30. November 2023 – Feministischer Generalstreik im Baskenland

Jürgen Roth, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Am 30. November 2023 wurde im Baskenland gestreikt. Neben Gewerkschaften hatten dazu auch Feminist:innen, Rentner:innenvereinigungen und soziale Organisationen aufgerufen. Es handelte sich um eines der größten und bedeutendsten Ereignisse dieser Art weltweit. Zudem hält es für Linke etliche Lehren bereit, wirft aber auch Fragen nach weiteren Perspektiven auf.

Nicht nur bessere Arbeitsbedingungen

Zu den Streikenden gehörten die Beschäftigten der Mercedes-Autofabrik in Vitoria-Gasteiz, der U-Bahn in Bilbao, des öffentlichen Gesundheitsdienstes (Osakidetza), alle Reinigungskräfte der drei größten Reinigungsunternehmen (Eulen, Garbialdi, ISS) und die Belegschaft des größten baskischen Fernsehsenders (EITB). So blieben Bahnen und Busse stehen, in zahlreichen Ortschaften Schulen und Verwaltung geschlossen. Der Rundfunk strahlte nur ein Notprogramm aus und ein Dutzend Fabriken mussten ihre Produktion komplett einstellen. Zentrale Forderungen des Generalstreiks lauteten: Aufbau eines öffentlich-gemeinwohlorientierten Caresektors, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften, Anhebung der Renten, Einführung der 30-Stundenwoche, mit der eine Umverteilung der Sorge- und Pflegearbeit zwischen den Geschlechtern angestoßen werden soll.

Die Mobilisierung verlief alles andere als einfach. Die spanischen Gewerkschaften Unión General de Trabajadores (UGT; Allgemeine Arbeiter:innengewerkschaft) und CC.OO. (Comisiones Obreras; Arbeiter:innenkommissionen) hatten erst gar nicht aufgerufen. Sie sind allerdings im Baskenland schwächer als die regionalen Dachverbände Eusko Langileen Alkartasuna (ELA; Arbeiter:innensolidarität) und Langile Abertzaleen Batzordeak (LAB; Komitees Patriotischer Arbeiter:innen). Die Sekretärin der LAB, Maddi Isasi Azkarraga, meinte dazu, dass CC.OO. und UGT den Streik deshalb nicht unterstützt hätten, weil er aufs Baskenland fokussiert blieb und sie generell Kämpfe nicht zuspitzen wollten. Sie stimmten aber mit den Zielen des Generalstreiks überein. Der Hauptgrund lag nicht etwa darin, dass sie Schwierigkeiten darin sahen, sich als gemischtgeschlechtliche Organisation an einem feministischen Streik zu beteiligen.

Längerer Organisierungsprozess

Ausgehend von Lateinamerika wurden seit Jahren zum 8. März Millionen Menschen mobilisiert. Auch im Baskenland fanden an diesem Datum seit 2018 feministische Streiks statt, bei denen Frauen die Pflege- und Sorgearbeit niederlegen sollten, damit deren gesellschaftliche Bedeutung sichtbar wird. Der jetzige Generalstreik richtete sich hingegen an die gesamte Gesellschaft und wurde vom feministischen Bündnis namens Denon Bizitzak Erdigunean (Das Leben in den Mittelpunkt stellen) angestoßen.

Dafür ging das Bündnis auf Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Kleinbauern- und -bäuerinnenverbände sowie die Rentner:innenbewegung zu. Letztere fordert seit Jahren eine Mindestrente von 1.080 Euro. Nach längerer Diskussion wurde ein Forderungskatalog (Sozialcharta) erstellt. Neben vom Bündnis formulierten längerfristigen Zielen wie dem Aufbau eines öffentlich-gemeinschaftlichen Pflegesystems wurden kurzfristig auszuräumende Missstände benannt wie die Arbeitsbedingungen von illegalisierten, migrantischen Frauen in Privathaushalten, die oft 7 Tage die Woche Alte betreuen. Es wurden mehr als 1.000 Versammlungen in Dörfern, Stadtteilen und Betrieben durchgeführt.

Dies wurde dadurch getragen, dass der Carebereich – Alten- und Krankenpflege sowie Kinderbetreuung – während der Coronapandemie zusehends in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte rückte. Die schlecht bezahlten und überwiegend von Frauen geleisteten Pflege- und Sorgearbeiten stellten sich als die unverzichtbarsten heraus, zudem das Baskenland an Überalterung leidet und viele Menschen Pflege benötigen. So waren die Grundforderungen des Streiks nicht schwer zu vermitteln.

Und jetzt?

Amaia Zubieta, eine der Sprecherinnen des Organisationsbündnisses, erklärte: „Ein Generalstreik ist kein Selbstzweck.“ Damit verlegt sie aber den eigentlichen „Kampf“schauplatz auf die Verhandlungen mit den Autonomieregierungen des Baskenlandes und der nordspanischen Region Navarra. In der baskischen Autonomiegemeinschaft regiert jedoch die Christdemokratie in Gestalt der Baskisch-Nationalistischen Partei EAJ – PNV. Direkt nach Streikende betonte der scheidende Ministerpräsident Urkullu, „seine Partei sei einem staatlich gelenkten öffentlichen und gemeinschaftlichen Pflege- und Sorgesystem“ verpflichtet.

Vorschneller Jubel ist allerdings unangebracht. Seine Rhetorik dient dem Gewinn der in diesem Frühjahr anstehenden Wahlen. Er will keine Angriffsfläche bieten. Die Praxis seiner Regierung spricht aber eine andere, weniger doppelzüngige Sprache, hat doch die regionale Christdemokratie in den vergangenen Jahrzehnten die Privatisierung der öffentlichen Grundversorgung massiv vorangetrieben. Und das wirft Fragen auf: Was bleibt vom Streik? Und wie können die Forderungen umgesetzt werden?

Revolutionäre Perspektive

Ohne Frage war der Streik ein eindrucksvoller politischer Massenstreik. Doch im Angesicht des drohenden Ausverkaufs blieb er durch die  bürokratische Begrenzung auf einen Tag nur ein symbolischer Protest. Natürlich ist das trotzdem ein Schritt vorwärts. Gleichzeitig gibt es jedoch die Gefahr, dass Teilnehmende demoralisiert werden, wenn man nicht klar aufzeigt, was die eigene Strategie ist, um die Forderungen zu erkämpfen. Deshalb müssen Revolutionär:innen in solchen Situationen von Anfang an argumentieren, dass der Generalstreik bis zur Erreichung seiner Ziele „befristet“ bleiben sollte. Gleichzeitig hätten sie betont, dass er mit dem Aufbau von Kontrollkomitees und Milizen zu seiner Verteidigung einhergehen müsse. Denn letzten Endes wirft ein ernsthaft geführter Generalstreik auch immer die Machtfrage auf: Also wem gehört eigentlich der Betrieb, der bestreikt wird? Was passiert, wenn sich weiter geweigert wird, die Forderungen durchzusetzen bzw. zu erfüllen?

Deswegen ist der Aufbau solcher Strukturen elementar, um vorbereitet zu sein, so einen Kampf auch ernsthaft durchzusetzen. Denn entweder man erkämpft zeitweise Verbesserungen, knickt ein und geht zum Status quo zurück oder geht einen Schritt voran und bildet eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen, um die Forderungen selber umzusetzen und das Tor zum Sturz des kapitalistischen Gesamtsystems, zur Diktatur des Proletariats, gestützt auf die werktätige Bauern-/Bäuerinnenschaft aufzusperren.

Gewerkschaftsbürokrat:innen und das feministische Organisationsbündnis hätten dem sicher entgegnet, dafür seien die Massen noch nicht reif. Aber welche Art Führung haben sie dem Kampf denn gegeben, die diese Reife beschleunigen hätte können? Natürlich hätten Revolutionär:innen auf Anhieb kaum einen Blumentopf für ihre Forderungen bei den Massen gewinnen können. Doch mindestens einem Teil der Fortgeschrittensten und Aktivsten wäre spätestens nach dem Ausgang des Streiks klar geworden, dass es mehr braucht. Kurzum: Natürlich ist die Forderung des Umsturzes des Kapitalismus nicht die, worum man den Generalstreik organisiert. Doch es ist wichtig, währenddessen die unterschiedlichen Ansätze offen zu diskutieren, vor allem, da auch viele Vertreter:innen des baskischen Feminismus sich als Antikapitalist:innen verstehen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die Debatte um den Umgang mit der Transformation des Caresektors:

Wie bei der „Reife“ des Klassenbewusstseins, die sich baskische und andere Reformist:innen und Zentrist:innen offensichtlich nur als Naturprozess wie beim Apfelbaum vorstellen können, so gehen sie auch an die Transformation des Caresektors heran.

Transformation des Caresektors

Elena Beloki von der linken Parteienstiftung Fundación Iratzar dazu: „Der Staat muss die Mittel für die Grundversorgung bereitstellen. Die Einrichtungen sollten genossen- oder gemeinschaftlich getragen werden.“ Dieser Aufbau eines nicht profitorientierten öffentlichen Pflegesystems sei nicht einfach „nur“ eine Verstaatlichung. Doch was ist es denn dann? Sozialismus? Leider nicht. Dieser von vielen Anarchist:innen, Zentrist:innen und Linksreformist:innen gehuldigten Transformation liegt die Vorstellung zugrunde, man könne die Ballonhülle des Systems schrittweise durch Austausch von kapitalistischem Gas mit sozialistischem füllen, ohne sie zum Platzen bringen zu müssen. Doch genossenschaftliche Inseln inmitten profitorientierter Meereswellen werden ein Laden wie jeder andere auch oder Teil eines Planes für die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen. Dieser lässt sich jedoch ohne gewaltsame Sprengung des Ballons nicht erreichen.

Deswegen reicht es nicht zu schweigen, welche und wie viele Mittel der Staat bereitstellen müsse oder wie man besagte Transformation finanzieren will. Das sind berechtigte Fragen, bei denen es gilt, eine klare Perspektive im Interesse der Arbeiter:innen und Unterdrückten zu formulieren: Das heißt beispielsweise, dafür einzutreten, dass die Finanzierung durch eine progressive Besteuerung v. a. bei den Reichen stattfindet, sowie den staatlichen wie genossenschaftlichen Sektor unter Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer:innen zu stellen. Warum? Zum einen haben sie durch ihre Stellung im Produktionsprozess Einblick, was gebraucht wird und ob die Veränderungen in ihrem Interesse stattfinden. Zum anderen sorgt es dafür, dass Streik- und Aktionskomittees über den Streik hinaus bestehen bleiben und als Kontrollorgane fungieren können. Das ist nicht nur ein Schritt voran, wenn es darum geht, Selbstermächtigung zu erlernen, sondern erleichtert auch Mobilisierungen, wenn es darum geht, Errungenschaften zu verteidigen oder weitere Angriffe abzuwehren.

Lehren des feministischen Streiks

Was sind also die Lehren des Streiks? Der Streikkampf vom 30. November stellt einen großen Schritt nach vorne dar. Gemeinsame Mobilisierungen sind nicht Standard: Aus Angst, dass „gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften“ den Streik vereinnahmen (oder diese den Streik ablehnen, weil es „kein richtiger Streik“ wäre) kommt es häufig zu isolierten Streiks. Darüber hinaus gibt es einen Teil des feministischen Spektrums, der den gemeinsamen Kampf per se ablehnt, da die Unterdrückung der Frau in männlicher Gewalt, einer Art universellen Patriarchats, wurzelt. Historisch bezeichnet Patriarchat aber die Herrschaft männlicher Familienoberhäupter über andere Menschen, darunter auch junge und familienlose Männer. Sie konnte erst mit der Erzeugung eines stetigen Überschusses und dessen Aneignung durch die Patriarchen inkraft treten, Der Kapitalismus hat sich das zu eigen gemacht und in eine systematische Diskriminerung umgeformt. Deswegen muss sich der Kampf gegen Frauenunterdrückung auch gegen das kapitalistische System richten. Das bedeutet nicht, dass man Ersteren unterordnet, sondern beide Hand in Hand gehen sollten.

Deswegen ist der Einbezug aller Geschlechter ein positiver Schritt nach vorne. Dieser wurde von dem Bündnis aus mehreren Gründen gesetzt. So sollten gut bezahlte, meist männliche Industriebelegschaften auch deshalb streiken, weil schlecht bezahlte, meist weibliche Pflegekräfte ihre Arbeit oft erst gar nicht niederlegen können. Ein weit bedeutenderer Grund liegt unserer Meinung nach indes darin, dass die Unternehmen dann deutlichere Profiteinbußen erleiden – der eigentliche Antrieb jeden Streiks! So kann nämlich mehr Druck ausgebübt werden. Darüber hinaus bringt der gemeinsame Kampf die Möglichkeit mit sich, die Auswirkungen der sozialen Unterdrückung politisch zu diskutieren und bestehende Vorurteile zu überwinden.

Eine weitere Lehre ist die Frage der Kontrolle des Streiks. Um die Instrumentalisierung der Mobilisierung durch gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften zu verhindern, wurde vereinbart, dass das feministische Organisationsbündnis „federführend“ bleibt. Laut Azkarraga hat es alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Die Frage ist jedoch, was das praktisch heißt?

Unserer Meinung nach muss die Kontrolle des Streiks bei den Streikkomittees und über  diese bei den Massenversammlungen der Streikteilnehmer:innen selber liegen. Nur so ist es möglich, die Entwicklung von Klassenbewusstsein und Selbsttätigkeit angemessen zu fördern. Nur so ist es möglich, Organe der Kontrolle von unten zu schaffen, die Streikführung und -ergebnis im Sinne der Masse der Klasse zu überwachen und ggf. revidieren ermöglichen. Die Streikenden – darunter auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und anderen Bevölkerungsschichten – müssen das Streikkomitee, ihre unmittelbare Kampfesführung auf Vollversammlungen wählen und jederzeit abwählen können! Alles andere ist mit den Prinzipien der Arbeiter:innendemokratie unvereinbar.

Dieser elementare Grundsatz bedeutet, dass sich feministische wie Vertreter:innen anderer politischer Couleur dem Votum und der Kontrolle durch die Masse der Streikenden stellen müssen. Geht man diesen Weg nicht, kann auch die feministische Führung dazu führen, sich nicht von der klassischen Gewerkschaftsbürokratie zu unterscheiden, da die Kontrollmöglichkeit durch die Streikenden fehlt.

Verglichen mit Ländern wie Deutschland, wo die Gewerkschaften schon kalte Füße bekommen, wenn es darum geht, die eigenen Lohnforderungen durchzusetzen, zeigt dieser Streik, was alles möglich ist – und dass weitergehende Forderungen und Kämpfe dementsprechend auch keine Utopie bleiben müssen. So wäre es beispielsweise auch sinnvoll – neben den Elementen der Arbeiter:innendemokratie – auch dafür einzutreten, dass der Streik auf ganz Spanien ausgeweitet wird. Dort erfolgt aktuell ein massiver Angriff auf das Gesundheitssystem und statt sich mit den Ausreden der UGT und CC.OO. zufriedenzugeben, sollte man diese offen auffordern, aktiv mitzukämpfen und zu streiken – nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern der gesamten Bevölkerung!




„Kallarðu þetta jafnrétti?” (You call this equality?)

Redaktion, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 12, März 2024

Auch in Island fand am 23. Oktober 2023 das erste Mal seit 48 Jahren ein ganztätiger Frauenstreik statt. Unter den 40 isländischen Organisationen, die sich dem Aufruf angeschlossen hatten, befanden sich unter anderem der Verband der isländischen Krankenschwestern, Universitäten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Obwohl das Land als weltweit führend bei der Gleichstellung der Geschlechter gilt und die Rangliste des Weltwirtschaftsforums 2023 zum 14. Mal in Folge anführt, beträgt das geschlechtsspezifische Lohngefälle 10,2 Prozent. „Man spricht über uns, man spricht über Island, als sei es ein Paradies für Gleichberechtigung“, sagte Freyja Steingrímsdóttir, eine der Streikorganisatorinnen und Kommunikationsdirektorin des isländischen Verbandes für Beschäftigte im öffentlichen Dienst (BSRB). „Aber ein Gleichstellungsparadies sollte nicht 21 % Lohnunterschied [Anm. der Red.: in bestimmten Industriezweigen] und 40 % der Frauen, die in ihrem Leben geschlechtsspezifische oder sexuelle Gewalt erfahren, aufweisen. Das ist nicht das, wonach Frauen auf der ganzen Welt streben.“

Insgesamt kamen rund 100.00 Frauen, darunter auch nicht-binäre Personen, die auch aufgerufen waren, in der Hauptstadt Reykjavik zusammen, um dagegen zu protestieren. Damit hat die Mobilisierung an den Erfolg von 1975 angeschlossen. Einen Wehrmutstropfen gibt es jedoch: Eine klare Perspektive, wie die Ziele erreicht werden sollen, gibt es auch hier nicht. So kommt es auch zu klassenübergreifender Zusammensetzung. Nicht nur dass die Premierministerin sich am Streik beteiligt hat, auch einige Unternehmen hatten vorab angekündigt den Streik „voll und ganz unterstützen“ – wie die beiden Fluggesellschaften Play und Icelandair. Gleichzeitig haben sie jedoch Maßnahmen ergriffen, dass es nicht zu Betriebsstörungen kommt und ihre Profite somit wenig darunter leiden. Das zeigt deutlich auf, dass es nicht nur ausreicht, eine Bewegung zu schaffen, sondern es darauf ankommt, für welche Forderungen man auf die Straße geht. Denn leere Worte der Unterstützung und halbherzige Vorsätze, in der Zukunft was zu ändern, kennen wir schon seitens der Regierung und Unternehmen in Bezug auf die Umweltfrage. Statt darauf zu hoffen, dass sie Gesetze in unserem Interesse umsetzen, müssen wir dies selber in die Hand nehmen und erkämpfen!




