Pakistan: Gwadars Kampf gegen den kapitalistischen „Fortschritt“

Sheraz Arshad, Infomail 1178, 21. Februar 2022

Die Hafenstadt Gwadar in der pakistanischen Provinz Belutschistan ist der Ausgangspunkt für den Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC), eine wichtige strategische Verbindung im Rahmen von Pekings „Neuer Seidenstraße“ („Belt and Road Initiative“). Doch von Prestigeprojekten wie einem internationalen Flughafen, Kraftwerken, neuen Hafenanlagen und Schnellstraßen haben die Menschen in der Region keine Vorteile. Schlimmer noch, die Hauptstütze der lokalen Wirtschaft, die Küstenfischerei, wurde durch die Ankunft der gigantischen Trawler aus China praktisch zerstört.

Bewegung

Nach Jahren gebrochener Versprechungen in Bezug auf neue Arbeitsplätze und Industrien wandelte sich im November das Ausmaß der Proteste radikal, als eine neue Bewegung, Gwadar Ko Haq Do (Rechte für Gwadar), ins Leben gerufen wurde. Bei einer Sitzblockade in der Stadt unterstützten Hunderttausende die 19 Kernforderungen der Bewegung. Diese beinhalten unter anderem ein Verbot von Fischtrawlern, die Beseitigung von Hindernissen für den grenzüberschreitenden Handel mit dem Iran, die Beseitigung von Sicherheitskontrollpunkten, ein hartes Durchgreifen gegen den illegalen Drogenhandel, die Schaffung von Arbeitsplätzen vorrangig für die örtliche Bevölkerung, Beendigung der Schikanen und Maßnahmen gegen Hunderte von „Vermissten“ durch die Polizei – Aktivist:innen, von denen angenommen wird, dass sie von den Sicherheitskräften entführt wurden.

Schon das Ausmaß der Bewegung machte sie zu einem Meilenstein im Kampf um die Entwicklung Belutschistans. Noch bedeutender war jedoch die Tatsache, dass zum ersten Mal eine große Zahl von Frauen daran beteiligt war. Sie sagten, sie seien aus ihren Häusern vertrieben worden, weil ihre Männer wegen des illegalen Fischfangs durch Trawler und der Handelsbeschränkungen an der iranischen Grenze ihre Arbeit verloren hätten. Sie beklagten ihre extreme Armut, den Hunger in den Familien, den Mangel an sauberem Wasser und Strom sowie das völlige Fehlen von Gesundheits- und Bildungsangeboten.

Die Bewegung von Gwadar breitete sich auf andere Städte aus und erhielt Unterstützung aus ganz Belutschistan. Dies alles geschah auch, weil sich seit dem Ausbruch der Covid19-Pandemie eine bedeutende Veränderung vollzogen hat. Die Pandemie sorgte dafür, dass die große Masse der Menschen mobilisiert wurde, deren Zahl ihre Angst vor dem Staat übersteigt.

Mittlerweile protestieren auch Student:innen aus Belutschistan für ihre Rechte. Trotz Polizeigewalt und Festnahmen fordern sie beharrlich, dass die Regierung die Privatisierung des Bolan Medical College und der Universität von Belutschistan zurücknimmt. Die Student:innen besetzten die Universität aus Protest gegen das gewaltsame Verschwinden von zwei ihrer Kommiliton:innen. Zu ihrer Unterstützung wurden in großem Umfang Bildungseinrichtungen in ganz Belutschistan geschlossen, bis die Regierung sich gezwungen sah, zu verhandeln und die Rücknahme der Privatisierungen zu versichern. Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich dies sein wird, bedeutet aber in jedem Fall einen großen Erfolg für die belutschischen Student:innen.

