Mexiko nach dem Erdrutschsieg von Obrador

Dave Stockton, Infomail 1011, 11. Juli 2018

Der Erdrutschsieg am 1. Juli von Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO genannt, mit über 24 Millionen und 53 Prozent der Stimmen war eine Demütigung für die traditionellen Parteien der korrupten und repressiven mexikanischen Elite. Besonders verdient war das Schicksal der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) des scheidenden Präsidenten Enrique Peña Nieto und der Partei der Nationalen Aktion (PAN) des ehemaligen Präsidenten Vicente Fox. Die PRI regierte das Land ohne Unterbrechung von 1929-2000.

López Obrador gewann als Kandidat der „Bewegung der Nationalen Erneuerung“ (MORENA) und einer breiteren Koalition (Juntos Haremos Historia; dt: Zusammen schreiben wir Geschichte) anderer Parteien, insbesondere der ArbeiterInnenpartei (PT) und der rechten, evangelikanischen Partei der Sozialen Begegnung (PES). Die PT, die von Ex-MaoistInnen gegründet wurde und nun behauptet, für den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu kämpfen, gewann 3,89 Prozent der Stimmen und verfügt über 61 Abgeordnete in der 500-sitzigen Kammer. Die PES ist mit 2,41 Prozent und 58 Sitzen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, ist transphob und gegen Abtreibungen.

Die Koalition wird zusammen 72 Prozent der Sitze im Unterhaus des Kongresses und 60 Prozent im Senat halten. Die Koalition gewann auch 5 von 9 Gouverneurssitzen, darunter den der ersten Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum Pardo.

López Obrador hatte zweimal kandidiert, in den Jahren 2006 und 2012, als das Establishment seine Niederlage dreist festsetzte. Er war immer ein bürgerlicher Populist, kein ArbeiterInnensozialist, aber 2006 war seine Politik radikaler. Infolgedessen erschütterte eine Massenbewegung der Empörung gegen die Festlegung der Wahlen in diesem Jahr das Land für Monate danach.

Die wirtschaftliche Herausforderung und Obradors Programm

López Obrador setzte sich in seiner Kampagne für die Beendigung von Gewalt, Korruption und Armut in einer weiteren „mexikanischen Revolution“ wie der von 1910 und im Stile der großen Reformen von Lázaro Cárdenas del Rio zwischen 1934 – 1940 ein. Ein wichtiges Thema ist das Ausmaß der Gewalt im Land, allein im letzten Jahr wurden 29.168 Menschen getötet. Viele sind „Kriminelle“ und sind in Fehden zwischen Drogenkartellen und der Polizei verwickelt. Andere sind Morde der Polizei und der Armee an mexikanischen ZivilistInnen und WanderarbeiterInnen, die versuchen, die Grenzen zu überschreiten. Aber viele Morde sind auch politisch. 130 PolitikerInnen, darunter 48 KandidatInnen, wurden seit Beginn des Wahlkampfes im vergangenen Jahr getötet.

Der mexikanische Staat steht wegen sinkender Steuereinnahmen und steigender Ausgaben vor einer schweren Finanzkrise. Die Öleinnahmen sanken von 8,9 Prozent des BIP im Jahr 2012 auf nur noch 3,8 Prozent im Jahr 2018. Im Jahrzehnt bis 2018 hat sich die Verschuldung im Verhältnis zum BIP von 21 Prozent auf 45,4 Prozent mehr als verdoppelt. Die Bedienung der Auslandsschulden wird in diesem Jahr 20 Prozent mehr kosten, als der Gesamthaushalt für Gesundheit, Bildung und Armutsbekämpfung ausmacht. Die neoliberale Privatisierungspolitik von Fox und Peña Nieto hat die ohnehin spärlichen öffentlichen Dienstleistungen hart getroffen. Diese Politik müsste wieder rückgängig gemacht werden, um Armut und Ungleichheit wirklich zu bekämpfen.