Schweiz: Perspektiven des feministischen Streiks

Rosa Favre, Was Tun Schweiz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Streik 2023

2019 erreichte der feministische Streik mit einer halben Million Teilnehmerinnen seinen bisherigen Mobilisierungshöhepunkt. 2023 hat der bisher letzte nicht mehr so viele Frauen angesprochen, auch wenn 300.000 am 14. Juni auf der Straße waren. Wenn man den Gewerkschaftsfunktionär:innen zuhört, war der Streik immer noch ein krönender Erfolg, da dieser radikaler als 2019 war und in einer solchen Größe überleben konnte, trotz frontaler Angriffe der Bourgeoisie, welche die Bewegung dämonisiert hat. Aber wenn wir dieser Erklärung glauben, sollten wir dann denken, dass sich die Massen arbeitender Frauen, welche 2019 präsent waren, mit den gleichen Forderungen wie 2023 (!), entradikalisiert hätten? Das wäre lächerlich.

Wenn also Frauen sich von den Männern alleingelassen fühlten, frustriert waren über die misogyne Welle, vor der sie standen, und sich bewusst waren über die Last, welche während der COVID-19-Krise auf ihre Schultern gelegt wurde, warum haben sie sich nicht in der gleichen oder größerer Zahl der Bewegung auf der Straße angeschlossen?

Französischsprachige Frauen sind in ähnlicher Stärke wie 2019 streiken gegangen. In der deutschsprachigen Schweiz hat die Bewegung an Kampfkraft verloren. Dies deshalb, da trotz einer Koordination auf nationaler Ebene jede kantonale Sektion der Gewerkschaften individuell die Bewegung aufbaut. Da es an den Aktivist:innen in allen einzelnen Kantonen liegt zu entscheiden, ob sie sich an die Aufgabe der Organisation machen wollen, gibt es viele Orte und Sektoren der Wirtschaft, an welchen fast keine Agitation vonstattengeht, wo wenig Schutz gegen Drohungen von Kündigungen gegen Streikende besteht.

Daher wurde der Streik 2023 größtenteils ein Streik der Jugend und der Student:innen. Da die Jugend sehr wenig Erfahrung am Arbeitsplatz hat, trugen die meisten Transpis Slogans gegen sexualisierte Gewalt, sexuelle Befreiung und für die Emanzipation der queeren Jugend, ob sexuell oder betreffend der Geschlechtsidentität. Eine Menge der Slogans prangerten Alltagssexismus oder unerwünschte sexuelle Kommentare an. Fast keine haben jedoch das wichtigste Ereignis des Jahres angesprochen: den Rückschlag der Frauenrechte in Form der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Dies hat den Streik in seiner Natur größtenteils kleinbürgerlich gemacht, ein Rückschlag gegenüber 2019.

Probleme des Streiks

Der feministische Streik hat an Klassenbewusstsein verloren und die bestehende Führung der Bewegung ist dafür zu verantworten. In der Tat besteht sie aus den Gewerkschaften, welche wiederum größtenteils durch sozialdemokratische Bürokrat:innen geführt werden, welche vom Arbeitsfrieden profitieren.

Eine Ausnahme in der Organisation des Streiks ist die solidaritéS, eine Partei welche aus der trotzkistischen Tradition stammt und Beobachterin des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale (VSVI) ist. Auch sie fokussierte sich auf LGBTQ+-Anliegen und legte den Gewerkschaften ihre intersektionale Vision vor. Aber gleichzeitig passte sie sich an die Bürokratie an und gewährte Zugeständnisse bei den sozialen und ökonomischen Forderungen des Streiks, um ihre eigenen Positionen im Apparat nicht zu gefährden.

Auf der anderen Seite können wir nicht erwarten, dass ein Streik welcher nichts erreicht und nur sporadisch über die Jahre hinweg passiert, die Mobilisierungskraft in der Arbeiter:innenklasse aufrechterhalten kann. Um die Flamme des Klassenkampfes zu befeuern, reicht es nicht aus, dass eine soziale Bewegung konstant bleibt. Sie muss wachsen und neue Errungenschaften gewinnen. Die erfolgreichen Jahre waren geknüpft an siegreiche Arbeitskämpfe, internationale Bewegungen mit klaren Forderungen (wie die #MeToo-Bewegung) und das Aufhalten eines Angriffes auf die Altersvorsorge. Auch gab es nach den Streiks merkliche Auswirkungen auf Wahlen und umliegende Länder. 2023, das Jahr in welchem Frauen eine Niederlage an der Urne erlitten, weil die Schweizer Volkspartei gewann, ließ scheinbar keinen Grund zu, um an einem Streik teilzunehmen, welcher schlussendlich eher eine Feier war. Und erst kürzlich hat das Bundesgericht entschieden, dass bei „kurzen“ Vergewaltigungen eine Strafmilderung angemessen sei!

Einbezug

Damit es in einer Phase der Niederlage möglich ist, konstant zu bleiben, sind zwei Fehler der Bewegung zu umgehen: 1. Es braucht einen Einbezug von mehr und unterschiedlichen Wirtschaftssektoren in die Streiks, durch Aufbau von Aktions- und Streikkomitees. 2. Die Aktionen müssen länger und weiter gedacht werden.

Dafür darf sich die Bewegung nicht gegen mehrtägige Aktionen stellen (wie es 2019 vonseiten der Führung von solidaritéS getan wurde) und es muss auch mit dem reaktionären Arbeitsfrieden gebrochen werden. Das würde das Potenzial für einen Generalstreik langfristig eröffnen.

Neue Sektoren zu inkludieren, bedeutet auch, Männer in den Kampf einzubinden. Männer waren die großen Abwesenden in den Streiks 2019 und 2023. Dies ist symptomatisch für ein Programm, welches nicht versucht, eine Kampfeinheit unter den Proletarier:innen aufzubauen, und von Basisorganisationen einer Bewegung, welche sich zu sehr auf eine der Geschlechter fokussiert. Die Gewerkschaften brauchen daher eine marxistische Perspektive, welche gleichviel Potenzial in Frauen und Männern sieht. was die Erkämpfung von arbeitsrechtlicher Gleichstellung angeht. Natürlich ist möglich, dass nur Frauen an Streiks beteiligt sind! So war es auch in den ersten Tagen der Februarrevolution. Doch die russischen Frauen hätten 1917 nie ihre politischen Rechte erkämpfen können, hätten sie nicht gemeinsam mit Männern gekämpft. Es ist daher unabdingbar für zukünftige Aktionen, arbeitende Männer einzubinden!

Wir müssen auch große Unterschiede zwischen der französisch- und deutschsprachigen Schweiz zur Kenntnis nehmen. In Ersterer hatten radikale linke Organisationen wie die solidaritéS einen großen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Dies war in Letzterer nicht der Fall. Die Bewegung für den Sozialismus (BFS, welche auch dem VSVI nahesteht und in den deutschsprachigen Städten Zürich und Basel viel stärker ist) wollte nicht gleich viel Zeit in den Aufbau des feministischen Streiks investieren wie solidaritéS. Daher waren die Organisator:innen vor allem im französischsprachigen Teil kämpferischer, während in der deutschsprachigen Schweiz größtenteils Sozialdemokrat:innen an der Spitze der Streikorgane standen.

Bürokratie und Arbeitsfrieden

Die Führung der Streiks durch die Gewerkschaftsbürokratie, welche wohl am meisten die Schweizer arbeitende Klasse verraten hat, stellt ein zentrales Hindernis für den feministischen Streik dar. Die Bürokratie der Gewerkschaften steht für den sog. Arbeitsfrieden, ein Abkommen, das 1937 mit den Unternehmer:innenverbänden abgeschlossen wurde und das die Gewerkschaften zur Klassenzusammenarbeit verpflichtet und faktisch das Streikrecht verbietet. Das Schweizer Proletariat wurde entwaffnet, da es die mächtigste Waffe gegen die Bourgeoisie verloren hat. Wir müssen sie um jeden Preis zurückgewinnen! Das ist der primäre Kampf, welchen alle klassenkämpferischen Kräfte in den Gewerkschaften führen müssen.

Zugleich ist die Gewerkschaftsführung eng mit der SP verbunden. Auch daher ahmen die Forderungen des feministischen Streiks die Klassenkollaboration nach. Zum Beispiel fordern sie die Erschaffung von Komitees, welche die gleiche Bezahlung in den Unternehmen überprüfen. Sie sagen jedoch nichts darüber, wer in solchen Komitees sitzen, ob es sich um Organe der Arbeiter:innenkontrolle oder der Sozialpartner:innenschaft handeln soll.

Es gibt ein weiteres Element der aktivistischen Kultur, welches verändert werden muss: Wir müssen den bürgerlichen Föderalismus ablehnen, welcher unseren Kampf lähmt. Diese föderalistische Struktur erlaubt es individuellen Gewerkschafts- und SP-Bürokrat:innen, einen bundesweiten Kampf für Befreiung auf unterer Ebene zu sabotieren, wenn sie lieber auf den Arbeitsfrieden hören wollen anstatt auf die Bedürfnisse der Basisgewerkschafter:innen. Alle Aktivist:innen müssen fest zusammenstehen und den Chauvinismus ihrer Zeit und ihres Ortes überwinden: sei es kantonal, national, ethnisch, männlich oder cisheterosexuell. Alle Gewerkschafts- und SP-Bürokrat:innen, welche die nationalen Entscheidungen nicht respektieren, müssen von ihren Positionen entlassen werden – und das durch demokratisch organisierte Wahlen innerhalb der Gewerkschaften bzw. der Bewegung als Ganzer.

Diese Diskussion knüpft natürlich an der Erschaffung eines Organs an, welches Arbeiter:innen auf dem nationalen Level mobilisieren kann. Ein solches ist essentiell für einen Generalstreik. Es ist daher wichtig, ein Organ aufzubauen, welches nicht nach jedem Streik zerlegt wird, sondern eine dauerhafte Struktur bildet. Dies wird zuerst die Involvierung von Frauen in einer konsistenten Weise ermöglichen und auf der einen Seite hoffentlich zur Ausbreitung in die Industrien führen, in welchen Frauen eine dominante Rolle einnehmen, und auf der anderen fortschreitend die Beteiligung der Männer stärken.

Diese Art der chauvinistischen Einstellung kann auch gefunden werden in der Ablehnung des 8. März als Streiktag. In der Schweiz ziehen wir es oft vor, uns an unserem Stolz nationaler Ereignisse aufzuhängen statt an der internationalistischen und kommunistischen Geschichte. Dies ist ein weiteres Element, welches die reformistische Tendenz und Richtung der Bewegung aufzeigt, welche sich lieber mit Konzessionen rühmt, welche 40 Jahre zu spät geschehen, anstatt den glorreichen Sieg der Frauen Petrograds über die zaristische Repression am 8. März, welcher die ganze Gesellschaft erfasst hat.

Aktuelle Angriffe

Wir wurden gezwungen zuzuhören, wie bürgerliche Politiker:innen uns erzählten, wir müssen ein Jahr mehr arbeiten, als das Renteneintrittsalter von 64 auf 65 angehoben wurde, da es für Männer 65 beträgt. In der Konsequenz bedingt die bösartige Sicht auf die Gleichheit unter den Geschlechtern der Bürgerlichen noch mehr unbezahlte Arbeit. Tatsächlich wurde für 2016 geschätzt, dass Frauen gratis Arbeit im Wert von 247 Milliarden CHF ausüben, ein Drittel des Schweizer BIP.

Die Überschattung der tatsächlichen Wurzeln der Ungleichheit ist klar für die proletarischen Frauen: Ungleichheit in der Aufteilung reproduktiver Arbeit, sexualisierter Gewalt etc. Das ist auch, warum Frauen massiv gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters stimmten. Aber die abstimmenden Schweizer Männer waren von einem seltenen Machismus durchdrungen.

Am 25. September 2022 stimmten 50,57 % für seine Erhöhung  für Frauen von 64 auf 65 Jahre. Am Ende war es eine Niederlage für die gesamte arbeitende Klasse. Dieses Jahr wird die Bourgeoisie uns darüber abstimmen lassen, ob es auf 66 oder noch höher angehoben werden soll – natürlich im Namen der bürgerlichen Gleichberechtigung für Frauen und Männer. Im kommenden Kampf gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters wird der feministische Streik ein unabdingbares Werkzeug sein, welches Solidarität zwischen den Geschlechtern bilden und so ein Mittel gegen die Offensive des Kapitals auf die Lebensbedingungen des Proletariats sein kann. Es ist unabdingbar, dieser Bewegung neues Leben zu geben.

Die Schaffung eines Kampforgans, welches über die kantonalen Grenzen hinausgeht, ist essenziell für den Erfolg des Kampfes um einzelne Reformen. Um uns von sexistischer Gewalt und Unterdrückung zu befreien, müssen wir gemeinsam mit FINTA+ und Männern auf der ganzen Welt kämpfen. Solidarität und Internationalismus ist unser Motto!

Wir denken, folgende Forderungen sollten in der Bewegung diskutiert werden, um in der Schweiz die Debatte um ein Programm der FINTA+- und LGBTQ+-Befreiung voranzubringen. Sie stellen aber noch nicht selber dieses Programm dar:

1. Zuallererst müssen wir das Renteneintrittsalter von Frauen verteidigen. Die Anhebung auf 65 ist nicht nur ein frontaler Angriff auf den Lebensstandard von Frauen, sondern auch ein Rammbock gegen die Arbeitsbedingungen der gesamten Arbeiter:innenklasse, angeführt von der Instrumentalisierung des Sexismus. Die Arbeiter:innenbewegung muss zusammen mit dem feministischen Streik eine militante Kampagne lancieren, um das Renteneintrittsalter zu verteidigen. Dieser Schlag gegen die Offensive der Bourgeoisie muss weiter gehen als die einfache Verteidigung vergangener Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse. Die Produktivität der Arbeiter:innen ist beständig gestiegen, aber genauso das Rentenalter. Was für eine Gesellschaft muss beides erhöhen? Weiterhin fordern wir eine Volkspension fern den Fängen des Kapitals, mit vollen Vorteilen und Renten für Teilzeitarbeit.

2. Wir können uns weder auf wohlwollende Kapitalist:innen oder männliche Partner verlassen noch können wir dem Staat vertrauen, diese lebenswichtige Arbeit, welche primär von mehrfach marginalisierten Menschen ausgeführt wird, akkurat auszuwerten und wertzuschätzen. Daher müssen wir die Arbeitszeit radikal verkürzen (7-Stundentag, 4 Tage die Woche) bei gleichbleibendem Lohn sowie eine Elternzeit fordern, welche Frauen am Arbeitsplatz nicht diskriminiert. Nur der gemeinsame Kampf der Arbeiter:innenklasse gegen Kapitalismus und Staat kann diese Forderungen durchsetzen. Und nur unter einer demokratisch geplanten Wirtschaft kann reproduktive Arbeit und deren ungleiche Verteilung langfristig angegangen werden. Soziale und ökologische Krisen wie COVID oder der Klimawandel werden die Notwendigkeit reproduktiver Arbeit nur vergrößern. Wir müssen dafür kämpfen, dass diese Krisen nicht auf Frauen, queere Menschen und PoCs abgeschoben werden.

3. Wir fordern, dass reproduktive Arbeit gesellschaftlich organisiert wird, anstatt in der Nuklearfamilie aufgeteilt zu werden. Wir wollen Komitees an den Arbeitsplätzen etablieren, welche die Arbeit der Kindererziehung (und andere reproduktive Arbeiten, welche in der Familieneinheit geschehen wie z. B. die Betreuung älterer Eltern oder kranker Verwandten) öffentlich, unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse organisieren. Die vorhandene private Hausarbeit muss gleich unter den Geschlechtern aufgeteilt werden.

4. Es ist notwendig, dass alle Arbeiter:innen demokratisch entscheiden, welche Industrien wünschenswert für das Wohl aller sind, und welche in den Mülleimer der Geschichte gehören. Wir wollen mehr reproduktive Arbeit besserer Qualität, was bedeutet: Etwas muss aufgegeben werden! Wir kümmern uns nicht um die Auto- oder Ölindustrie. Wir wollen keine fast fashion oder anderen Konsumwahn. Die Entscheidung darüber, welche Industrien am Leben erhalten werden sollen, muss demokratisch in Betriebs- und Stadtteilkomitees entschieden werden.

5. Wir wollen Delegierte von Frauen der Arbeiter:innenklasse in Organen der Arbeiter:innenkontrolle, welche in allen Betrieben garantieren, dass Lohngleichheit besteht, mit selbst bestimmten Kriterien. Frauen werden häufig schlechter bezahlt als Männer, ob aus Gründen von Diskriminierung oder wegen Teilzeitarbeit, um für ihre Familien zu sorgen. Arbeitende Frauen werden sich nichts sagen lassen von bürgerlichen Ökonom:innen, welche ihnen weismachen wollen, dass ihre Notlage ein gerechtes und rationales Produkt einer „gerechten“ und „rationalen“ Gesellschaft ist, welche sie unterdrückt. Im Gegenteil, arbeitende Frauen versuchen, die Gründe für ihr Mühsal zu verstehen, und entdecken die Irrationalität der Klassengesellschaft und ihrer patriarchalen Auwüchse – und werden sich radikal gegen alle stellen, welche dies als gegeben und als Notwendigkeit betrachten. Denn das ist es nicht: Schaut nur, wie gut es die Männer der Kapitalist:innenklasse haben! Ähnliche Methoden und Argumente können für PoCs und queere Menschen wiederholt werden.

6. Wir fordern, dass Betriebe, welche gegen die Gleichstellung verstoßen, ohne Kompensation aus den Händen der Besitzenden entrissen, verstaatlicht und unter Arbeiter:innenkontrolle weitergeführt werden.

7. Wir sind für die volle Selbstbestimmung der Frauen über ihre Körper. Sie dürfen nicht sexistischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein, ob physisch oder verbal. Sie müssen fähig sein, alle Kleidungsstücke zu tragen, welche sie wollen – einen Rock, Hidschab oder Mini-Shorts, ohne sexistische oder herablassende Sprüche über sich ergehen lassen zu müssen. Frauen, trans Personen (und auch Männer) verdienen eine gebührende Sexualerziehung, welche nicht nur heterosexuellen, sondern auch homosexuellen Sex und transgeschlechtliche Gesundheit umfasst. Das bedeutet auch eine Transformation der Gesundheitsversorgung rundum. Wir brauchen eine öffentliche Einheitskrankenkasse, welche das bedingungslose Recht auf Abtreibung, Menstruationsprodukte, Verhütung und geschlechtsbejahende Pflege umfasst, sowie einen Mechanismus, um gegen Sexismus und Rassismus im Gesundheitswesen anzukämpfen.

