EU am Scheideweg

Martin Suchanek, Neue Internationale 253, Februar 2021

Europa steht – wie schon in den letzten Jahren – an einem Scheideweg. Das betrifft zuerst die EU und die Eurozone, aber natürlich auch die Länder außerhalb des Staatenbundes, v. a. Russland und Britannien.

Tiefe ungelöste, innere Widersprüche treiben die EU um, treten infolge der pandemischen und Wirtschaftskrise besonders deutlich hervor. Die beiden Hauptrivalen in der globalen Konkurrenz, China und diese USA, sind – unbenommen ihrer eigenen inneren Widersprüche – Staaten, die als ideelle Gesamtkapitalisten eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals fungieren. Die EU hingegen hat zwar wichtige Schritte zur ökonomischen Integration unternommen, aber sie verbleibt bis heute ein Staatenbund.

Tendenzen zur ökonomischen und auch gesellschaftlichen Integration gehen Hand in Hand mit zentrifugalen, die ihren weiteren Bestand immer wieder in Frage stellen: die fortbestehenden Gegensätze zwischen den Führungsmächten der EU; die Ungleichheit in der Union selbst zwischen den dominierenden imperialistischen Ökonomien und deren halbkolonialer Peripherie, deren untergeordnete Stellung bei einer weiteren Einigung perpetuiert werden soll.

Weltwirtschaftliche Entwicklung

Die Pandemie und die von ihr stimulierte globale Rezession haben die EU und die Eurozone extrem hart getroffen. Die globale Wirtschaft wurde von der Corona-Pandemie mit voller Wucht erfasst. Die Weltbank schätzt, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt 2020 im Vergleich zu 2019 um 4,3 Prozent sank. Zum Vergleich: 2009, auf dem Höhepunkt der letzten großen Krise, betrug der Rückgang rund 0,07 Prozent. Dies verdeutlicht das dramatische Ausmaß der gegenwärtigen Entwicklung. Für 2021 prognostizierte der IWF im Oktober 2020 zwar eine Erholung von 5,2 % – allerdings unter der Maßgabe eines „günstigen“ Verlaufs der Pandemie. Selbst die vorsichtigere Schätzung der Weltbank vom Januar 2021 von rund 4 % könnte sich als recht optimistisch erweisen.

Im direkten Vergleich der drei großen Wirtschaftsblöcke China, USA und Eurozone müssen die beiden letztgenannten mit den stärksten Einbußen rechnen. China erholte sich vom Wirtschaftseinbruch in der ersten Jahreshälfte viel rascher als die Weltwirtschaft und erzielte 2020 als einzige imperialistische Ökonomie ein Wachstum von 2,3 % gegenüber dem Vorjahr. Dieses geht wesentlich auf staatliche Konjunkturhilfen zurück und stimulierte neben der chinesischen auch die Geschäftstätigkeit wichtiger westlicher Konzerne (wie z. B. Daimler oder Siemens). Aber diese Erholung und ein Wachstum der chinesischen Ökonomie von 6–7 % im Jahr 2021 werden bei weitem nicht ausreichen, um die Weltwirtschaft insgesamt aus der Krise zu ziehen. Sie werden aber zu einer weiteren Verschiebung der globalen ökonomischen Kräfteverhältnisse führen.

Und die EU?

Die Herbstprognose der EU vom November 2020 rechnet mit einem Schrumpfen des BIP im Jahr 2020 von 7,8 %. Real wird das aufgrund der 2. Welle der Pandemie noch schlechter ausfallen. Für die EU-Wirtschaft 2021 wird ein Wachstum von 4,1 %, für 2022 eines von 3 % prognostiziert, für die Länder der Eurozone gehen die Vorhersagen von einem etwas günstigeren Durchschnittswert aus. Die Produktion in EU bzw. Euroraum soll voraussichtlich erst 2022 ihren Stand von Ende 2019 erreichen.

Die Entwicklung der Pandemie und die Krise haben die Ungleichheit innerhalb der EU zugleich verstärkt. Die Staatsverschuldung stieg 2020 um rund 15 % auf fast 94 % des BIP, in der Eurozone sogar auf nahezu 102 %, was vor allem an der enormen Schuldenlast Südeuropas liegt und weiter zunehmen wird. So wird damit gerechnet, dass Italien im Laufe das Jahres 2021 die 160 %-Marke reißen wird, Griechenland gar die 200 %-Marke. Die massive Zunahme der Staatsschulden geht auch mit einem Anstieg der Verschuldung von Unternehmen und privaten Haushalten einher. Natürlich trifft all dies die verschiedenen Länder, Kapitalgruppen, Unternehmen und sozialen Klassen extrem ungleich.

Bestimmte, ohnedies schon konkurrenzfähigere große Konzerne und Finanzkapitale befinden durchaus auch in einer günstigeren Ausgangsposition und werden gestärkt hervorgehen. Länder wie Deutschland befinden sich in der Lage, die Kosten der Krise noch einigermaßen zu stemmen, indem sie diese auf die eigene ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum, Mittelschichten, aber aufgrund der Stärke ihres Exportkapitals auch auf schwächerer Konkurrenz in der EU und auf dem Weltmarkt abwälzen.

Was etliche Einzelkapitale freut, erweist sich jedoch auch als Grund zur Sorge vom Standpunkt der längerfristigen Interessen des deutschen Gesamtkapitals. Die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit treibt auch die EU selbst an den Bruchpunkt – und damit auch die Einheit des wesentlich vom deutschen Kapital dominierten Gebietes.

Schon vor der Krise war die Union durch den Brexit geschwächt, der sich 2021 ökonomisch nachteilig auswirken wird. Das Abkommen, das in letzter Minute mit Britannien abgeschlossen wurde, fällt zwar für die EU im Vergleich zum britischen Imperialismus günstig aus, darf aber über die kurzfristige ökonomische Schwächung, die Erhöhung von Transaktionskosten usw. nicht hinwegtäuschen. Auch wenn die EU und Britannien weiter wichtige HandelspartnerInnen bleiben werden, so wird die ökonomische Bedeutung der Insel für  Kontinentaleuropa ziemlich sicher abnehmen. Teilweise wird die EU gar auf einen Abfluss von Kapital aus Britannien spekulieren und auf eine Stärkung kontinentaleuropäischer Zentren des Finanzkapitals gegenüber der City of London.

Innere politische Gegensätze

Die Pandemie und das Jahr 2020 verdeutlichten auch die inneren Gegensätze in der EU. So wurden in der 1. wie auch jüngst in der 2. Welle Grenzen zwischen Staaten der Gemeinschaft geschlossen. Die Nationalstaaten agierten mehr gegen- als miteinander. Sie unterbrachen damit auch ökonomische Verbindungen und erschwerten eine europäische Bekämpfung der Pandemie. Diese inneren Gegensätze traten auch bei den Verhandlungen um die Schuldenpolitik der EU und die sog. „Coronabonds“ sowie um den EU-Haushalt deutlich hervor.

Zugleich führte 2020 auch zu wichtigen Veränderungen der EU-Politik in zentralen ökonomischen Fragen. Die Einführung einer gemeinschaftlichen Verschuldung und der weitere Ausbau der Rolle der EZB, die im Extremfall faule Kredite und Staatspapiere als Rettung in letzter Not aufkaufen kann, bringen einen Strategiewechsel der EU-Finanzpolitik und ansatzweise auch der Wirtschaftspolitik zum Ausdruck. Diese resultiert vor allem aus einer politischen Richtungsänderung des deutschen Imperialismus, der in der letzte Krise insbesondere gegenüber Griechenland jede „Gemeinschaftsverschuldung“ (Eurobonds) kategorisch abgelehnt hatte.

Angesichts der Krise und des weiteren Zurückbleibens der EU in der globalen Konkurrenz und im Kampf um die Neuaufteilung der Welt schwenkte die deutsche Regierung auf den Kurs Frankreichs und die Forderungen Italiens um. Merkel und Macron legten symbolträchtig einen Plan für die Einführung von EU-Anleihen und einer europaweiten Politik zur Bekämpfung der Pandemie und ökonomischen Stabilisierung vor. Hinzu kommt, dass die EZB weiter eine Politik des „billigen Geldes“ betreibt. Durch eine Ausweitung der Geldmenge soll die Konjunktur belebt oder wenigstens verhindert werden, dass sie weiter absackt.

Die Einführung der Eurobonds wird von der deutschen Regierung wie auch von den VertreterInnen eines rigorosen neoliberalen Kurses aus CDU/CSU und FDP als eine Art „Sonderfall“ hingestellt. Sie markiert aber weit mehr, nämlichen einen wesentlichen Schritt, noch einen Anlauf bei der Vertiefung der EU unter deutscher Hegemonie im Bündnis mit Frankreich und auch Italien zu nehmen. Ironischerweise mag das nach dem Ausscheiden Britanniens leichter geworden sein. In jedem Fall haben Brexit, Zurückbleiben der EU, nationale Abschottung in der ersten Phase der Pandemiebekämpfung, das Ausmaß der ökonomischen Krise und die Vertiefung innerimperialistischer Rivalität zu den USA und China eine Wirkung entfaltet, die zu einer bedeutenden Veränderung der Strategie des deutschen Imperialismus und damit auch der EU geführt hat.

Offen bleibt freilich, wie sehr diese auf andere ökonomische Felder ausgedehnt wird zu einem Programm der Umstrukturierung von Kernsektoren des europäischen Industrie- und Finanzkapitals. Ob dies nun als „Digitalisierungspakt“ oder mit dem irreführenden Namen „Green New Deal“ oder unter einem anderen Label verkauft wird, ist letztlich nebensächlich. Entscheidend geht es darum, europäische Großkonzerne und Monopole zu schaffen, die es mit ihrer chinesischen und US-amerikanischen Konkurrenz aufnehmen können.

Diese wirtschaftliche Zielsetzung, ein europäisches Finanzkapital zu schaffen, das natürlich weiter von den führenden nationalen Kapitalen (v. a. dem deutschen) geprägt sein soll, erfordert politische, staatliche Intervention und Stützung, die ihrerseits untrennbar mit der politischen Zukunft der EU verbunden ist.

Wie deren politische und militärische Schwäche überwunden werden kann und soll, stellt daher eine weitere Baustelle dar, die der deutsche Imperialismus, seine Verbündeten und die EU-Kommission angehen müssen und wollen. Auf allen Feldern können wir schon jetzt ernst zu nehmende Initiativen ausmachen, deren Grundstein in der aktuellen Krise gelegt werden soll. Wie weit diese gehen werden, wird wesentlich von der Frage des inneren Kräfteverhältnisses, von politischer Führung abhängen und vom Klassenkampf in den einzelnen Ländern wie auf dem Kontinent insgesamt.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

In jedem Fall hat das letzte Jahr eine wichtige Verschiebung des europäischen Kräfteverhältnisses deutlich gemacht, die direkt mit dem deutschen Strategiewechsel verbunden ist, der jedoch selbst keineswegs widerspruchsfrei verläuft und durchaus auch wieder in Frage gestellt werden kann.

In den Auseinandersetzungen des Jahres 2020 wurde die Achse Berlin–Paris wiederbelebt. Deutschland übernahm wichtige Vorschläge Frankreichs, die jahrelang auf die lange Bank geschoben worden waren. Ohne den Einbruch der europäischen Wirtschaft im Frühjahr und ohne das Gespenst eines Zusammenbruchs Italiens, der leicht den des Euro mit sich hätte ziehen können, wären Macrons Forderungen womöglich weiter auf taube Ohren gestoßen.

In jedem Fall haben die Veränderungen in der EU-Schulden- und Haushaltspolitik die Gefahren von Staatsbankrott und Zahlungsunfähigkeit reduziert. Sie stellen einen wichtigen Teilschritt zur Vertiefung der ökonomischen Integration dar, der allerdings Stückwerk bleibt und die inneren Gegensätze nur auf einer höheren Stufe reproduziert , wenn er nicht durch eine europäische, viel stärker koordinierte und zentralisierte Wirtschaftspolitik ergänzt wird. Dazu hat die EU-Kommission auch einige Programme und noch viel mehr Absichtserklärungen aufgelegt. Doch diese Entwicklungen sind bislang keineswegs abgeschlossen oder gar gesichert, sondern werden 2021 und in den folgenden Jahren auf die Probe gestellt – sowohl was ökonomische Krise wie innere politische Konflikte in der EU betrifft.

Wenn sich die EU zudem nicht nur als ein riesiger Wirtschaftsraum, sondern auch als ein Vehikel zur erfolgreichen Weltordnungskonkurrenz durch den deutschen und französischen Imperialismus bewähren soll, muss dies begleitet werden von noch sehr viel schwerer zu tätigenden Schritten zur gemeinsamen Außenpolitik und militärischen Intervention.

Um die Konflikte in der EU genauer zu verstehen, macht es Sinn, die verschiedenen Staatengruppen genauer zu betrachten.

a) Die drei größeren imperialistischen Mächte der EU – Deutschland, Frankreich und Italien

Diese drei bilden im Grunde ihren politischen und ökonomischen Kern. Sollte eine von ihnen wegbrechen, wäre das – anders als das Ausscheiden Britanniens – mit ziemlicher Sicherheit das Ende des Euro und der EU, wie wir sie kennen. Auch wenn die drei keineswegs allmächtig sind und auf kleinere imperialistische Staaten wie vor allem Spanien, aber auch die Niederlande, Schweden oder Österreich einerseits, auf populistische „AbweichlerInnen“ aus Osteuropa andererseits mehr Rücksicht nehmen müssen, als ihnen lieb ist, so geht ohne diese Troika faktisch nichts.

Ökonomisch stellt der deutsche Imperialismus die Führungsmacht unter den dreien dar und die aktuelle Krise und Pandemie haben das noch einmal verdeutlicht. Im Grunde müssen auch das französische und italienische Kapital (und deren Regierungen) akzeptieren, dass der deutsche Imperialismus die unangefochtene wirtschaftliche Führungsmacht in Europa darstellt und bleiben wird.

In der Triade fungiert Deutschland als Gläubiger, Italien, aber auch Frankreich als Schuldner. Dieses gilt es auszutarieren. Während die Schuldner nach weiterer Unterstützung rufen, will der Gläubiger nicht zum Zahlmeister seiner Verbündeten werden, die schließlich immer noch auch Rivalen sind.

Diese drei Staaten verbindet jedoch nicht nur eine jahrhundertelange Rivalität, sie stellen auch das Kerngebiet eines europäischen kapitalistischen Wirtschaftsraums dar, der selbst über eine lange Periode entstanden ist und am ehesten so etwas wie den Keim eines europäischen Gesamtkapitals bilden kann (inklusive der Benelux-Staaten, Spaniens oder kleiner imperialistischer Ökonomien wie Österreichs und Dänemarks).

Während Deutschland die unumstrittene Führungsmacht darstellt, so kann es auf sich allein gestellt oder nur aufgrund seiner ökonomischen Überlegenheit die EU nicht führen, geschweige denn zu einem imperialistischen Block schmieden, der es mit den USA und China aufnehmen kann. Insofern handelt es sich bei der Achse Berlins mit Paris (und auch mit Rom) um eine strategische Allianz, nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie um ein Schuldner-Gläubiger-Verhältnis. Die Ökonomie stellt den Hebel dar, mit dem der deutsche Imperialismus seinen Partnern bestimmte Bedingungen diktieren kann. Letztlich wird er sich die Partnerschaft in eigenem übergeordneten strategischen Interesse aber auch etwas kosten lassen müssen.

Während er sich nämlich auf ökonomische Dominanz stützen kann, verfügt der französische Imperialismus über höhere militärische Schlagkraft und Kampferfahrung, eigene Nuklearwaffen und eine gewichtigere Stellung in der internationalen Politik. Allerdings entpuppen sich die Stiefel, mit denen französische Imperialismus spaziert, oft als zu groß – was auch bedeutet, dass dieser selbst verlässliche, strategische PartnerInnen braucht, die seine geopolitischen und militärischen Ambitionen auch wirtschaftlich untermauern können.

Italien stellt zweifellos den schwächsten Part der drei dar – sowohl ökonomisch wie mittlerweile wohl auch militärisch. Aber zugleich verfügt es über ein wichtiges Industrie- und Finanzkapital und bildet den, wenn auch schwächsten Teil des imperialistischen Kerns der EU und Eurozone. Daher sollte seine Bedeutung für die Zukunft der EU nicht unterschätzt werden. Für die Achse Berlin–Paris stellt die Integration Roms einen unverzichtbaren Teil dar, soll das Ziel einer Stärkung der EU und deren Formierung zu einem weltmachtfähigen Block realisiert werden.

Im letzten Jahr sind die Gemeinsamkeiten der drei Länder deutlicher hervorgetreten – sicher auch durch die aktuelle Regierungskoalition in Italien begünstigt.

Das Führungspersonal wichtiger europäischer Institutionen reflektiert ein solches Zusammenrücken: von der Leyen (CDU, Deutschland) als Vorsitzende der EU-Kommission, Sassoli (DP, Italien) als Sprecher des EU-Parlaments, Lagarde (Frankreich) als Präsidentin der Zentralbank.