López Obrador milderte jedoch im Vorfeld der Wahl seine frühere Kritik am Neoliberalismus. Jetzt gibt es keine einzige Verstaatlichung in seinem Programm. Das Wall Street Journal, Sprachrohr des Finanzkapitals, schrieb in seiner üblichen zynischen Art am Tag nach den Wahlen:

„Die Finanzmärkte werden auch jeden Tag über die Regierung von AMLO abstimmen, über die Devisenmärkte und den Wert des Pesos.“ Die Redaktion ist der festen Überzeugung, dass dies mehr in die Waagschale wirft als die Stimmen von Millionen MexikanerInnen.

Mittlerweile leben 50 Millionen MexikanerInnen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Die Ungleichheit in Mexiko, gemessen am Gini-Koeffizienten (statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichheiten), wird nur von Südafrika übertroffen. Trotz seines Versprechens, Korruption, Gewalt und die unglaubliche Ungleichheit des Landes zu beenden, bestand López Obradors Antrittsrede über Längen aus Zusicherungen an das ausländische und nationale Kapital, dass keine größeren Veränderungen in der Wirtschaftspolitik in Betracht gezogen werden.

Einer der größten Kapitalisten, Claudio X. González Laporte, sagte ReporterInnen nach einem frühen Treffen mit López Obrador, dass der kommende Präsident ihm gesagt habe, seine erste Aufgabe bestehe darin, „das Land zu beruhigen“. González stimmte natürlich zu: „Er ist derjenige, der es tun kann, weil er das Mandat dazu hat, und dann müssen wir diesen Auftrag nutzen, um das Land zu beruhigen“.

Doch wenn er sein Bekenntnis zu den KapitalistInnen einhält, wird er seine Versprechen an die Massen brechen. Wo will er die Mittel für große soziale Reformen finden, die allein die Ungleichheit zermalmen können, außer in den Banktresoren der Superreichen?

Ebenso könnte Obradors Rede von der Ablehnung von „Repressalien“ gegen ehemalige Präsidenten, einschließlich Peña Nieto, bedeuten, dass ihre fortgesetzte Straflosigkeit die Hoffnungen der KämpferInnen auf Sühne für viele „verschwundene“ GewerkschafterInnen und BauernführerInnen, insbesondere die Ermordung der 43 angehenden LehrerInnen aus Ayotzinapa, vereiteln wird. Es war die Bewegung des Massenprotestes und der Platzbesetzungen gegen diese Gräueltat, die Peña Nieto und der PRI im Jahr 2014 zum ersten Mal ins Rutschen brachte.

International hat López Obrador die grausame Misshandlung lateinamerikanischer „illegaler“ EinwanderInnen durch US-Präsident Donald Trump scharf angeprangert. Aber auch hier gibt es Anzeichen dafür, dass er bereits zurückrudert. Trump, verabscheut in Mexiko, führte am Montagmorgen nach seinem Sieg ein halbstündiges Telefongespräch mit ihm. Danach behauptete Trump, er habe „ein tolles Gespräch“ mit dem neuen Präsidenten geführt, in dem sie über Grenzsicherheit, Geschäfte und NAFTA diskutiert haben.

„Wir haben über Grenzsicherheit gesprochen. Wir haben über den Handel gesprochen . Wir haben über NAFTA gesprochen. Wir haben über einen separaten Deal gesprochen, nur zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Wir hatten eine Menge guter Gespräche. Ich denke, die Beziehung wird sehr gut sein. Wir werden sehen, was passiert, aber ich glaube wirklich, dass es eine sehr gute wird.“

Der „Künstler des Deals“ glaubt eindeutig, dass er jemandem gegenübersteht, den er zu Zugeständnissen zwingen kann. Das werden wir sehen müssen, aber es deutet kaum auf eine kämpferische Haltung gegen den US-Imperialismus hin. Obrador hat im Rahmen einer Vereinbarung bereits strengere Kontrollen an der Grenze angeboten. Die Wahrheit ist, dass Mexikos Wirtschaft in hohem Maße vom Handel mit den USA abhängt, so dass Trumps Hebelwirkung sehr groß ist. Bei allem Gerede über Mexiko als Entwicklungsland und trotz der unbestrittenen Größe seiner Wirtschaft bleibt es eine Halbkolonie des Riesen im Norden.