8. Es ist bekannt, dass die Polizei und das Militär sehr sexistisch, rassistisch und queerphob sind. Diese Institutionen sind unrettbar. Es sind ihre Merkmale unterm Kapitalismus. Frauen müssen unterdrückt werden, um sie in ihrer Rolle als unbezahlte und über-ausgebeutete Arbeiter:innen zu halten. Deshalb kann die Polizei Beschwerden sexualisierter Gewalt nicht ernst nehmen, vergewaltigen eindringende Armeen Frauen und ihre Töchter. Diese Institutionen sind faul und müssen komplett abgeschafft werden; angefangen damit, ihre Finanzierung zu kappen. Wir wollen sie ersetzen mit Körperschaften bewaffneter und organisierter Arbeiter:innen: Arbeiter:innenmilizen, welche die Herrschaft des Proletariats und aller marginalisierten Gruppen durchsetzen und damit eine offene Gegenmacht gegen die Herrschaft der bürgerlichen Polizei und Armee darstellen.

9. Der Kampf für einen feministischen Streik, der zu einem umfassenden politischen Streik gegen die Rentenreform und für andere Forderungen wird, ist ein integraler Teil des Klassenkampfes. Doch um eine solche Perspektive durchzusetzen, müssen wir in den Gewerkschaften und in der Bewegung auch für den Aufbau einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei als Alternative zu Reformismus und Bürokratie eintreten, die den Kampf für die Frauenbefreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet.




Geschichte des feministischen Streiks in der Schweiz

Rosa Favre, Was Tun Schweiz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

In der Schweiz wurden Frauenrechte immer etwas später errungen als in anderen europäischen Ländern. Wir haben das Wahlrecht auf nationaler Ebene erst 1971 erhalten, während es in Deutschland und Österreich 1918 und in Italien 1945 eingeführt wurde. Dies sind sechs Jahre, nachdem selbst die USA das Wahlrecht ohne Diskriminierung verallgemeinerten, also endlich schwarzen Frauen erlaubten zu wählen.

Hintergrund

Diese Schweizer Verzögerung kann durch unzählige komplementäre Faktoren erklärt werden. Während der imperialistischen Kriege mussten die kriegführenden Länder massenhaft weibliche Arbeit anstellen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Es gab wegen der Schweizer Neutralität nicht denselben erzwungenen Einbezug in den Arbeitssektor. Der Widerspruch zwischen ihrer erhöhten Ausbeutung und dem Mangel an bürgerlichen Rechten trat so in der Schweiz weniger und später ins Massenbewusstsein und wurde auch nicht aufgelöst. Ein anderer Faktor ist, dass sich wegen der föderalen Struktur des Landes viele Aktivist:innen für das Frauenwahlrecht auf die kantonale Ebene fokussiert haben. Daher haben drei Kantone, alle in der französischsprachigen Schweiz (Waadt, Neuenburg und Genf), schon 1960 das Frauenwahlrecht eingeführt. Bevor weitere Kantone nachzogen, mussten allerdings noch sechs Jahre vergehen.

In ähnlicher Weise wurde die Gleichheit zwischen Männern und Frauen erst am 14. Juni 1981 in der Verfassung verankert. In den Nachbarländern geschah dies schon 1946 in Frankreich bzw. 1949 in Deutschland. Wie es jedoch bei solchen Gesetzen üblicherweise der Fall ist, scheitern sie an der wirklichen Umsetzung. Am schockierendsten ist dabei, wie manche Kantone es geschafft haben, Frauen bis 1991 das Wählen de facto zu verbieten. Erst 20 Jahre, nachdem das Wahlrecht auf nationaler Ebene errungen und 10 Jahre nachdem die Gleichheit unter den Geschlechtern gesetzlich verankert worden war, erzwang die Eidgenossenschaft die Umsetzung auch im Kanton Appenzell Innerrhoden.

Geschichte des Frauenstreiks

1991, zehn Jahre nach der Einführung der Gleichheit unter den Geschlechtern in der Verfassung, organisierte der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) zum Jahrestag einen Streik namens „Frauenstreik“. Der Slogan lautete „Zehn Jahre der Gleichheit … auf dem Papier!“ Die Wirkungslosigkeit der Autoritäten, das Gesetz konkret umzusetzen, wurde verurteilt und es wurden einige Lösungen vorgeschlagen: Lohnungleichheit verbieten, Frauen vor sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz schützen, bezahlbare Kinderbetreuung und Männer zur Teilnahme an reproduktiver Arbeit im gleichen Maße zwingen, wie sie Frauen ausüben. Da der Aufruf zum Generalstreik der Frauen weit über einen einfachen Umzug während der Freizeit hinausging, wurde er von den bürgerlichen Ideolog:innen in Medien und Parlament vehement bekämpft. Sie bezeichneten die Aktion als „exzessiv“. Ein Mitglied des Parlaments maßte sich sogar an, den Aufruf als „dumm“ zu bezeichnen. Aber es waren nicht nur Männer, die gegen einen Streik waren: Auch liberale und konservative sogenannte Feministinnen hatten keine Solidarität oder Empathie für die Sache übrig.

Der Grund für die erfolgreiche Mobilisierung, die nur von zwei anderen Aktionen in der Schweizer Geschichte übertrumpft werden konnte, liegt in der Arbeiter:innenbewegung. Ausgangspunkt war der Streik von Uhrenarbeiter:innen in Vallée de Joux, einem abgeschlossenen Hochtal im Jura, die sich gegen die exorbitanten Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern einsetzen wollten und unterschiedliche Gewerkschafter:innen für ihr Anliegen begeistern konnten, unter ihnen zentral Christiane Brunner. Die Erfolge davon waren aber nicht nur abhängig von dieser erfolgreichen gewerkschaftlichen Mobilisierung, sondern die Bewegung schaffte es, in einen sehr speziellen internationalen Kontext zu treten, wo auch in Amerika und Europa große Streiks stattfanden und die Aktionen und Mentalitäten ineinander überschwappten.

Der 14. Juni 1991 markiert noch immer einen der größten Tage für soziale Bewegungen in der Schweiz. Denn 100.000 Frauen streikten für die Gleichheit unter den Geschlechtern, und insgesamt 500.000 beteiligten sich in der einen oder anderen Weise. Es war die größte Arbeitsniederlegung, die die Schweiz seit dem Generalstreik 1918 gesehen hatte. Die Schockwelle spürt man bis heute noch in der Arbeiter:innengeschichte nach und die bloße Erwähnung des Streiks sorgt für Angst und Schrecken in der Bourgeoisie, obwohl er von der Sozialdemokratischen Partei (SP) und den sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften koordiniert wurde, die ja auch gut eingebettet ins bürgerliche System sind, und unmittelbar letztlich sehr wenige Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Kritischer Überblick über den Status des feministischen Streiks

Obwohl sich der kämpferische Streik 1991 gegen das bürgerliche Anti-Streik-Dogma stellte, wurden nur wenige Forderungen formuliert. Für tatsächliche Rechte zu kämpfen, die der Staat einer unterdrückten Gruppe zu gewähren vorgibt, ist zwar eine großartige Taktik für Bürger:innnenrechtsaktivist:innen, hat aber seine Grenzen. Es trabt nämlich dem Kapitalismus auf seinem Terrain hinterher.

Ein prägnantes Argument ist, dass der Kapitalismus unfähig ist, uns die Rechte zu gewähren, welche er uns verspricht. Tatsächlich ist die geschlechtsspezifische Unterdrückung in die grundsätzliche Funktionsweise des kapitalistischen Systems eingewoben, welches es sich beispielsweise nicht leisten kann, die Hausarbeit und damit die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen der privaten Sphäre zu entreißen. Daher kann im Kapitalismus zwar die formale, rechtliche Gleichheit der Geschlechter errungen werden, aber keine faktische Gleichstellung. Für ein tatsächliches Ende der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, für wahrhaftige Gleichstellung, muss daher die kapitalistische Produktionsweise überhaupt gestürzt werden!

Die Forderungen des Streiks von 1991 waren alle inhaltlich gut und wichtig, allerdings nicht ausreichend, und die Organisator:innen glaubten, Forderungen nach Abtreibungsrechten und Mutterschaftsurlaub wären zu ehrgeizig für die Bewegung! Außerdem wurden keine Anstalten unternommen, die spezifischen Bedürfnisse von People of Colour oder LGBTQ+-Personen aufzunehmen. Ihr Feminismus war daher nicht nur reformistisch, sondern auch ausschließend. Es ist daher auch nicht überraschend, dass einige der prominentesten Führerinnen des Streiks 1991, wie Martine Chaponnière, später immer islamophober wurden.

Neuauflage

2011 wurde eine Neuauflage des Streiks initiiert, die jedoch eine starke Einbuße an Kampfkraft zu verzeichnen hatte. Die Frauen der bürgerlichen Parteien, welche 1991 die Idee eines Streiks verabscheut hatten, haben die Notwendigkeit eines Streiks nun verteidigt. Dieses Mal waren aber nur einige tausend Frauen auf den Straßen.

Als Reaktion auf die #MeToo-Bewegung entschied sich der SGB 2019, eine erneute Version des Streiks zu organisieren, wieder am 14. Juni. Dieser wurde sowohl „Frauenstreik“ als auch „feministischer Streik“ genannt. In der deutschsprachigen Schweiz war er größtenteils unter ersterer Bezeichnung bekannt. Dieses Mal waren 500.000 Menschen auf der Straße. Im Gegensatz zu 1991 fokussierten sich die Forderungen auf den intersektionalen Feminismus. Spezifische Forderungen für rassifizierte Frauen wie auch für LGBTQ+-Personen wurden aufgestellt. Der Aufruf, diesen Streik zu organisieren, war aus der Frauenversammlung des SGB entstanden, durch den Impuls von Frauen aus dem Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Nach einem Aufruf über Facebook trafen sich im Juni 2018 ca. 200 Frauen, nicht alle davon gewerkschaftlich oder anderweitig organisiert, um den Streik 2019 zu initiieren. Im Anschluss bauten diese in der ganzen Schweiz Strukturen zu seiner Organisation auf.

Am Streiktag schließlich fanden viele spontane Aktionen statt: Manifeste wurden geschrieben und spezifische Forderungen für gewisse Wirtschaftssektoren (vor allem im öffentlichen Dienst) wurden erhoben. Frauen, die im privaten Sektor arbeiteten, hatten es grundsätzlich schwieriger zu streiken, wegen der noch größeren Gefahr von Repressionen seitens des Kapitals. Dies hielt Frauen im öffentlichen Dienst aber nicht davon ab, Solidarität zu bekunden und Forderungen für ihre Schwestern im privaten Sektor aufzustellen. Zum Beispiel stellten Angestellte und Student:innen der Universität Lausanne Forderungen für das Reinigungs- und Cafeteriapersonal auf, welches von privaten Firmen angestellt war.

Folgen

Eine solche Masse an arbeitenden Frauen auf der Straße zu sehen, war eine Inspiration für arbeitende Frauen in anderen westlichen Ländern. Der Streik war in den Nachrichten in Großbritannien, Deutschland, Österreich, in den USA und in weiteren Ländern, stets begleitet von einem Kommentar zur Geschichte des außergewöhnlichen Tages, an welchem die Schweizer Frauen streik(t)en.

Wie in Spanien bildeten diese Streiks ein Beispiel dafür, wie der Kampf um Frauenbefreiung die Grenzen des kleinbürgerlichen und bürgerlichen Aktivismus überwinden kann. Tatsächlich ist der Streik voll und ganz eine Kampfform des Proletariats. Auch wenn nicht jede so betitelte Aktion auch wirklich ein Streik ist, so waren die Aktionen in der Schweiz stark verbunden mit betrieblichen Aktionen und standen unter gewerkschaftlicher Anleitung.

Wie bereits erwähnt, stellen sich bürgerliche Frauen gegen das Kampfmittel des Streiks. Dieselben Frauen aber schämen sich nicht, den Feminismus als Werkzeug zu missbrauchen, um ihre Dominanz über arbeitende Frauen zu verstärken. Vor allem anderen kämpfen sie für Quoten in Spitzen- und Führungspositionen und gegen alltägliche sexistische Handlungen, während die permanente strukturelle Unterdrückung von Frauen im Kapitalismus unangetastet bleibt.

Dieser liberale Feminismus stellt Männer gegen Frauen und erlaubt es proletarischen Frauen in keinster Weise, die Kontrolle über ihre eigene Emanzipation zu erhalten. Daher wird er auch von den meisten proletarischen Frauen abgelehnt. Was die Streiks in der Schweiz und Spanien Frauen auf der ganzen Welt gezeigt haben, ist, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem Kampf für mehr Frauenrechte und dem für bessere Arbeitssituationen, kurz,  dass die Frage nach Gleichberechtigung eben auch eine Klassenfrage ist.

Daher war der Streik 2019 ein realer Erfolg, welcher fähig war, arbeitende Frauen zu mobilisieren. Daher hat er das Vertrauen der Arbeiter:innen erhalten und eine Plattform für Veränderung geboten. Logischerweise sollten wir also erwarten, dass die Bewegung deswegen anwächst. Doch die Führungsrolle des Reformismus der SP und Gewerkschaftsbürokratie sowie der Einfluss des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feminismus sollten sich in den folgenden Jahren als Barriere erweisen, die zu Stagnation und Rückschlägen der Bewegung führte.




Nordirland: Die Rückkehr von Stormont

Bernie McAdam, Infomail 1246, 29. Februar 2024

Vor zwei Jahren kündigte die Democratic Unionist Party (DUP) das Karfreitagsabkommen (GFA) auf und verließ Stormont, das nordirische Parlament. Die dezentralen Institutionen der nordirischen Exekutive und Versammlung brachen damit zusammen. Die DUP bestand darauf, dass dies so lange andauern würde, wie das nordirische Protokoll zum Brexit-Austrittsabkommen und die Grenze zur Irischen See existierten, da dies eine Bedrohung für die Union mit Großbritannien darstelle. Das neue Abkommen „Safeguarding the Union (Schutz der Union)“, dem alle Parteien zugestimmt haben, hat die Rückkehr ins Stormont sichergestellt.

Hat die DUP also erreicht, was sie will? Natürlich sagt sie, dass sie es hat und es nun keine Seegrenze mehr zwischen Großbritannien und Nordirland gibt. Die wichtigste Errungenschaft des DUP-Vorsitzenden Jeffrey Donaldson ist eine Vereinbarung über die Abschaffung der Routinekontrollen für Waren, die von Großbritannien in den Norden gelangen und nicht für den Verkauf in der irischen Republik und damit in der EU bestimmt sind. Die bestehenden „grünen“ und „roten“ Fahrspuren für Waren hatten jedoch bereits ein ähnliches Verfahren eingeführt, und es bleibt die Tatsache bestehen, dass zur Verhinderung von potenziellem Schmuggel in die EU weiterhin Kontrollen durchgeführt werden können, bevor die Waren in Nordirland angelandet werden. Mit anderen Worten: Es gibt immer noch eine Zollgrenze an der Irischen See, wenn auch weniger sichtbar; das Protokoll ist nach wie vor intakt.

Donaldsons größter Erfolg ist vielleicht, dass er seine Partei, die größte Stimme innerhalb der Unionist:innen, für diese sehr geringfügige Verfahrensänderung gewinnen konnte. Sogar der loyalistische Dachverband, der Loyalist Community Council, dem auch loyalistische Paramilitärs angehören, hat die Vereinbarung unterstützt. Das bedeutet, dass mit Michelle O’Neil von Sinn Fein zum ersten Mal eine nationalistische Premierministerin akzeptiert wird. Für die DUP ist das natürlich schmerzlich, aber sie hat mit der nicht gewählten Emma Little-Pengelly eine willige stellvertretende Ministerpräsidentin gefunden. Aber auch hier gibt es wenig Substanzielles, da alle Entscheidungen von beiden Ministerinnen, die gleichberechtigt sind, mitgetragen werden müssen.

Sinn Feins Freude

Eine jubelnde Sinn Fein behauptet, dass ein vereinigtes Irland nun „in greifbarer Nähe“ sei, und Michele O’Neil spricht davon, dass „die Volksabstimmungen noch in diesem Jahrzehnt“ stattfinden werden, um die Zukunft der Union zu bestimmen. Das Karfreitagsabkommen enthält zwar eine solche Bestimmung, aber es liegt ganz im Ermessen der britischen Regierung, eine solche Grenzabstimmung zuzulassen. Der britische Minister für Nordirland, Chris Heaton-Harris, rechnet nicht damit, dass er eine solche Abstimmung noch zu seinen Lebzeiten erleben wird. Wer gedacht hat, dass die Labour-Partei mehr Sympathie zeigen würde, sollte sich anhören, wie ihr Vorsitzender Starmer ein mögliches Referendum herunterspielt, indem er es als „absolut hypothetisch“ und „nicht einmal am Horizont sichtbar“ bezeichnet.

Das Abkommen tut genau das, was es sagt, nämlich „die Union zu schützen“, genau wie das GFA, indem es einem zutiefst undemokratischen Staat ein „demokratisches“ Mäntelchen umhängt. Für den US-amerikanischen, europäischen und britischen Imperialismus ist die Struktur der Machtteilung des GFA das einzig Wahre, und Sinn Fein macht da gerne mit. Für die Unionist:innen ist die Teilung der Macht der Preis, den sie für die Fortsetzung der Union mit Großbritannien zahlen müssen.

Der Staat ist jedoch immer noch ein Affront gegen die demokratischen Bestrebungen des irischen Volkes als Ganzes, und es ist die Bevölkerung, die die Zukunft der sechs Grafschaften bestimmen sollte, frei von jedem britischen Veto. Stormont ist nach wie vor eine sektiererische Struktur und wird auch weiterhin die Ämter auf sektiererischer Basis in einem Staat verteilen, der existiert, um den Kapitalismus zu kontrollieren und die Teilung zu bewahren; ein Staat, der über die am meisten benachteiligte Region im Vereinigten Königreich herrscht.