Die Gesellschaft der Belutsch:innen wird insgesamt politisch aktiver. Früher gab es lediglich Konfrontationen zwischen den Sicherheitskräften und Guerillakämpfer:innen, jetzt sind auch Student:innen, Frauen, Arbeiter:innen, die untere Mittelschicht und die Armen, kurz gesagt: die Masse der Bevölkerung, auf die politische Bühne getreten und fordern Mitbestimmung über ihre eigene Zukunft.

Diese Bewegung bedeutet deshalb einen großen Schritt nach vorne für die belutschische Gesellschaft, aber um Fortschritte zu erreichen, muss sie sich selbst organisieren. Es überrascht nicht, dass die Bewegung zunächst von religiösen Persönlichkeiten angeführt wurde, insbesondere von Maulana Hidayat-ur-Rehman, dem Generalsekretär der Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft) in Belutschistan. Er war es auch, der das Abkommen mit der Regierung aushandelte, das den Sitzstreik beendete. Jamaat-e-Islami war jedoch zuvor eine Verbündete der Sicherheitskräfte. Deshalb braucht die Bewegung eine zuverlässigere und vor allem kontrollierbare Führung.

Perspektive

Wir fordern, dass alle Sektoren – Fischer:innen, Arbeiter:innen, Frauenorganisationen, Student:innen – ihre eigenen Aktionskomitees wählen und sich untereinander abstimmen. Wir fordern, dass alle Projekte, die in Gwadar in Angriff genommen werden, der Zustimmung dieser Volksorganisationen bedürfen. Unabhängig von den politischen oder religiösen Bindungen stellt die Bewegung objektiv einen Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung und die Unterordnung der Region unter die Interessen des chinesischen Imperialismus dar, weshalb Sozialist:innen sie in jeder möglichen Weise unterstützen sollten.

Die beste Unterstützung besteht darin, das Verständnis für die Bewegung und die Solidarität mit ihr unter der Arbeiter:innenklasse und den armen Bauern/Bäuerinnen im übrigen Pakistan zu verbreiten. Im ganzen Land sehen sich Millionen von Menschen mit zunehmender Not konfrontiert, nicht nur als direkte Folge der Pandemie und der steigenden Preise für lebensnotwendige Güter, sondern auch auf Grund der Regierungspolitik zum Schutz der Interessen der größten pakistanischen und imperialistischen Konzerne.

Sozialist:innen müssen bei der Organisierung der Kämpfe für wirtschaftliche und politische Forderungen eine führende Rolle spielen, indem sie zu demokratischer Selbstorganisation in Gewerkschaften und kommunalen Organisationen aufrufen. Nur solche können sowohl eine effektive und kontrollierbare Führung im Kampf bieten als auch die Grundlage für den Sturz des bestehenden Systems und seine Ersetzung durch eine demokratisch geplante, sozialistische Gesellschaft schaffen. Alle Aktivist:innen, die die Notwendigkeit dieses Kampfes verstehen, müssen sich selbst organisieren und eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei in Pakistan aufbauen.




Pakistan: Stoppt Vergewaltigung und Folter! Internationale Solidarität mit KlimaaktivistInnen in Karatschi!

Liga für die 5. Internationale, Internationales Sekretariat, 16.12.2021, Infomail 1173, 16. Dezember 2021

Die Liga für die Fünfte Internationale ist zutiefst besorgt über Berichte von Vergewaltigung und Folterung einer Klimaaktivistin in der Nacht vor dem Klimamarsch am 12. Dezember in Karatschi. Wir verurteilen diese Barbarei aufs Schärfste und solidarisieren uns mit den Genossinnen und Genossen, die Tag und Nacht gearbeitet haben, um diesen Marsch zu ermöglichen und seine Forderungen auf die arbeitende Bevölkerung von Karatschi zu konzentrieren.