Kann der Populismus den Test bestehen?

Obwohl die „revolutionäre“ Rhetorik Teil des mexikanischen, ja lateinamerikanischen Linkspopulismus ist, zeigt ihr enthusiastischer Empfang und der rasante Erfolg an der Wahlurne den Wunsch einer Mehrheit der 88 Millionen mexikanischen WählerInnen nach radikalen Veränderungen. Der Sieg von AMLO schafft somit ein Potenzial für Mexiko und Lateinamerika, wo sich die Linke seit etwa fünf Jahren auf dem Rückzug befindet.

Wenn die mexikanische Elite oder die USA angreifen und die Umsetzung der positiven Aspekte dieses Programms stören wollen, wird es natürlich wichtig sein, gemeinsam mit ihm zu mobilisieren, um sie zu besiegen. Die Verwirklichung des Potenzials der 1. Juli-Abstimmung wird jedoch eher das Ergebnis der linken Opposition gegen ihn sein als des Handelns des Präsidenten selbst. Die Bilanz der radikalen PräsidentInnen in Mittel- und Südamerika, die versuchen, einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ einzuführen, weist in die Richtung von Enttäuschung, Wirtschaftskrise und schließlich Zusammenbruch.

Die gesamte Zukunft Obradors wird darauf beruhen, was seine Massenbasis und die radikalen Parteien in seiner Koalition tun, wenn er zögert, ernsthafte Reformen durchzuführen, oder wenn er einen sehr schlechten Deal mit Trump macht. Die mexikanische Bänkerzeitung El Financiero bringt es auf den Punkt:

„Was wird er tun, wenn die Ungeduld seiner AnhängerInnen sie dazu bringt, wahnsinnige Taten zu begehen wie das Überfallen von Läden, das Aufstellen von Straßensperren, das Plündern von Gütern aus Lastwagen? …. Nichts, was sie nicht schon getan haben, aber die Polizei hat sie kontrolliert. Wird Präsident AMLO Gewalt anwenden, um das Privateigentum zu verteidigen? Oder wird er sich seiner sozialen Basis beugen?“

Die jüngsten Entwicklungen in Venezuela, Brasilien und einer Reihe anderer bolivarianischer Staaten verheißen sicherlich nichts Gutes für López Obrador, aber eine bloße Denunziation am Rande ist ebenso wenig hilfreich wie ein unverbesserlicher Optimismus. Das Ergebnis dieser rhetorischen „Revolutionen“ und die Erfahrungen von linken Regierungen wie Syriza in Europa zeigen, dass es das Schlimmste ist, sich zurückzulehnen und zu warten. Nur wenn die Massen für ihre eigenen lebensnotwendigen Bedürfnisse mobilisieren, kann ein ähnliches reformistisches Fiasko in Mexiko verhindert werden.

Die Linke in Mexiko muss sich so organisieren, dass, falls und sobald Obrador verrät, bereits gut organisierte Massenkräfte bereitstehen, eine Revolution für und durch die ArbeiterInnen, die BäuerInnen, die Armen und die Jugend zu starten. Zur Vorbereitung darauf sollten sie unverzüglich ein Aktionsprogramm mit folgenden Forderungen aufstellen:

  • Die Besteuerung und Beschlagnahme des Reichtums der korrupten KapitalistInnen und PolitikerInnen
  • Das Ende des von den USA auferlegten Krieges gegen Drogen und der Blockade der Grenzen für Flüchtlinge und „WirtschaftsmigrantInnen“
  • Ein Ende der Straflosigkeit für die PolizistInnen, die ArbeiterInnen-, indigene und FrauenaktivistInnen ermorden
  • Volle und gleiche Rechte für Frauen und LGBTIA-Personen, gegen Missbrauch und Ermordung von Frauen
  • Gegen die Landenteignung und brutales Vorgehen gegen indigene Gemeinschaften
  • Waffen für eine Miliz der ArbeiterInnen, BäuerInnen und indigenen Gemeinschaften
  • Für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, basierend auf Räten mit abberufbaren Delegierten



Mexiko: Vor einer revolutionären Situation?