Alle drei Staaten eint, dass ihre imperialistischen Interessen ohne eine schlagkräftige EU, ohne eine strategische Bündnispolitik regional wie global auf entscheidende Probleme stoßen werden.

Wir können daher von den dreien erwarten, dass sie ihre Politik längerfristig absichern wollen durch: Vereinheitlichung der europäischen Wirtschafts- und Außenpolitik; Aufrüstung auf europäischer Ebene (wobei das längerfristige Verhältnis zur NATO und zu den USA vorerst ungeklärt bleibt und auch die größte offene Frage darstellt).

Politisch versuchen die drei Staaten nicht nur, ihre Interessen auszugleichen, sondern sie müssen auch die Basis für eine stabile Zusammenarbeit über Wahlperioden und Regierungswechsel hinaus festigen.

Dabei stellen in allen Ländern, wenn auch mit unterschiedlicher Stärke, der Rechtspopulismus und nationalistische „Anti-EU-Kräfte“ in den bürgerlichen Parteien die politisch größte Gefahr dar. Die jüngste Regierungskrise in Italien, das gute Abschneiden von Merz bei der Wahl zum CDU-Vorsitz und der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie der Lega, des RN und der AfD verdeutlichen das. Sie stehen als politische Alternative bereit, sollten der Kurs auf eine Vertiefung der EU scheitern oder größere Teile des Kapitals der jeweiligen Länder fürchten, bei der imperialen Neuordnung Europas selbst unter die Räder zu kommen, und auf einen nationalen Sonderweg setzen.

Als „Schutzwall“ gegen die Rechten setzen sie allerdings auf verschiedene Strategien in ihren Ländern. In Italien und Deutschland versuchen sich die Regierungen auf Koalitionen des „nationalen Konsenses“ zu stützen, die die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften einerseits, aber auch die Grünen (und darüber Teile der Umweltbewegung) andererseits integrieren. In Italien wurden sogar populistische Strömungen (Fünf Sterne) einbezogen, was umgekehrt auch zeigt, dass diese vermeintlichen GegnerInnen der Elite in der Stunde der Not recht flexibel sein können und selbst zu RetterInnen des Establishments werden. In Frankreich verteilte Macron zwar auch Regierungsposten an ehemalige Konservative, Grüne, SozialdemokratInnen. Er stützt sich aber auch auf eine rein auf ihn als Präsidenten zugeschnittene Wahlpartei, die wenig Wurzeln in der französischen Gesellschaft geschlagen hat.

Auf europäischer Ebene wird diese Politik durch eine Art „Großer Koalition“ im EU-Parlament gestützt, die von den Konservativen über Liberale und Grüne zur Sozialdemokratie reicht.

b) Wirtschaftlich und politisch angelagerte Länder

Um die Kernländer der EU sind welche angelagert, die weitgehend mit den dreien (sofern sie eine geeinte Politik haben) einhergehen, nur gelegentlich abweichende Meinungen repräsentieren.

Dazu gehören Luxemburg und Belgien sowie Spanien und Portugal. Auch Irland und Griechenland finden sich zur Zeit faktisch in diesem Lager.

Vor allem Luxemburg und Belgien sind eng mit dem deutschen und französischen Imperialismus verbunden, agieren oft genau als deren Sprachrohr und Vertreter eines europäischen „Gesamtkapitalismus“.

c) „Geizige“ kleinere imperialistische Staaten

Zu dieser Gruppe gehören z. B. die Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark, Finnland. Auch diese Länder sind oft eng an den deutschen ökonomischen Zyklus und die EU-Wirtschaft gebunden, versuchen aber zugleich, bei der Neuordnung der EU den Preis für ihre Zustimmung in die Höhe zu treiben.

Anders als die größeren imperialistischen Mächte, die die EU als Mittel in der Weltmachtkonkurrenz begreifen (wenn auch gegen unmittelbare, widerstreitende Interesse einzelner Kapitale), erscheinen diesen Staaten – und damit auch unterschiedlichsten Regierungskonstellationen – die Ausgaben für die Stützung der EU, Übernahme von Schulden oder für massive Aufrüstung und Schaffung einer größeren militärischen Interventionsfähigkeit vor allem als Kosten. Die Vorteile imperialistischer Weltbeherrschung nehmen sie gerne mit – sie soll sie aber möglichst nichts kosten.

d) Osteuropäische Länder

Die Länder Osteuropas wurden erst viel später (also nach 1990) in den vom westlichen imperialistischen Kapital dominierten Weltmarkt integriert und zwar als verlängerte Werkbänke und Reservoir für Investitionen und Arbeitskräfte Mittel- und Westeuropas. Die Restauration des Kapitalismus führte zu einer weitgehenden Entindustrialisierung und Entproletarisierung der Gesellschaften im Rahmen von „Schocktherapien“, Massenarbeitslosigkeit, Verschuldung. Die ArbeiterInnenklasse erlitt eine entscheidende historische Niederlage, die ArbeiterInnenbewegung wurde extrem geschwächt und ist bis heute in Osteuropa weit schwächer als in den Ländern West- und Südeuropas.

Diese Ökonomien wurden also massiv im Interesse des westlichen und vor allem des deutschen Kapitals restrukturiert. Viele sind, ökonomisch betrachtet, heute Halbkolonien des deutschen Imperialismus (nicht einfach der EU).

Andererseits bilden vor allem die Regierungen in Polen und Ungarn, ihr unverhohlener rechter Nationalismus und Populismus ein Hindernis für die EU und ihre weitere kapitalistische Integration. Ironischerweise wurzelt das Wachstum des Rechtspopulismus auch auf der Zerstörung der Ökonomie, der Zersplitterung der ArbeiterInnenklasse, der prekären Herausbildung eines KleinbürgerInnentums, das selbst eine instabilere Existenz als im Westen fristet. All dies bildet einen zusätzlichen Nährboden für populistische, „antieuropäische“ Kräfte.

Auf ökonomischer Ebene stellen diese Länder – auch solche wie Polen und Ungarn, die von entschiedenen Rechtspopulisten regiert werden – durchaus willfährige Staaten dar. Ihre Regierungen errichten entgegen ihrer nationalistischen Rhetorik keine Hindernisse für westliche Investitionen und passen das Arbeits- und Steuerrecht regelmäßig den Wünschen ausländischer Konzerne an.

Die Länder Osteuropas – vor allem Ungarn und Polen – stellen freilich aufgrund der Angriffe auf das Rechtsstaatsprinzip und eine europäische koordinierte Flüchtlingspolitik eine stärkere rechtliche Vereinheitlichung der EU offen in Frage. Damit kollidieren sie mit einem längerfristigen Ziel der führenden EU-Mächte, auch wenn diese durchaus nach Kompromissen mit Polen und Ungarn suchen, solange die EU selbst noch in unruhigem Wasser schwimmt. Zugleich versuchen die EU bzw. die Parteien der europäischen „Demokratie“, eine Einigung der Oppositionskräfte gegen Orbán oder Kaczyński aufzubauen.

Ausblick

Ein Blick auf diese Verhältnisse und die verschärfte globale Konkurrenz zeigen, dass 2021 ein entscheidendes Jahr nicht nur für die Zukunft der EU und des Klassenkampfes werden wird.

In den kommenden Monaten werden die Auswirkungen der Pandemie und der ökonomischen Krise im Zentrum stehen. Wie in Deutschland so ist die Politik der EU wie aller ihrer Nationalstaaten davon geprägt, dass die Gesundheitspolitik der „Wirtschaft“, also den Profitinteressen, nicht zu sehr schaden soll. Daher folgt sie in ganz Europa einem Zickzackkurs, der die Gesundheitssysteme überlastet oder zu überlasten droht, der zugleich alle Lasten der Pandemie der Bevölkerung aufzwingt. Während private Kontakte und Freizeit eingeschränkt werden, endet der Lockdown in ganz Europa am Werktor. Daher sollen natürlich auch die Schulen offen bleiben.

Zugleich werden die Kosten der Staatsverschuldung und der Krise in Form von drohenden Sparprogrammen, Kürzungen, Entlassungen der ArbeiterInnenklasse wie auch großen Teilen des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten präsentiert werden.

Schon 2020 stieg die Arbeitslosenquote im Euroraum von durchschnittlich 7,5 % auf 8,3 %. 2021 soll sie auf 9,4 % ansteigen. Für 2022 wird eine Rate von 8,9 % prognostiziert. Die Zahlen für die gesamte EU sehen zwar etwas besser aus, folgen aber derselben Kurve.

In jedem Fall zeigen diese Beispiele wie auch die veränderte Europastrategie des deutschen Imperialismus, dass die ArbeiterInnenbewegung und Linke dem Kapital ihr eigenes europäisches Aktionsprogramm entgegensetzen müssten.

Doch die ArbeiterInnenbewegung verharrt entweder in vollständiger Anpassung an die informelle Große Koalition auf EU-Ebene aus Konservativen, Liberalen, Grünen und SozialdemokratInnen, die die Gewerkschaften faktisch im Schlepptau mitnimmt. Oder sie bleiben auf die nationale Ebene fixiert oder träumen gar von Austritten und „Unabhängigkeit“ ihres Landes. Wer sich solchen Phantasien hingibt, möge nur nach Britannien blicken, wo die ArbeiterInnenklasse für den reaktionären, nationalistischen Brexit zahlen muss.

Wie schlecht es um die Gewerkschaften, die reformistischen Parteien, aber auch die sog. „radikale Linke“ politisch bestellt ist, verdeutlicht, dass es während der Pandemie, während der tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg bis zur Zero-Covid-Kampagne keine einzige (!) größere, einheitlich auftretende Initiative für eine gemeinsame, europaweite Politik im Interesse der Lohnabhängigen gab.

Dabei stellt diese Kampagne einen konkreten Schritt dar hin zum Aufbau einer europaweiten Bewegung zur Bekämpfung der Pandemie und gegen die Abwälzung der Kosten der Krise auf die Massen. Sie sollte daher von der gesamten Linken unterstützt und von einer Unterschriftenkampagne zu einem europaweiten Aktionsbündnis entwickelt werden. So kann auch eine reale Kraft geschaffen werden, um eine europaweite Einheit und Koordinierung gegen Angriffe der Konzerne, der Regierungen und der EU-Kommission zu schaffen, einen konkreten Schritt, um dem Europa des Kapitals eines der ArbeiterInnen entgegenzusetzen.




Konflikt um EU-Budget: Haus ohne Halt

Jürgen Roth, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Nach wochenlangem Streit mit Polen und Ungarn konnte die deutsche Ratspräsidentschaft die nächste drohende Katastrophe der EU gerade noch einmal vermeiden. Am Donnerstag, den 10. Dezember 2020, einigte sich der Europäischer-Rats-Gipfel, das Treffen der europäischen Staats- und Regierungsspitzen, auf einen Kompromiss.

Der Haushalt mit mehrjährigem Finanzrahmen für die Jahre 2021 – 2027 steht. Sein Volumen beträgt ca. 1,1 Billionen Euro. Zusätzlich wurden ca. 750 Milliarden Euro für Corona-Hilfen bewilligt, die besser als Umstrukturierungsfonds für erhöhte „grüne und digitale“ Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bezeichnet werden sollten. In der Frage des Rechtsstaatsmechanismus‘ hatte die deutsche Präsidentschaft des EU-MinisterInnenrats einen für die beiden Visegrád-Staaten akzeptablen Kompromiss durchgesetzt.

Rechtsstaatlichkeit

Polen und Ungarn wird bekanntlich seit langem vorgeworfen, Einfluss auf Justiz und Medien auszuüben und Minderheiten zu wenig Schutz zu gewähren. Der Kompromiss sieht vor, das neue Verfahren zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit durch eine Zusatzerklärung zu ergänzen. Darin sind die Möglichkeiten festgelegt, sich gegen die Anwendung der Regelung zu wehren, z. B. durch eine Überprüfung seitens des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Außerdem soll die Feststellung eines Verstoßes erst dann zur Kürzung von Finanzhilfen führen können, wenn klar nachgewiesen wird, dass die Verletzung negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern hat. Überdies müssen sich bei Streitfragen die Staats- und RegierungschefInnen, also der Europäische Rat (ER), mit dem Thema beschäftigen.

Bei einer Ablehnung des Kompromisses hätte der EU ab Januar nur ein Nothaushalt zur Verfügung gestanden und das Corona-Konjunkturprogramm ohne die beiden „Außenseiter“ organisiert werden müssen, auf das wirtschaftlich stark leidende Länder, die gleichzeitig ein Schuldenproblem haben, wie z. B. Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Belgien, angewiesen sind.

Bezüglich des von Polen und Ungarn als „Sieg“ gefeierten Kompromisses entbrannte vor dem Gipfelbeschluss ein Zwist quer durch alle EU-Parteien und -Länder. Die KompromisslerInnen argumentierten teils auf der Linie des deutschen Ratspräsidialvorschlags, teils schlugen sie ein Ausklammern und eine Verlegung auf zwischenstaatliche Abkommen vor, die sich außerhalb des EU-Verfassungsrahmen bilden sollten. Vorbilder dafür sind die Eurogruppe und die Finanzmarktrettungsschirme.

Das gegnerische Lager setzte auf Härte gegenüber den beiden osteuropäischen Ländern. Für die Annahme der Rechtsstaatsklauseln im Europäischen Rat hätte eine qualifizierte Mehrheit genügt, die als sicher galt. Für Haushalt und Corona-Paket war allerdings Einstimmigkeit erforderlich und Polen und Ungarn hätten deren Beschluss durch ihr Veto verhindern können.

Die dramatische Einschränkung bürgerlich bürgerlich-demokratischer Rechte in den beiden osteuropäischen Ländern darf freilich nicht über die doppelte Heuchelei der restlichen EU hinwegtäuschen. Lediglich das EU-Parlament (EP) ist vom Volk gewählt, doch ist sein Einfluss auf die Gesetzgebung marginal. Alle übrigen Institutionen sind Bestandteile eines supranationalen Apparatgebildes, das zudem noch vom Wohlwollen der Regierungen der Mitgliedsstaaten abhängt -und zwar vor allem von jenen der dominierenden imperialistischen Mächte in der EU. Zudem bewegen sich nicht nur Ungarn und Polen, sondern faktisch alle Staaten und Institutionen auf eine Stärkung autoritärer polizeilicher Verfolgungs- und Überwachungsorgane zu oder führen, wie Frankreich, rassistische, anti-muslimische Gesetze ein. Von Menschenrechten ist an den Außengrenzen erst recht nichts zu spüren.

Zweitens geht es beim Konflikt um etwas ganz anderes als die bürgerliche Demokratie, nämlich um ein Aufbrechen des inneren Zusammenhalts, wie es sich schon im Brexit äußerte. Auf diesen widersprüchlichen Integrations- und Auseinanderentwicklungsprozess gehen wir weiter unten ein, indem wir seine Ursachen im Lichte der Entwicklung seit der Großen Krise 2007/2008 skizzieren. Zuvor wollen wir aber knapp die aktuelle ökonomische Lage skizzieren, die ihrerseits die Situation der EU vor dem Hindergrund der globalen Wirtschaftskrise verschärft.

COVID-19: Stress für die Wirtschafts- und Währungsunion

Die Herbstprognose der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erwartet für die EU bis Ende 2021 ein Schrumpfen des BIP von 3 – 5 % im Vergleich zu Ende 2019, für Großbritannien sogar 6,4 % – unter der Voraussetzung wirksamen Impfschutzes! Angesichts der infolge von SARS-CoV-2 galoppierenden Staats-, Haushalts- und Firmenverschuldung steigt die Gefahr eines Finanzkollapses historischen Ausmaßes.

Nach einer Erholung im 3. Quartal 2020 aufgrund von Lockerungsmaßnahmen erwartet die EU-Kommission jetzt für die Eurozone einen Wirtschaftseinbruch von 7,8 % für das Gesamtjahr 2020, für 2021 ein Wachstum von 4,2 % und für 2022 von 3 % (EU-Wirtschaft insgesamt: -7,4 %, + 4,1 %, + 3 %). Sowohl die Eurozone wie das Gebiet der Gemeinschaft werden Ende 2022 den Stand vor Pandemieausbruch nicht erreicht haben.

Zwar konnte der Anstieg der Arbeitslosenquote insbes. durch Kurzarbeitsregelungen gedämpft werden, doch rechnet die Kommission mit weiterem Anstieg nach Auslaufen der Soforthilfemaßnahmen ab 2021: Für die Eurozone bzw. die EU lauten die Zahlen und Prognosen für 2019 7,5 % bzw. 6,7 %, 2020: 8,3 % bzw. 7,7 %, 2021: 9,4 % bzw. 8,6 %, 2022 8,9 % bzw. 8,0 %. Das gesamtstaatliche Defizit wird in der Eurozone aufgrund von steigenden Sozialausgaben und sinkenden Steuereinnahmen gegenüber 2019 massiv steigen. Damals betrug der Anteil an der Neuverschuldung am addierten Bruttoinlandsprodukt nur 0,6 %. 2020 soll die Neuverschuldung 8,8 % des BIP betragen, 2021 6,4 % und 2022 4,7 %. Die Gesamtschuldenquote im Eurogebiet soll gegenüber 85,9 % im Jahr 2019, 2020 auf 101,7 %, 2021 auf 102,3 % und 2022 auf 102,6 % steigen.

