitos Urteilsentwurf werden letztendlich für alle gelten, auf die eine oder andere Weise. Der Staat und die politische Klasse sind gegen uns, und wir müssen uns geschlossen gegen sie stellen.

Wir müssen eine internationale Bewegung gegen den Kapitalismus und für die Bildung einer neuen Fünften Internationale verkörpern. Schließt Euch uns in diesem Kampf an!




Kanada: „Freiheitskonvois“ als rechtsradikales Straßentheater

Andy Yorke, Infomail 1182, 16. März 2022

Die „Antiimpfbewegung“ nahm Anfang des Jahres mit dem Start des „Freiheitskonvois“ in Kanada eine neue Wendung, ausgelöst durch eine neue gesetzliche Verpflichtung, die ungeimpfte Frächter:innen (weniger als 15 Prozent) ab dem 15. Januar für zwei Wochen in Quarantäne stellte.

Die liberale Regierung von Justin Trudeau sah sich zum Handeln gezwungen, da in den ersten 40 Tagen von Omikron mehr Fälle auftraten als im gesamten Jahr 2020, eine Rekordzahl von Krankenhausaufenthalten zu verzeichnen war und die Zahl der Todesfälle stark anstieg.

Weniger als eine Woche später machte sich ein „Freiheitskonvoi“ von Antiimpf-Trucker:innen von Vancouver an der Westküste Kanadas aus auf den Weg in die Hauptstadt Ottawa, um das Parlament zu blockieren, bis das Gesetz aufgehoben war. Als der Konvoi nach Osten fuhr, kamen Unterstützung und Geld herein, mit 5,5 Millionen Dollar an Solispenden. Die Bewegung entwickelte sich zu einem Protest gegen alle Beschränkungen wegen Covid oder, für einige, zum Sturz der Regierung Trudeau.

Bis zu 3.000 Schwerlaster und andere Fahrzeuge sowie 15.000 Demonstrant:innen legten Ottawa ab dem 28. Januar lahm, bevor sich Hunderte von Lastwagen und ihre Anhänger:innen niederließen, um das Parlament für die nächsten drei Wochen zu umzingeln.

Die Bewegung blockierte auch mehrere Grenzübergänge, wobei sich zu den Lastwagenfahrer:innen ebenfalls die Traktoren, Kleinlastwagen und Autos der UnterstützerInnen gesellten. Sechs Tage lang war die Ambassadorbrücke zwischen Kanada und Detroit (USA) blockiert, über die ein Viertel des gesamten Güterverkehrs zwischen den beiden Ländern im Wert von bis zu 400 Millionen Dollar pro Tag abgewickelt wird.

Unter dem massiven Druck der Wirtschaft berief sich Trudeau am 14. Februar auf das Notstandsgesetz, das es der Polizei erlaubt, Protestler:innen zu verhaften, Geld- und Haftstrafen zu verhängen, LKW-Fahrerlizenzen auszusetzen und Fahrzeuge zu beschlagnahmen sowie Bankkonten von Einzelpersonen und Einlagen aus Finanzierungskampagnen einzufrieren. Am 18. Februar fand in Ottawa eine groß angelegte Polizeiaktion statt, bei der mindestens 191 Personen verhaftet und zahlreiche Fahrzeuge abgeschleppt und beschlagnahmt wurden.

Sozialist:innen sollten repressive Gesetze oder deren Anwendung durch den kapitalistischen Staat nicht unterstützen, da diese immer mit zehnmal mehr Gewalt gegen die Linke eingesetzt werden. Aber in Wirklichkeit ermutigte das sanfte Vorgehen der örtlichen Polizei gegen die Trucker:innen, wobei einige Polizist:innen offen mit ihrer Sache sympathisierten, den Protest, während die Regierung wochenlang nichts unternahm.

Und das, obwohl Umfragen zeigten, dass eine solide Mehrheit der Kanadier:innen gegen die Proteste war, auch wenn viele angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen und schlechten Bezahlung der meisten Fahrer:innen anfangs mit einigen ihrer Ziele sympathisierten.

Am 13. Februar gingen die Einwohner:innen von Ottawa gegen die Schließung ihrer Stadt und ihrer Lebensgrundlage vor und schüchterten Gruppen von Blockierer:innen ein. Bis zu 1.000 Anwohner:innen umzingelten stundenlang einen Konvoi, der in Richtung Parliament Hill unterwegs war, bevor sie die Autos und Kleintransporter in die Flucht schlugen, denen sie ihre Flaggen und Aufkleber des Freiheitskonvois abnahmen.