Rico Rodriguez, Neue Internationale 195, Dez. 14/Jan. 15

Am 26. September 2014 wurde ein studentischer Protest in Iguala, einer Großstadt im Südwesten Mexikos, brutal unterdrückt. Die Polizei tötete sechs DemonstrantInnen,  viele wurden verwundet und 43 verhaftet. Seitdem sind sie verschwunden.

Am 8. November gab der Oberstaatsanwalt bekannt, dass die Polizei die StudentInnen Kriminellen ausgeliefert habe, die sie ermordet hätten. Seit dieser Veröffentlichung ist  Mexiko von einem Zornesausbruch geprägt. Die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse hat das Land in Aufruhr versetzt. Hunderttausende gingen auf die Straße und forderten von der Justiz ein Ende der Morde, der Korruption und sogar den Rücktritt des Präsidenten Enrique Pena Nieto.

Die 43 StudentInnen von Ayotzinapa

Ayotzinapa ist ein winziges Dorf in der mexikanischen Provinz, wo sich auch ein Lehrerausbildungsseminar befindet. Es ist bekannt für die Radikalität seiner StudentInnen. Am 26. September begab sich eine Gruppe von StudentInnen nach Iguala, der nächstgelegenen Stadt. Ihr Ziel war Mexiko City, um an einem Protest zum Gedenken an das Massaker von Tlatelolco 1968 teilzunehmen. Damals wurden hunderte StudentInnen von der Polizei getötet.

Sie wussten jedoch nicht, dass der Bürgermeister von Iguala keine Proteste in der Stadt zulassen wollte. Er ordnete an, dass die Polizei Protestaktionen auf jeden Fall verhindern sollte. Die Beamten hielten die Demonstration der StudentInnen darufhin auf und schossen in die Menge: 3 Studenten und 3 weitere Personen, die offenbar gar nicht an dem Protestmarsch beteiligt waren, wurden getötet. Weitere wurden verletzt. 43 DemonstrantInnen wurden verhaftet und „verschwanden“.

Nach einem Monat der Untersuchung der Vorfälle hielt der Oberstaatsanwalt Jesus Murillo am 8. November eine Pressekonferenz in Mexiko Stadt ab. Demnach waren die  StudentInnen von der Polizei an Mitglieder der Drogenkartellbande Guerreros Unidos übergeben. Drei Bandenmitglieder waren verhaftet worden und hatten die Einzelheiten des Verbrechens der Polizei gestanden. Laut der amtlichen Version schleppte die Bande die StudentInnen auf die Mülldeponie des Nachbarorts Cocula. Auf dem Weg dorthin waren bereits 15 von ihnen im Transportwagen erstickt. Die Überlebenden wurden durch Kopfschüsse ermordet und ihre Körper auf der Mülldeponie verbrannt.

Bis jetzt jedoch sind diese Berichte nicht offiziell bestätigt.

Der Bürgermeister von Iguala wurde von Polizeibeamten beschuldigt, die Auslieferung der DemonstrantInnen an die Drogenkartellbande befohlen zu haben. Er floh mit seiner Frau, als ein Haftbefehl gegen beide ergangen war. Wie nun offiziell bekannt wurde, hatten sie enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen und hatten dort sogar Posten inne.

Sie nahmen sie lebend mit – wir wollen sie auch lebendig wieder haben!

Natürlich sind die Nachrichten über Korruption, Verbindungen zwischen Politik, Polizei und organisiertem Verbrechen und die hohe Zahl an Auftragsmorden nicht neu für Mexikos Bevölkerung. Über 120.000 Menschen starben bereits bei Gewaltverbrechen in Mexiko und 27.000 werden vermisst, seit im Frühjahr 2007 das militärische Engagement in einem angeblichen „Krieg gegen die Drogen“ begann. Aber der Fall der Studierenden von Ayotzinapa war einfach zu grausam um diese Zustände weiter zu übergehen. Millionen fragen sich: wie ist so etwas möglich?