Das „Corona-Hilfspaket“ …

390 des 750 Mrd. Euro schweren Hilfspaketes sind als nicht rückzahlbare zusätzliche Finanzmittel in einem Programm geplant, das sich Next Generation EU (NGEU) nennt. Dafür soll sich die EU erstmals langfristig bis 2058 verschulden. Vorher bestand ihr Haushalt allein aus Zuweisungen der Mitgliedsstaaten. Neben Kreditaufnahme ist auch die Einführung eigener europäischer Steuern gedacht (auf Plastik und CO2).

Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das Ziel der Finanzhilfen jedoch kaum in der direkten Krisenbekämpfung liegen kann, sondern in erster Linie die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem zunehmend umkämpften Weltmarkt mittelfristig stärken soll. 2021 und 2022 dürfte gerade einmal ein Fünftel der Mittel fließen. 218,75 Mrd. Euro, das sind 70 % der insgesamt für diesen Zweck eingeplanten Gelder von 312,5 Mrd., sollen für die beiden Jahre nicht für die Bewältigung der Krisenfolgen, sondern zur Milderung der strukturellen Probleme der EU-Länder auf dem Arbeitsmarkt verwendet werden und bemessen sich an deren Arbeitslosenquoten zwischen 2015 und 2019, also Jahre vor der Corona-Krise. Die zeitliche Verteilung zwischen 2021 und 2026 ist intransparent. Zsolt Darvas vom Think Tank Bruegel schätzt, dass 2021 10 % und 2022 13 % ausgezahlt werden sollen.

Der Bedarf für direkte krisenbezogene Maßnahmen ist offensichtlich auch begrenzt. So haben 17 EU-Staaten im Rahmen des SURE-Programms 90 Mrd. Euro für die Unterstützung von Kurzarbeitsregelungen beantragt. Gleichzeitig blieben 240 Mrd. zinsgünstige Darlehen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM für solche Maßregeln insbes. im Gesundheitswesen bislang unangetastet, obwohl der Verzicht auf umfassende „Reform“auflagen bei deren Inanspruchnahme beteuert wurde. Angesichts der Erfahrungen in der Eurokrise vor 6 Jahren finanzieren sich viele EU-Länder lieber zu Niedrigzinsen auf dem Kapitalmarkt, als diesen womöglich doch vergifteten Köder zu schlucken.

… und die Zukunft der Währungsunion

In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Europäischen Zentralbank EZB deutlich verändert. Die Grenzen zwischen Notenbank und Geschäftsbank, die sie ursprünglich strikt befolgen sollte, muss sie immer weniger einhalten. So kann sie faule Staats- und Bankenpapiere kaufen und gleichzeitig die Leitzinsen niedrig halten. Diese Politik des lockeren Geldes (Quantitative Easing; QE) wird zudem flankiert von der Tatsache, dass der Euro zum ersten Mal seit Februar 2013 im Oktober 2020 den US-Dollar als internationales Zahlungsmittel wieder überholt hat. Im Finanzierungsgeschäft bleibt dessen Rolle allerdings ungebrochen. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) entfielen bis Juli 2020 mehr als die Hälfte aller internationalen grenzübergreifenden Kreditgeschäfte auf den Dollar.

Aber was passiert, wenn die Gesundheits-Krise und deren ökonomische Folgen länger als geschätzt andauern, sei es weil zu spät, zu wenig und zu unwirksam geimpft wird? Was geschieht, wenn die nicht durch die Pandemie bedingten wirtschaftlichen, strukturellen Ursachen mit Firmen- und Bankenzusammenbrüchen durchschlagen? Wird die EZB QE durchhalten können, wenn der privatkapitalistische Wirtschaftssektor nicht wieder auf eigenen Füßen steht, nachdem die Regierungssubventionen wegfallen? Schon jetzt steht das Ausmaß der Gesamtverschuldung, darunter auch die der Unternehmen, laut Institute of International Finance (IIF) im Vergleich zum BIP weltweit auf einem nie dagewesenen Hoch und machte in diesem Jahr einen Rekordsprung von 320 (2019) auf 365 %. Die OECD rechnet damit, dass 30 % der Unternehmen diese Stunde der Wahrheit nicht überleben werden. Banken werden mit Verweigerung des Kredits untereinander reagieren sowie auf eine Erhöhung ihrer Einkommensquelle, der Zinsen, drängen müssen, wollen sie nicht in diesen Strudel geraten. Deren Erhöhung verteuert auch die Staatsanleihen und damit die Gefahr staatlicher Zahlungsunfähigkeit. Dieses weltwirtschaftliche Damoklesschwert schwebt natürlich auch über der EU.

Robuster oder krisenanfälliger?

Covid-19 treibt auch Europa auseinander. Vielerorts sind die gemessenen Infektionszahlen, allerdings auf Basis breiterer Tests, höher als im April. Die aussagekräftigere Zahl der Toten ist sogar in der BRD mittlerweile deutlich höher. Wirtschaftlich betroffen ist insbesondere die für die Süd- und Südostländer so wichtige Tourismusbranche. Und insbesondere Frankreich, Italien und Spanien leiden unter einem viel schlimmeren Wirtschaftseinbruch als z. B. Deutschland. Zudem belaufen sich die Staatsschulden dieser 3 Länder auf mehr als zusammengerechnet 6 Bio. Euro bei einer Wirtschaftsleistung, die gerade anderthalbmal so groß wie die der BRD ausfällt.

Um die Frage der Krisenanfälligkeit beantworten zu können, betrachten wir die Entwicklung der EU seit der letzten Krise. Anders als herkömmliche Interpretationen der Eurokrise gehen wir nicht davon aus, dass die Zahlungsbilanzungleichgewichte in erster Linie durch zu hohe Löhne in den Defizitländern (neoliberale Lesart) bzw. zu niedrige in den Gläubigerstaaten (die neokeynesianische) verursacht wurden.

Dahinter steht vielmehr eine nur zum Teil durch die Lohnentwicklung bestimmte ungleiche internationale Arbeitsteilung. Eine übergeordnete bzw. dominante Position in dieser ergibt sich aus der Kapazität einiger weniger Produktionssysteme, komplexer Produktionsmittel, insbes. solche zur eigenständigen Herstellung anderer Produktionsmittel (Maschinenbau, Elektrotechnik, chemische Industrie). Als Ergebnis musste die südeuropäische Peripherie einen erheblichen Bedeutungsverlust hinnehmen, während sich zentrale imperialistische Ökonomien wie Deutschland gerade auf eine entwickeltere und produktivere Leistung in diesen zentralen Sektoren stützen.

Strukturreformen

Seit 2008 kam es neben dem Fokus auf Haushaltskonsolidierung, die mittlerweile eine Art Verfassungsrang einnimmt zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu einer merklichen Erweiterung der EU-Kompetenzen auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik. Kern ist das Europäische Semester (ES), welches die Koordination und Überwachung der nationalen Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeits- und Sozialpolitiken gewährleisten soll. Damit sollen übrigens auch in die Lohnentwicklung mit Sanktionen eingegriffen werden, falls dass ein Referenzwert von 9 % Steigerung in 3 Jahren überschritten wird. Das ES ist neben der Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission sowie dem ESM ein dritter Krisenbewältigungsmechanismus.

Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt führten schon bisher zu einer Schwächung der Rolle der Gewerkschaften, Abnahme der Tarifbindung, Verbetrieblichung der Lohnentwicklung, Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse und unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Trotz des Aufschwungs in den meisten EU-Ländern nach der letzten Krise und steigender Beschäftigung kam es zu einer Verlangsamung des Lohnwachstums. Hierbei stieg die Zahl atypischer Beschäftigung und Leiharbeit ab 2010 bzw. 2014 wieder an.

Die verheerenden Auswirkungen waren in den Ländern am größten, die Kredite aus dem Rettungsschirm ziehen mussten. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte der südeuropäischen Länder sanken infolge des austeritätspolitisch induzierten Rückgangs der Importe, der selbst aus dem Rückgang der effektiven Kaufkraft resultierte. Dies hat offenkundig nichts mit einer Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsposition zu tun. Die wachsenden Exporte aus der Peripherie dürfen nicht als Abbau tiefer Ungleichgewichte interpretiert werden. Vielmehr spricht der Einbruch der Industrieproduktion für eine weitere Erosion ihrer Produktionsstrukturen. Ganz anders dagegen die Entwicklung z. B. in Deutschland und Österreich. Diese Polarisierung innerhalb der europäischen Arbeitsteilung führte zu einer Abnahme der Bedeutung Südeuropas als Absatzmarkt für deutsche Exporte. Die BRD fährt seit 2012 einen größeren Außenhandelsüberschuss gegenüber dem Rest der Welt, v. a. den sog. Schwellenländern, als gegenüber der Eurozone ein.

Ökonomische Verschiebung

Der zweite Faktor, der die aktuelle Position Merkels und der Bundesrepublik im Haushaltskonflikt erklärt, ist die gegenläufige Entwicklung in den Visegrád-Ländern (Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn). Die Industrieproduktion entwickelte sich dort noch geschwinder als in Deutschland und Österreich und stieg um mehr als ein Drittel gegenüber dem Vorkrisenniveau. Auch der Anteil der Bereiche Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Chemie nahm zu von 57 auf 59,6 %, am deutlichsten in der Slowakei. Mit Ausnahme Polens wurden diese Volkswirtschaften allerdings immer tiefer in das deutsche Produktionssystem integriert, zu verlängerten Werkbänken.

Politisch bedeutet dies eine relative Schwächung Südeuropas und folglich eine wachsende Asymmetrie in der für den bisherigen Integrationsprozess konstitutiven Achse Berlin – Paris und eine Gewichtsverlagerung von Süden nach Osten. Zugleich erleben wir in Osteuropa einen widersprüchlichen Prozess. Die wachsende ökonomische Dominanz des deutschen Kapitals geht mit politischen Konflikten Deutschlands (und der EU) mit den Regierungen dieser Staaten einher, die sich aus verschiedenen Quellen – nicht zuletzt auch – dem Agieren imperialistischer Konkurrenz speist. Andererseits setzt die wachsende ökonomische Abhängigkeit der Region der Zuspitzung des Konflikts Grenzen und erklärt auch das größere Interesse Deutschlands an Kompromissen selbst mit den polnischen und ungarischen Regierungen.

Italien: neues Zentrum der Widersprüche?

Italien nimmt in der Hierarchie der innereuropäischen Arbeitsteilung eine Zwischenposition zwischen Deutschland und der Peripherie in Süd- und Osteuropa ein. Seit den Umbrüchen der 1990er Jahre und dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht haben sich die Konkurrenzbedingungen gravierend geändert. Mit Wegfall der Abwertungsmöglichkeiten durch die Einführung des Euro geriet die italienische Industrie aufgrund ihres Spezialisierungsprofils unter verstärkten Kostensenkungsdruck. Hatte das Land einst ein außergewöhnlich hohes Niveau industrieller Beschäftigung ähnlich der BRD aufrechterhalten können, scheint sich ein Trend zur teilweisen Deindustrialisierung durchzusetzen.

Es ist also zu erwarten, dass Italien zum Herd eines künftigen Schwelbrands in der EU werden wird. Die aktuelle EU-Haushaltspolitik der Großen Koalition in der BRD und ihre vergleichsweise versöhnlerische Haltung gegenüber Polen und Ungarn reflektieren auch eine Veränderung der Ökonomie des Kontinents. Die explosive Vertiefung der Krise in Italien würden die EU und ihre Führungsmacht vor noch größere Herausforderungen stellen.

Düstere Aussichten

Obwohl die Haushaltskrise letztlich in einem vom deutschen Imperialismus vermittelten Kompromiss endete, verdeutlichte das Gezerre, das innerhalb der führenden Kreise der EU und innerhalb ihrer dominierenden Mächte, allen von in Deutschland, auch ein Konflikt über die zukünftige Europa-Strategie stattfindet. Sollen „abweichende“ kleinere Staaten oder Staatengruppen weiter taktisch eingebunden werden oder sollen die EU und die Eurozone zu einem zentralisierten, ökonomisch und politische einheitlicheren Staatenblock unter deutscher bzw. deutsch-französischer Führung geschmiedet werden.

Zugleich droht das größer gewordene wirtschaftliche Gefälle zwischen Norden und Süden in der EU den Zusammenhalt der Union weiter zu unterminieren. In Anbetracht einer herannahenden Krise in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Ausmaß ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Länder wie Österreich, die Niederlande, Finnland und Schweden, aber auch Teile des BRD-Kapitals solidarisch die Krisenlasten mit den kränkelnden Volkswirtschaften teilen. Der deutsche und der französische Imperialismus stehen somit vor schwer unlösbaren Herausforderungen angesichts der globalen Krise und der Konkurrenz durch China und die USA.

Der französische Imperialismus unter Macron versucht sich als als Vorreiter europäischer „Eigenständigkeit“ zu präsentieren. Angesichts der Schwächen der französischen Wirtschaft und der inneren politischen Krisen Frankreichs verbrauchen sich die meisten seiner Initiativen fast so schnell, wie sie in die Welt gesetzt wurden. Der deutsche Imperialismus setzt mit Merkel und von der Leyen zumindest der Form nach auf Ausgleich und Kompromiss – doch die Zeit läuft ihnen angesichts einer krisengeschüttelten Europäischen Union und  immer tieferer Widersprüche davon.

Härtere Gangart

Die Drohungen gegenüber Ungarn und Polen im Haushaltsstreit signalisierten, dass auch die Führung der EU-Kommission und Teile des deutschen Imperialismus erwägen, eine härtere Gangart gegenüber „abweichenden“ Mitgliedern der EU einzuschlagen. Im Haushaltsstreit hätte er mit einer „kompromisslosen“ Haltung letztlich aber mehr verloren und gewonnen. Die Dauer und Härte des Konflikts zeigen freilich, welche weit größeren uns noch bevorstehen, wenn die gegenwärtige Krise entscheidende Volkswirtschaften der EU – wie z. B. Italien – an den Rand des Bankrotts treiben sollte.




Solidarität? Verantwortung? Abschiebung! – Der Plan der EU-Kommission für ein neues Asylsystem

Jürgen Roth, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Ende 2019 waren 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht, so die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Damit ist ein Rekordhoch erreicht. Allein im letzten Jahr stiegen die Zahlen um 9 Millionen. Mit der Corona-Pandemie dürfte sich die Lage weiter zuspitzen. 45,7 Millionen suchen in ihrem eigenen Land Zuflucht und gelten als Binnenvertriebene. Dazu kommen 26 Millionen in andere Staaten Geflohene und 4,2 Millionen Asylsuchende. Das UNHCR zählte erstmals 3,6 Millionen VenezolanerInnen mit, die ins Ausland geflohen waren, aber keinen Flüchtlingsstatus besitzen.

Die Türkei nahm mit 3,6 Millionen Geflüchteten und 300.000 Asylsuchenden die meisten Menschen auf, gefolgt von Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland. Pakistan und Uganda haben im letzten Jahr jeweils 1,4 Millionen aufgenommen. Insgesamt kamen 85 % in sogenannten Entwicklungsländern unter, weniger als 10 % in Europa. In ihre Heimat kehren immer weniger Menschen zurück aufgrund anhaltender Konflikte. In den 1990er Jahren waren es 1,5 Millionen pro Jahr im Durchschnitt, im letzten Jahr waren es 385.000.

Der Kommissionsplan

In der EU leben 513 Millionen BürgerInnen und nur gut 2 Millionen Flüchtende. Letzteres ist also ein Klacks im Vergleich zu o. a. Zahlen. Die EU-Kommission hat Ende September ihren Plan zur Reform des europäischen Asylsystems vorgelegt. Er sieht Asylverfahren an den Außengrenzen, schnellere Abschiebungen und die Ernennung eines/r RückführungskoordinatorIn vor. Bei „hohen Flüchtlingszahlen“ sollen alle Mitgliedsländer zu „Solidarität“ mit den Ankunftsländern verpflichtet werden – sei es über Flüchtlingsaufnahme oder Hilfe bei Abschiebungen. Im Fall dieser „Krise“ werden MigrantInnen auf einzelne Länder verteilt, auch ohne Aussicht auf einen Schutzstatus. Abschiebungen werden als Gewährung der Hilfeleistung akzeptiert und müssen binnen 8 Monaten erfolgen. Andernfalls muss das Land die Flüchtlinge aufnehmen. Gleichzeitig plant die von der Leyen-Behörde mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten. 2016 war der Versuch gescheitert, die damals noch 28 EU-Staaten für eine Reform des Asylrechts zu gewinnen.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt moniert, der Pakt laufe auf die Abschaffung eines fairen Asylverfahrens hinaus durch eine Vorprüfung an den Außengrenzen, wer überhaupt zum Verfahren zugelassen wird. Cornelia Ernst, Abgeordnete der Linken im EU-Parlament, sieht in ihm rote Linien wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und die EU-Grundrechtecharta überschritten. Besonders kritisierte sie die Möglichkeit, dass sich Länder von der Aufnahme von Flüchtlingen freikaufen dürfen.