Herausforderung für die Arbeiter:innenklasse

Was die Situation wirklich veränderte, war der Generalstreik im öffentlichen Dienst im Januar, als 150.000 Arbeiter:innen auf die Straße gingen. Das konzentrierte die Gedanken der DUP auf wunderbare Weise, als sie sich mit dieser Herausforderung der Arbeiter:innenklasse auseinandersetzte. Die Region wurde zum Stillstand gebracht, als sich katholische und protestantische Lohnabhängige zusammenschlossen, um ihre ausstehenden Lohnansprüche einzufordern. Abgesehen von der Wut über die Verschlechterung der Löhne und Dienstleistungen wurde die Wirkung durch den Trick der britischen Regierung noch verstärkt: „Wir werden euch bezahlen, wenn ihr die Exekutive wieder zum Laufen bringt“.

Betrachtet man den realen Wert der Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor, d. h. die Differenz zwischen den Lohnabschlüssen und der Inflation, so ist dieser zwischen April 2021 und April 2022 um mehr als 4 % gesunken. Im folgenden Jahr betrug der Rückgang 7 %. Hinzu kommt die erschreckende Tatsache, dass die Arbeiter:innen in Nordirland  weniger Lohn erhalten als die entsprechenden Kolleg:innen im übrigen Vereinigten Königreich. Die Lohngleichheit ist natürlich eine wichtige Forderung, aber sie reicht allein nicht aus, um mit der Inflation Schritt zu halten.

Der öffentliche Sektor wurde von den regierenden Tories jahrelang mit brutalen Kürzungen überzogen. In fast allen Bereichen schneidet das nordirische Gesundheits- und Pflegesystem (British Medical Association) schlechter ab als irgendwo sonst im Vereinigten Königreich. Die Wartelisten sind verhältnismäßig viel höher und verlängern sich. Der Haushalt für das Bildungswesen 2023 – 2024 wurde um 2,5 % gekürzt, und die Bildungsbehörde gab bekannt, dass eine beträchtliche Anzahl von Schulen mit einer „unhaltbaren finanziellen Situation“ konfrontiert ist. Die Gehälter der Lehrer:innen wurden seit drei Jahren nicht mehr erhöht, so dass sich eine große Lücke zum Rest des Vereinigten Königreichs auftut.

Wie geht es weiter?

Jetzt, da „die Union gesichert“ ist und die britische Regierung 3,3 Milliarden Pfund freigegeben hat, obliegt es der von Sinn Fein und DUP geführten Exekutive, mit den Gewerkschaften über die Lohnzahlungen zu verhandeln. Genau darum ging es beim GFA, um die Übertragung der britischen Herrschaft mit all ihren wirtschaftlichen Angriffen. Natürlich ist die begrenzte Finanzierung durch Großbritannien der Kern des Problems, aber die Zuständigkeitsverlagerung entbindet die britische Regierung von einer direkten Beteiligung.

Die Wut auf den Straßen im Januar ist noch nicht verflogen. Bei Redaktionsschluss haben die Gewerkschaften Unite, GMB und SIPTU ein Lohnangebot von 5 % für das Verkehrspersonal abgelehnt und für den 27. bis 29. Februar zu einem dreitägigen Streik aufgerufen. Die Assistenzärzt:innen werden im März einen Tag lang streiken, nachdem 97 % für einen Streik gestimmt haben. In einem Streit, der bis ins Jahr 2018 zurückreicht, hat die GMB (General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union) vor Streiks gewarnt, da laut Sprecher für Bildung Paul Girvan keine neuen Mittel für die Bezahlung und Einstufung des Schulpersonals zur Verfügung stehen.

Der Streik im Januar zeigt zwar die enorme Kraft der Arbeiter:innenschaft, die gemeinsam streikt, aber es ist klar, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind. Carmel Gates, NIPSA (Nordirische Öffentliche Dienstallianz)-Generalsekretärin, sagte: „Dies ist der Anfang, wir werden eskalieren“. Aber diese Worte müssen in eine konkrete Strategie für den Sieg umgesetzt werden. Wir können uns dabei nicht auf unsere Führer:innen verlassen. Die Basis muss die Kontrolle über die Auseinandersetzungen übernehmen, indem sie Streikkomitees und Massenversammlungen bildet, um ihre Führungen zur Verantwortung zu ziehen. Gemeinsame gewerkschaftliche Aktionsräte müssen ein eskalierendes Aktionsprogramm bis hin zu einem unbefristeten Streik koordinieren.

Zurück nach Stormont

Die neue Exekutive wird also wieder die britische Herrschaft umsetzen, und zwar mit allen finanziellen Zwängen, die sich aus der Politik der Regierung ergeben. Der einzige „Vorteil“ der Rückkehr nach Stormont wird darin bestehen, dass die Rolle von Sinn Fein und der DUP bei der Kollaboration mit den Angriffen der britischen Regierung auf die Arbeiter:innen aufgedeckt wird. Ja, sie werden mehr Geld fordern und die Verantwortung leugnen, aber sie werden nicht kämpfen oder sich der Regierung widersetzen, um die Lohnforderungen der Beschäftigten zu erfüllen. Es wird interessant sein zu sehen, ob die Exekutive sich sogar weigert, die vom Finanzministerium geforderten zusätzlichen Einnahmen in Höhe von 113 Millionen Pfund aufzubringen!

Die Gewerkschaftsbürokrat:innen werden ihr Bestes tun, um die Aktionen zu begrenzen und schlechte Verträge unterhalb der Inflationsrate auszuhandeln. Auch sie sind für die Teilung und werden die Strukturen der Machtteilung nicht erschüttern wollen. Klar ist, dass ein entschlossener Kampf der Arbeiter:innen zur Verteidigung und Verbesserung ihres Lebensstandards das institutionalisierte Sektierertum, das die Gesellschaft in den sechs Grafschaften durchdringt, auf die Probe stellen und ins Wanken bringen wird.

Wenn der Brexit vielen gezeigt hat, wie störend eine Grenze in Irland ist, dann kann eine militante Herausforderung der Kürzungspolitik durch katholische und protestantische Arbeiter:innen die Augen für eine Zukunft öffnen, in der alle Arbeiter:innen in Irland ihre gemeinsamen Interessen gegen die britischen imperialistischen oder irischen kapitalistischen Bosse erkennen. Die kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden werden keine Skrupel haben, den Widerstand der Arbeiter:innenklasse zurückzuschlagen, deshalb brauchen wir Einigkeit über die konfessionelle Kluft hinweg, um einen stärkeren Kampf gegen die Bosse zu organisieren. Dieser Kampf wird erst dann beendet sein, wenn die Gesellschaft in einer Arbeiter:innenrepublik in Irland der Arbeiter:innenklasse gehört und von ihr kontrolliert wird.




Niederlande: Extreme Rechte gewinnt Wahlen

Fabian Johan, Infomail 1244, 7. Februar 2024

Bei den jüngsten Wahlen in den Niederlanden am 22. November 2023 erhielt die rechtsextreme Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders 2.450.878 Stimmen und bekam 37 Sitze im 150-köpfigen Parlament. Für viele war dies eine Überraschung, da die bürgerlichen Medien und Umfragen einen Sieg der Mitte-Rechts-Parteien NSC (Nieuw Sociaal Contract; Neuer Gesellschaftsvertrag) und VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie; Volkspartei für Freiheit und Demokratie) vorausgesagt hatten. Auch wenn diese beiden Parteien viele Sitze errungen haben (20 für die NSC und 24 für die VVD), ist dies das erste Mal, dass eine rechtsextreme Partei die niederländischen Wahlen gewonnen hat. Was bedeutet dieses Wahlergebnis für den Klassenkampf in den Niederlanden und Europa? Wie ist es dazu gekommen und wie sollten Revolutionär:innen darauf reagieren? Wie sollten wir die kommende Periode angehen und wie können sich die arbeitenden Menschen in den Niederlanden gegen die kommende Regierung wehren?

Wie haben die Rechtsextremen die Wahlen gewonnen?

Dreizehn Jahre Regierungszeit des Ministerpräsidenten Mark Rutte und der VVD haben zu einer sehr unsicheren Situation für die Mehrheit der arbeitenden Menschen in den Niederlanden geführt. Rutte verkaufte riesige Mengen an öffentlichem Wohnungsbestand an Immobilienunternehmen, was zu extrem teuren Mieten und einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum führte. Seit Ruttes Amtsantritt im Jahr 2010 sind die Gesundheitskosten für die arbeitende Bevölkerung in den Niederlanden jedes Jahr gestiegen, es wurde weniger in Kultur und Freizeit investiert, und der Arbeitsmarkt ist sehr instabil. Die Beschäftigten in den Niederlanden sind an schlecht bezahlte, flexible Verträge gewöhnt, die keine Arbeitsplatzsicherheit bieten. Das Sozialversicherungssystem wurde vollständig abgebaut, und diejenigen, die Leistungen beantragen, werden wie Kriminelle behandelt. Jemand, die/der eine „bijstandsuitkering“ (Beistandszuwendung; ähnlich wie Universal Credit im Vereinigten Königreich) beantragt, muss sich regelmäßig mit seinem/r Fallmanager:in treffen, jede noch so schlechte Arbeit annehmen, die ihm/r angeboten wird, und sogar umsonst arbeiten, wenn die Gemeinde es verlangt. Rutte hat auch Studiengebühren eingeführt, die das Studium sehr teuer machen und viele Student:innen mit hohen Schulden zurücklassen. Ruttes VVD brachte den organisierten Krieg gegen die Arbeiter:innenklasse durch eine neoliberale Umgestaltung des Staates zum Ausdruck.

Bei den Wahlen kämpften die Parteien vor allem um die Themen Migration, soziale Sicherheit, Wohnungsbau und Transparenz der Regierung. Die vorgezogenen Wahlen waren das Ergebnis des Scheiterns der von der VVD dominierten Koalition, die aufgrund großer Differenzen über die Einwanderungspolitik zerbrach. Mark Rutte und die VVD befürworteten einen zweistufigen Ansatz für Asylbewerber:innen, der sie in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die vor einem Krieg, und diejenigen, die aufgrund von Diskriminierung oder Unterdrückung fliehen. Erstere sollten ihre Aufenthaltsgenehmigung verlieren, sobald sich die Lage in ihrem Land verbessert, während Letztere weiterhin in den Niederlanden leben dürften. Darüber hinaus befürwortete die VVD einen strengeren Umgang mit der Familienzusammenführung und plädierte für ein Quotensystem, das die monatliche Aufnahme von Flüchtlingsfamilien begrenzen würde. Die anderen Parteien in der Koalition, wie D66 (Democraten 66) und CU (ChristenUnie; ChristenUnion), waren gegen eine solch harte Einwanderungspolitik, lösten die Regierung auf und es kam zu Neuwahlen.

Geschwächte Arbeiter:innenbewegung

Ein wichtiger Grund für den Wahlsieg der PVV war die geschwächte Gewerkschaftsbewegung. In den Niederlanden sind nur 16 % der Erwerbstätigen Mitglied einer Gewerkschaft, und sie sind nur in einigen wenigen großen Branchen wie dem Bildungswesen, dem Transportwesen und der Logistik gut organisiert. Die bedeutendste Gewerkschaft, die FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging; Niederländischer Gewerkschaftsbund), führt zwar regelmäßig Streiks im Verkehrssektor durch und konnte bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder durchsetzen. Die Gewerkschaft ist jedoch sehr bürokratisch organisiert. Obwohl sie soziale Veranstaltungen für ihre Mitglieder, eine jährliche Maiaktion und Konferenzen zu wichtigen Themen organisiert, unternimmt die FNV keine nennenswerten Anstrengungen, um die Organisation der Basis zu stärken. Es gibt keine regelmäßigen Gewerkschaftssitzungen, auf denen die Mitglieder ihre Anliegen vorbringen, die Gewerkschaftspolitik beeinflussen und eine aktive Rolle in der Gewerkschaft spielen können. Stattdessen liegt die Macht der Organisation zentral in den Händen von Kadern, die alle wichtigen Entscheidungen treffen und die Gewerkschaft leiten. Sie reichen von Berater:innen in den Gewerkschaftshäusern, die die Mitglieder rechtlich beraten, über Organisator:innen, die neue Mitglieder anwerben, bis hin zu Streikunterhändler:innen.

Bei Streiks gibt es nur selten eine Streikpostenkette. Stattdessen werden die Mitglieder lediglich gebeten, zu Hause zu bleiben. Wenn Eisenbahner:innen streiken, versucht die Gewerkschaft nicht, die lohnabhängigen Nutzer:innen einzubeziehen, um zu erklären, warum gestreikt wird, und Solidaritätsausschüsse zu organisieren. Außerdem entscheiden oft die Gewerkschaftsbürokrat:innen darüber, wann gestreikt wird, und nicht die Beschäftigten. Dies hat zur Folge, dass viele Menschen in den Niederlanden die Streiks als lästig empfinden und den Arbeiter:innen gegenüber feindselig eingestellt sind. Eine solche bürokratische Organisation hat dazu geführt, dass die arbeitenden Menschen in den Niederlanden keine starke Gewerkschaft haben, über die sie für ihre Interessen jenseits der unmittelbaren wirtschaftlichen und sektoralen Fragen kämpfen können. Obwohl sich Schichten aktiver Gewerkschaftsmitglieder an politischen Aktionen oder internationaler Solidarität beteiligen, gibt es nur sehr wenige politische Massenkampagnen und Aktivitäten der Gewerkschaften und kaum Streiks oder andere Aktionen, die über wirtschaftliche Fragen hinausgehen. Da sie keinen Nutzen in einer Gewerkschaft sehen, haben sich viele Lohnabhängige in den Niederlanden rechtsextremen Parteien zugewandt. Andere gehen überhaupt nicht wählen, weil sie sich völlig machtlos fühlen und zynisch werden.

Neben einer sehr schwachen Gewerkschaftsbewegung ist auch die niederländische Linke im Laufe der Jahre deutlich geschrumpft. Wie in vielen vom Reformismus beherrschten Arbeiter:innenklassen ist auch in der niederländischen Arbeiter:innenbewegung der Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen historisch gesehen die Domäne der Gewerkschaften, die den politischen Kampf – der seinerseits auf Wahlen ausgerichtet ist – den reformistischen Parteien überlassen. Mit dem Niedergang und der Rechtsverschiebung der Sozialdemokratie und der eher linksgerichteten Sozialistischen Partei ist die Arbeiter:innenklasse auf dem Gebiet der Politik massiv ins Hintertreffen geraten.

Sozialistische Partei

So wie die Gewerkschaften nur in einigen wenigen Sektoren organisiert sind, ist die Sozialistische Partei (SP) nur in einigen wenigen Städten populär. Nachdem sie in den 2000er Jahren gewachsen war und bei den Wahlen 2006 26 Sitze errungen hatte, wandte sich die SP zunehmend gegen den Marxismus und versuchte, sich als gemäßigte, sozialdemokratische Partei zu präsentieren. Zwischen 2015 und 2020 gab es eine linke Opposition in der SP, die von der der CPGB-PCC (Kommunistische Partei Großbritanniens-Provisorisches Zentralkomitee) angeschlossenen Kommunistischen Plattform (KP) angeführt wurde. Die KP betätigte sich in tiefem, strategischen Entrismus in dem Glauben, dass sie die SP durch Radikalisierung umgestalten könnte. Sie übernahm den Vorsitz in vielen Ortsverbänden der SP und hatte Mitglieder, die in die Führung der SP-Jugendorganisation ROOD (Dtsch.: ROT) gewählt wurden.

Unter dem Namen „Marxistisches Forum“ organisierten die KP-Mitglieder interne Diskussionen über marxistische Theorie und waren recht erfolgreich bei der Kontaktaufnahme mit jungen, linken SP-Mitgliedern. Auf der jährlichen SP-Konferenz stellte die KP Anträge und argumentierte für ihre Standpunkte. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass sie einige ernsthafte Probleme in der Sozialistischen Partei ansprachen, wie Islamophobie, migrant:innenfeindliche Einstellungen und Nationalismus. Außerdem sprachen sie sich gegen die Beteiligung an einer Koalition mit einer der bürgerlichen Parteien aus und versuchten, auf einigen Kampagnen der SP aufzubauen, z. B. der Organisierung von Mieter:innengewerkschaften.

Im Jahr 2020 griff die SP-Führung die Mitglieder der Kommunistischen Plattform mit den übelsten antikommunistischen und bürokratischen Methoden an. Anfänglich schloss die SP-Führung nur KP-Mitglieder und Teilnehmer:innen des Marxistischen Forums aus. Als jedoch ein KP-Mitglied in die Führung von ROOD gewählt wurde, lösten die SP-Bürokrat:innen ROOD auf und gründeten eine neue Jugendorganisation namens Junge in der SP. Auch die niederländische Sektion des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale (Grenzeloos; Grenzenlos, Zeitung der Socialistische Alternatieve Politiek, Sozialistische Alternative Politik, SAP, Sektion der IV. Internationale) hatte einige Mitglieder in der SP, die bei den Kommunalwahlen kandidierten und bei den Mitgliedern beliebt waren. Die SP-Führung schloss auch sie aus, ebenso wie jede/n, der/die auch nur am Rande mit der KP in Verbindung gebracht wurde. Nachdem der gesamte linke Flügel der Sozialistischen Partei gesäubert worden war, verlor die SP an Popularität und Tausende ihrer engagiertesten Aktivist:innen.

Die aus der SP ausgeschlossenen Linken bildeten rasch eine neue Gruppe, die sich Sozialist:innen nannte und einem ähnlichen Modell wie die brasilianische PSOL (Partido Socialismo e Liberdade; Partei für Freiheit und Sozialismus) folgte. ROOD arbeitete weiterhin als sozialistische Jugendorganisation, organisierte gelegentlich marxistische Seminare und nahm an Demonstrationen teil. Leider sind weder die Sozialist:innen noch ROOD effektive Organisationen. Ihr Ausschluss aus der SP hat dazu geführt, dass sie sehr nach innen gerichtet sind und sich nicht wirklich mit der Arbeiter:innenklasse und den Volksmassen auseinandersetzen können. Sie haben zwei Kongresse abgehalten, aus denen einige programmatische Dokumente und eine Verfassung hervorgingen, aber kein wirkliches Publikum für ihre Politik, außer sich selbst. Diejenigen, die sich nicht den Sozialist:innen anschlossen, traten der BIJ1 (niederländisches Kürzel für Bijeen; Zusammen) bei, einer kleinbürgerlichen radikalen Partei, die sich vor allem für den Kampf gegen Rassismus und trans Rechte einsetzt. Das Programm von BIJ1 enthält zwar viele fortschrittliche Reformen, doch die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution wird darin nie erwähnt. Ihre theoretische Grundlage bilden Intersektionalität und Postmodernismus, auch wenn sie einige Ideen aus dem Marxismus aufgegriffen hat. Jeder persönliche Konflikt in BIJ1 führt zu einer Krise, und es gab regelmäßig Vorwürfe über ein toxisches Umfeld. Bei den Wahlen im November büßte BIJ1 ihren einzigen Parlamentssitz ein und hat seitdem an Bedeutung verloren.