Die offizielle Propaganda behauptet, dass Mexiko auf dem Weg zu Reformen und Wohlstand sei. Präsident Pena Nieto war entschlossen, den Ölsektor für internationale Ölkonzerne, v.a. US-amerikanische zu öffnen. Pena Nieto wurde von den internationalen Medien als „Mann für die Modernisierung“ über den grünen Klee gelobt.

Aber nach Ayotzinapa änderte sich alles. Das Land erlebt eine der größten Protestwellen seiner Geschichte. Am 11. November setzten Protestierende das Ortsbüro der PRI (Partido Revolucionario Institucional), der Partei des Präsidenten Pena Nieto in Chilpancingo, der Hauptstadt von Guerrero, in Brand. Tags zuvor hatten StudentInnen, LehrerInnen und Verwandte der Verschwundenen den Flugplatz des berühmten Touristenorts Acapulco besetzt.

Auch mehrere Abordnungen der Gewerkschaften nahmen an den Protesten teil. Die Gewerkschaft der Telmex-Kommunikationsgesellschaft organisierte an dem Tag einen vierstündigen Solidaritätsstreik. Andere teilnehmende Gewerkschaften waren die nationale FinanzarbeiterInnen-Gewerkschaft, die Gewerkschaft des Universitätspersonals STUNAM sowie die Gewerkschaft des Luftfahrt- und Bodenpersonals. Es gab auch ein Aktionstreffen von VertreterInnen der Studierenden, Gewerkschaften u.a. Organisationen im Büro der SME-Elektrikergewerkschaft zwecks Koordinierung u.a. eines 24stündigen Streiks am 1. Dezember.

Am 8. November wurden die Türen des Nationalpalastes, dem Sitz der bundesstaatlichen Exekutive auf dem Zocalo-Platz in Mexiko Stadt, in Brand gesteckt. In der Provinz Michoacan wurde das Büro der rechten PAN-Partei angegriffen.

Am 1. Dezember erschütterte ein weiterer Protest das Land. Es gab Aktionen in mindestens 10 mexikanischen Provinzen. Neben den Solidaritätsbekundungen wurde die Forderung nach Rücktritt von Präsident Pena Nieto laut.

Was steht in Mexiko auf dem Spiel?

Der Aufschrei nach Gerechtigkeit enthüllt die verrotteten Zustände in Mexiko. Alle wissen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Bei der Suche nach den Leichen wurden weitere Tote gefunden (offiziell 38). Inzwischen wurde bekannt, dass allein im Juli mindestens 30 StudentInnen in Cocula verschwunden sind, derselben Stadt, wohin die Studierenden des Lehrerseminars von Ayotzinapa verbracht und getötet worden sein sollen. Im Juni 2013 waren drei Bauernführer in Guerrero vom Drogenkartell ermordet worden.

Dies sind keine Ausnahmen. Seit der „Krieg gegen Drogen“ vom Ex-Präsidenten Calderon 2006 ausgerufen wurde, sind ihm Zehntausende zum Opfer gefallen. Die offiziellen Zahlen schwanken zwischen 60 und 80.000; andere Schätzungen gehen von 120.000 und mehr aus. Der Krieg gegen die Drogen ist in Wahrheit auch ein sozialer Krieg und geht auf Betreiben der USA zurück. Er gibt dem Staat zudem einen Vorwand, auch Jagd auf ArbeiterInnen und StudentInnen zu machen, die für ihre Rechte eintreten. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma sind die Legalisierung von Drogen und ein „Krieg“ gegen Armut und Massenarbeitslosigkeit – der soziale Boden, auf dem der Drogenmissbrauch gedeiht. Dazu ist auch der Aufbau von bewaffneten Milizen der Bevölkerung zum Schutz ihrer Gemeinden und zur Entwaffnung der Banden der Drogenbarone und der Polizei notwendig.