Unsere pakistanische Sektion, die Revolutionary Socialist Movement (Revolutionär-Sozalistische Bewegung; RSM), ist auch Teil der breiten Koalition, die den People’s Climate March organisiert hat, der sich an der Straße Boat Basin versammelte und zum Bezirk Bilawal Chowrangi lief. Das Bündnis vereint AktivistInnen für Wohn-, Landrechte und Klimawandel, darunter Karachi Bachao Tehreek (Rettungsbewegung Karatschi, ein Zusammenschluss verschiedener linker Organisationen, die sich gegen den Abriss von ArbeiterInnenwohnungen einsetzen), Women’s Democratic Front, Progressive Students’ Federation Karachi, Pakistan Maholiati Tahaffuz Movement, Climate Action Pakistan und 28 weitere Organisationen, wie Pashtun Tahaffuz Movement, Jiye Sindh Students’ Federation, Pakhtun Students’ Federation, Sindh Sujaagi Forum, Baloch Yakjehti Committee, and the Karachi Union of Journalists.

Unter all den verschiedenen Klimamärschen, die in der ganzen Welt organisiert wurden, ist es klar, dass der Marsch in Karatschi von sozialistischen Kräften organisiert wurde, die nicht nur die ökologische Zerstörung kritisierten, sondern auch bereit waren, die Grundursache der Klimakrise, nämlich den Kapitalismus, anzugehen. Die Haupttransparente des Marsches zeigten zwei Hauptpunkte: „Sozialismus oder Barbarei“ und „Systemwechsel statt Klimawandel“.

Die Mobilisierungen für den Marsch konzentrierten sich auf ArbeiterInnenviertel sowie StudentInnen und Jugendliche aus sozial unterdrückten Schichten. In Anbetracht all dieser Faktoren ist es mehr als deutlich, dass die Repression, der die transsexuelle Klimaaktivistin ausgesetzt war, nicht nur eine Taktik darstellte, um sexuelle Gewalt gegen ein Mitglied einer der verletzlichsten und unterdrücktesten geschlechtlichen Minderheiten anzuwenden, sondern auch, um die größere Gemeinschaft der SozialistInnen zu bedrohen, die sich im Kampf für Klimagerechtigkeit engagieren. Wir zollen den Genossinnen und Genossen Anerkennung dafür, dass sie sich weder diesem Druck noch dem der Polizei am Tag des Marsches gebeugt haben.

Laut einer Erklärung der Karachi Bachao Tehreek fand am 11. Dezember eine Sitzung des Organisationskomitees statt, um die Einzelheiten des Marsches festzulegen. „Nach der Sitzung wurde eine unserer Organisatorinnen, eine Transfrau, auf dem Heimweg entführt. Sie wurde gefoltert und vergewaltigt, um Informationen über das Programm des Marsches und seine Reden zu erhalten“, heißt es in der Erklärung.

Weiter heißt es: „Am Tag des Marsches wurden die DemonstrantInnen bei ihrer Ankunft in der Boat Basin von einem starken Polizeiaufgebot empfangen, und der Marsch wurde blockiert und von allen Seiten von Polizeifahrzeugen umgeben. Die DemonstrantInnen durften sich nur Zentimeter für Zentimeter vorwärts bewegen, mit dem ausdrücklichen Ziel, zu verhindern, dass der Marsch an Fahrt gewinnt und das Bilawal Haus erreicht, den Sitz des Vorsitzenden der Regierungspartei in Sindh, einer Partei, die angeblich für Demokratie, verfassungsmäßige Freiheit, Menschen- und Umweltrechte eintritt.

Die eklatante staatliche Repression gegen diesen Klimamarsch ist Teil einer anhaltenden Kampagne der Kriminalisierung und Polizeigewalt, die sich gegen wirtschaftlich und sozial marginalisierte Gruppen richtet, die gegen die Klimagerechtigkeit kämpfen. Von Bahria Town bis Gujjar und Orangi Nullah sind die OrganisatorInnen, die sich gegen Zwangsumsiedlungen und Klimaungerechtigkeit wehren, falschen Terrorismusvorwürfen, illegalen Festnahmen, Verhaftungen, Einschüchterungen und Entführungen ausgesetzt gewesen. All das, weil sie das Recht auf eine nachhaltige, gerechte Stadt einfordern. Als KlimaaktivistInnen sind wir empört über die Verletzung unseres verfassungsmäßigen Rechts auf Protest und Versammlungsfreiheit. Wir fordern im Namen aller beteiligten Organisationen Rechenschaft von der Regierung und der Polizei von Sindh.“

Wir stehen in voller Solidarität mit der Klimabewegung in Karatschi.