In Ermangelung einer starken Linken und einer geschwächten Gewerkschaftsbewegung verfügte die Arbeiter:innenklasse weder über eine Führung noch ein Mittel, um sich zu wehren. Viele Werktätige, die für die PVV stimmten, verstanden, dass Rutte und die VVD Teil des Problems waren. Sie spürten es in ihrem Portemonnaie, sahen es in ihren Renten und erlebten während der vier Kabinette Ruttes eine deutlich geringere Lebensqualität. Leider hatte die Mehrheit der arbeitenden Menschen keine Gewerkschaft, die gegen die Sparmaßnahmen ankämpfte, und auch keine sozialistische Bewegung, die ihnen die Ursachen ihrer Probleme erklären konnte. Da sie weder der VVD noch einer der Parteien der Mitte (NSC, D66 usw.) vertrauten, wandten sich viele an Geert Wilders, der versprach, sofort zu handeln und ihre Situation zu verbessern.

Rassistische Wahlkampagnen

In den Debatten vor den Wahlen und über die Programme der bürgerlichen Parteien machten die rechtsextremen Parteien die Migrant:innen für alle von Rutte und der VVD verursachten Probleme verantwortlich. Sie nutzten das fremdenfeindliche Klima, um Arbeitsmigrant:innen, Asylbewerber:innen, internationale Student:innen und sogar Staatenlose für die Wohnungskrise verantwortlich zu machen. Parteien wie die PVV, die FvD (Forum voor Democratie; Forum für Demokratie) und der BBB (BoerBurgerBeweging; Bauer-Bürger-Bewegung) argumentierten, dass die Niederländer:innen keinen bezahlbaren Wohnraum finden, weil alle bezahlbaren Wohnungen von Migrant:innen besetzt sind. Sogar das Wahlbündnis aus Grünen und Arbeiter:innenpartei (GroenLinks-PvdA), das auch eine gemeinsame Fraktion in der Ersten und Zweiten Kammer der Generalstaaten (niederländisches Parlament) bildet, sprang auf den Zug auf. Obwohl sie keine so harte Haltung gegenüber Migrant:innen einnehmen, haben sie es wie die übrigen Parteien versäumt, den Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Kontext neoliberaler Reformen zu stellen.

Die einzige Partei, die dies tat, war die Sozialistische Partei (SP), die immer wieder darauf hinwies, dass die Wohnungsknappheit das Ergebnis von 13 Jahren Rutte sei, die zu einer massiven Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus geführt hätten. Anstatt Migrant:innen für die Wohnungskrise verantwortlich zu machen, plädierte die SP für einen massiven sozialen Investitionsplan, um den öffentlichen Wohnungsbau auszubauen, Mietkontrollen auf dem privaten Wohnungsmarkt einzuführen und bezahlbaren Wohnraum für alle zu gewährleisten. Leider hat die SP nur eine sehr schwache Unterstützungsbasis und ist nur in einigen wenigen Teilen des Landes sowie bei Gewerkschaftsmitgliedern und progressiven Aktivist:innen beliebt.

Weitere Themen, die häufig genannt wurden, waren bessere Arbeitsplätze, Renten und soziale Sicherheit. Genau wie beim Wohnungsbau argumentierten rechte Parteien wie die PVV, die VVD und die BBB, dass Migrant:innen alle Arbeitsplätze besetzen und es notwendig ist, die Migration zu begrenzen, um den Niederländer:innen eine sicherere Existenz zu gewährleisten. Wilders behauptete, dass seine Partei durch die Begrenzung der Zuwanderung das Rentenalter der Niederländer:innen senken, den Mindestlohn anheben und die soziale Sicherheit erhöhen würde. Keine der rechtsbürgerlichen Parteien hat gezeigt, dass die wirkliche Ursache für niedrige Löhne, teure Bildung und Gesundheitsversorgung, die Zerstörung des Sozialstaats und eine unsichere Existenz das Ergebnis des Neoliberalismus ist. 

Die Partei der Arbeit (PvdA) versprach zwar, Bildung wieder erschwinglich zu machen, die Gesundheitskosten zu senken und den Mindestlohn auf 16 Euro pro Stunde zu erhöhen, kritisierte aber nie öffentlich die Rolle, die sie bei der Umsetzung der schlimmsten Elemente von Ruttes Neoliberalismus spielte. Während Ruttes zweitem Kabinett war die PvdA in einer Koalition mit der VVD und besetzte viele Minister:innenposten. Als enge Verbündete der niederländischen Bourgeoisie trug die PvdA-Minister:innenriege zur Umsetzung der Sparpolitik bei, stimmte für die von der VVD vorgeschlagenen neoliberalen Reformen, stellte sich gegen die Gewerkschaften und verriet ihre Arbeiter:innenbasis vollständig. Aus diesem Grund haben viele Arbeiter:innen in den Niederlanden das Vertrauen in die PvdA verloren und suchten bei den letzten Wahlen bei den rechten Parteien nach Antworten.

Eine Rechts- oder eine Mitte-Links-Regierung?

Obwohl die PVV 37 Parlamentssitze gewonnen hat, stellt Wilders fest, dass die Bildung einer Koalition keine leichte Aufgabe sein wird. Nach seinem Wahlsieg wurde dem Parteiführer schnell klar, dass er nur mit Unterstützung der VVD und des NSC eine Regierung bilden kann. Ob diese gelingt steht in den Sternen, nachdem die NCS die Koalitionsverhandlungen verlassen hat.

Um die Unterstützung von NSC und vor allem der VVD zu erhalten, müsste Wilders einige der wichtigsten Versprechen, die er den PVV-Wähler:innen gemacht hatte, opfern. Obwohl sich VVD und NSC für eine strenge Migrationspolitik einsetzen, werden sie sich nicht an einer Koalition beteiligen, die die Grenzen schließt und Tausende von Flüchtlingen abschiebt. Außerdem will die VVD das Renteneintrittsalter auf 69 Jahre anheben und wird keiner Koalition beitreten, die sich nicht dafür einsetzt. Wilders müsste also diejenigen verraten, die ihn als Verfechter ihrer Renten wahrgenommen haben. Die VVD ist einer der eifrigsten Verteidigerinnen des ukrainischen Regierungschefs Selenskyj und liefert Waffen an die ukrainische Armee, was im Widerspruch zu Wilders‘ prorussischer Haltung und seiner Forderung nach einer geringeren Unterstützung für die Ukraine steht.

Dies offenbart eine grundlegende Tatsache: Die VVD bleibt, obwohl sie weniger Sitze als zuvor hat, das politische Instrument, mit dem die niederländische Bourgeoisie den kapitalistischen Staat regiert. Sie nutzt alle Täuschungen und Manipulationen der bürgerlichen Demokratie, um ein rechtes Kabinett mit der PVV zu organisieren. Die VVD hat nach wie vor das Sagen und ist in der Lage, die Zusammensetzung der nächsten Regierung zu bestimmen. Obwohl die PVV eine bürgerliche Partei ist und sich voll und ganz dem Kapitalismus verschrieben hat, wird sie nur von einzelnen Teilen der niederländischen Bourgeoisie unterstützt. Die VVD hat einen Rechtsruck vollzogen, weil die geschwächte Gewerkschaftsbewegung und eine desorganisierte Linke viele Werktätige (und viele Teile des Kleinbürger:innentums) nach rechts gedrängt haben.

Bei den Gesprächen zur Kabinettsbildung kündigte Wilders an, dass er bereit sei, bei den meisten seiner Versprechen Kompromisse einzugehen, z. B. bei der Schließung der Grenzen, der Abschiebung von Zuwandernden, der Senkung des Rentenalters und der Gesundheitskosten. Daher wird die PVV trotz ihrer 37 Sitze ihr Programm so anpassen müssen, dass es mit der VVD und der NSC übereinstimmt. Ein Kabinett, das sich aus PVV, VVD und NSC zusammensetzt oder eine Minderheitsregierung, die von VVD und NSC geduldet wird, wird sicherlich rechter und rassistischer sein als alle anderen, aber es stellt keine grundlegend neue Situation dar. Die Hauptleidtragenden werden die Asylbewerber:innen sein, denn die kommende Regierung wird die 

Einrichtungen nicht verbessern, die Familienzusammenführung von Flüchtlingen erschweren und ein schwierigeres Umfeld für sie schaffen. Da sie die neoliberalen Sparmaßnahmen von Rutte fortsetzen wird, kann sie die Krise nicht lösen. Daher wird sie wahrscheinlich instabil und unpopulär sein und ein Umfeld mit verschärften Kämpfen schaffen.

Faschismus?

Einige haben behauptet, der Sieg der PVV und anderer rechter Parteien bedeute, dass in den Niederlanden eine faschistische Gefahr bestehe. Aber im Allgemeinen kommt ein faschistisches Regime nur als Ergebnis einer langen Periode an die Macht, die durch eine intensive Krise und eine Verschärfung des Klassenkampfes gekennzeichnet ist, eine Situation, in der die herrschende Klasse darauf zurückgreifen muss, die politische Exekutive an Parteien zu übergeben, die ihren Ursprung in einer faschistischen Massenbewegung haben, einer Bewegung von wütenden Kleinbürger:innen, die als militarisierte Kraft (mit Milizen, Banden) eingesetzt wurden, um die Arbeiter:innenbewegung, ihre Gewerkschaften und politischen Parteien, seien sie revolutionär oder reformistisch, zu zerschlagen.

In den Niederlanden haben weder politische noch wirtschaftliche Krise solche Siedepunkte erreicht. Das heißt jedoch nicht, dass die kommenden Jahre nicht doch zu einer Formierung größerer faschistischer Organisationen – außerhalb oder innerhalb der PVV – führen könnten. Bereits jetzt fühlt das Kleinbürger:innentum die Auswirkungen der Wirtschaftskrise am schmerzhaftesten. Faschismus beginnt in den kleinbürgerlichen, unorganisierten proletarischen und Sektoren der kapitalistischen Klasse, die eine Massenbewegung mit arbeiter:innenfeindlichen reaktionären Forderungen und Antikommunismus erzeugen. Mit extremem Rassismus, Nationalismus rufen faschistische Bewegungen nach einem starken Nationalstaat, gewöhnlich mit einem/r Führer:in im Mittelpunkt, und verteufeln eine bestimmte Gruppe für die Probleme, die der Kapitalismus verursacht. Wenn die fortdauernde Existenz des Kapitalismus in ernsthafte Gefahr gerät, unterstützt die Bourgeoisie faschistische Bewegungen, um die Arbeiter:innenorganisationen komplett zu zerschlagen. Eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen wird dann zum Schlüssel zur Bekämpfung des Faschismus und zur Umwandlung in einen Kampf für den Sozialismus.

Die Bedingungen für den Faschismus sind in den Niederlanden (noch) nicht vorhanden, und der Sieg von Geert Wilders’ PVV wird nicht zu einer faschistischen Regierung führen, wenngleich er ein rechter rassistischer Politiker ist. Damit sollen nicht die gegenwärtigen Gefahren heruntergespielt werden. Die PVV wird fraglos von faschistischen Ideen beeinflusst und teilt einige Forderungen des Rechtspopulismus und Faschismus wie den Ruf nach Abschiebung aller Syrer:innen aus den Niederlanden, die Opposition gegen „die Elite“ sowie den extremen Nationalismus.

Anders als der Faschismus haben die PVV und andere rechte bürgerliche niederländische Parteien nicht zu außerparlamentarischen Kampf- und Organisationsmitteln gegriffen. Sie wollen vielmehr einer noch rechteren, reaktionären und autoritären Regierungsform im Rahmen der niederländischen bürgerlichen Herrschaft den Weg ebnen. Trotz Hochinflation und Wirtschaftskrise nach der Pandemie muss die herrschende Klasse der Niederlande keine Bedrohung durch soziale Unruhen oder die Arbeiter:innenbewegung befürchten. Sie hat die Situation sogar noch zur Rechtfertigung von Sozialabbau und Stärkung ihrer Position genutzt. Wilders’ Erfolg wird also nicht mehr als Melonis Italien zu einem faschistischen Staat führen.

Was tun?

Das heißt wiederum nicht, dass wir nicht faschistische Ideen, die sich regelmäßig in rechten Parteien breitmachen, wie den Identitarismus, die Theorie des „großen Bevölkerungsaustauschs“ oder den weißen Nationalismus denunzieren sollen. Rassismus und Nationalchauvinismus sind extrem schädlich für die Arbeiter:innenklasse, und Kommunist:innen haben die Pflicht, dieses Gift, wo es auch auftritt, auszumerzen. Kapitalist:innen verbreiten Rassismus, um die Arbeiter:innenklasse zu spalten und die eigene Macht zu stärken. Durch Gegenüberstellung von weißen niederländischen Arbeiter:innen mit Arbeitskräften anderer Herkunft – Syrien, Türkei, Marokko, Polen oder Ukraine – lähmt die niederländische Kapitalist:innenklasse die Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse. Der Rassismus von PVV und ihren verbündeten Parteien ermöglichte der niederländischen Bourgeoisie, von den wahren Ursachen der Krise im Land abzulenken und die Schuld dafür den Einwandernden aufzubürden.

Obwohl die PVV für die herrschende Klasse nicht die erste Wahl unter den politischen Parteien darstellt, hält sie die Kapitalist:innenklasse an der Macht, bar jeder wirklichen Opposition. Deswegen ist es grundlegend, dass wir eine klare Kante gegen Rassismus und verderbliche Spaltungen, die er in der Arbeiter:innenklasse hervorruft, zeigen. Unsere Losung sollte lauten: „Schwarz, braun, asiatisch, weiß, Zusammenschluss aller Arbeiter:innen!“ und unter dieser gilt es, einen harten Kampf gegen die rassistische, chauvinistische Politik der kommenden Regierung führen.

Für eine starke Arbeiter:innenbewegung in den Niederlanden!

Gegen Rassismus, Nationalchauvinismus und alle zersetzenden Ideologien, die die Arbeiter:innenklasse spalten!

Aufbau militanter Basisgewerkschaften als Instrument zur Gegenwehr gegen die kommende Regierung!

Für einen sozialistischen niederländischen Staat als Teil der Vereinigten Sozialistischen Föderation von Europa!




Ukrainekrieg – und kein Ende?

Markus Lehner, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das Sterben geht weiter auf den Schlachtfeldern der Ukraine. In den bisher fast 2 Jahren seit dem russischen Angriff soll etwa ein halbe Million Soldat:innen Opfer dieses Krieges geworden sein, davon etwa 150.000 Tote. Überprüfen lassen sich die Angaben der verschiedenen Seiten und internationaler Geheimdienste zu den militärischen Opfern kaum – doch dies sind die realistischsten Schätzungen aus den unterschiedlichen Quellen. Laut dem zuständigen UN-Kommissariat für zivile Opfer wurden bisher etwas über 10.000 Zivilist:innen Opfer von militärischen Schlägen – bemerkenswerterweise etwa die Hälfte deren, die dieselbe Stelle für 2 Monate Krieg in Gaza angibt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Krieg vor allem auf konventionelle militärische Art, d. h. durch Massakrieren von Soldat:innen vonstattengeht.

Ausgebliebene Wende

Die von vielen im Westen erwartete Wende durch die ukrainische „Sommeroffensive“ trat offenbar nicht ein. Der Krieg entwickelt sich derzeit immer mehr zu einem Stellungskrieg, ähnlich dem Ersten Weltkrieg. In einem bemerkenswerten Interview im „Economist“ (11/4/2023) bemerkte der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj: „Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg haben wir eine kriegstechnologische Lage erreicht, die uns zum Stellungskrieg zwingt.“ Gemäß den Lehrbüchern der NATO-Kriegsführung hätten die ukrainischen Offensivkräfte innerhalb von 4 Monaten die Krim erreichen müssen. Tatsächlich, erklärt Saluschnyj im Interview, habe er an allen Fronten schon nach kurzer Zeit ein Steckenbleiben oder nur sehr langsames Vorgehen feststellen müssen, was er zuerst auf schlechte Kommandoführung oder nicht ausreichend ausgebildete Einheiten zurückgeführt habe. Doch als auch Personalrochaden und Truppenumgruppierungen nichts änderten, habe er in alten Handbüchern aus Sowjetzeiten  nachgeschlagen und festgestellt, dass die Beschreibungen des Steckenbleibens der Offensivkräfte im Ersten Weltkrieg genau dem Bild entsprächen, das er von der Front wahrnahm.

Sowohl wenn er Angriffswellen der russischen wie der ukrainischen Seite beobachtete, ergäbe sich immer das Bild, dass die verteidigende Seite einen enormen technologischen Vorteil hat. Beide Seiten würden sofort Massierungen von Panzern oder Truppen mit ihren elektronischen Mitteln bemerken und durch Einsatz von Drohnen oder Artillerie jeglichen Vorstoß zu einem Unterfangen machen, bei dem ein großer Teil von Angreifer:innen und ihrem Material ausgeschaltet wird. Von daher bleibt der Ausbau von Verteidigungsstellungen auf beiden Seiten das bevorzugte Ziel. Auch die ukrainische Führung ist inzwischen von ihrer groß propagierten Offensivstrategie abgerückt und erklärt ihre gegenwärtige generelle Linie als „strategische Verteidigung“. Nur ein besonderer kriegstechnologischer Sprung könne laut Saluschnyj aus diesem Gleichgewicht des Schreckens herausführen. Aber militärhistorische Erfahrungen, wie etwa der Einsatz von Panzern am Ende des ersten Weltkriegs, zeigen, dass solche wirklich qualitativ neuen Technologien länger bis zur erfolgreichen Integration brauchen und zumeist erst im nächsten Krieg entscheidend werden.