Die beiden rechten Parteien Mexikos PRI und PAN, jedoch ebenso die von Cardenas 1989 gegründete PRD (Partido de la Revolucion Democratica), einst als linkspopulistische Partei angetreten, um die mexikanische Politik zu reinigen, sind in den Konflikt verstrickt. Auch die PRD ist im Sumpf aus Korruption und Gewalt versunken. Das wird durch den Umstand unterstrichen, dass der Bürgermeister von Iguala und seine Ehefrau Mitglieder der PRD waren genau wie der Gouverneur von Guerrero, Angel Aguirre Rivero, der am 24. Oktober zurücktrat. Präsident Nieto steckt ebenfalls in einem Korruptionsskandal wegen einer Affäre um einen privaten Wohnsitz, den er für seine Gattin und sich selbst von einer Baufirma erwarb, die gewinnträchtige Aufträge von der Regierung erhielt.

Soziale Lage

Mexiko hat nach Brasilien die zweitgrößte Wirtschaft in Lateinamerika und ist einer der wichtigsten Handelpartner der USA. Seit 1994 die USA, Kanada und Mexiko das NAFTA-Freihandelsabkommen unterzeichneten, haben viele US-Firmen ihre Produktion nach Mexiko verlegt, um von den dort niedrigen Löhnen und Arbeitsschutzstandards zu profitieren. Andererseits bezuschussen US-Agrarkonzerne die Ausfuhr von Lebensmitteln nach Mexiko und ruinieren damit hunderttausende von Kleinbauern. Kanadische Bergbaufirmen kamen ins Land, um mexikanische Bodenschätze und ArbeiterInnen auszubeuten und hinterließen gewaltige Umweltschäden.

All dies wurde als großer Segen für das Land und seine Entwicklung propagandistisch verkauft. Mexiko ist tatsächlich ein reiches Land. Nichtsdestotrotz belegen amtliche Statistiken, dass 52% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika hat sich die Prozentzahl von 42 im Jahr 2006 auf 52 im Jahr 2012 gesteigert, was mit dem Zeitraum des „Kriegs gegen die Drogen“ zusammenfällt.

Das alles unterstreicht, dass es in Mexiko um keine konjunkturelle, sondern eine systemische Krise des ganzen Staatsgefüges, seiner Institutionen, der großen Parteien, von Polizei und Justiz, des kapitalistischen Systems insgesamt geht. Die Massen haben jegliches Vertrauen in das Herrschaftspersonal in Polizei-, Justiz- oder Politikapparat verloren. Die Demonstrationen enthüllen das Ausmaß des Unmuts in der Bevölkerung.

Mexiko braucht eine Revolution

2012 begannen Leute mit der Organisierung von Selbstverteidigungsgruppen, um sich gegen die Drogenbanden, aber auch gegen die korrupte Polizei, v.a. in den Provinzen Guerrero und Michoacan, zu schützen. In Guerrero ist die nationale Volksversammlung Asamblea Nacional Popular ins Leben gerufen worden. Sie gründet sich auf Ortsausschüsse und Organisationen im Bildungswesen. Um weitere Proteste zu koordinieren, schufen StudentInnen die Asamblea Inter-Universitaria (landesweite universitäre Versammlung) und die CNE (Coordinacion Nacional Estudantil – landesweite studentische Koordination).

Während der vergangenen Jahrzehnte hat sich eine reiche Tradition in der Organisierung von lokalen Protesten in Mexiko herausgebildet. Zunächst war da 1994 der Aufstand der Zapatistas in der Chiapas-Provinz, die ihre selbstverwalteten Gebiete bis heute verteidigt haben, dann die Volksversammlung APPO (Asamblea Popular de Pueblo de Oaxaca), die die Keimform einer Doppelmachtorganisation gegen die offiziellen Staatsinstitutionen schuf.