  • Beendet die Gewalt gegen Transfrauen!
  • Schluss mit den Schikanen und Übergriffen gegen politische AktivistInnen durch Folter, Vergewaltigung und Einschüchterungstaktiken!
  • Stoppt die gewaltsame Aneignung von Land der ArbeiterInnenklasse in Malir und Gadap Town für den Bau von Megaprojekten wie Bahria Town!
  • Stoppt die Zerstörung der Häuser von Lohnabhängigen in Gujjar Nullah, Orangi Nullah und anderen solchen Vierteln für kapitalistische Unternehmungen!
  • Kontrolle der ArbeiterInnenklasse über die Entwicklung der Stadt!
  • KlimaaktivistInnen in aller Welt sollten ihre Solidarität mit den GenossInnen in Karatschi bekunden und bei den Behörden der pakistanischen Regierung gegen die Brutalität der Polizei protestieren.



Indien und Pakistan beweisen: ein globaler Plan gegen Covid-19 ist notwendig!

Minerwa Tahir, Infomail 1150, 24. Mai 2021

Während sich die zweite Welle der Virusausbreitung von Covid-19 für Indien in großem Ausmaß als tödlich erweist, scheint sich die Situation in Pakistan, wenn auch in kleinerem Ausmaß, zu verschlimmern. Beide Staaten haben ihr Bestes getan, um einen landesweiten Lockdown gegen den Rat von GesundheitsexpertInnen zu verhindern. Infolgedessen werden täglich Tausende weitere Menschen infiziert, und was hier geschieht, wiederholt sich in halbkolonialen Ländern auf der ganzen Welt.

Indien

Gemeldete Zahlen zeigen über 25 Millionen Fälle in Indien, mit mehr als 280.000 Toten. ExpertInnen sagen, dass die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher liegt. Selbst mit den veröffentlichten Werten steht Indien nach den USA mit der zweithöchsten Zahl an Fällen in der Welt da. Berichten zufolge sind einige Krematorien im Bundesstaat Gujarat so überlastet, dass die Metallstrukturen der Öfen schmelzen oder brechen. Der Grund? Sie sind rund um die Uhr in Betrieb, weil die Leichen inmitten der Pandemie bergeweise anfallen.

Viele Menschen kämpfen sogar darum, die Mittel zu finden, um ihre Angehörigen einzuäschern. Hunderte von Leichen wurden im Ganges treibend oder im Sand seines Ufers begraben gefunden. Dies ist besonders besorgniserregend. Obwohl einige Hindu-Gemeinschaften die Leichen von Kindern, unverheirateten Mädchen oder solchen, die an ansteckenden Krankheiten gestorben sind, im Fluss treiben lassen, gibt es eine steigende Zahl von armen Hindus, die sich angesichts der rasant steigenden Zahl von Todesfällen einfach keine Einäscherung leisten können. Deshalb wickeln sie den Leichnam in weißen Musselin und schicken ihn in die Gewässer des Ganges. Dadurch kann der Fluss potenziell vergiftet werden.