Am Dublin-System, dem zufolge jener Staat für das Asylverfahren zuständig ist, dessen Boden der/die Schutzsuchende zuerst betritt, rüttelt der Plan nicht. Dieses hat Ländern den Vorwand geliefert, jede Verantwortung auf den „äußeren Ring“ (Griechenland, Italien, Malta) abzuwälzen. Die Kommission will den Außengrenzenschutz durch Frontex verstärken, aber auch durch neue Verträge mit Anrainerstaaten nach dem Muster des Deals mit der Türkei sowie Nutzung des EU-Visumsystems. Die schwedische Kommissarin für Inneres, Ilva Johansson, kündigte einen fünftägigen, verpflichtenden „Screening“-Prozess für MigrantInnen nach ihrer Ankunft an – mit polizeilicher Registrierung und einer ersten Entscheidung über die Aussichten eines Asylanspruchs. Dies entspricht der seit Jahren verfolgten Linie Bundesinnenminister Horst Seehofers!

Widerspruch aus der rechten Ecke erfolgte aus Ungarn und Tschechien. Ihnen missfällt, dass sie in Ausnahmefällen verpflichtet werden sollen, Schutzsuchende aufzunehmen. Sie wollen Verhandlungen mit nordafrikanischen Ländern über die Einrichtungen von Hotspots wie Moria auf Lesbos, wo die Geflüchteten dann zusammengepfercht und registriert werden sollen. Die Idee ist nicht neu, nur gibt es bislang keine entsprechenden Abkommen.

Unser Fazit: Der neue Vorschlag ist nichts weiter als ein Herumdoktern an einem inhumanen System und eine Fortschreibung der Abschottung, des Ausbaus der „Festung Europa“. Am katastrophalen Lagersystem z. B. an den griechischen Außengrenzen, wo Mindeststandards bei der Unterbringung und beim Schutz der dortigen Menschen missachtet werden, will die Kommission nichts ändern. Im Gegenteil: sie sollen am besten erst gar nicht bis an die Grenzen der EU gelangen dürfen und gleich in Libyen, der Türkei, Marokko, Niger, Mali oder sonst wo bleiben.

5 Jahre Veränderungen

Aber nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit der sogenannten libyschen Küstenwache hat die EU Mittel und Wege gefunden, um Asylsuchende vor Europas Grenzen zu stoppen. Letztere wurde von EuropäerInnen ausgebildet und mit technischen Mitteln unterstützt. Amnesty International kann ein Lied von deren Menschenrechtsverletzungen singen an Bootsflüchtlingen, die von der „Küstenwache“ aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht wurden. Staatliche wie nichtstaatliche TäterInnen pferchen sie in menschenunwürdigen Lagern ein, töten sie, lassen sie verschwinden oder zwingen sie zu SklavInnenarbeit.

Vor 5 Jahren rief Merkel im Obama-Stil angesichts der Flüchtlingswelle aus: „Wir schaffen das!“ Doch was hat sich seither getan? In welche Richtung ist der Zug der Migrationspolitik gefahren? Die ursprüngliche Seenotrettung der EU im Mittelmeer ist eingestellt (Mare Nostrum, Sophia). Die zivile Seenotrettung wird behindert und kriminalisiert (Italien, Malta). Das Bundesverkehrsministerium fordert von Rettungsorganisationen aufwendige und unbezahlbare Anpassungen. Eine neue Bundesverordnung für Seesportboote und Schiffssicherheit, ermächtigt durch das Seeaufgabengesetz, untersagt z. B. der NGO Mare Liberum mit ihrem gleichnamigen Boot die Seenotrettung. Die griechische Küstenwache schiebt Geflüchtete illegal in die Türkei zurück oder setzt sie auf aufblasbaren Plattformen im offenen Meer aus. Ein Schutzstatus für verfolgte Lesben und Schwule bleibt in der BRD weiterhin Ermessenssache. Griechenland nahm im März einen Monat lang keine Asylanträge mehr an und involvierte erstmals das Militär umfassend in die Flüchtlingsabwehr.

Die Innenministerkonferenz im Juni 2019 verschärfte die Rückführungsbestimmungen nach Afghanistan. In Bezug auf Syrien wurde zwar der Abschiebestopp bis zum 31. Dezember 2019 verlängert, doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll danach nicht mehr subsidiären Schutz gewähren, sondern den schwächeren Abschiebeschutz. Die im gleichen Monat von der Großen Koalition beschlossenen 8 Gesetzesänderungen, darunter das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das „Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ („Geordnete-Rückkehr-Gesetz“), verschärften u. a. die Bestimmungen zur Abschiebehaft. Fluchtgefahr ist keine Vorbedingung mehr. Die Polizei hat jetzt bundesweit das Recht, Unterkünfte Geflüchteter ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Bei „Gefahr im Verzuge“ kann auch die Ausländerbehörde das Eindringen der Polizei genehmigen.

Am 23. Juli 2020 tagten in Wien VertreterInnen von 20 beteiligten Staaten zwecks Errichtung eines Frühwarnsystems auf der sogenannten Balkanroute. Grenzschutz, Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht und beschleunigte Asylverfahren wurden als Ziele genannt. Werden diese an den Außengrenzen nicht aufgehalten, soll sich zukünftig eine Wiener Behörde um das Schicksal derer in diesem Sinne kümmern, die es in die Binnenländer der EU geschafft haben. Dieses Amt bildet offensichtlich die Blaupause für den/die RückführungskoordinatorIn im Plan von der Leyens. Kroatien spielt den gewünschten Part beim Schutz u. a. Deutschlands vor ungewollter Migration an der bosnischen Grenze: zu Tausenden wurden dort Aufgegriffene stundenlang eingesperrt, geschlagen und um ihre Habseligkeiten gebracht, bevor sie zurückgeschickt werden. Diese Push-Backs sind nach internationalem Recht gar nicht erlaubt.

Dissonanzen

Während der jüngsten Brandkatastrophe im Lager Moria entzündete sich in der EU eine Debatte, ob und wenn ja, wie viele Refugees in den einzelnen Ländern aufgenommen werden sollten. Die BRD und Frankreich hatten schon vorher Versuche unternommen, eine „Koalition der Willigen“ zustande zu bringen. Bei einem EU-Ministertreffen in Helsinki Mitte Juli 2020 hatten sie 14 Staaten um ihren Vorschlag herum gruppiert – davon 8 zu „aktiver Mitarbeit“ bereite –, eine gemeinsame Verteilung für in Seenot Gerettete durchzusetzen. Italien wehrte sich gegen das Ansinnen, dass Boote mit geretteten MigrantInnen in seinen oder maltesischen Häfen anlegen können sollten, die dann zur Umverteilung in andere Länder anstünden. Italien bemängelte, dass ihr Ausstieg z. B. in französischen Häfen nicht vorgesehen war.

Schon im März hatte der „willige Koalitionspartner“ Deutschland versprochen, 1.500 Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln aufzunehmen. Es handelte sich dabei um Kinder von Angehörigen, die sich schon in der BRD aufhielten. Das vom Bundestag beschlossene Kontingent zur Familienzusammenführung von 1.000 Menschen pro Monat war noch gar nicht ausgeschöpft worden. Nach der Brandkatastrophe wiesen NGOs wie Seebrücke, Sea-Watch u. a. darauf hin, dass etliche deutsche Städte und Bundesländer sich längst zur Aufnahme Geflüchteter bereiterklärt hatten. Doch Seehofer blockierte, stand anfänglich nur 150 Aufzunehmende zu, bis es dann nicht zuletzt auf Druck durch zahlreiche Demonstrationen doch 1.500 werden sollten. Die griechische Regierung teilte dazu mit, dass eine Chance auf Ausreise nur jene erhielten, deren Asylverfahren positiv beschieden wurde – so auch die 408 Flüchtlingsfamilien, die nun von der BRD aufgenommen werden sollen.

Der Bundesinnenminister hatte noch im September die Landesaufnahmeprogramme von Berlin und Thüringen gestoppt, weil sie die Verteilungsverhandlungen in der EU gefährdeten. Wer wie die Grünen, die Linkspartei und einige SPD-PolitikerInnen fordere, auf die Bereitschaft vieler Kommunen zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu setzen, müsse auch nach Italien, Malta, Spanien und auf den Balkan schauen, wo es viele Asylsuchende gebe.

Abseits von humanitärem Geschwafel verfolgt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft (ab 1. Juli 2020) die bekannte Linie. Am 7. Juli beriet das Innen- und Justizministertreffen über Verzahnung und Datenaustausch zwischen nationalen Polizeibehörden und die Stärkung von Europol. Die „VerweigerInnen“, die sich einem im letzten September auf Malta ausgehandelten Verteilungsmechanismus für aus Seenot gerettete Flüchtende entziehen, wurden sanft ermahnt. Das Anfang 2020 in Kraft getretene griechische Asylrecht, das auf Abschreckung und Abschiebung setzt, den Zugang zum Asylverfahren erschwert und Antrags- wie Entscheidungsfristen verkürzt, wurde nicht kritisiert.

Trotz aller Dissonanzen halten „Willige“ wie „VerweigerInnen“ am gemeinsamen Ziel fest, das europäische Asylsystem tiefgreifend zu verschärfen. Das humanitäre Gehabe einiger „Williger“ dient nur dessen Flexibilität und Stabilisierung. Die Blockade der HardlinerInnen ist ein willkommener Vorwand, die menschenfreundliche Fassade der „Gutmenschen“ aufzupolieren und gleichzeitig die Zugeständnisse minimal zu halten.

Forderungen

  • Weg mit dem Dublin-System!
  • Weg mit Frontex!
  • Ungehinderte staatliche und zivile Seenotrettung!
  • Freie Einreise für Geflüchtete in jedes Land ihrer Wahl!
  • Für offene Grenzen! Für volle demokratische und staatsbürgerliche Rechte aller, die im Land leben wollen!
  • Verknüpft den Kampf gegen die Festung Europa mit dem gegen die Krise!
  • Schafft eine antirassistische ArbeiterInneneinheitsfront und antirassistische Selbstverteidigung gegen rechte Angriffe!



Staatlicher Rassismus hat Moria niedergebrannt

Robert Teller, Infomail 1117, 11. September 2020

Das Camp Moria ist abgebrannt. Die Brandherde breiteten sich in der Nacht auf den 9. September laut Berichten an verschiedenen Stellen des Camps aus. Dass es angesichts der miserablen Unterbringung keine Todesfälle gab, scheint wie ein Wunder. Die meisten der 12.700 BewohnerInnen lebten hinter Stacheldraht auf engem Raum in dem Lager, das nur für weniger als ein Viertel der Personen ausgelegt ist. Wer oder was auch immer das Feuer am 9. September ausgelöst hat: wir wissen, dass es dort schon seit Jahren brennt, und schuldig daran ist die Abschottungspolitik der europäischen Regierungen. Sie haben erst dafür gesorgt, dass es Lager gibt für Menschen, deren einziger „Fehler“ darin besteht, dass sie in Europa ankommen und leben wollen. Die Zustände in den „Hotspot“-Lagern auf den griechischen Inseln, wo Menschen seit Jahren unter hoffnungslosen und unwürdigen Bedingungen leben müssen, zeigen deutlich, was „Grenzsicherung“ in der Praxis bedeutet.

Hilfsorganisationen, die in der Nacht zum Camp gelangen wollten, wurden daran von der Polizei gehindert, die ihrerseits nichts dafür tat, die Lage zu entschärfen: Tausende BewohnerInnen flüchteten aus dem Camp, wurden aber bald von staatlichen Sicherheitskräften und teils auch von AnwohnerInnen aufgehalten. Am Mittwochabend brachen erneut Brände aus. Die Polizei setzte nun Tränengas gegen die Flüchtenden auf der Straße in Richtung der Stadt Mytilini ein. Die BewohnerInnen des Camps schlafen am Straßenrand oder in den Olivenhainen. Über die Insel wurde ein 4-monatiger Ausnahmezustand verhängt. Zunächst wurde angekündigt, dass in den unversehrt gebliebenen Teilen des Lagers weiterhin Menschen untergebracht werden könnten. Nun soll nach dem Willen der griechischen Regierung ein neues Camp auf der Insel für die obdachlos gewordenen BewohnerInnen errichtet werden.

Situation in Moria

Niemanden, der von den menschenunwürdigen Zuständen weiß, kann die Katastrophe überraschen. Moria ist heute ein Gefangenenlager, das in dieser Form auf den EU-Türkei-Deal von 2016 zurückgeht. Es wurde ursprünglich für 2.800 Menschen gebaut. Im regulären Camp lebten zuletzt 12.800. Wenn man den „Dschungel“ außerhalb des Zauns einschließt, sind es geschätzt 20.000.

Das Camp stand bereits seit März faktisch unter Quarantäne und konnte nur mit Genehmigung verlassen werden. Abgesehen von dieser schikanösen Maßnahme gab es keinen Infektionsschutz, keine angemessene medizinische Versorgung und keine Labortests, dafür regelmäßiges Gedränge beim Warten auf Essen, Toiletten oder Duschen. Anfang September wurden im Lager die ersten 35 Covid-19-Fälle entdeckt. Anstatt sofort zu evakuieren, um die weitere Ausbreitung zu stoppen, wurde das Lager vollständig abgeriegelt. Nicht einmal Personen aus Risikogruppen wurde eine sichere Unterbringung außerhalb des Geländes gewährt. Stattdessen wird die Pandemie als Rechtfertigung für weitere Angriffe auf Geflüchtete benutzt, wie die rechtswidrige Aussetzung der Annahme von Asylanträgen durch die griechische Regierung im März.

Grundlage für das Lagersystem auf den griechischen Inseln ist der EU-Türkei-Deal von 2016, wo vereinbart wurde, dass Flüchtlinge, die sich auf den Inseln aufhalten und deren Asylantrag abgelehnt wurde, in die Türkei abgeschoben werden können. Hierfür wurden die „Hotspot“-Zentren eingerichtet. Hier gilt für die InsassInnen Residenzpflicht bis zu einer Entscheidung, ob sie Anrecht auf ein Asylverfahren haben. Rechtsstaatliche Prozeduren wurden mit der Einführung von Schnellverfahren untergraben. 2019 wurden sie auf die Hälfte aller Neuankömmlinge angewandt. Dennoch wurden die Hotspots nicht wie ursprünglich beabsichtigt zu Abschiebedrehscheiben, sondern faktisch zu Gefangenenlagern, in denen Tausende unter provisorischen Bedingungen teils Jahre ausharren müssen. Sie bilden damit den zweiten Grenzwall der Europäischen Union. Moria ist die zynische Botschaft an alle Geflüchteten, dass sie an der EU-Außengrenze ihre Hoffnung auf Schutz und Sicherheit begraben müssen. Ein neues Asylrecht, das seit Anfang 2020 in Griechenland in Kraft ist, hat die Situation nochmals verschärft. Das Instrument der Administrativhaft wurde ausgeweitet, Schnellverfahren wurden zum Regelfall und die Auskunfts- und Einspruchsrechte der Betroffenen im Asylverfahren weiter beschnitten.

All das ist gemeint, wenn gesagt wird, dass den Geflüchteten keine „falschen Anreize“ gesetzt werden sollen. Es bedeutet, dass die Grenzen, die Lager und das Asylverfahren noch abschreckender sein müssen als die Umstände, unter denen Menschen flüchten. Damit das so bleibt, darf es „keine nationalen Alleingänge“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen geben. Abgesehen von der Diskussion über symbolische Maßnahmen wie der Verteilung von einigen hundert Minderjährigen sind sich die Regierungen und die EU-Kommission daher auch einig, dass niemand irgendetwas tun darf, um die unmenschlichen Zustände an den Außengrenzen zu entschärfen. Wortführer der Koalition der Unwilligen ist Bundesinnenminister Horst Seehofer. Für einige hunderte Menschen stellt er zwar gerne Unterbringung in Deutschland in Aussicht – freilich nur, wenn die EU und ihre Mitgliedsstaaten gemeinsam mitziehen. Und auf die rassistischen HardlinerInnen in Ungarn, Polen oder in Österreich kann sich Horst Seehofer verlassen und auch noch eine humanitäre Miene zum bösen Spiel machen. Faktisch blockieren er und die Bundesregierung damit sogar jene Soforthilfe und damit die Aufnahme einiger hundert Flüchtlinge, die eine Reihe von Städten in Aussicht gestellt hat.

Während Seehofer den verhinderten Möchtegernhelfer spielt, geben Rechtskonservative wie der österreichische Kanzler Kurz und RechtspopulistInnen die rassistischen EinpeitscherInnen. Sie hetzen gegen angeblich „kriminelle“ BrandstifterInnen, die mit der Aufnahme von Geflüchteten ins Land kämen, schüren Hass gegen MigrantInnen und Geflüchtete.