Abnutzungskrieg

Da es sich jetzt offenbar um einen Abnutzungskrieg handelt, wird die Frage der Kriegswirtschaft und der quantitativen Versorgung der Truppen mit militärischem Material immer entscheidender. Der Krieg wird also immer mehr durch die Ökonomie entschieden, wie schon im Ersten Weltkrieg. Und hier gewinnt Russland immer mehr an Boden. Wie ein US-Banker kürzlich bemerkte, haben sich Prognosen, dass die russische Ökonomie aufgrund der westlichen Sanktionen und Belastungen durch die Kriegswirtschaft in wenigen Monaten zusammenbrechen würde, als „triumphally wrong“ erwiesen. Anders als auch viele Linke analysiert haben, hat sich die russische Ökonomie eindeutig als die einer imperialistischen Macht erwiesen. Nicht nur, dass die Ausfälle von Kapital- und Warenimporten mit nur leichten Einbrüchen weggesteckt werden konnten, inzwischen hat sich die russische Waffenproduktion um 68 % erhöht und einen Anteil von 6,5 % des BIP erreicht. Nach einer Rezession 2022 ist die russische Ökonomie 2023 um 2,8 % gewachsen. Natürlich haben sowohl steigende Importpreise wie Kriegswirtschaft zu einer wachsenden Inflation um die 7 % geführt. Die Leidtragenden sind wie bei militärischen Opfern vor allem die Arbeiter:innen, die mit immer höheren Lebenshaltungskosten bei eingeschränkterem Angebot zu kämpfen haben. Trotzdem wird für die Präsidentschaftswahlen im März kaum mit einem Machtwechsel gerechnet. Und danach wird wohl der entscheidende Nachschub für die Truppen wieder im größeren Maße fließen: mehr Soldaten durch weitere Mobilisierungen!

Dass die Ukraine größere Probleme mit dem Abnutzungskrieg hat, hat sich in den letzten Monaten immer deutlicher gezeigt: Zu Hochzeiten der Sommeroffensive feuerte die ukrainische Artillerie etwa 7.000 Projektile am Tag ab – wesentlich mehr als die russische. Doch derzeit muss sie sich aufgrund von Knappheit auf 2.000 pro Tag beschränken, während die russische Artillerie 5-mal so viel abfeuert. Ursache dafür sind nicht nur stockende Hilfsgelder aus dem Westen (z. B. die vom US-Kongress zurückgehaltenen Militärhilfen), sondern viel grundlegendere Probleme der westlichen Rüstungsindustrie. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich diese auf hochtechnisierte und spezialisierte Waffen, während es im konventionellen Abnutzungskrieg vor allem auf Masse und traditionelle „Hardware“ ankommt. Nachdem bisher vor allem aus Beständen der westlichen Armeen geliefert wurde, kommt es jetzt immer mehr auf tatsächliche Neuproduktion an. Die Ukraine selbst kann schon aufgrund der kriegsbedingten Infrastrukturprobleme (z. B. Ausfall von mehr als der Hälfte der Stromversorgung) kaum selbst die nötigste Menge produzieren.

Grenzen des westlichen Imperialismus

Doch auch der westliche Imperialismus erweist sich als nicht so übermächtig, wie er von vielen gemalt wird. Munitionsproduktion benötigt Unmengen an Stahl. Sieht man sich die 15 größten Stahlkonzerne der Welt an, so findet sich dort kein einziger US-Konzern mehr, wohl aber rangieren dort 9 chinesische. Die USA sind aus einem der bedeutendsten Stahlproduzenten der Welt heute zu einem der größten Importeure geworden. Sie und Westeuropa müssen unter hohen Kosten für Zulieferungen heute ihre Munitionsproduktion um ein Vielfaches steigern, um mit Russland und China mithalten zu können. Insbesondere bei 155-mm-Geschossen wollen sie bis 2025 ihre Jahresproduktion auf 1,2 Millionen erhöhen, sechsmal so viel wie 2023. Damit wird man vielleicht die russische Produktion einholen, die sich jetzt schon seit Kriegsbeginn verdoppelt hat (nicht gerechnet den massiven zusätzlichen Bezug solcher Munition aus Nordkorea).

Viele solche Versprechen lassen sich jedoch aufgrund von Lieferengpässen und technischer Umstellungsprobleme in der Kürze der Zeit kaum umsetzen. So hatte die EDA (die „Verteidigungsagentur“ der EU) der Ukraine im März 2023 für den Rest des Jahres 1 Million solcher Munition zugesagt, tatsächlich jedoch nur 480.000 beschaffen können. Während die unter Staatskontrolle stehende US-Munitionsproduktion aufgrund politischer Entscheidungen hochgefahren werden kann, sind die europäischen Rüstungskonzerne (vor allem die deutsche Rheinmetall, die britische BAE Systems, die französische Nexter S. A., die norwegisch-finnische Nammo AS) als Privatkonzerne nur durch konkrete finanzielle Zusagen zur Ausdehnung ihrer Produktion bereit. Ihre Auftragsbücher sind jetzt schon dreimal so voll wie vor dem Krieg. Rheinmetall überzieht den Kontinent derzeit mit neuen Produktionsstätten. Trotzdem wird diese Produktion der Quantität nach mindestens bis Anfang 2026 hinter der russischen zurückbleiben.

In einem Abnutzungskrieg, der vor allem durch Verteidigungsstellungen und Artillerie geprägt ist, können solche Faktoren entscheidend sein. Wie der Erste Weltkrieg gezeigt hat, können Munitionsmangel und geballte Artillerieüberlegenheit dann doch immer wieder zu einzelnen Durchbrüchen führen – und letztlich eine Seite zur Aufgabe zwingen. Noch sind die Kriegsparteien aber offensichtlich weit von einem solchen Punkt entfernt. Es werden also nicht nur weitere Milliarden in die Rüstungsindustrien gesteckt, sondern vor allem tausende Soldat:innen in die so entstandene Kriegshölle geschickt werden. In den letzten Monaten gab es insbesondere in der Ukraine wachsende Rekrutierungsprobleme. Auch wenn die Motivation der ukrainischen Verteidiger:innen um ein Vielfaches höher ist, so sind doch viele Soldat:innen nach Monaten des Kampfes und der vielen toten Kamerad:innen einfach ausgebrannt. Ausdruck davon ist die wachsende Bewegung der Angehörigen, die dafür kämpfen, dass ihre Ehemänner oder Söhne endlich abgelöst werden. Doch neue Rekrut:innen werden immer weniger und vor allem weniger militärisch geeignet. Daher werden auch die Rekrutierungsbemühungen des ukrainischen Militärs immer brutaler und weniger „freiwillig“.

Innere Widersprüche

Schließlich werden in der Führung der Ukraine immer deutlichere Widersprüche sichtbar. Das erwähnte Interview von Oberbefehlshaber Saluschnyj führte zu einer wütenden Replik von Präsident Selenskyj, der seine optimistische Darstellung des Kampfverlaufs für die westlichen Geldgeber:innen dadurch in Frage gestellt sah. Andererseits wurde deutlich, dass die politischen Vorgaben lange zu einer verlustreichen Verteidigung Bachmuts wie der schon gescheiterten Offensive führten – und die militärische Führung Selenskyj praktisch die Wende zur Verteidigungsstrategie aufzwingen musste. Saluschnyj hat Ersteren längst in den Popularitätswerten überholt, insbesondere unter den Soldat:innen. Hinter ihn stellt sich auch der Kiewer Bürgermeister Klitschko, so dass hier eine tatsächliche politische Gegenmacht zu entstehen beginnt. Es ist nicht auszuschließen, dass Selenskyj eher als Putin fällt, insbesondere wenn man im Westen eine gesichtswahrende Beendigung der Kampfhandlungen ohne Erreichen der Kriegsziele der Ukraine anstrebt.

In der Linken wird der Ukrainekrieg gerne auf einen Stellvertreterkrieg zwischen den imperialistischen Mächten USA/EU und Russland reduziert. Auch wenn dies ein bestimmendes Moment des gesamten Krieges darstellt, der untertrennbar mit dem neuen Kalten Krieg und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist, so ist er auf Seiten der Ukraine auch ein nationaler Verteidigungskrieg gegen die Jahrhunderte alte Unterdrückung durch das imperiale Russland. Das erklärt jedenfalls die massive Unterstützung auch der ärmeren Bevölkerung in der Ukraine für den Kampf gegen die russischen Invasor:innen.

Zugleich ist die westliche Unterstützung nicht absolut und bedingungslos – trotz aller warmen Worte, dass hier „unsere Freiheit“ verteidigt würde. Einerseits wird das ökonomische Fell der Ukraine schon heftig unter den westlichen Agenturen verteilt (siehe die IWF-Programme für die Ukraine und ihre Auswirkungen auf die ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen). Andererseits machten Biden & Co. von Anfang an klar, dass sie nur soviel Militärhilfe leisten würden, wie zur Verteidigung notwendig ist, und nichts liefern wollten, das sie unmittelbar zu Beteiligten in einem Krieg machen – oder sie gar direkt in die militärische Konfrontation mit Russland bringen würde. Dies unterscheidet die Ukraine 2022 auch deutlich von Serbien 1914. Diese Grenzen der Unterstützung für sie durch USA und EU machen auch klar, dass die derzeitigen Engpässe in der militärischen Versorgung möglicherweise den Anfang einer (bewussten oder unbewussten) Ausstiegsstrategie markieren. D. h. in der Hoffnung, dass der Abnutzungskrieg sowohl die Ukraine wie Russland soweit militärisch schwächt, dass beide immer mehr zu einem „Ausgleich“ bereit sind. Ein solches „Minsk 3“ (sicher nicht unter diesem Namen, aber mit ähnlichen Konsequenzen) würde der Ukraine wesentliche Gebiete kosten und Russland im Gegenzug den endgültigen Verlust des größten Teils der Ukraine aus ihrem Einflussgebiet bringen. Mit der gegenwärtigen Führung der Ukraine wird dies kaum zu machen sein – aber dafür stehen ja wohl schon Alternativen bereit.

Millionen ukrainischer Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes und eine demokratische Selbstbestimmung in den Kampf gezogen sind, werden dies als enormen Verrat empfinden. Aber auch ein festgefahrener, länger anhaltender Stellungskrieg wird den Unmut über die Kriegspolitik des kapitalistischen Regimes in Kiew, ja über die Sinnhaftigkeit des Krieges selbst und dessen Führung befördern, zumal dieses während des Kriegs die Ausbeutung der Lohnabhängigen vorantrieb und die gewerkschaftlichen und politischen Rechte der Arbeiter:innenklasse massiv einschränkte. Die inneren Widersprüche in der Ukraine werden noch zusätzlich dadurch befeuert, dass das Regime für ungezügelte Ausbeutungsverhältnisse und Ausverkauf des Agrarreichtums an „westliche Investor:innen“ steht. Wir warnen daher vor jedem Vertrauen in irgendwelche dieser vorgeblichen Führer:innen der nationalen Verteidigung. Es ist vielmehr notwendig, dafür zu kämpfen, dass die Arbeiter:innenklasse den verschiedenen nationalistischen Führungsgruppen jede politische Unterstützung entzieht und sich schon jetzt gegen den Ausverkauf der Ukraine in jeder Hinsicht organisiert, um so den Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine vorzubereiten und in Angriff zu nehmen.

Perspektiven

Hierzulande müssen wir gegen die Aufrüstung und die Milliarden für die Rüstungskonzerne kämpfen. Unter dem Vorwand der Verteidigung der Ukraine wird Aufrüstung im Interesse eigener aggressiver imperialistischer Ziele betrieben und die Kapazität der Rüstungsindustrie entsprechend ausgebaut. Auch wenn wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Beschaffung der dafür nötigen Mittel anerkennen, so müssen Revolutionär:innen in der Ukraine und im Westen vor den Illusionen warnen, dass die gegenwärtige militärische Unterstützung der NATO-Staaten wirklich der Unabhängigkeit dient. Vielmehr sind diese Lieferungen mit der Bedingung der Sicherung der eigenen Einfluss- und Ausbeutungssphäre verknüpft und letztlich nicht auf wirkliche Selbstbestimmung für die gesamte Ukraine ausgerichtet, sondern sollen dem Westen Beute bringen. Ob diese Rechnung aufgeht oder die ukrainischen Massen diese durchkreuzen, hängt letztlich davon ab, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die russische Okkupation mit dem für eine sozialistische Ukraine verknüpft.

In Russland sind die Bedingungen für eine Opposition gegen den Krieg seit dessen Beginn nicht leichter geworden. Der russische Imperialismus konnte sich nach den ersten, sicher so nicht erwarteten, schweren Rückschlägen stabilisieren. Sowohl ökonomisch wie auch politisch hat das Regime die Lage weitgehend im Griff. Die Pseudoopposition der Wagner-Anführer:innen hat ihren Zweck der Kanalisierung von Protest gegen „die da oben“ erfüllt und konnte in Person von Prigoschin zum Absturz gebracht werden. Allerdings werden Preissteigerungen, Knappheit bestimmter Waren und eine massive Auswanderungswelle insbesondere von gut ausgebildeten Menschen langfristig zu neuen Erschütterungen führen. Hunderttausende Tote und Verwundete für kleine Landgewinne in der Ukraine werfen Fragen an die Führung auf. Die jüngsten massiven Proteste in der Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga zeigen, dass die Ruhe in dem Riesenreich nur eine scheinbare ist. Das mutige Auftreten des Umweltaktivisten Fayil Alsynov gegen den Ukrainekrieg und die übermäßige staatliche Repression dagegen haben genügt, um eine bisher passive Provinz in Aufruhr zu versetzen. Je länger und blutiger der gegenwärtige Abnutzungskrieg in der Ukraine andauert, um so mehr wird der Ruf nach „Brot und Frieden“ wieder das russische Regime erschüttern. Es kommt für die russischen Sozialist:innen darauf an, diesen Moment für einen neuen russischen Oktober vorzubereiten!

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies muss mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine verknüpft werden, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Neue Konflikte zwischen Kosovo und Serbien

Frederik Haber, Infomail 1243, 24. Januar 2024

In den letzten zwölf Monaten haben sich die Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo mehrfach verschärft, nachdem sich die Lage über viele Jahre hinweg beruhigt zu haben schien. Diese Spannungen entstanden vor allem wegen drei Themen. Die Medien und Politiker im Westen gehen nur selten auf die Einzelheiten ein, sondern ziehen es vor, immer wieder das gleiche Narrativ zu verbreiten: Die Serb:innen wollen nur Ärger machen. Sie können immer noch nicht akzeptieren, dass der Kosovo für sie verloren ist, das Ergebnis der Kriege der 1990er Jahre, der Nato-Intervention und der einseitigen Unabhängigkeitserklärung von 2008. Die Botschaft der Medien lautet, dass hinter all dem Ärger die Russ:innen stecken, die immer bereit sind, einen Krieg anzuzetteln. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Dinge alles andere als einfach sind und die gegensätzlichen Rechte und Interessen der Kosovar:innen und der serbischen Minderheiten schwer zu lösen sind. Darüber hinaus sind die Ziele und Maßnahmen der EU und der USA in keiner Weise geeignet, dem Balkan Frieden und Fortschritt zu bringen.

November und Dezember 2022: Straßensperren, Nummernschilder und Kommunalwahlen

Letztes Jahr begannen militante Aktivist:innen aus Serbien, drei Grenzübergänge zu blockieren, darunter auch Merdare, einen wichtigen Transitknotenpunkt. Dabei wurden sie offensichtlich von der Regierung in Belgrad unterstützt, denn die serbische Polizei griff in keiner Weise ein. Die Regierung in Pristina schloss daraufhin im Gegenzug die Grenzen.

Hintergrund ist die Tatsache, dass die Bewohner:innen der Städte und Dörfer mit serbischer Bevölkerungsmehrheit noch immer die alten serbischen Nummernschilder verwenden. Der Kosovo hatte dies bisher geduldet. Serbien hingegen hatte die kosovarischen Nummernschilder toleriert, wenn sie durch eine zusätzliche befristete Papplizenz zum Preis von 2 Euro abgedeckt waren.

Am 22. Dezember erklärte der Premierminister des Kosovo, Albin Kurti, dass die serbischen Nummernschilder nicht mehr akzeptiert würden. Serbien reagierte sofort und ließ keine Fahrzeuge mit kosovarischen Kennzeichen mehr über die Grenze. Neben den gegenseitigen Straßensperren wurden die Armeen in Alarmbereitschaft versetzt und die EU und die USA entsandten ihre Diplomat:innen dorthin.

Die EU zwang Kurti zum Rückzug

Bei den Kommunalwahlen in Bezirken mit serbischer Mehrheit, die am 18. Dezember 2022 stattfanden, rief die nationalistische serbische Partei zum Boykott auf, was von den serbischen Wähler:innen weitgehend befolgt wurde. Dies führte dazu, dass Albaner:innen in Städten und Dörfern, in denen sie eine kleine Minderheit darstellen, gewählt wurden. Außerdem traten alle öffentlichen Bediensteten wie Richter:innen und Polizeichef:innen von ihren Ämtern zurück. Die Regierung in Pristina reagierte darauf, indem sie sie durch staatstreue Personen albanischer Abstammung ersetzte. Ein ehemaliger Polizist wurde wegen eines Angriffs auf die Wahlkommission verhaftet.

Im Frühjahr kam es erneut zu Zusammenstößen, doch die schwersten Auseinandersetzungen fanden im September 2023 statt, als rund 30 schwer bewaffnete Kämpfer:innen aus Serbien ein Kloster in der Nähe von Mitrovica besetzten. Die kosovarische Polizei und serbische Truppen schalteten sich ein und 4 Menschen wurden getötet.

All diese Spannungen haben sich entwickelt, während die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern unter Kontrolle der EU fortgesetzt wurden.

Abkommen von Ohrid

Bereits im Januar 2023 verpflichteten die EU-Staats- und Regierungschefs Kurti und den serbischen Staatspräsidenten Vucic in dem berühmten Badeort Ohrid im Süden Nordmazedoniens, ein Abkommen zu akzeptieren, das ihre Diplomat:innen bereits ausgearbeitet hatten.