Ein Aktivist der Gemeindesolidarität Ottawa (CSO), der auch lokale Gewerkschaften angehören, erklärte: „Wir sind ernsthaft besorgt darüber, wie die Regierungen mit der Pandemie umgegangen sind, aber wir lehnen es ab, wie die extreme Rechte diese Unzufriedenheit mobilisiert. Wir bauen eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse auf, die unsere Gemeinschaften und unsere Rechte verteidigen kann.“

Zweifellos war die Bedrohung durch eine Arbeiter:innenbewegung, die sich der extremen Rechten entgegenstellt und arbeiter:innenfreundliche Maßnahmen gegen Covid-19 fordert, mitverantwortlich für Trudeaus Entscheidung, endlich zu handeln.

Jetzt machen sich Freiheitskonvois in anderen Ländern auf den Weg, da die in den „sozialen Medien“ vernetzte Antiimpfbewegung diese Taktik in Frankreich, Neuseeland und nun auch in den USA kopiert hat. Ein Konvoi verlässt Kalifornien, um Washington DC rechtzeitig zu Bidens Rede zur Lage der Nation am 1. März zu erreichen. Aktivist:innen sollten dem Beispiel der CSO und der Gegendemonstrant:innen in Ottawa folgen.

Kleinbürgerliche Reaktion

Zu dem Konvoi gehörten einige Lastwagen mit Konföderierten- oder sogar Naziflaggen (die Protestierenden behaupteten, letztere seien gegen die Regierung gerichtet). Die kanadische antirassistische Gruppe AntiHate hat dokumentiert, dass die Rechtsextremen den Kern des Konvois bilden, nicht seine Ränder. James Bauder, der Gründer von Canada Unity, dem Dachverband rechtsextremer Organisationen, der den Konvoi ins Leben gerufen hat, unterstützt die QAnon-Verschwörungstheorie und behauptet, Covid-19 sei „der größte Betrug der Geschichte“.

Sprecher Benjamin J. Dichter kandidierte für die Konservative Partei gegen die „zunehmende Islamisierung Kanadas“. Bei der Blockade des Grenzübergangs nach Montana (USA), Coutts in Alberta, nahm die Polizei 13 Personen im Zusammenhang mit einem großen Waffenlager mit dem faschistischen „Diagonalsymbol“ fest. Es überrascht nicht, dass Donald Trump, Tucker Carlson von Fox News und viele Politiker:innen der republikanischen Partei in den USA den Konvoi unterstützt haben. Die rechten Unterstützer:innen aus der Mittelschicht sind ihre Zielwähler:innen.

Die „Freiheitskonvois“ gehören weder zur Arbeiter:innenklasse noch sind sie fortschrittlich. Bei den großen Lastwagen handelt es sich meist um Eigentümer:innen und Kleinunternehmer:innen, während die Traktoren Landwirt:innen repräsentieren. Einige Arbeiter:innen mögen zwar in den Kleintransportern, Geländewagen und anderen Fahrzeugen gekommen sein, aber als Einzelpersonen, die für eine rechtsextreme Kampagne mobilisiert wurden. Zwar sollte niemand entlassen werden, weil er nicht geimpft ist, doch ist es reaktionär, mitten in einer weltweiten Pandemie die Covid-Kontrollen abschaffen zu wollen.

Populistische Bewegungen, ob links oder rechts, werden immer legitime Themen aufwerfen (wie die Entlassung von Ungeimpften), die einige Arbeiter:innen anziehen. Anstatt sich auf diese Bewegungen zu konzentrieren, sollten die Sozialist:innen darauf drängen, dass die Gewerkschaftsbewegung, die in der Pandemie zu passiv war, wenn es um proletarische Klassenfragen ging, aktiv wird.

Das wird sich als wesentlich erweisen, wenn wir von einer Pandemie zu einer Spar- und Lebenshaltungskostenkrise übergehen, was der Linken die Möglichkeit gibt, der extremen Rechten die Initiative zu entreißen und die Arbeiter:innenklasse in einem Kampf zur Verteidigung unseres Lebensstandards zu vereinen.