Dabei wird in der aktuellen Diskussion die Situation auf den Fluchtrouten nach Europa, die ebenfalls eine einkalkulierte Katastrophe für die Betroffenen darstellt, noch nicht einmal erwähnt. In der Türkei werden Flüchtlinge, die von Griechenland illegal und ohne Verfahren über den Grenzfluss Evros abgeschoben wurden, in Gefängnissen inhaftiert. Im Mittelmeer haben die Regierungen mit der Kriminalisierung der Hilfsorganisationen und der Festsetzung ihrer Schiffe dafür gesorgt, dass die zivile Seenotrettung mittlerweile fast unmöglich und die Überfahrt gefährlicher als je zuvor geworden ist. In Libyen vegetieren Tausende, die von der Küstenwache aufgegriffen wurden, in Internierungslagern. Um dabei „behilflich“ zu sein, gibt es die EUNAVFORMED-Unterstützungs- und Ausbildungsmission „Operation Sophia“ (EUNAVFORMED: europäische Marinestreitmacht Mittelmeer).

Schließt die Lager!

Wir dürfen nicht die Behörden, die für das europäische Grenzregime zuständig sind, darüber entscheiden lassen, wer Anrecht auf Asyl hat und wer nicht. Wird dürfen nicht zulassen, dass neue, etwas „humanere“ Lager gebaut werden, die der Festung Europa einen notdürftigen moralischen Anstrich geben. Stattdessen müssen wir das rassistische System bekämpfen, das MigrantInnen nach Nationalität und Fluchtgründen selektiert, um ihnen schließlich das Bleiberecht abzusprechen.

  • Es kann keine andere Lösung geben als die sofortige Schließung der Lager. Nicht nur Minderjährige und „Gefährdete“ – alle Geflüchteten müssen sofort die Inseln verlassen dürfen und in Wohnungen an einem Ort ihrer Wahl untergebracht werden!
  • Für kostenlose medizinische Versorgung und jederzeit freiwillige Labortests, gegen rassistische Schikanen wie anlasslose und kontraproduktive Quarantäne!
  • Zugang zu Bildung, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu gleichen Bedingungen wie Einheimische!
  • Die europäischen Binnen- und Außengrenzen müssen bedingungslos für alle Geflüchteten geöffnet werden. Keine „Verteilung“ der Menschen, sondern Bewegungsfreiheit und StaatsbürgerInnenrechte für alle, Abschaffung der Dublin-Regeln!
  • Im Angesicht der Katastrophe in Moria gibt es in diesen Tagen bundesweit Aktionen von Seebrücke und anderen Gruppen. Beteiligt euch an den Kundgebungen!
  • Die Gewerkschaften, alle Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung müssen in Deutschland und europaweit den Kampf um das Bleiberecht für alle, für gleiche Arbeitsbedingungen und soziale und politische Rechte für Geflüchtete in allen europäischen Ländern unterstützen!



Die EU – das nächste Corona-Opfer?

Markus Lehner, Neue Internationale 246, Mai 2020

Seit Beginn der Corona-Krise schien es so, als seien die EU-Regularien nur noch Schall und Rauch: Grenzschließungen, Verschuldung für Rettungspakete, Unternehmensstützungen, Beschaffung von medizinischen Gütern und Schutzkleidung etc. – alles wurde rein nach Gutdünken der einzelnen Staaten durchgeführt, ohne die EU-Institutionen auch nur zu fragen, und oft in Konkurrenz zueinander. Dies trifft allerdings nicht zu auf eine Einrichtung mit Adresse in Frankfurt: die Europäische Zentralbank (EZB).

Widersprüche und Gemeinsamkeiten

Als im März neben dem Zusammenbruch der Gesundheitssysteme auch der allgemeine Finanzcrash drohte, griff die EZB in Kooperation mit der US-Zentralbank durch Billionen schwere Stützungskäufe von Staats- und Unternehmensanleihen sofort ein. Schneller noch als in der Euro-Krise von 2010-12 verhinderte die EZB so die Ausweitung der Krise zu einem Währungs- und Finanzdesaster im Euroraum. Was immer die politischen Maßnahmen derzeit an Auseinanderdriften in Europa anzeigen – die gemeinsame Währungspolitik (auch die Nicht-Euro-Länder der EU sind praktisch an die EZB gefesselt) und ihre Wirkungsweise in der Krise weisen auf das Weiterbestehen des Zwangs zum Zusammenwirken hin.

Diese Widersprüchlichkeit kommt nicht zuletzt in dem immer heftiger werdenden Gerangel um die Bewältigung der kommenden Wirtschaftskrise im EU-Raum zum Ausdruck. Allein in der Euro-Zone wird dieses Jahr mit einem Einbruch von über 10 % des BIP gegenüber dem Vorjahr gerechnet. So unterschiedlich die Länder auch betroffen sind – man denke nur an die katastrophale Lage in Spanien und Italien mit monatelangem Lockdown -, so sehr trifft der wirtschaftliche Einbruch alle EU-Staaten. Was Absatzmärkte, Produktionsketten, Dienstleistungen, Investitionsbewegungen betrifft, sind auch die großen „nordischen“ Kapitale stark von einem Wiederanlaufen aller EU-Ökonomien abhängig.

Italien gehört neben Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Schweden zu den Ländern mit den größten Vermögen und Kapitalen in der EU. Insbesondere Norditalien ist Endpunkt vieler Produktionsketten und Sitz großer Dienstleistungs- und Bankenkonzerne. Letzteres gilt auch für Spanien. Beide Länder wiesen schon vor der Krise enorme Verschuldungsprobleme auf. Italien allein sitzt auf einem Schuldenberg von 2,5 Billionen Euro mit einer 135 %-Staatsverschuldungsquote gemessen am BIP. Auch Spanien steht mit 97 % am oberen Ende der Verschuldung. Das Stocken der Produktion in den Zentren und das Ausbleiben von Geldflüssen von ArbeitsmigrantInnen trifft aber auch die osteuropäischen EU-Ökonomien schwer, wie auch viele andere Länder den enormen Rückgang des Tourismus (wahrscheinlich für das ganze Jahr) fühlen werden (z. B. Griechenland). Während alle diese Länder gerade ihre Corona-Sonderpolitik betreiben, rufen sie gleichzeitig nach den ökonomischen Rettungsringen der EU. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Nationalstaaten, internationale Kooperation und Imperialismus

Friedrich Engels bemerkte in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (MEW 19, S. 189-228), dass die Widersprüche von vergesellschaftender Tendenz und privater Aneignung (die sich auch in einer immer stärker werdenden Konzentration und Internationalisierung der Kapitale ausdrücken) speziell in Krisenzeiten dem kapitalistischen Staat eine spezielle Rolle zuteilen: „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten“ (MEW 19, S. 222) und agiert so als „ideeller Gesamtkapitalist“.

Längst ist das Kapital der ursprünglichen Form dieses ideellen Gesamtkapitalisten, der Form des Nationalstaates, entwachsen. Gleichzeitig hat es sich aufgrund der ungleichen ökonomischen Entwicklung als unmöglich erwiesen, über die Nationalstaaten hinausgehende staatliche Vereinigungen hervorzubringen, die über Teilaspekte und -kompromisse hinausgehen. In der Ära des Monopol- und Finanzkapitals ist die einzige übernationale Form der Regelung der gemeinsamen weltweiten „allgemeinen äußeren Bedingungen“ der Imperialismus: die weltweite Dominanz einiger großer Kapital- und Militärmächte, die mal mehr miteinander kooperieren, mal mehr gegeneinander konkurrieren.

In der Globalisierungsperiode ist die Konkurrenz zwischen den großen Kapitalen um Marktanteile und politische Kontrolle über wichtige Regionen enorm angestiegen – nicht zuletzt aufgrund des Auftretens neuer Mächte wie China und Russland, aber auch durch die Risse in der US-Hegemonie. Das EU-Projekt ist gerade in dieser Situation als Bündnis großer europäischer Kapitalinteressen entstanden, die ansonsten in der Weltmarkt- und Weltmachtkonkurrenz unterzugehen drohten. Die EU-Verträge dienten der Schaffung eines geschützten Wirtschaftsraumes, der einheitliche Handels- und Investitionsbedingungen, insbesondere für die großen Kapitale schaffen sollte. Insofern ist die EU ein Bündnis imperialistischer Staaten, das auch seine eigene halbkoloniale Peripherie teilweise mit einbezieht. Mit den „Freizügigkeitsregelungen“ und der gemeinsamen Währungspolitik wurden dabei inzwischen tatsächlich die Profitabilitätsbedingungen stark angeglichen. Die Verflechtungen der Märkte für Waren und Dienstleistungen wie auch der Produktionsprozesse sind daher so weit gediehen, dass selbst Britannien mit all seinen Sonderwegen mit dem Brexit enorme Probleme mit der Entflechtung hat.

Zerstrittenheit über die Krisenlasten

Andererseits gehört zum EU-Kompromiss, dass die wichtigen Einzelstaaten auf einer Eigenständigkeit in wichtigen Politikfeldern bestanden: nicht nur in der Sicherheits-, sondern auch in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Nicht nur in internationalen Konflikten oder in der Migrationsfrage ist die EU daher zutiefst handlungsunfähig und zerstritten. Insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten bricht der Widerspruch von gemeinsamem Wirtschafts- und Währungsraum auf der einen Seite und der Frage von Haushaltspolitik und Schuldenmanagement auf der anderen Seite mit großer Schärfe aus. Schon in der letzten Euro-Krise mussten sich hochverschuldete Euro-Länder zu immer schlechteren Zinsen und Kreditbedingungen refinanzieren, während die „Nordländer“ das Geld auf den Kapitalmärkten quasi nachgeschmissen bekamen. Schon damals wurde der Vorschlag gemeinsamer europäischer Anleihen als Ausgleichsmechanismus dafür abgelehnt.

Die FinanzministerInnen Deutschlands, der Niederlande und anderer „Sparländer“ gerierten sich als KämpferInnen gegen eine „Transferunion“, in der angeblich „reformunwillige“ Südländer (insbesondere Griechenland) von den Ländern mit „ordentlicher Finanzpolitik“ ausgehalten würden. Wie heute auch waren aber die Südländer nicht selbstverschuldet in die Krise geraten. Die Finanzmarktderegulierungen (auch der EU) hatten ihnen in der Finanzkrise eine Bankenkrise beschert, an der auch die großen „Nord“-Kapitale stark beteiligt waren. Die schließlich beschlossenen „Rettungspakete“ waren dann eine Transformation dieser Bankenkrise in eine Staatsschuldenkrise, an der diese Länder bis heute leiden. Denn der Hauptmechanismus, der ESM („Europäischer Stabilisierungsmechanismus“) verband die Refinanzierung dieser Schulden mit enormen Auflagen, was Einsparungen, Steuerpolitik, „Rentenreformen“ und Ausverkauf von bisher geschützten Bereichen betraf.

Es ist daher kein Wunder, dass mit der jetzigen schweren Krise der Streit um Euroanleihen, umbenannt in „Coronabonds“, neu ausgebrochen ist. Unter Führung von Frankreich wurde diesmal der Konflikt mit den Sparmeisterländern mit harten Bandagen geführt. Immerhin geht es nicht nur um einen ökonomischen Konflikt. Inzwischen sitzen den meisten Regierungen euroskeptische PopulistInnen im Nacken, die jede Gelegenheit von „Diktaten aus Brüssel“ dazu nutzen, ihre Art von Pseudo-Opposition zu betreiben. Insbesondere in Italien war Salvini, als er noch in der Regierung war, ein Meister darin, sich als Anti-Brüssel-Held zu inszenieren – womit er mit dem Gewicht der italienischen Ökonomie weitaus mehr Aussichten hatte als die Tsipras-Regierung mit Griechenland zuvor. Die jetzige Regierung Conte steht angesichts der Schwere der Krise und der harschen Reaktion der Nordländer nun unter dem Druck einer starken EU-Ablehnung in der Bevölkerung, die Salvini wieder an die Regierung bringen könnte. Macron und die französische Bourgeoisie brauchen nach dem Brexit Länder wie Italien und Spanien unbedingt als Gegengewicht zur deutschen Vorherrschaft – und streben sowieso eine weitergehende Fiskalunion an.

Auch die wackelige niederländische Regierung unter dem „liberalen“ Premier Rutte steht unter starkem Druck der eurokritischen RechtspopulistInnen vor den Wahlen nächstes Jahr. Als Führungskraft der „Hansegruppe“ (nordeuropäische Länder, die sich als „liberale“ MusterschülerInnen sehen) fiel es daher Anfang April dem niederländischen Finanzminister Hoekstra zu, den Gegenspieler zu Macron/Conte/Sánchez zu spielen. Nach der Telefonkonferenz vom 9. April, auf der Hoekstra 36 Stunden lang jegliche Form von Eurobonds ablehnte, verkündeten einige EU-PolitikerInnen schon das mögliche Ende der EU. Portugals Ministerpräsident erwog sogar den Ausschluss der Niederlande aus der Euro-Gruppe.

Zwei Lager vor dem Hintergrund einer neuen Euro-Krise

Dabei waren die realen Positionen scheinbar gar nicht so weit auseinander. Die Notfallfonds der Europäischen Investitionsbank (EIB) für angeschlagene Unternehmen von 200 Milliarden und der EU-Kommission von 100 Milliarden für KurzarbeiterInnengeld („Sure“) waren unumstritten. Es ging letztlich darum, dass sich alle Staaten bis zu 2 % ihres BIP für ihre unmittelbaren Finanznöte in der Corona-Krise über den ESM ausleihen können sollten. Hoekstra wollte dem nur zustimmen, wenn damit auch die altbekannten Auflagen des ESM, was „Reformpolitik“ betrifft, unterschrieben würden – also die Haushaltspolitik der betroffenen Länder praktisch unter Kontrolle der EU-SparkommissarInnen gestellt würde.

Angesichts der Situation in Italien konnte dies nur als ungeheure Provokation aufgefasst werden, die den Gipfel insgesamt zum Platzen brachte. Dies führte die EU damit tatsächlich an den Rand einer schweren Krise. Für was wäre sie noch zu gebrauchen, wenn sie nicht eines ihrer zentralen Mitglieder vor dem finanziellen und politischen Kollaps bewahren kann, andererseits aber das rechts-autoritäre Orbán-Regime problemlos weiterfinanziert wird, weil es sich an die finanzpolitischen Regeln hält?

Damit kam es am 23. April zu einer weiteren „Entscheidungsschlacht“ per Videoschaltung. Als typischer weiterer EU-Kompromiss erschien nunmehr eine Art europäischer Marshallplan, ein Corona-Wiederaufbauprogramm finanziert aus dem EU-Haushalt. Da es sich dabei um ein Programm in der Größenordnung von 1 bis 1,5 Billionen Euro handelt, ist das natürlich nichts, was direkt aus dem Haushalt finanziert, – sondern nur über Kapitalaufnahme auf „den Märkten“ aufgebracht werden kann. Natürlich handelt es sich daher (wie schon bei den Maßnahmen der EZB) eigentlich wieder um eine Form der Gemeinschaftsschulden, nur, dass anders als bei den Eurobonds nicht die Einzelstaaten, sondern die EU als Ganzes in die Haftung ginge. Ironischerweise würde so die EU tatsächlich ein großer Player auf dem Gebiet der Fiskalpolitik werden (bisher ist die Agrarpolitik der größte Haushaltsbereich).

Damit ist klar, dass der alte Konflikt in neuer Form auftreten musste: um die Bedingungen des Zugangs zum Wiederaufbaufonds. Angesichts der schon vor der Krise verzweifelten Schuldenlage verlangt die Macron/Conte/Sánchez-Front, dass die Mittel als Zuwendungen („Investitionen“) fließen, während Hoekstra/Scholz darauf bestehen, dass es um Kredite (also weitere Verschuldung) geht. Auch diesbezüglich waren die Fronten so verhärtet, dass es weiterhin keine Einigung gibt. Nunmehr soll die EU-Kommission einen Kompromiss mit einem Mix aus Investitionen und Krediten finden.

Schreckgespenst EU-Kapitalismus …

Die Lösung der Zwickmühle zwischen Verschuldung, Rettung von Betrieben und langfristiger Neuausrichtung von Industrien ist natürlich schwer, wenn man von der „Unantastbarkeit“ des Privateigentums ausgeht – dieses also nur durch den Bankrott enteignet. Für SozialistInnen ist die Antwort einfacher: Streichung aller Schulden, EU-weite Verstaatlichung maroder Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle und Entwicklung eines Planes zur sozial und ökologisch gerechten Umgestaltung der europäischen Industrien.

Angesichts der Dimension der zu erwartenden Krise ist diese Verschärfung der Widersprüche in der EU eine Vorbereitung auf Heftigeres. Einerseits wirken die ökonomischen Zwänge zum Erhalt der Wirtschafts- und Währungsunion weiterhin dahin, dass das EU-Schiff durch immer neue Kompromisse auf stürmischer See zusammengeflickt wird. Dabei kann die EU während der Krise sogar zu weiteren Schritten Richtung Fiskalunion stolpern. Genauso möglich ist aber auch, dass sich der politische Streit und der weitere Aufstieg des Anti-EU-Populismus zu einer Zerfallskrise der EU aufschaukeln.