Das „Abkommen über den Weg zur Normalisierung zwischen Kosovo und Serbien“, kurz Ohrid-Abkommen genannt, wurde laut EU (und Wikipedia) von der Europäischen Union „vermittelt“. Vermittlung ist per Definition ein Prozess, in dem ein oder mehrere „Vermittelnde“ versuchen, einen Konflikt zu lösen, indem sie beide Seiten eines Konflikts herausfinden lassen, was für sie am wichtigsten ist, und sie so bereitmachen, die Ziele ihrer Gegner:innen teilweise zu akzeptieren. Vermittelnde sollten natürlich neutral sein und keine eigenen Interessen hegen.

In Ohrid waren weder die EU-Führer:innen neutral noch wollten Kurti und Vucic dieses Abkommen. Obwohl beide versprachen, es am 27. Februar 2023 mündlich zu akzeptieren, wurde das Abkommen bis heute nicht unterzeichnet.

Dahinter steckt ein Manöver beider Seiten. Vucic hat mündlich zugestimmt, aber nie ein Papier unterzeichnet. Kurti sagte und sagt, er würde unterschreiben, um seinen guten Willen gegenüber der EU und den USA zu zeigen, verließ sich aber auf die Weigerung von Vucic, dies zu tun, um es nicht selber tun zu müssen.

Das Abkommen verpflichtet Serbien nicht ausdrücklich, den Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen, aber es hindert es daran, sich dem Zugang des Kosovo zu internationalen Organisationen wie dem Europarat, der Europäischen Union oder der NATO zu widersetzen. Außerdem muss Serbien die nationalen Symbole, Pässe, Diplome und Kfz-Kennzeichen des Kosovo anerkennen.

Das Kosovo muss ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmigen Einwohner:innen gewährleisten. Eine solche Gemeinschaft oder Assoziation sollte 2015 offiziell im Rahmen des kosovarischen Rechtsrahmens eingerichtet werden, aber ihre Gründung wurde wegen Konflikten über den Umfang ihrer Befugnisse verschoben. Im Rahmen eines von der Europäischen Union vermittelten Normalisierungsabkommens, das von den Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens im März 2023 angenommen wurde, sollte das Kosovo unverzüglich in einen Dialog mit der EU eintreten, um ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmige Gemeinschaft zu gewährleisten.

Als die Verhandlungen und Kämpfe weitergingen, waren es die Staats- und Regierungschef:innen der EU selbst, die am 26. Oktober 2023 einen Entwurf für ein Statut zur Bildung eines Verbands der Gemeinden mit serbischer Mehrheit im Kosovo vorlegten, und die Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens erklärten sich bereit, ihre Verpflichtungen umzusetzen. Aber wieder einmal scheiterte es. Noch ist nichts unterschrieben. Die Formulierungen des Textes sind immer noch von keiner Seite veröffentlicht worden.

Grundlegende Konflikte

Die Position Vucics ist klar: Nach internationalem Recht ist die einseitige Abtrennung eines Staatsgebiets illegal und das Kosovo gehört letztlich zu Serbien. Dabei wird Serbien von Spanien und anderen Ländern unterstützt, die befürchten, dass sich Regionen abspalten und für unabhängig erklären könnten, wie Katalonien oder Euskadi (das Baskenland) im Falle Spaniens.

Serbien wird auch von Ländern wie Russland aus geostrategischen Gründen unterstützt. In der Frage des Selbstbestimmungsrechts vertritt Russland im Falle der Krim, die 2014 ein Referendum zur Loslösung von der Ukraine abhielt, oder der Donbass-Republiken genau das Gegenteil. Es erübrigt sich zu sagen, dass die USA, Deutschland und die meisten anderen westlichen Imperialist:innen das Selbstbestimmungsrecht im Falle der Krim oder des Donbass grundsätzlich ablehnen, nicht nur mit der Begründung, dass die Referenden demokratisch waren oder nicht.

Die zweite Frage ist, was eine solche Gemeinschaft von Gemeinden mit serbischer Mehrheit bedeutet. Kosovo befürchtet, dass sie eine fortgesetzte serbische Einmischung in die nationale Politik bedeutet, indem sie die serbischen Minderheiten als ihre Werkzeuge benutzt. Beispiele dafür liegen nicht weit entfernt. In Bosnien und Herzegowina werden der kroatische und serbische Teil der Bevölkerung von nationalistischen Parteien geführt, die direkt von Kroatien und Serbien kontrolliert werden. Aber auch die Aufteilung Bosniens in ethnische Einheiten und die Föderation durch EU und USA im Dayton-Abkommen ermöglicht es diesen imperialistischen Mächten, das Land dauerhaft wie eine Kolonie zu kontrollieren. Generell ist die Taktik der Instrumentalisierung von Minderheiten in vielen Ländern immer wieder angewandt worden.

Lulani i medvegjes, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Ein Blick auf die Karte der vorgeschlagenen Assoziation im Kosovo zeigt, dass sie aus dem Norden des Landes besteht, wo die Serb:innen eine starke Mehrheit haben, und einigen unzusammenhängenden Regionen im Süden, wo es keine klare Mehrheit gibt. Die Karte wurde auf Grundlage einer Volkszählung im Jahr 2011 erstellt, die weitgehend boykottiert wurde, sowie Annahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die einzige halbdemokratische Abstimmung bzw. das einzige Referendum war eine Abstimmung der Goran:innen-Minderheit, einer slawischsprachigen muslimischen Bevölkerungsgruppe, im November 2013, in der der Wille zum Ausdruck gebracht wurde, der vorgeschlagenen Gemeinschaft serbischer Gemeinden beizutreten. Dies war jedoch die einzige Ausnahme von der Regel.

Die andere offene Frage in Bezug auf diese Struktur ist ihr Zweck. Dient sie dem kulturellen Austausch oder soll sie eine offizielle staatliche Struktur sein? Es sind nicht viele Informationen verfügbar, aber die EU plant, dass diese Vereinigung für Bildung, Kultur und Gesundheit zuständig sein soll. Da die kleinste dieser Regionen jedoch weniger als 2.000 Einwohner:innen zählt, bestehen Zweifel an der Realisierbarkeit einer solchen Einrichtung. Sie könnte immer noch zu einem Weg für die Teilung des Kosovo werden.

Das Projekt der EU, das auch von den USA und der NATO unterstützt wird, ist für die Nationalist:innen auf beiden Seiten mehr oder weniger unannehmbar: Für die serbischen Nationalist:innen würde es bedeuten, dass sie die Illusion aufgeben müssten, Kosovo sei eine „Provinz Serbiens“. Für das Kosovo würde es bedeuten, einige Enklaven in seinem Land zu haben, die außerhalb der Gesetzgebung und der Herrschaft der staatlichen Exekutive stehen und jederzeit für Provokationen genutzt werden könnten.

Vucic und Kurti haben den EU-Machthaber:innen gegenüber immer wieder Ja gesagt, aber gehofft, dass der andere Nein sagen wird. Vucic steht in seinem Land unter großem Druck, er kann es sich nicht leisten, die Unterstützung der nationalistischen Rechten zu verlieren. In Belgrad gab es in den letzten Monaten zahlreiche Proteste, und er setzt bewusst auf die nationalistische Agenda, um seinen Posten zu retten.

Deshalb rief Vucic zu Neuwahlen auf, die am 17. Dezember stattfanden. Vucics Partei gewann diese Wahlen und besiegte die liberale Opposition. Es gibt Behauptungen über Unregelmäßigkeiten, aber das Wahlergebnis ist eindeutig. Die Position von Vucic ist jetzt stärker.

Kurti hat die meisten der von ihm versprochenen sozialen Leistungen nicht erbracht, und die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich aufgrund der weltweiten Krisen. Natürlich ist er auch ein erbitterter Nationalist, aber als Teil seines „linken Bonapartismus“ befürwortet er nicht nur die „Unabhängigkeit“ von Serbien, sondern gibt auch vor, von der imperialistischen Vorherrschaft der USA und der EU unabhängig zu sein, und sein Widerwille, sich dem Diktat der EU zu unterwerfen, hat seine Unterstützung im Kosovo erhöht.

Imperialistische Interessen

Der gesamte Prozess macht auch deutlich, wo die Interessen der USA und der EU liegen. Die USA wollen ein Abkommen, das dem Kosovo den Beitritt zur NATO ermöglicht. Sie unterhalten bereits einen großen Militärstützpunkt im Kosovo in der Nähe der Stadt Ferizaj. Der Stützpunkt ist eine Art „Forward Operating Site“, die quer durch den vom US-Geheimdienst so bezeichneten Bogen der Instabilität verläuft und bis zu 7.000 Soldat:innen für direkte Interventionen in der Region aufnehmen kann.

Die EU will keinen Krieg in der Region, aber auch keinen stabilen Frieden. Das jahrhundertealte Konzept der imperialistischen Mächte, die Völker des Balkans in einem Dauerkonflikt zu halten und sie gegeneinander auszuspielen, funktioniert für sie auch heute noch. In der gegenwärtigen Situation konzentrieren sich die EU-Führer:innen ganz auf die Ukraine, Moldawien (Republik Moldau) und den Krieg gegen Russland. Sie wollen sich einfach nicht um den Balkan kümmern und werden das Ergebnis der serbischen Wahl sicher als Ausrede dafür nehmen.

Ein geringeres Interesse besteht darin, die beiden Politiker loszuwerden. Die USA haben Kurti immer gehasst, weil er nicht so einfach zu handhaben war wie seine Vorgänger, und haben bereits einen parlamentarischen Putsch organisiert, um ihn loszuwerden oder zumindest zu zähmen. Die EU würde sich sehr gerne Vucics entledigen. Daher sind beide beteiligten Mächte froh, sie vor ihrem Volk zu demütigen.

Demokratie und Sozialismus

Ein unterdrücktes Volk oder eine nationale Minderheit hat das Recht auf Selbstbestimmung. Dies ist die einzige Garantie gegen Diskriminierung und Unterdrückung. Das gilt für die Albaner:innen im Kosovo, die das Recht hatten, sich von Serbien abzuspalten, genauso wie für die Krim, den Donbass, Katalonien oder Tschetschenien. Die Frage, ob das unterdrückende Land (oder seine Verfassung) dies anerkennt, ist irrelevant. Im Gegenteil: Die Nichtgewährung des Selbstbestimmungsrechts stellt bereits eine Form der Unterdrückung dar. Dieses demokratische Grundrecht muss vor allem von der Arbeiter:innenklasse und der marxistischen Linken verteidigt werden. Sie können sich von den Interessen der nationalen Bourgeoisie in jedem Land oder jeder Nationalität befreien, die letztlich immer versucht, ein gewisses Maß an Kontrolle und Ausbeutung zu etablieren. Alle nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Republiken liefern den Beweis dafür, einschließlich der Gründung des Kosovo selbst und der Entwicklung der UCK-Führer:innen von „Freiheitskämpfer:innen“ zu Mafiabossen im Dienste der USA und EU.

Dies zeigt, dass die rein demokratische Forderung nach Selbstbestimmung und dem Recht auf Abspaltung keine endgültige Lösung verkörpert, solange Ausbeutung und Unterdrückung fortbestehen, und dies wird der Fall sein, solange Kapitalismus und Imperialismus die Welt beherrschen. In der gegebenen Situation verteidigen wir das Recht der Mitrovica-Region, sich vom Kosovo abzuspalten, angesichts der Diskriminierung, der Serb:innen und andere Minderheiten heute im Kosovo ausgesetzt sind. Aber weder für die Wirtschaft noch irgendeinen anderen Aspekt der Gesellschaft ist ein solcher Zersplitterungsprozess für sich genommen eine dauerhafte, längerfristige Perspektive. Unter einer bürgerlich-nationalen Führung in Serbien würde sich die nationale Unterdrückung höchstwahrscheinlich wieder gegen die albanische Minderheit richten.

Deshalb müssen Sozialist:innen den Kampf gegen nationale Unterdrückung mit einem Programm für die Zukunft des gesamten Balkans verbinden, das letztlich mit dem Sturz des Kapitalismus und der Ausbeutung verbunden ist. Seit mehr als hundert Jahren wird dies in der Losung einer „Föderation der sozialistischen Balkanstaaten“ ausgedrückt.

Heute müssen Sozialist:innen im Kosovo, in Serbien und im Rest der Welt das Recht der Kosovar:innen verteidigen, ihren eigenen, von Serbien unabhängigen Staat zu gründen, sollten aber gleichzeitig gegen jede Diskriminierung von Serb:innen, Roma/Romnja und anderen Minderheiten in diesem Staat kämpfen. Ebenso sollten sie sich gegen die Diskriminierung von Albaner:innen, Bosnier:innn usw. in Serbien wenden. Es ist besonders notwendig, die Arbeiter:innenklasse für diese Ziele zu gewinnen, denn alle Unterdrückung, Diskriminierung und nationalen Konflikte dienen letztlich der herrschenden Klasse für ihre Ausbeutung und politischen Manöver.

Sozialistische Föderation der Balkanstaaten

Selbst die demokratischsten Forderungen können angesichts der katastrophalen Lage in allen Ländern des Balkans und ihrer totalen wirtschaftlichen Abhängigkeit vom ausländischen, vor allem EU-Kapital, keine positive soziale und wirtschaftliche Perspektive bieten.

Es ist notwendig, dass Sozialist:innen aus allen Balkanländern die nationalistischen Ansichten, die die letzten Jahrzehnte dominiert haben, überwinden und ein Programm für die Region und alle ihre Völker entwickeln, das politische und wirtschaftliche Perspektiven verbindet.

Schlüsselelemente eines solchen Programms müssen sein:

  • Recht auf Selbstbestimmung. Gleiche Rechte für alle Völker, Anerkennung der vollen demokratischen Rechte aller Minderheiten (z. B. Verwendung ihrer Muttersprache in Schulen oder öffentlichen Einrichtungen).

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Bildung für alle, Verstaatlichung aller betroffenen Einrichtungen.

  • Renten, die einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Für ein Programm öffentlicher Arbeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen für alle zu einem von der Arbeiter:innenbewegung festgelegten Lohnsatz, der an die Inflation gekoppelt ist.

  • Um die Produktivität der Landwirtschaft nachhaltig zu steigern, sind Bäuer:innenkooperativen mit staatlicher Unterstützung notwendig.

  • Nein zu jeder imperialistischen Einmischung und Ausplünderung; Streichung der Schulden der Länder.

  • Enteignung des gesamten Großkapitals, ob ausländisch oder einheimisch, um die Infrastruktur zu entwickeln und die Produktion zu planen. Wiederverstaatlichung aller privatisierten Dienstleistungen unter Arbeiter:innenkontrolle, nicht in den Händen von Staatsbürokrat:innen.

  • Für Arbeiter:innenregierungen, die sich auf Räte der werktätigen Massen und eine bewaffnete Miliz stützen. Für eine Sozialistische Föderation auf dem Balkan.

  • Für revolutionäre Parteien der Arbeiter:innenklasse und eine Internationale, die für ein solches Programm der permanenten Revolution kämpft.

Der andauernde Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien und die Unfähigkeit der nationalen Regierungen und der ausländischen Imperialist:innen, eine zufriedenstellende Lösung voranzutreiben, könnte eine gute Gelegenheit für Sozialist:innen bieten, sich mit ihren Vorschlägen auf einer solchen internationalistischen Grundlage Gehör zu verschaffen.




Irland: Widerstand gegen die extreme Rechte

Bernie McAdam, Infomail 1243, 23. Januar 2024

Die jüngsten Ausschreitungen in Dublin haben ein neues Licht auf die Aktivitäten der aufstrebenden irischen Rechtsextremen geworfen. Nach einer Messerstecherei vor einer Dubliner Schule entwickelte sich ein rechtsextremer Protest gegen Migrant:innen und Flüchtlinge, der durch rassistische Äußerungen in rechtsextremen Netzwerken in den sozialen Medien inszeniert wurde, zu einem Gefecht mit der irischen Polizei (Garda Siochána; Gardai). Es folgten Plünderungen und Angriffe auf öffentliche Verkehrsmittel, einschließlich eines Angriffs auf einen Busfahrer mit Migrationshintergrund, wobei viele Angehörige ethnischer Minderheiten im Stadtzentrum um ihre Sicherheit fürchteten.

Die Wahrheit über die Messerstecherei war so weit von den rassistischen Gerüchten entfernt wie nur möglich. Nicht ein algerischer Einwanderer war der Messerstecher, sondern ein Ire, der an einer psychischen Krankheit leidet. Tatsächlich kam Caio Benicio, ein brasilianischer Deliveroo-Fahrer, dem angegriffenen jungen Mädchen zu Hilfe und schlug den Angreifer mit seinem Motorradhelm zurück.

Diese Ausschreitungen finden vor dem Hintergrund zunehmender Angriffe auf Flüchtlingslager und Schikanen gegen Bibliotheksmitarbeiter:innen im vergangenen Jahr statt. Mehrere flüchtlingsfeindliche Proteste haben sich vor Asylbewerber:innenheimen abgespielt, oft mit lokaler Unterstützung und Hassreden von bekannten rechtsextremen Aktivist:innen. Behelfsmäßige Lager wurden in Ashtown und zuletzt in der Sandwith Street in Dublin angegriffen, wo Zelte niedergebrannt wurden.

Parallel dazu wurden gewählte Vertreter:innen von Sinn Fein und People before Profit (PbP), die sich im Dail (Parlament) für die Rechte von Migrant:innen eingesetzt haben, angegriffen. In Leitrim wurde ein Brandanschlag auf das Haus von Martin Kenny, Abgeordneter von Sinn Fein, verübt, und Paul Murphy, Abgeordneter von PbP, wurde von rechtsextremen Schläger:innen körperlich angegriffen und sein Haus mit Posten umzingelt. Auch gegen Mick Barry, Deputierter der PbP-Solidarität, wurde ein Anschlag auf sein Büro verübt.

Bibliotheken wurden von rechtsextremen Schläger:innen versperrt und gestürmt, wobei auch Bibliotheksmitarbeiter:innen schikaniert wurden. All dies, um die Bereitstellung von LGBTIA+-Lesematerial, Drag-Events und „pornografischen“ Büchern zu verhindern. Die Mahnwache in der Stadtbibliothek von Cork im Juli wurde von Ireland First organisiert, der jüngsten rechtsextremen Partei in Irland. Die Irish Freedom Party und die National Party sind die beiden anderen großen Gruppen im rechtsextremen Spektrum.