In jüngeren Jahren fanden auch große Arbeiterkämpfe in der Öl-, Elektrizitäts- und Bergbauindustrie gegen die Verletzung ihrer Rechte und Privatisierungspläne statt. Die stehen jedoch weiterhin auf der Tagesordnung, denn bis jetzt haben weder die Kämpfe der regionalen Bevölkerung noch die der sektoralen ArbeiterInnen in der Gründung von neuen politischen Parteien wie in anderen lateinamerikanischen Ländern (Venezuela, Bolivien, Brasilien) gemündet.

Die Zeit ist reif für die Formierung einer neuen revolutionären Partei. Die Kernmerkmale von Lenins Definition einer revolutionären Lage erfüllen sich zusehends: Die Herrschenden sind unfähig, ihre Herrschaft in der alten Weise aufrecht zu erhalten und die Beherrschten sind nicht mehr willens, sich in der alten Weise beherrschen zu lassen.

Die reformerische Morena-Partei (Movimiento Regeneracion Nacional – Bewegung für nationale Erneuerung), die aus einer Abspaltung der PRD entstand und vom früheren Präsidentschaftskandidaten Obrador geführt wird, versucht sich nun als Alternative zu  präsentieren. Morena ist zweifelsohne eines der größten Hindernisse für eine revolutionäre Antwort, denn die Partei verfügt über einen gewissen Grad an institutioneller Macht und auch Unterstützung, will jedoch den kapitalistischen Staatsapparat reformieren und denkt nicht daran, ihn zu zerstören.

Schlüsselforderungen

In Mexiko brauchen die Massen eine Führung, die von unten aufgebaut wird, die die Militanten aus den Kämpfen der vergangenen Jahre zusammenbringt, die studentischen Proteste mit den  Arbeiter- und Bauernkämpfen verbindet und in einem revolutionären Programm für den Sturz des Kapitalismus mündet. Es ist dringend notwendig, die bestehenden Organisationen zusammenzuspannen und die Perspektiven für die Proteste zu erörtern:

  • Organisierung eines unbefristeten Generalstreiks, um die Regierung zu stürzen;
  • Verallgemeinerung und Koordinierung der Erfahrungen der Selbstverteidigungsorgane! Kein Vertrauen in Polizei und Armee! Bildung von Soldatenräten, um an der Seite der Bevölkerung in die Kämpfe einzugreifen!
  • Schaffung von gewählten Volksstribunalen, um die Mörder und ihre Komplizen zur Rechenschaft zu ziehen!
  • Aufbau von ArbeiterInnen-  und BäuerInnen-Räten, um die Kämpfe zu bündeln und anzuleiten und der Polizei, Justiz, Staatsbürokratie und der Kapitalistenklasse die Macht zu entreißen!
  • Für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnen-Regierung, die sich auf die Räte und Verteidigungsorgane der Bevölkerung gründet! Sie muss die Quelle der Korruption, des Elends und der Ungerechtigkeit beseitigen: das kapitalistische System.

Eine solche revolutionäre Bewegung muss als nächsten Schritt die vordringlichen Maßnahmen erörtern, die das Elend von Millionen MexikanerInnen beenden sollen: ein Mindestlohn nach den wirklichen Bedürfnissen von ArbeiterInnen und BäuerInnen, ein Arbeitsbeschaffungsplan für alle, die Enteignung der Kapitalisten, der Reichen und Großgrundbesitzer usw.

In ihrem Kampf gegen Unterdrückung und Armut stehen die mexikanischen ArbeiterInnen, StudentInnen und BäuerInnen nicht allein, sie sind Teil eines weltweiten Protests, der immer mehr erkennt, dass das kapitalistische System keine Lösungen für die wachsenden Probleme der Gesellschaft bereit hält.

Eine „echte Demokratie“ kann nur durch eine revolutionäre Bewegung gebracht werden, die ein auf der Selbstorganisierung der ArbeiterInnenklasse fußendes Regime bildet. Dies muss in einer weltweiten Bewegung ausgreifen und organisiert sein in einer neuen revolutionären Weltpartei, der 5. Internationale.