Für SozialistInnen ist klar, dass die EU insgesamt ein imperialistisches Projekt vor allem im Interesse der großen EU-Kapitale ist. Auch die jetzigen „Rettungspakete“ werden aus den Kapitalzuflüssen nicht zuletzt auch aufgrund der Weltmarktstellung der EU und des Euro finanziert. Leidtragende gerade in Krisenzeiten sind damit vor allem halbkoloniale Regionen – und denjenigen, die dann logischerweise aufgrund der angerichteten Situation zur Flucht gezwungen sind, wird dann auch noch das „demokratische“ EU-Grenzregime der „Festung Europa“ entgegengehalten. Diese EU verteidigen wir in keiner Weise – sie muss überwunden werden!

Andererseits ist die Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit ein Rückschritt und keine Alternative. Die erreichte Europäisierung der Produktivkraftentwicklung, die übernationalen Verbindungen auf vielen Ebenen, die kulturellen Vereinigungstendenzen – all das sind auch tatsächliche Fortschritte, die nicht auf dem Altar von Nationalismus, Protektionismus und wahrscheinlich auch neuem Militarismus geopfert werden sollten. Daher muss die kriselnde EU nicht durch ein Weniger, sondern durch ein Mehr an Europa ersetzt werden – etwas wozu die europäischen Bourgeoisien mit ihrer kleinlichen Krämerpolitik nicht in der Lage sind.

… oder Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa?

Trotzki fasste dies schon nach dem Ersten Weltkrieg so zusammen: „Eine mehr oder weniger vollständige wirtschaftliche Vereinigung Europas von oben durch eine Übereinkunft der kapitalistischen Regierungen ist eine Utopie. Weiter als zu Teilkompromissen und zu halben Maßnahmen kann auf diesem Wege die Sache niemals gedeihen. Umso mehr wird eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für die Produzenten als auch die Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt von großem Vorteil wäre, zu einer revolutionären Aufgabe des europäischen Proletariats in seinem Kampf gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Werkzeug, den Militarismus“ (Trotzki, Friedensprogramm). Die Vereinigten Staaten von Europa werden also erst als ein sozialistisches Projekt Wirklichkeit werden!




Nieder mit der Festung Europa – öffnet die Grenzen jetzt!

Martin Suchanek, Infomail 1092, 3. März 2020

In Syrien droht der Konflikt zwischen dem Assad-Regime und
Russland einerseits, der Türkei und ihren Verbündeten anderseits weiter zu
eskalieren – selbst eine militärische Konfrontation zwischen NATO und Russland
scheint möglich.

Doch selbst wenn diese Zuspitzung vermieden werden sollte, haben die bewusste Vertreibung Hunderttausender durch das syrische Regime und der Kampf um die Neuaufteilung des Landes zwischen imperialistischen Mächten wie Russland und den USA sowie ihren regionalen Verbündeten oder KontrahentInnen wie dem Iran oder der Türkei Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht gezwungen.

Wie schon Millionen vor ihnen bleibt ihnen nur der Weg in
die Türkei; und wie Millionen vor ihnen hoffen sie, es doch irgendwie in die EU
zu schaffen. Die Öffnung der Grenzen durch Erdogan – sicherlich einzig dadurch
motiviert, von seinen europäischen „ParternInnen“ finanzielle, politische und
ggf. auch militärische Unterstützung zu erhalten – wirkt für Hunderttausende
vertriebener, verarmter, entrechteter und traumatisierter Menschen wie ein
unerwarteter Hoffnungsschimmer, als letzter Strohhalm in größter Not.

Jeder vernünftige Mensch kann dies nur zu gut nachvollziehen. Eigentlich wären die unmittelbaren Maßnahmen zur Linderung der humanitären Katastrophe, zur Verbesserung des Schicksals Millionen Geflüchteter ganz einfach umzusetzen. Die EU, dieser selbsternannte Hort der Humanität und Menschenrechte, müsste nur die Grenzen für die Geflüchteten öffnen – nicht nur in Griechenland und Bulgarien, sondern auch deren Weiterreise in jenes Land der EU ermöglichen, in das die Geflüchteten wollen.

Vom Rechtsruck zur Barbarei

Doch während die öffentliche Meinung in den meisten EU-Staaten 2015 noch nicht bereit war, Menschen in großer Zahl sehenden Auges im Mittelmeer ertrinken oder durch Schießmanöver abschrecken zu lassen, so lautet 2020 das Credo aller Regierungen, dass sich genau das Durchbrechen der Festung Europa nicht wiederholen dürfe.

Griechenland und Bulgarien sollen mehr Unterstützung erfahren – nicht durch die Aufnahme von Flüchtlingen, die auf Inseln wie Lesbos eingepfercht werden –, sondern um sie zu stoppen und abzuschrecken. Die Zusammenstöße zwischen Geflüchteten und BewohnerInnen griechischer Inseln wurden schon vor der Aufkündigung des Türkei-EU-Flüchtlingsdeals durch Erdogan von der griechischen Regierung sowie rechten, rassistischen wie faschistischen, Kräften befeuert, um noch brutalere Abschiebungen und die gewaltsame Abschreckung syrischer Flüchtlinge zu legitimieren. Auf Lesbos wurde am 1. März ein ehemaliges UN-Begrüßungszentrum für Geflüchtete angezündet. RassistInnen versuchten, einen Polizeibus mit MigrantInnen auf dem Weg nach Moria mit Ketten und Steinen zu stoppen.

Vor allem aber erreicht die rassistische, offizielle Politik
jetzt eine neue Eskalationsstufe – mit Unterstützung aller EU-Staaten.
Rechts-populistische oder konservative Regierungen wie jene Österreichs
verkünden schon, dass sie vorsorglich SoldatInnen an den eigenen Landesgrenzen
stationieren werden, um jene Geflüchteten, die es vielleicht doch über den
Balkan nach Mitteleuropa schaffen sollten, zu stoppen.

Bulgarien und Griechenland haben in den letzten Tagen tausende zusätzliche PolizistInnen, GrenzschützerInnen und SoldatInnen an die Landgrenzen zur Türkei verlegt, um die Flüchtlinge mit Tränengas und schwer bewaffneten Patrouillen zu stoppen. Griechenland hat das Asylrecht ausgesetzt.

In der Ägäis ziehen die griechische Marine und das Heer weiter Kräfte zusammen. Auf einigen Inseln soll die Armee auf Befehl ihres Oberkommandos Schießübungen durchführen – und die EU schickt Verstärkung durch Frontex. Gegen die Geflüchteten wird regelrecht Krieg geführt.

Der Rechtsruck in Europa wird selten deutlicher als angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien und der Türkei. Erdogan wird ausgerechnet dafür gescholten, dass er sich an den menschenverachtenden Deal zur „Entsorgung“ der syrischen Flüchtlinge nicht mehr halten will. Er erpresse sie – das sei „schäbig“. Darunter verstehen die RepräsentantInnen der EU, dass der türkische Regierungschef nicht mehr bereit ist, sie gegen Milliarden Euro eines Problems zu entledigen. Daher soll neben Grenzsicherung und Abschreckung eine Neuverhandlung das Abkommen mit der Türkei retten, vorzugsweise indem sie etwas mehr Geld erhält, damit das Land wieder als Endstation für Bürgerkriegsflüchtlinge fungiert.

Die europäischen PolitikerInnen von rechts bis zu Grünen und „linken“ ReformistInnen brüsten sich gern ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber Erdogan. Ihr eigenes Verhalten, die barbarische Genzsicherung durch EU-Kommission und alle Landesregierungen straft freilich ihren eigenen „Humanismus“ Lügen, offenbart die ganze Heuchelei dieser DemokratInnen. An den Außengrenzen wird das Ertrinken der Geflüchteten zwecks Abschreckung billigend in Kauf genommen.

Der Rechtsruck in Europa kommt auch hier zum Ausdruck. Keine konservative, liberale, grüne oder sozialdemokratische Partei möchte sich vorwerfen lassen, „zu viel“ für die Geflüchteten tun zu wollen. Die wenigen Vorschläge einzelner Städte wie Berlin, einige tausende Menschen aufzunehmen, stellen das „höchste“ der Gefühle dar. Es sind wohl kalkulierte begrenzte humanitäre Gesten, Tropfen auf den heißen Stein, die solchen Stadtverwaltungen oder einzelnen PolitikerInnen erlauben, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Eine Öffnung der Grenzen für alle, „unkontrollierbare Zustände“, die Hunderttausende Geflüchtete angeblich mit sich bringen würden, wollen natürlich auch sie nicht. Die Masse der syrischen Flüchtlinge soll auch nach ihrem Kalkül in der Türkei verbleiben. Dort sind die Zustände zwar auch längst unhaltbar und katastrophal. Doch während die ökonomisch viel schwächere Türkei gerügt wird, sich nicht ausreichend um Millionen zu kümmern, will die EU möglichst jede/n abweisen, der/die nicht den Verwertungserfordernissen des europäischen Kapitals entspricht. Während Regelungen für die Beschäftigung von FacharbeiterInnen aus Drittstaaten von der EU kürzlich gelockert wurden, um keinen Arbeitskräftemangel zu erleiden, so sollen die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien dicht bleiben, ja unüberwindbar werden.

Offene Grenzen jetzt!

Die Linkspartei fordert immerhin die Aufkündigung des Deals mit Erdogan und lehnt die Entsendung weiterer Frontex-Truppen ab. Zur Forderung nach Öffnung der Grenzen kann sie sich freilich nicht entschließen. So fordert Cornelia Ernst, die migrationspolitische Sprecherin der Linkspartei im Europaparlament, „die Einrichtung sicherer Fluchtwege, beispielsweise durch die Gewährung humanitärer Visa an EU-Botschaften“ und das Bereitstellen von Kapazitäten, „damit diesen Menschen ein faires Asylverfahren garantiert werden kann.“ (https://www.dielinke-europa.eu/de/article/12632.t%C3%BCrkei-pakt-mit-erdo%C4%9Fan-muss-enden.html)

Und wo sollen die Menschen bleiben, bis sie ein Visum von
einer EU-Botschaft erhalten? Soll die Entscheidung darüber, wer kommen darf,
tatsächlich deutschen, italienischen oder anderen EU-BeamtInnen überlassen
werden? Sollen Hunderttausende, ja Millionen warten, bis die Kapazitäten für
ein „faires Asylverfahren“ von der EU bereitgestellt werden?

Allein diese Fragen verdeutlichen, wie ungenügend, ja
geradezu weltfremd und bürokratisch diese Vorschläge sind angesichts von
Hunderttausenden, die jetzt der Hölle von Idlib zu entfliehen versuchen, von
Millionen in der Türkei, die seit Jahren als menschliche Manövriermasse
verschoben werden, angesichts von Zehntausenden, die in entwürdigenden Lagern
in Griechenland ihr Leben fristen müssen.

Es gibt nur eine einzige humanitäre Lösung, die diesen Namen verdient – die Öffnung der Grenzen der EU, die Aufnahme der Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten ihrer Wahl, die Schaffung und das Zurverfügungstellen von Wohnraum, von kostenloser medizinischer und psychologischer Betreuung, von Ausbildung und Schulung sowie von Arbeitsplätzen, die zu tariflichen Löhnen bezahlt werden. Um zu verhindern, dass bürgerliche Regierungen und rechte DemagogInnen die Geflüchteten gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausspielen, geht es darum, Arbeit, Mindesteinkommen, soziale Leistungen wie Alterssicherung für alle zu erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen.

Aktionen und Mobilisierungen wie jene von antirassistischen Bewegungen, von Seebrücke und anderen AktivistInnen zeigen, dass es Kräfte gibt, die sich dem Rechtsruck und der Abschottung der Festung Europa entgegenstellen wollen. Die Linkspartei, die Gewerkschaften, alle Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, von MigrantInnen und der radikalen Linken müssen sich jetzt mit den Geflüchteten solidarisieren – gegen die Abschottung der EU, für offene Grenzen – sofort!




Von der Hardthöhe nach Brüssel – von der Leyen wird EU-Kommissionspräsidentin

Tobi Hansen, Infomail 1063, 24. Juli 2019

„Brüssel, das ist für mich wie ein nachhause Kommen,“
erklärte die neu gewählte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit
Blick auf ihre Geburt und ersten Schuljahre in Brüssel.

Nachdem alle SpitzenkandidatInnen der großen Parteiblöcke
bei den Europawahlen – allen voran Manfred Weber von der „Europäischen
Volkspartei“ (EVP) und Timmermans von der „Fraktion der Progressiven Allianz
der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament“ (S&D) – von einer Mehrheit der
europäischen RegierungschefInnen abgelehnt worden waren, zauberte der
französische Staatspräsident Macron die deutsche Verteidigungsministerin von
der Leyen als überraschende Kompromisskandidatin aus dem Hut.

Ihr Wahlergebnis zeigt deutlich auf, wie viel die
deutsch-französische Führung derzeit wert ist. Mit 383 Stimmen erzielte sie
gerade 9 mehr als die erforderliche Mehrheit. Sicherlich stellt das
EU-Parlament den unbedeutendsten Teil der EU-Institutionen dar, aber die knappe
Mehrheit für den Vorschlag des EU-Ministerrats, der versammelten
RegierungschefInnen verweist auf die unsicheren Machtverhältnisse.

Mit 383 Ja-Stimmen erhielt die EVP-Vertreterin 39 Stimmen
weniger als ihr Vorgänger Juncker 2014 (insg. 422). Unter anderem verweigerten
ihr 15 deutsche SPDlerInnen das Votum, während die meisten anderen Mitglieder
der S&D-Fraktion mit von der Leyen gingen.

Die EVP, die S&D und die „neuen“ Liberalen der Fraktion
„Renew Europe“ stützen in ihrer großen Mehrheit von der Leyen. Ebenfalls hat
die polnische Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość = Recht und
Gerechtigkeit) mit 25 Abgeordneten für die ehemalige deutsche
Verteidigungsministerin gestimmt, wohl in der Absicht, mehr Einfluss in der
Kommission zu erhalten, wie auch umgehrt mit Polen ein führender „Visegrád“-Staat
stärker eingebunden werden soll. Auch weitere Abgeordnete aus Osteuropa der EKR
(Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“) unterstützten von der Leyen.
Dies verdeutlicht einerseits den Willen der EVP, mit dem rechts-populistischen
Lager zu kooperieren und andererseits die Absicht, verloren gegangenen Einfluss
der tragenden Kräfte und Mächte der EU in Osteuropa durch dessen Einbindung
wiederzugewinnen.

So konnten auch die Grünen geschlossen mit „Nein“ stimmen
und sich als Opposition präsentieren, ohne zugleich eine permanente politische
Krise und Paralyse der EU zu riskieren. Die europäische Linkspartei stimmte
ebenfalls gegen von der Leyen. Von den NationalistInnen und RassistInnen der
neugegründeten rechten ENF (Europa der Nationen und der Freiheit) kamen
widersprüchliche Signale, wenn auch meist Ablehnung, obwohl ein Teil der italienischen
Lega wohl wegen des Votums des Ministerrates dafür stimmen musste. Die
VertreterInnen der 5-Sterne votierten ebenfalls für von der Leyen.

Wer ist von der Leyen?

Ganz Europa hat durch die plötzliche französische Vorliebe
für Ursula von der Leyen die Langzeitministerin der Kabinette Merkel richtig
kennengelernt. Die Kritik am vormaligen EVP- Spitzenkandidaten Weber zielte
vordergründig auf seine fehlende Regierungspraxis. Diesbezüglich konnte von der
Leyen punkten. Von 2003 bis 2005 war sie in Niedersachsen erstmals
Ministerin  für Soziales, Frauen,
Familie und Gesundheit. 2005 wechselte sie in die Bundesregierung, zunächst als
Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, von 2009 bis 2013 für
Arbeit und Soziales und ab 2013 wurde sie zur ersten weiblichen
Verteidigungsministerin. Sie ist damit die einzige Ministerin unter Merkel, die
in allen Kabinetten vertreten war. Seit 2010 ist sie außerdem stellvertretende
Parteivorsitzende der CDU.

Bei der Bundestagswahl 2013 war sie eine der
HauptorganisatorInnen des Wahlkampfes der Union. Nach dem stärksten Ergebnis
der Merkel-Ära von 41,7 % galt sie als potentielle Nachfolgerin der
Kanzlerin und deren Hauptstütze in Union und Kabinett. Diese Rolle wurde ihr
nach der Wahlniederlage 2017 zum Verhängnis. Als stellvertretende Vorsitzende
wurde sie abgestraft (54,5 % 2018) und als Merkel-NachfolgekandidatInnen
brachten sich Kramp-Karrenbauer, Spahn und Merz in Position.

Politisch vertrat sie konsequent den Merkel-Kurs. Innerhalb
der Union stand sie teilweise im „sozialpolitischen“ Lager, stramm auf Linie
und Stabilität der Regierung bedacht. Angesichts der konservativen
CDU-Verhältnisse galt sie wegen ihres Bekenntnisses zum Ausbau öffentlicher
Kinderbetreuung als Ministerin, der Zustimmung zur „Ehe für alle“ (also auch
homosexueller Menschen) als zum „liberalen“ Flügel der Union gehörig –
zweifellos eine problematische Einschätzung der „modernen“ Konservativen, die
eigentlich eine entschiedene Verfechterin der Familie als „Keimzelle“ der
Gesellschaft ist. Anders als extrem bornierte und reaktionäre Konservative geht
sie jedoch davon aus, dass Institutionen wie die Familie nur zu retten wären,
wenn sie auch auf nicht-heterosexuelle Paare ausgedehnt würden.