Angriffe auf Migrant:innen

In Irland sind erst in jüngster Zeit rechtsextreme Gruppierungen entstanden, die zwar noch klein sind, aber eine wachsende Feindseligkeit gegenüber Migrant:innen und Flüchtlingen entwickeln. Der Aufstieg des Rechtspopulismus auf internationaler Ebene, insbesondere die Wahl von Trump, hat der irischen extremen Rechten zunächst Auftrieb gegeben. Die Alarmglocken begannen zu läuten, als der rechte Präsidentschaftskandidat Peter Casey, der behauptete, dass die nichtsesshafte Gruppe der Traveller (Fahrende) „im Grunde genommen Menschen sind, die in fremdem Land campieren“, 2018 den zweiten Platz belegte. Der Rassismus gegen Traveller bildete in der Vergangenheit einen Schwerpunkt der Diskriminierung in Irland.

In den letzten 20 Jahren gab es in Irland zahlreiche Kämpfe und Massenkampagnen, die darauf abzielten, die Regierungspolitik und reaktionäre Sozialgesetze zurückzudrängen. Dies reichte von Bewegungen gegen Müllgebühren, Haushalts- und Grundsteuerabgaben bis hin zu den erfolgreichen Massenmobilisierungen gegen Wassergebühren. Hinzu kamen die siegreichen Ergebnisse der Volksabstimmungen, die die Gleichstellung der Ehe und die Aufhebung des achten Zusatzartikels, was die Abtreibungsrechte verbesserte, sicherstellten.

Eine Gegenreaktion gegen diese Bewegungen war immer zu erwarten. Insbesondere die katholische Kirche war von den Ergebnissen des Referendums erschüttert. Kein Wunder, dass die aufkommende extreme Rechte sich gerne mit unzufriedenen Menschen verband, die einen traditionellen katholischen Standpunkt vertraten, der in der Ablehnung von LGBTIA+-Rechten und der Feindseligkeit gegenüber dem Recht der Frau auf sexuelle Selbstbestimmung verwurzelt war.

Das Hauptziel der Rechtsextremist:innen waren jedoch immer Migrant:innen und Flüchtlinge. Obwohl ihre Stimmen gering waren, fühlten sich die Rechtsextremen selbstbewusst genug, um in den letzten fünf Jahren bei einer Reihe von Wahlen anzutreten, als die Proteste gegen Flüchtlinge zunahmen. Sie begannen, aus einwanderungsfeindlichen Vorurteilen Kapital zu schlagen.

Es folgte die COVID-Krise, bei der faschistische Aktivist:innen auf Verschwörungstheorien und Proteste gegen Lockdowns und Impfen setzten. Aber es war die Aufnahme von 70.000 ukrainischen Flüchtlingen durch die irische Regierung im Jahr 2022, die die extreme Rechte auf den Plan rief.

Die irische Regierung beschloss, so viele ukrainische Flüchtlinge wie möglich in Hotels, leerstehenden Gebäuden usw. unterzubringen, aber alle anderen Flüchtlinge mussten sich selbst versorgen. Dies führte zu Obdachlosenlagern und etwa 500 Flüchtlingen, die auf der Straße leben. Das hat diese Lager zu leichten Zielen für die Faschist:innen gemacht. Nicht nur Obdachlosenlager, sondern auch Hotels, in denen Flüchtlinge untergebracht waren, bildeten die Angriffspunkte.

Die Krise wurde noch verschärft, als die Regierung im März ankündigte, dass Hotelverträge zur Unterbringung von Flüchtlingen gekündigt würden, da sich die Hotelbetreiber:innen der Touristensaison näherten. In einem Land, in dem bereits 250.000 Wohnungen fehlen und ein Mangel an erschwinglichen Miet- und Kaufobjekten herrscht, fanden rechtsextreme Demagog:innen leider auch in einigen Arbeiter:innengemeinden Gehör. Die Vernachlässigung der Wohnungskrise durch die irische Regierung und ihre diskriminierende Politik haben diesem Anstieg des Rassismus Vorschub geleistet.

Wie man die extreme Rechte stoppen kann

In Irland kam es in letzter Zeit zu Massenbewegungen und einem fortschrittlichen sozialen Wandel, was jedoch kaum auf das Eingreifen von Gewerkschaften zurückzuführen ist. Die irische Arbeiter:innenklasse ist durch Angriffe auf ihren Lebensstandard in Bedrängnis geraten.

Jahrelange Sparmaßnahmen, die Auswirkungen von Covid, ein marodes Gesundheitswesen und eine chronische Wohnungskrise haben die Arbeiter:innenklasse schwer getroffen. Aber die Gewerkschaftsführung hat diesen Zustand nicht in Frage gestellt. Sie macht sich sogar mitschuldig an den Angriffen der Regierung, indem sie ihre Mitglieder durch die Unterzeichnung von Sozialpartnerschaftsabkommen zügelt.

Wenn die organisierte Arbeiter:innenklasse über ihre Gewerkschaften weiterhin untätig bleibt, können wir mit einer stärkeren Bedrohung von rechts rechnen. Die Selbstgefälligkeit der Bürokrat:innen in Bezug auf die Vertretung ihrer Arbeiter:innen wird durch ihre katzbuckelnde Nutzlosigkeit angesichts der rassistischen Angriffe auf Wanderarbeiter:innen ergänzt.

Der Irische Gewerkschaftskongress (ICTU) organisierte als Reaktion auf die Ausschreitungen eine kleine Mittagskundgebung, bei der ICTU-Generalsekretär Owen Reidy von „unserer wunderbaren Polizei“ sprach. Dies ist eine völlig unangemessene Reaktion, die die Realität auf den Kopf stellt. Genauso wenig wie die Behauptung von Mary Lou McDonald von Sinn Fein, dass die Regierung und der Kommissar es versäumt hätten, die Gardai richtig auszustatten. Die Gardai, die eine sehr weiche und ineffektive Haltung gegenüber dem randalierenden Mob eingenommen hat, wird weder Migrant:innen noch irgendeine andere Gruppe von Arbeiter:innen im Kampf verteidigen!

Es hat wichtige Mobilisierungen gegen die Rechte gegeben, von der Linken, die geholfen hat, das Camp in der Sandwith Street zu verteidigen, bis zu den Zehntausenden, die letztes Jahr bei der „Irland für alle“-Demonstration gegen den zunehmenden Rassismus mitmarschiert sind. Die jüngste Zunahme der „For All“-Kampagnen könnte durchaus als Katalysator für eine koordinierte antirassistische und antifaschistische Einheitsfront wirken.

Was wir jetzt dringend brauchen, ist eine Einheitsfront von linken Organisationen und solchen der Arbeiter:innenklasse, die Flüchtlinge angemessen verteidigen und faschistische Angriffe zerschlagen kann. Eine ermutigte extreme Rechte wird nicht vor Flüchtlingen Halt machen, wie wir bereits bei der Einschüchterung linker Abgeordneter gesehen haben. Das Wachstum des Faschismus wird von seiner Fähigkeit abhängen, die Straßen zu kontrollieren, als eine effektive Straßenkampftruppe. Mit faschistischem Terror kann man nicht argumentieren, aber man kann ihn physisch stoppen. Organisierte Selbstverteidigung ist eine Notwendigkeit und muss ernsthaft aufgebaut werden.

Zugleich müssen reale Problem wie die Wohnungskrise angegangen werden. Zu lange hat die Regierung die Interessen des multinationalen Großkapitals, der Immobilienentwickler:innen und der abwesenden Vermieter :innen geschützt. Wir müssen Sofortmaßnahmen zur Unterbringung von Obdachlosen und Flüchtlingen fordern, indem wir leerstehende Gewerbe- und Unternehmensimmobilien nutzen.

Wir brauchen ein massives Sofortprogramm für gesellschaftlich nützliche öffentliche Arbeiten, um Vollbeschäftigung zu schaffen und die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur zu entwickeln. Die Arbeiter:innenklasse sollte an der Ausarbeitung einer Anhörung zu den sozialen Bedürfnissen beteiligt werden, die sich mit Fragen wie dem chronischen Wohnungsmangel, dem heruntergekommenen Wohnungsbestand und dem Aufbau eines öffentlich finanzierten nationalen Gesundheitsdienstes mit gleichberechtigtem Zugang befasst.

Diese öffentlichen Arbeiten sollten Teil eines demokratisch entwickelten Produktionsplans unter der Kontrolle der Arbeiter:innen sein. Ein massives Wohnungsbauprogramm würde einen Teil dieses Plans bilden und, wie der Rest des Programms, durch die Besteuerung der Reichen finanziert werden. Ein solcher Schritt würde den Kampf für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft eröffnen, in der für den Bedarf und nicht für die kapitalistische Gier produziert würde!

Der Faschismus ist ein Produkt des kapitalistischen Zerfalls. Bürgerliche „demokratische“ Regierungen fördern das Wachstum des Faschismus durch ihre Unfähigkeit, die Probleme des krisengeschüttelten Kapitalismus zu lösen. In ähnlicher Weise kann das Fehlen einer revolutionären Alternative zum Kapitalismus das Wachstum der extremen Rechten nur fördern. Eine solche revolutionäre Alternative, die sich auf ein Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse stützt, muss jetzt aufgebaut werden, damit sie Faschismus und Kapitalismus auf den Müllhaufen der Geschichte befördern kann!




Britannien: Für Arbeiter:innenaktionen gegen den Gaza-Genozid!

Dave Stockton, Workers Power (Britannien), Infomail 1242, 17. Januar 2024

Das Jahr begann mit dem anhaltenden Martyrium der Menschen im Gaza-Gebiet. Bis zum Neujahrstag gab es über 22.000 Tote – davon 8.633 Kinder – und 57.000 Verletzte zu beklagen. Etwa 29.000 Bomben haben 300.000 von 493.000 Häusern zerstört. Die Weltgesundheitsorganisation meldete, dass nur neun von 36 Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen in Betrieb sind, und zwar alle nur teilweise und sämtlich im Süden.

Zwei Millionen der 2,3 Millionen Einwohner:innen sind in den Süden getrieben worden. Rund um Rafah sind riesige Zeltstädte entstanden, und bei strömendem Regen und knappen Wasser- und Lebensmittelvorräten könnten bald Krankheiten grassieren. Bombardierungen und Drohnenangriffe verfolgten die Menschen auf ihrer Flucht nach Chan Yunis und dann nach Rafah, die laut israelischen Flugblättern „sichere Zonen“ sein sollen. Der Gazastreifen ist auch nicht der einzige Schauplatz zionistischer Gräuel. Im besetzten Westjordanland wurden 350 Menschen getötet, und das Flüchtlingslager von Dschenin wurde aus der Luft bombardiert.

Rassismus

Israelische Regierungsminister aus den unverhohlen rassistischen „religiösen Parteien“, wie der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir und der Finanzminister Bezalel Smotrich, haben zur „freiwilligen Migration“ nach Ägypten und in andere Nachbarländer aufgerufen. Avi Dichter, Landwirtschaftsminister des Likud, sagte: „Wir sind dabei, die Nakba des Gazastreifens auszurollen“, während der Minister für Heimaterbe, Amihai Eliyahu, im 103FM-Radio erklärte, dass Israel „Wege für die Menschen im Gazastreifen finden muss, die schmerzhafter sind als der Tod“, so wie es die USA mit Japan getan haben, um seine Moral zu brechen und „seinen nationalen Traum zu beenden“.

Das Ziel solcher Parteien, auf die Netanjahu seine Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament, stützt, ist eindeutig die vollständige Vertreibung der einheimischen Bevölkerung Palästinas. Israels westliche Unterstützer:innen befürworten dies aufgrund ihrer Beziehungen zu ihren Verbündeten wie Saudi Arabien, Jordanien oder den Emiraten nicht, was Israel jedoch nicht daran hindert, das Projekt voranzutreiben. Zumindest beabsichtigt es, die palästinensische Bevölkerung in immer kleinere Zonen zu drängen, die von der IDF (Israelische Armee) und den immer schwerer bewaffneten Siedler:innen im besetzten Westjordanland umgeben sind.

Natürlich verurteilen US- und EU-Politiker:innen die extremen Ansichten dieser Minister, aber sie bleiben in einer Regierung, die in der Praxis das tut, was nur sie zu sagen wagen. Unterdessen berichten mutige israelische Friedensaktivist:innen, dass jüdischen Bürger:innen die Schrecken, die sich in Gaza abspielen, nicht vor Augen geführt werden und sie glauben, dass der Tod von Zivilist:innen ein unbeabsichtigter, aber unvermeidlicher Kollateralschaden der Kampagne gegen die Hamas ist.

Die Tötung von Zivilist:innen auf breiter Front ist das bewusste Ziel der israelischen Taktik; die Auslöschung ganzer Stadtteile dient dem strategischen Ziel, „den nationalen Traum zu beenden“. Die immer strengere Belagerung des Gazastreifens, die systematische Zerstörung seiner Infrastruktur und die Lähmung seiner Wirtschaft haben den Widerstand jedoch nicht gebrochen. Im Gegenteil, sie haben die Unterstützung für die Hamas als die unnachgiebigste und zum Gegenschlag fähigste Partei verstärkt. Ihre Verankerung in der Bevölkerung wird sich als unausrottbar erweisen, wenn nicht die Menschen selbst ausgerottet werden.

Vor diesem schrecklichen Hintergrund ist die Weigerung westlicher Regierungen, zu einem Waffenstillstand aufzurufen unter dem Mantra, dass Israel das Recht hat, sich selbst zu verteidigen, eine kriminelle Absprache. Dies sollte uns nicht überraschen. Die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich haben alle völkermörderische Kriege auf ihrem Gewissen, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart, in Afghanistan, oder im Irak.

Labour

Die Vereinigten Staaten, Schirmherr und Geldgeber Israels und all seiner Aggressionen seit den 1950er Jahren, haben alle Versuche der Mehrheit in der UN-Vollversammlung und im Sicherheitsrat, ein Ende des Tötens zu fordern, mit ihrem Veto blockiert. Großbritannien unter Rishi Sunak folgt der Linie aus Washington, ebenso wie die Labour-Partei unter Keir Starmer. Dies passt zu seinem Interview mit der Times of Israel nach seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden, in dem er betonte: „Ich unterstütze den Zionismus ohne Einschränkung.“ Darauf folgte eine Hexenjagd auf Antizionist:innen, die als Antisemit:innen verleumdet wurden, darunter viele jüdische Verteidiger:innen der palästinensischen Rechte.

Dennoch sind Starmers Ansichten nicht die der Labour-Basis oder der Parteipolitik. Die Jahreskonferenz hat wiederholt Entschließungen verabschiedet, die Israel verurteilen und Maßnahmen gegen Israels Gräueltaten unterstützen. Erst 2021 verabschiedete sie einen Antrag, in dem es hieß:

„Die Konferenz beschließt, die von der palästinensischen Zivilgesellschaft geforderten ,wirksamen Maßnahmen’, einschließlich Sanktionen, gegen die völkerrechtswidrigen Handlungen der israelischen Regierung zu unterstützen, insbesondere um sicherzustellen, dass Israel den Siedlungsbau stoppt, jegliche Annexion rückgängig macht, die Besetzung des Westjordanlands und die Blockade des Gazastreifens beendet, die Mauer abbaut und das im Völkerrecht verankerte Recht der palästinensischen Bevölkerung auf Rückkehr in ihre Heimat respektiert.“

Diese Entschließungen bleiben die offiziell beschlossene Politik der Labour Party und der ihr angeschlossenen Gewerkschaften, die für sie gestimmt haben. Wie viele andere Entschließungen werden sie natürlich vom Schattenkabinett und dem Nationalen Exekutivkomitee völlig ignoriert. Und nur einige dieser Gewerkschaften wagen es noch, sie zu äußern, weil sie damit erpresst werden, dass jede Kritik an Starmer die Wahlchancen von Labour gefährdet. Nichtsdestotrotz sind eine Reihe von kommunalen Labour-Abgeordneten aus Protest zurückgetreten oder drohen damit, bei den nächsten Wahlen auf einer Plattform für Palästina gegen Labour zu kandidieren.

Aktionen

In Großbritannien und anderen Ländern gab es wöchentliche Massendemonstrationen, die einen Waffenstillstand und das Ende der Blockade forderten. In London marschierten Hunderttausende, und in den meisten britischen Großstädten fanden beträchtliche Mobilisierungen statt. Dutzende von lokalen Gaza-Solidaritätsgruppen sind entstanden und organisieren regelmäßig Kampagnen. Aktivist:innen haben auch direkte Aktionen gegen Elbit Systems, den größten israelischen Waffenhersteller, der mindestens 85 Prozent der vom israelischen Militär verwendeten Drohnen liefert, geplant.

An einer Aktion in Sandwich in Kent am 26. November nahmen Gewerkschaftsmitglieder von Unite, Unison, der National Education Union, der University and College Union, der British Medical Association und der Bakers‘ Union teil und trugen ein Transparent mit der Aufschrift „Workers for a free Palestine (Arbeiter:innen für ein freies Palästina)“. Sie haben auch eine gleichnamige Gruppe  gegründet.

Solche Maßnahmen sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einer landesweiten Kampagne für den Boykott aller Institutionen und Firmen, die Material liefern, das Israels Gräueltaten in Gaza unterstützt. Wir müssen diese Forderung in den Gewerkschaftsgruppen in Fabriken und Büros, an Universitäten und Schulen aufgreifen.

Wir müssen die Informationsverbote über den Gazastreifen durchbrechen, die von Verwaltungen und Bildungsbehörden verhängt werden. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da der Gesetzesentwurf der Regierung „Economic Activity of Public Bodies (Overseas Matters) Bill“ (Gesetz zur ökonomischen Aktivität öffentlicher Körperschaften in Außenangelegenheiten), der darauf abzielt, Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen zu verbieten, demnächst im Unterhaus eingebracht werden soll. Dieser Angriff auf die Redefreiheit muss aufgedeckt, bekämpft und, falls er verabschiedet wird, abgewehrt werden.