Engpässe bei Sauerstoff und Krankenhausbetten sind an der Tagesordnung. Diejenigen aus den besitzenden Klassen können es sich leisten, extra zu zahlen, um an die knappen Sauerstoffflaschen und Medikamente zu kommen. Ein stets unzureichendes Gesundheitssystem bedeutet jedoch, dass es nur eine begrenzte Anzahl an Krankenhäusern gibt. Man kann so viel Geld haben, wie man will, aber was nützt das, wenn keine Gesundheitseinrichtungen vorhanden sind? In der Zwischenzeit wird die große Mehrheit der ArbeiterInnenklasse und der unteren Schichten einfach im Stich gelassen und muss zusehen, wie ihre Angehörigen sterben. Natürlich wurde und wird der Ernst der Lage von der Regierung heruntergespielt.

Bisher sind nur etwa 26 Millionen Menschen in Indien vollständig geimpft worden, bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden, während etwa 124 Millionen eine erste Dosis erhalten haben. Indien hat zwar Millionen weiterer Dosen bestellt, aber das Land ist noch weit von dem entfernt, was es braucht. Es hat den weltweit größten Impfstoffhersteller, das Serum Institute of India (Seruminstitut Indiens), doch nur 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben die erste Dosis erhalten und nur 2 Prozent sind vollständig geimpft. Nachdem mehr als 66 Millionen Dosen gespendet oder als Export verkauft wurden, wurde erst im März dieses Jahres die Gier der Unternehmen mit einem Exportstopp für Impfstoffe vorübergehend eingedämmt. Dennoch gehörte das Serum-Institut zu den 418 indischen Unternehmen, die 2019–2020 einen Umsatz von umgerechnet mehr als 55 Milliarden Euro meldeten. Es war auch das Unternehmen, das den höchsten Nettogewinn für jede Rupie Umsatz erwirtschaftete.

Pakistan

Auch die Situation in Pakistan ist besorgniserregend. Die offizielle Zahl der Todesfälle liegt bei 19.617, während die Gesamtzahl der Fälle 880.362 beträgt. Die veröffentlichte Statistik wies in der ersten Märzwoche 16.000 Schwererkrankungen aus und stieg allein im April auf mehr als 140.000 an, dazu kommen über 3.000 Todesfälle. Laut BBC zeigen offizielle Daten, dass die Bettenbelegung in den Intensivstationen der großen öffentlichen und privaten Krankenhäuser in Lahore am 28. April bereits bei über 93 Prozent lag, während in einigen Großstädten der größten und am schlimmsten betroffenen Provinz Punjab die Auslastung von Beatmungsgeräten und Betten mit Sauerstoff über 80 Prozent betrug. Sollte die Zahl der Infektionen steigen, wird nicht nur die Bettenknappheit ein Problem sein. Das Land verbraucht bereits 90 Prozent seines Sauerstoffvorrats, wobei mehr als 80 Prozent auf die Gesundheitsversorgung entfallen.

Die Ober- und Mittelschicht hat inzwischen begonnen, ihre Kontakte zu nutzen, um nicht nur private Krankenhäuser, sondern auch staatliche Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen, wenn erstere ausgelastet sind. Auf diese Weise werden die ArbeiterInnenklasse und die Armen weiter von der Behandlung ausgeschlossen. Darüber hinaus gibt es Berichte, dass die Regierung absichtlich weniger Tests durchführt und Menschen trotz eindeutiger Symptome nicht untersucht, um den Ernst der Lage herunterzuspielen. Dies bedeutet, dass die verarmten Massen weiterhin an dem Virus sterben werden, die Ursache ihres Todes aber nicht offiziell anerkannt wird.

Nach Angaben des Sonderassistenten des Premierministers für Gesundheit hat Pakistan seit dem 2. Februar etwas mehr als zwei Millionen Impfdosen ausgegeben. Das sind gerade einmal 0,95 Dosen pro hundert Menschen. Dies ist offensichtlich unzureichend. Indien, das sein Impfprogramm im Januar begonnen hat, hat mehr als 144 Millionen Dosen appliziert, was ungefähr 10,5 Dosen pro hundert Menschen entspricht.