Diese Rolle der treuen administrativen Vollstreckerin bei
gleichzeitiger „konservativer Modernisierung“ wird in Brüssel gebraucht. Dies
versucht von der Leyen tatsächlich zu leisten. Insofern scheint sie durchaus für
die schwierige Aufgabe geeignet, den Block Deutschlands und Frankreichs
zusammenzuhalten.

Dieser soll durch weitere Personalentscheidungen wieder
befestigt werden. Frankreich erhält den Vorsitz der EZB in Gestalt von Lagarde.
So einfach scheint der Kuhhandel der EU-Bürokratie zu laufen. Die Unterstützung
durch die PiS wird ebenfalls belohnt in Form einer klaren strategischen
Ausrichtung der möglichen Kommissionsagenda. Von der Leyen galt als „Atlantikerin“,
also an einem engen Bündnis mit dem US-Imperialismus orientiert. Als
Verteidigungsministerin vertrat sie auch gegenüber Russland die NATO-Agenda.

In ihrer Antrittsrede legte sie außerdem einen Schwerpunkt
auf die Klimapolitik. Dies lässt möglicherweise die Integration der Fraktion „Die
Grünen/Europäische Freie Allianz“ in die Kommission offen. Schließlich will von
der Leyen, dass die EU bis 2050 „klimaneutral“ wird.

Als deutsche Verteidigungsministerin war sie maßgeblich an
den Vorschlägen zum Aufbau einer EU-Armee beteiligt. Dies wird sicher zu einem
Kernbestandteil ihrer Agenda für die nächsten fünf Jahre , wie auch mit von der
Leyen keine rasche „Besserung“ des Verhältnisses zu Russland zu erwarten ist.

Eine klare transatlantische Orientierung, ein eindeutiges
Bekenntnis zur europäischen Aufrüstung und auch etwas „Green Deal“ – dies wird
das Programm der noch zu bildenden Kommission werden.

Diese Kommission soll das „Beste“ aus den bescheidenen
Verhältnissen rausholen – zuallererst Stabilität, besonders auch in unklaren
„Brexit“-Zeiten. Wenn dann noch die EU-Armee als Prestigeprojekt durchgesetzt
würde, dann wären die aktuellen Regierungen in Berlin und Paris schon zufrieden
– wären hier nicht weitere „Unwägbarkeiten“ wie kapitalistische Krise, Brexit
und die Zuspitzung im Nahen Osten.

Die Krise der EU wird verwaltet

In den nächsten Monaten wird die Brexit-Auseinandersetzung
mit Boris Johnson die EU-Politik maßgeblich bestimmen, wie auch mögliche
Neuwahlen in Großbritannien anstehen könnten. Dies wird die erste
„Bewährungsprobe“ für die Kommission werden. Mögliche Szenarien eines „harten“
Brexit könnten, ja werden auch makroökonomische Verwerfungen nach sich ziehen.
Die kommende Kommission wird auch die nächste Krise meistern müssen – bei einer
geschwächten EU, verschärfter internationaler Konkurrenz und mit geringeren
ökonomischen Reserven.

Ebenfalls ungelöst und seit einigen EU-Gipfeln verschoben
ist eine strategische Entscheidung zum Verhältnis EU–China. Von der
„Atlantikerin“ von der Leyen mag einerseits klassische westliche China-Politik
zu erwarten sein, andererseits muss sie aber auch auf eine Kooperation mit dieser
aufstrebenden Wirtschaftsmacht angesichts ihres immer wichtiger werdenden Marktes,
gerade für das deutsche Kapital, setzen. Dabei könnte es eine abgeschwächte
Unterstützung für den US-Kurs geben, immer vorausgesetzt, dass die Zölle gegen
die EU ausbleiben.

Wie sich dies auf die Lage am persischen Golf auswirken
wird, ist schwer vorhersehbar. Auch hier befindet sich von der Leyen wie die
gesamte EU in einer Zwickmühle. Einerseits wird sich die EU im möglichen
Kriegsfall schwerlich enthalten, sondern sicherlich „Solidarität“ mit den USA
und ihren engeren Verbündeten wie Israel und Saudi-Arabien zum Ausdruck
bringen. Andererseits möchte sie eigentlich die Lage im Nahen Osten entschärfen
und den toten Iran-Deal irgendwie am Leben erhalten.

Um Kommissionspräsidentin zu werden, sah sich von der Leyen schließlich auch genötigt, vor allem der S&D-Fraktion um Timmermans einige soziale Versprechungen zu machen, darunter auch einen europäischen Mindestlohn, den Ausbau von Schutzbestimmungen für Lohnabhängige. Diese könnten schon durch die mögliche „Brexit-Krise“ rasch Geschichte sein. Hinzu kommt, dass eine Einigung zu sozialen Mindeststandards leicht an den zahlreichen neo-liberal ausgerichteten Regierungen wie auch den Parteien im EU-Parlament scheitern kann oder einfach ewig verschleppt wird. Damit könnte von der Leyen weiter leicht „Reformbereitschaft“ signalisieren, wohl wissend, dass diese ohnedies nicht umsetzbar sein werden.

Zugleich werden einige soziale und „grüne“ Prestigeobjekte
der Kommission und der EU verlautbart, allerdings vorzugsweise solche, die
nicht mit den Interessen des Großkapitals kollidieren und/oder rein
symbolischen Charakter haben.

Offensiv sprach von der Leyen die Frage des Beitritts
weitere Länder an, direkt wurden Albanien und Nord-Mazedonien genannt. Weitere
Länder auf dem Balkan einzubinden, entspricht zweifellos den Interessen der
imperialistischen Führungsnationen, ihre Macht in Osteuropa und auf dem Balkan
zu konsolidieren. Auch mit den Ländern des Kaukasus sollen weiter Verhandlungen
bezüglich einer engeren Einbindung stattfinden und zweifellos wird die Ukraine
eine zentrale Rolle für die Außenpolitik der EU in den nächsten Jahren spielen
(inklusive der Neubestimmung des Verhältnisses zur Russland). In all diesen
Ländern geht es (wie auch in der Türke, im Nahen Osten und in Afrika) darum,
China und Russland einzudämmen, wie auch die Erweiterungsperspektive am Leben
zu erhalten.

Diese Staaten in den EU-Binnenmarkt zu integrieren, verweist
auf die einzige aktuelle Erfolgsgeschichte der EU, das Freihandelsabkommen mit
Mercosur (Gemeinsamer Markt Südamerikas), das den zuvor mit Japan und Kanada
abgeschlossenen ähnelt. Hier betreibt die EU weiterhin expansive Globalisierung
– und verbessert damit auch ihre Machtposition gegenüber der britischen
Regierung und der britischen Konkurrenz im Falle eines harten Brexit. Während
Boris Johnson und andere Brexit-Freaks vom „Commonwealth“ und einer
Wiederbelegung des „Empire“ phantasieren, schließt die EU immerhin reale
Wirtschaftsabkommen ab. Beim Brexit kommt von der Leyen zugute, dass ihre
Amtszeit erst am 1. November beginnt, sie daher keine Verantwortung für einen
etwaigen harten Brexit mittragen muss. In der Sache selbst sind weder von der
gegenwärtigen EU-Kommission noch von ihr große Zugeständnisse zu erwarten.

Insgesamt wird sie versuchen, die EU zu retten,
voranzubringen – und zugleich, dies mit dem aktuell die EU dominierenden
Machtblock zuwege zu bringen, der um weitere, heterogene Kräfte (Grüne, Teile
der osteuropäischen Regierungen) erweitert werden soll. Kurzum, sie wird eher
eine Verwalterin der aktuellen Krise der EU, einer weiteren Zuspitzung ihrer
Zerfallstendenzen, denn eine Retterin werden. Ihre Politik wird nicht der
„große Wurf“, sondern eher ein ständiger Kompromiss zwischen widerstreitenden
Kräften sein. Die Tatsache, dass sie als Repräsentantin der
„deutsch-französischen“ Achse gewählt wurde, verweist freilich auch darauf,
dass die politische Ausrichtung der EU vom deutsch-französischen Verhältnis
bestimmt wird.

Eine kommende Wirtschaftskrise, eine weitere Zuspitzung der
imperialistischen Widersprüche bis zum Krieg werden die Zerstrittenheit und
damit die Krise der EU verschärfen. Sie werden aber auch Kämpfe und Gegensätze
entfachen, die die Frage des europaweiten Widerstandes auf die Tagesordnung
setzen und die Frage aufwerfen, welche Rolle die ArbeiterInnenbewegung darin
einnehmen kann.

Europäischer Widerstand nötig und möglich!

Wahrscheinlich werden von der Leyen und die deutsche CDU den
Grünen in Europa einige Avancen machen, um diese in die Kommission zu
integrieren. Hintergrund ist auch die äußerst labile Koalition mit der SPD,
welche mit neuem Vorsitz Ende des Jahres die Regierung verlassen könnte. In
aktuellen Umfragen liegen Union und Grüne fast gleichauf. Über die Mitarbeit in
der EU-Kommission würde der „Oppositionsbonus“ der Grünen etwas schwächer.

Für den 20. September ist der nächste globale Aktionstag von
Fridays for Future geplant. Wieder werden Millionen, zumeist junge Menschen auf
die Straße gehen. Die EU-Kommission wird versuchen müssen, sich selbst „grün“
darzustellen, um einer entstehenden Massenbewegung etwas Wind aus den Segeln zu
nehmen.

Für diesen Tag haben sich selbst in Deutschland auch
kleinere gewerkschaftliche Initiativen gebildet, die zumeist die SchülerInnen
beim Protest für das Klima unterstützen wollen. Initiativen wie ein globaler
und damit auch europäischer Klimastreik wären auch für viele andere Fragen, z.
B. im Kampf für nationale Mindestlöhne und die Verkürzung der Arbeitszeit auf
30 Stunden pro Woche möglich. Natürlich wollen weder die Grünen, die NGOs noch
die Gewerkschaftsführungen, dass ein Klimastreik über einen eintägigen,
letztlich symbolischen Protest hinausgeht oder dieser gar mit (unbefristeten)
Arbeitsniederlegungen und Besetzungen von Schulen und Unis einhergeht.

Eine besonders „klimaintensive“ Industrie, die
Automobilbranche, wäre beispielsweise durch die verdichteten Produktionsketten
und Liefertakte in Europa besonders anfällig für längerfristige Ausfälle.
Dasselbe gilt für die gesamte industrielle Produktion auf dem Kontinent. Ein
wirklicher europäischer/internationaler Klimastreik, durchgesetzt in Betrieb,
Schule und Uni, würde sogar relativ schnell größere Perspektiven aufzeigen –
und er könnte auch für andere Fragen Beispielcharakter erhalten.

Dies wäre eine aktive, revolutionäre Politik der
ArbeiterInnenbewegung in Richtung der Klimastreiks von Millionen von
Jugendlichen, um mit ihnen gegen eine EU des Kapitals, des Rassismus und
Nationalismus, der kapitalistischen Umweltzerstörung zu kämpfen. Gerade gegen
Rechtsruck und imperialistische Interventionen und Aufrüstung wäre dies
erforderlich!

Es ist die Aufgabe für revolutionäre Organisationen, genau
diese Politik und Vorschläge, die Verbindung der Bewegungen, die Mobilisierung
der gesamten ArbeiterInnenbewegung einzufordern – von den reformistischen
Führungen in Gewerkschaften und Parteien wie auch von der Führung der sozialen
Bewegungen.

Bei den aktuellen Führungen der ArbeiterInnenbewegung werden
eher nationale Wunden geleckt. Neben den jeweiligen Niederlagen während der
Austeritätspolitik und Krise verloren fast alle Parteien an die
RechtspopulistInnen. Neu entstandene Formationen wie Podemos und La France
Insoumise konnten davon allenfalls kurzfristig und vorübergehend profitieren –
die europäische Linkspartei als Ganze ebenso wenig. Während Sozialdemokratie
und progressive DemokratInnen den Status quo der Kommission verteidigen,
vermochten auch die Linksparteien nicht mit europaweiten Aktivitäten zu
punkten.

Dies wird von der „radikalen Linken“ auch nicht sonderlich
herausgefordert. Große Teile der zentristischen, sozialistischen Linken agieren
gegenüber den Führungen in Gewerkschaften und Parteien zumeist als Stützen des
„linken“ Apparats, wann auch immer der dann kämpft. Andere ignorieren die
traditionellen ArbeiterInnenorganisationen und/oder die brennenden Probleme der
EU.

Eigentlich wären auch diese neue EU-Kommission, die zu
erwartenden und aktuellen Krisen der EU ein guter Grund für die
ArbeiterInnenbewegung, die politischen und sozialen Organisationen der Klasse
in Europa mal wieder zusammenzuführen. Ähnlich wie in Zeiten einer
„Anti-Globalisierungsbewegung“ und der Sozialforen wäre es heute angemessen,
darüber zu debattieren wie Rechtsruck, Klimakrise, imperialistische Zuspitzung
am besten bekämpft werden können und sei es, um „nur“ verbindlich abzusprechen,
dass man gemeinsam gegen einen möglich Irankrieg mobilisieren wird.

Gegen eine EU des Kapitals, der Krise und des Rechtsrucks
kann eine ArbeiterInnenbewegung in Europa agieren. Es braucht eine politische
Führung und Verantwortung, dies zu tun. Allein die Auswirkungen eines Brexit
für die Beschäftigten dies- und jenseits des Kanals, für die Millionen
ArbeitsmigrantInnen, als äußerst signifikante Demonstration der EU-Krise wären
eine europäische Aktionskonferenz wert – wie natürlich auch der Rechtsruck, die
Umweltkrise, Aufrüstung und Kriegsgefahr. Eine ArbeiterInnenbewegung, die
gemeinsam in Aktion tritt, kann politische Bewegung kontinental anführen,
anstatt den Ereignissen national hinterherzulaufen.




Die Krise der Europäischen Union

Die Krise der Europäischen Union, Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 1: Einleitung, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Auf ihrem Sondergipfel in Lissabon im März
2000 verpflichteten sich die Staats- und RegierungschefInnen der Europäischen
Union auf Initiative ihrer dominierenden Mächte Deutschland und Frankreich,
„Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Zwei Jahrzehnte später ist die Europäische
Union stattdessen das „schwächste Glied“ in der imperialistischen Weltordnung
geworden. Tatsächlich wäre „Unordnung“ ein besserer Begriff für eine Welt
rivalisierender Mächte, die in Handelskriege, neue kalte und heiße Kriege
verwickelt sind und die sich weigern, irgendetwas Ernsthaftes zur Verhinderung
einer Klimakatastrophe und globaler Konflikte zu tun. Innerhalb der Union
selbst sind offene Kämpfe um die Art und Zukunft ihrer Verfasstheit
ausgebrochen, einschließlich des Versuchs der drittgrößten Volkswirtschaft
auszutreten.

Nur die ArbeiterInnenklasse, die soziale
Kraft, die heute weltweit größer ist als je zuvor, kann die drohenden
gesellschaftlichen, politischen, militärischen und ökologischen Katastrophen
stoppen – durch eine revolutionäre Machteroberung und einen sozialistischen
Produktionsplan. Doch die Führungen ihrer Massenorganisationen, der politischen
wie gewerkschaftlichen, haben sich wiederholt als unfähig erwiesen, sich diesen
Aufgaben überhaupt zu stellen, geschweige sie zu erfüllen.

Mit der Einführung des Euro um die
Jahrhundertwende und dem Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 sollte der schon damals
größte Markt der Welt zu einem gemeinsamen europäischen Kapitalblock werden.
Das würde nichts Geringeres bedeuten als die politische und militärische
Vereinigung des Kontinents unter deutscher und französischer Herrschaft. Seine
führenden PolitikerInnen erklärten, wenn auch vorsichtig, dass sie zu den USA
aufschließen und sie weltweit herausfordern wollten.

Sie verabschiedeten eine Reihe von
Maßnahmen zur wirtschaftlichen Vereinheitlichung der EU:

  • die vollständige Umsetzung einer europaweiten, neoliberalen Agenda, die es den großen Monopolen ermöglichen sollte, alles zu übernehmen, was noch nicht privatisiert und kommerzialisiert worden war;
  • mehr „Reformen“ auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen durchzuführen, d. h. ein Programm zum Abbau der Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, zur Erhöhung der Ausbeutung und zur Verringerung der Leistungen der Sozialversicherung und der „Lohnnebenkosten“, wodurch die Arbeitskraft sowohl in den wichtigsten imperialistischen Ländern als auch in den schwächeren halbkolonialen Staaten Ost- und Südeuropas massiv verbilligt werden sollte;
  • weitere Expansion der EU und der Eurozone unter der direkten Führung Deutschlands und der anderen führenden imerialistischen Mächte  mit dem Ziel, neu eintretende Länder zu einem halb-kolonialen Raum unter ihrer direkten Kontrolle zu machen.
  • das gesamte europäische Finanzsystem und die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten einer stärkeren Kontrolle durch die Europäische Zentralbank (EZB) durch Europa-Abkommen und europäische Institutionen unterzuordnen, die ihrerseits von den großen und wettbewerbsfähigsten Mächten des Kontinents dominiert werden;
  • die Schaffung von „europäischen Champions“, also  großen Monopolen, die über die bestehenden nationalen Kapitalstrukturen hinausgehen und so Banken, Industrie- und Dienstleistungskonzerne bilden, die mit US-amerikanischen,  japanischen und chinesischen WettbewerberInnen konkurrieren können;
  • die Vereinheitlichung der europäischen Forschung und Entwicklung sowie der Bildungssysteme im Sinne des Ziels, den größten „wissensbasierten Wirtschaftsraum“ zu schaffen;
  • die Vereinheitlichung der Sicherheitsorgane, die Bildung europäischer Kampfverbände und verschiedene Schritte zur Bildung einer europäischen Armee;   
  • Ausweitung des freien Finanz-, Waren- und Arbeitskräfteverkehrs innerhalb der EU bei gleichzeitiger Versiegelung ihrer Grenzen durch gemeinsame Abkommen (Schengen, Dublin,…), um die so genannte Festung Europa zu schaffen.

All dies erforderte eine ideologische
Rechtfertigung wie die Schaffung eines Raums der „Demokratie“ und des
„Friedens“, des Fortschritts, des sozialen Wohlstands, der Menschenrechte und
in jüngster Zeit der weltweiten Führungsrolle bei der Bewältigung der
Umweltkrise.

Diese Ansprüche waren immer falsch. Vom
Vertrag von Rom bis zu den heutigen rassistischen Grenzkontrollen waren die EU
und ihre Vorgängerinnen stets Projekte der großen imperialistischen Mächte des
Kontinents, zunächst in enger Zusammenarbeit mit den USA, später aber in einem
zunehmend  konkurrenzorientierten
Verhältnis.

In den 1990er Jahren und sogar Anfang der
2000er Jahre war die EU eindeutig auf dem Vormarsch. Der Sieg des Westens im
Kalten Krieg öffnete Osteuropa für das europäische Großkapital, wobei der
deutsche Imperialismus eine Vorreiterrolle spielte. Die Wiedervereinigung
machte ihn zur mit Abstand stärksten Macht des Kontinents, weit vor seinen
französischen, britischen oder italienischen Partnern und Rivalen.

Der Aufstieg der EU war von der Allianz des
deutschen und französischen Imperialismus vorangetrieben worden, verkörpert in
der engen Zusammenarbeit zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand, dann
zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder. Sie verkörperten auch eine
europaweite Koalition zwischen Konservativen und SozialdemokratInnen, um das
europäische Projekt voranzutreiben.




Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 2, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Das 21. Jahrhundert hat jedoch die tiefen
Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von Anfang an verkörperte, an die
Oberfläche gebracht. Millionen von ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, ja
sogar große Teile der „Mittelschicht“, sind von der Politik der Europäischen
Kommission, der EZB, der Staats- und RegierungschefInnen und der
SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte enttäuscht worden.

Um die Jahrhundertwende, als die
FührerInnen der Welt eine Ära der Globalisierung bejubelten, wurde die
neoliberale Politik als unverzichtbarer Bestandteil dieser angeblich neuen
Weltordnung angesehen. Die Europäische Union erlebte eine Hinwendung zu dem,
was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt. Die Großmächte und die
EU-Institutionen haben den Weg der „Reformen des freien Marktes“ eingeschlagen.
Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines „sozialen Europas“, das
wohlhabend, „demokratisch“ und „humanitär“ sei, als schamlose Lügen offenbar.

Die Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren
Schwerpunkten Sparpolitik, „Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit
markierte nicht nur einen deutlichen Wandel in der Politik der EU, sondern auch
eine Ablehnung von „Wohlfahrtsstaat“ und Keynesianismus durch alle europäischen
Bourgeoisien. Nicht nur konservative Parteien, sondern auch Labour- und
sozialdemokratische Parteien passten sich an den Neoliberalismus an. Ohne
Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“-Politik wäre die
Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder zumindest auf
viel mehr Widerstand und Schwierigkeiten gestoßen.

Die führenden Mächte und die Europäische
Kommission wollten nicht nur die Lissabon-Agenda, sondern auch eine neoliberale
Verfassung für die Europäische Union durchsetzen. Dies stieß jedoch auf
massiven Widerstand in der Bevölkerung und wurde in Volksabstimmungen in
Frankreich und den Niederlanden abgelehnt.

Die Antwort der europäischen Regierungen
und Institutionen war aufschlussreich. Nachdem die von ihnen vorgeschlagene Verfassung
abgelehnt worden war, führten sie sie in Form eines „Vertrages“ ein. Dadurch
wurde das Demokratiedefizit der EU für Millionen deutlich. Es wurde auch
deutlich, dass es soziale, ökologische und andere Defizite gibt, die hinter
diesem Mangel an europäischer Demokratie stehen. Es bestätigte sich, dass die
herrschenden Klassen den europäischen Kontinent weder auf demokratische,
geschweige denn „soziale“ Weise vereinen können noch wollen. Ja, sie sind
bereit, den „Willen des Volkes“ völlig zu ignorieren.

Dies gilt insbesondere für die Bereiche
Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege. Die europäischen Regierungen
haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie Syrien oder Libyen bombardieren
oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder anderen afrikanischen Staaten
intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine einmischen sollten. Sie
konsultierten ihre Bevölkerung auch nicht, ob sie neue europäische
Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO unterstützen und
Truppenaufmärsche an den Grenzen Russlands durchführen und damit einen neuen
Kalten Krieg beginnen sollten.

Das letzte Jahrzehnt hat die
Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist,
deutlich gemacht.

Wirtschaftlich ist sie weit hinter den USA
und China zurückgeblieben. Gleichzeitig haben die neoliberale Agenda und die
insbesondere vom deutschen Imperialismus der EU auferlegte Anti-Krisenpolitik
die Ungleichheit und Ungleichmäßigkeit innerhalb der Union selbst verstärkt.
Nach der großen Rezession haben Deutschland und andere wettbewerbsfähigere
Länder die Kosten der Krise auf die schwächeren europäischen Volkswirtschaften
abgewälzt. Die Institutionen der Eurozone ließen im Namen der
Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig verarmen. Sie verhängten
eine wüste Sparpolitik gegen Griechenland und andere Staaten, was deren
Erholung weitgehend verhinderte und sie noch anfälliger macht, falls eine neue
globale Rezession eintritt. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen
hohen Preis, weil sie die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der
Eurozone verstärkten.

Militärisch und geopolitisch bleibt die EU
ein Zwerg, der nicht in der Lage ist, eine Rolle zu spielen, die ihn als
ebenbürtig  gegenüber den USA,
China oder Russland ausweisen würde. Die Versuche der europäischen Mächte, dies
zu überwinden, sind alle halbherzig und spiegeln oft eher ihre Spannungen
untereinander als eine klare Politik wider. Als die EU versuchte, eine
Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in der Ukraine zu spielen, konnte sie
nicht verhindern, dass die USA sie in einen neuen Kalten Krieg hineinziehen
konnten und damit die Pläne Deutschlands für engere Wirtschaftsbeziehungen zu
Russland und darüberhinaus zu China zunichte machten.

Als Antwort darauf begann Putin, unbotmäßige
EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme populistische Bewegungen auf dem
ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig verschärfte die aggressive
„America-First“-Politik der Trump-Administration nicht nur die Spannungen
zwischen der EU und den USA bezüglich der Handels-, Militär- und
internationalen Politik, sondern auch innerhalb der EU und sogar innerhalb der
herrschenden Klassen derer Großmächte. Die EU entwickelt sich damit zu einem
potenziellen Schauplatz, auf dem externe Mächte einige Mitgliedstaaten
gegeneinander ausspielen können. Italien hat unter seiner rechtspopulistischen
Regierung gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs eingegriffen
und ein Abkommen mit China zu seiner „Neuen Seidenstraße“ (one belt, one road)
geschlossen, das von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte Flüchtlingskrise machte die
Spannungen noch deutlicher. Einwanderung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind
zu einem Mittel geworden, um Massenkräfte von desillusionierten
kleinbürgerlichen oder sogar von rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse
zu sammeln, die verarmt sind oder die Armut fürchten. Der Aufstieg des
Nationalismus und der EU-feindlichen Teile der Bourgeoisie und des
KleinbürgerInnentums spiegelt diese wachsenden Spannungen und inneren
Widersprüche wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch
eine Föderation von Nationalstaaten, jeder mit seinen konkurrierenden
Interessen.

Kein Wunder also, dass dies zur Bildung von
EU-feindlichen, rechtspopulistischen und 
rassistischen Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die
versuchen, sich als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch
dominierten EU zu präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald
kleinbürgerliche Kräfte die Szene betreten, kann und wird diese Krise
irrationale Formen annehmen, die extremsten derzeit in Großbritannien, wo das
ganze Land in einem Brexit festsitzt, den die Mehrheit der Bevölkerung und die
Mehrheit der beiden großen Klassen eigentlich nicht will.




Die Zauberlehrlinge

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 3, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Während die europäischen Staats- und
Regierungschefs in den 1990er und frühen 2000er Jahren die EU als ein schnell
voranschreitendes Projekt präsentierten, das die Bevölkerung mit „großen
Visionen“ bombardierte, sind diese Visionen in letzter Zeit verblasst und durch
Albträume von nationalen Gegensätzen, neu errichteten Grenzzäunen und der
Gefahr, dass andere Austritte dem Brexit folgen könnten, ersetzt worden.

Nur der französische Präsident Emmanuel
Macron präsentiert noch regelmäßig große „Pläne für Europa“, die aber bewusst
vage sind, wenn es um die Frage geht, wer diese Reformen finanziert und wie.
Deutschland weigert sich eindeutig, dies zu unterschreiben und für sie zu
bezahlen. Der Präsident der Kommission, Jean-Claude Juncker, Präsident Macron
und die immer noch zentrale Figur der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel
sind wie Zauberlehrlinge, die die Geister, die sie riefen, nicht mehr
loswerden. Indem sie die GriechInnen „mit gutem Beispiel vorangetrieben“ haben,
indem sie eine Reihe von Ländern, die so genannten PIIGS (Portugal, Irland,
Italien, Griechenland, Spanien), zu Sparpolitik zwangen und den in Wahlen und
Referenden zum Ausdruck gebrachten Volkswillen ignorierten, haben sie die
schlafenden Hunde des nationalen Chauvinismus und Rassismus geweckt.

Die RassistInnen und RechtspopulistInnen
wie der italienische Innenminister Matteo Salvini oder die führende
französische Oppositionspolitikerin Marine Le Pen sehen die Zeit gekommen, der
EU ihre rechtsgerichtete Agenda aufzuzwingen, eine Agenda, bei der sie außer
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wenig verbindet. Die nächste
Wirtschaftskrise, die Frage, wer die italienischen Schulden bezahlt, wird die
Einheit der verschiedenen NationalistInnen in Frage stellen. Jeden Tag zeigen
die EU-Institutionen, wessen „Kind“ sie sind, wessen Interessen sie bedienen
und vertreten, sicherlich nicht die der 512 Millionen EU-BürgerInnen, sondern
die Interessen des Kapitals.

Für die ArbeiterInnen dieses Kontinents,
die RentnerInnen, die Studierenden, die LandwirtInnen und die Arbeitslosen
haben der Binnenmarkt und die EU-Institutionen den Wettbewerb intensiviert, die
Löhne gedrückt, die Preise erhöht, die Sozialsysteme ruiniert und sie sind
somit voll verantwortlich für den Rechtsruck.

Für die großen Konzerne, die Banken und die
Reichen hat sich die EU ausgezahlt. Die Gewinne sind gestiegen, die Märkte und
alle wirtschaftlich Tätigen wurden wie nie zuvor ausgebeutet. Aber auch für das
Kapital brachte dies die Unterordnung der schwächeren Formationen unter die
wettbewerbsfähigeren oder deren Zusammenbruch.

Während sich das Großkapital wirtschaftlich
durch die EU deutlich stärken konnte, mussten die Ambitionen, eine Weltmacht zu
werden, fallen gelassen werden. Selbst gegen den krisengeschüttelten und
schwächer werdenden Welthegemon, den US-Imperialismus, kann sich die EU trotz
Trumps Beleidigungen und Drohungen nicht behaupten. Schwankende Schritte in
Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik werden täglich durch die nationale
kapitalistische Realität der EU gestoppt, so dass sich die „Außenpolitik“ der
EU heute auf die Diplomatie unter ihren fraktionierten Mitgliedern beschränkt,
während diese unterschiedlichen kapitalistischen Interessen nach außen hin
einfach nicht vereint auftreten können.

Im Jahr 2019 hegen die meisten führenden
bürgerlichen PolitikerInnen keine „Visionen“ mehr für die EU. Nur die
Verteidigung eines bedrohten Status quo scheint als gemeinsames Ziel denkbar.
Als Ergebnis eines Jahrzehnts von Spar- und Krisenpolitik haben sich trotz der
Errungenschaften des gemeinsamen Binnenmarkts seit 2001 kapitalistische
Widersprüche angesammelt und eine Krise auf Leben und Tod für die Europäische
Union eröffnet.

Die Europawahlen 2019 werden diese
Widersprüche noch einmal deutlich machen und die verschiedenen bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Kräfte werden aufzeigen, dass sie entweder keine Antwort auf
die Krise der EU geben können oder dass ihre „Antworten“ die EU in eine
reaktionäre Richtung zerreißen würden.

Die konservativen, liberalen und grünen
Parteien unterscheiden sich durch gegensätzliche Bindungen an die „europäische“
Einheit und an nationale Interessen, aber sie eint das Ziel, eine
kapitalistische Agenda mit leeren Reformversprechen zu verbinden. Sie
versuchen, sich als „demokratisches“ Bollwerk gegen die Rechte zu präsentieren
und bauen ihre eigene Politik auf den undemokratischen Institutionen der EU
auf.

Die Rechte, die bereits bei den EU-Wahlen
2014 massive Gewinne erzielte, ist das deutlichste Zeichen für bürgerlichen
Verfall und Zerfall. Verschiedene kleinbürgerliche Kräfte und auch Sektoren des
Großkapitals präsentieren Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus als die
wichtigsten Antworten auf die wachsende imperialistische Krise. Der Rückzug auf
den nationalen Markt, den Staat und eine „ethnisch homogene“ oder „identitäre“
Vorstellung vom „Volk“ befeuern eine offene und aggressive Form des
Nationalismus. Aber jede herrschende Klasse, unabhängig von ihren
internationalen (imperialistischen) Interessen, muss auf den Nationalismus zurückgreifen,
um die Nation für ihr eigenes Interesse zu „vereinen“. Selbst die
faschistischen Gruppen kommen gestärkt aus ihren Löchern, bereit zu jeder noch
so schmutzigen Gewalt gegen die ArbeiterInnen, MigrantInnen und unterdrückten
Schichten, wenn sich die Krise verschärft.

In einer solchen Zeit können nur die
ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten die Einheit der arbeitenden Menschen
auf dem ganzen Kontinent gegen die RassistInnen und diejenigen, die bewusst
Spaltung und zukünftige Konflikte säen, bewahren und erweitern.

Dazu bedarf es einer international
koordinierten Politik und eines Aktionsprogramms gegen die anhaltenden Angriffe
und einer Antwort der ArbeiterInnenklasse auf die europäische Krise. Die
offiziellen FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung scheuen davor zurück und
kokettieren sogar mit Nationalismus und Populismus. In der Vergangenheit haben
sie es versäumt, die Verteidigung gegen die Sparpakete zu organisieren und zu
generalisieren. Stattdessen haben sie den Konkurrenzbedürfnissen des nationalen
Kapitals und der „Sozialpartnerschaft“ nachgegeben. Vor den EU-Wahlen 2019
können wir beobachten, dass die sozialdemokratischen und Labour-Parteien
zwischen einer vorgetäuschten Form des europaweiten Sozialreformismus und einem
Schwenk zur nationalistischen Anpassung oszillieren. Die „Linksparteien“ sind
zwischen linkem Reformismus und Linkspopulismus gespalten. Dieses Versagen wird
von der „radikalen“, sozialistischen, kommunistischen Linken nicht
aufgegriffen. Im Gegenteil, einige versuchen, die Auflösung der EU von links
(Lexit) zu unterstützen, wie beim „Brexit“. Das Problem wird auch nicht durch
den kosmopolitischen paneuropäischen Populismus von Yanis Varoufakis
beantwortet. Was völlig fehlt, ist eine Perspektive des europäischen
Klassenkampfes, wie die EU mit Hilfe des Klassenkampfes bekämpft werden kann
und wie ein Europa ohne EU, Kapitalismus und den Rechtsruck aussehen könnte.