Pakistan, mit einer Bevölkerung von über 220 Millionen Menschen, hat bisher nur 18 Millionen Dosen gesichert, von denen es nur etwas mehr als fünf Millionen erhalten hat. Nach den vom Duke Global Health Innovation Centre zusammengestellten Daten benötigt das Land mindestens 86 Millionen Dosen. Die Economist Intelligence Unit (Forschungs- und Analyseunternehmen der Zeitschrift The Economist) sagt in ihrem Bericht, dass Pakistan erst Anfang 2023 eine flächendeckende Impfung, also 60–70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, erreichen wird.

Halbkoloniale Länder und Pandemie

Die Situation in halbkolonialen Ländern wie Indien und Pakistan stellt eine Gefahr nicht nur für die beiden Länder, sondern für die ganze Welt dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Land neue Varianten entstehen, steigt mit wachsender Zahl der Covid-Fälle. Jede einzelne Infektion gibt dem Virus die Chance, sich weiterzuentwickeln. Eine große Sorge ist, dass Mutationen entstehen könnten, die Impfstoffe unwirksam machen. In diesem Szenario sind die Abriegelung nicht lebensnotwendiger Industrien, soziale Distanzierung und Impfungen der einzige Weg.

Während Länder wie Indien und Pakistan keine Chance haben, eine effektive Impfung ihrer riesigen Bevölkerung aus eigener Kraft zu gewährleisten, sind ihre Regierungen auch nicht an einer Schließung der nicht lebensnotwendigen Industrie interessiert. Der indische ÄrztInnenverband sagte Anfang des Monats, dass eine „vollständige, gut geplante und im Voraus angekündigter nationaler Lockdown“ für 10 bis 15 Tage dem überlasteten Gesundheitssystem des Landes Zeit geben würde, „sich zu erholen und sowohl das Material als auch die Arbeitskräfte wieder zu ergänzen“, die es braucht.

In ähnlicher Weise haben auch GesundheitsexpertInnen in Pakistan die Bedeutung eines Shutdowns betont. Beide Regierungen bestehen darauf, dass eine solcher die letzte Option wäre. Premierminister Imran Khan würde gerne warten, bis die Umstände „die gleichen wie in Indien“ werden. Angesichts von mehr als 280.000 toten InderInnen fragt man sich, wann die Zeit für die von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführte Regierung reif wäre, die sogenannte letzte Option umzusetzen.

Zynismus, Überausbeutung und Repression

Beide Premierminister, Khan und Modi, benutzen zynisch das Leiden der einfachen werktätigen Massen als Vorwand, um Aussperrungen zu verhindern. Es ist sicherlich wahr, dass die ArbeiterInnenklasse, insbesondere ihre schwächsten Schichten, schwer leidet, da sie keine Mittel hat, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen oder für Miete und andere Ausgaben aufzukommen. Aber beide Staaten übernehmen keinerlei Verantwortung, wenn es darum geht, in solch schwierigen Zeiten für die Bedürfnisse der Massen zu sorgen. Sie wenden alles auf, um der KapitalistInnenklasse Hilfspakete zu geben, aber sie haben nichts für die Massen übrig.

Der Grund für den Widerstand gegen den Shutdown der nicht lebensnotwendigen Industrie ist einfach die Wahrung der Interessen des Kapitals. Während Ereignisse wie die Kumbh Mela (größtes hinduistisches Fest) sicherlich zu dem enormen Anstieg der Fallzahlen beigetragen haben, werden jeden Tag ArbeiterInnen in beengte AusbeuterInnenbetriebe gezwungen, um Profit für die KapitalistInnenklasse zu machen. Wir finden kaum JournalistInnen, der über diese täglichen Superinfektion sprechen.

In Indien und Pakistan ist ein massives Durchgreifen gegen demokratische Freiheiten im Namen von Maßnahmen gegen das Virus im Gange. Beide Staaten haben ihre militärischen Kräfte noch weiter ermächtigt, um Einschränkungen durchzusetzen. Dies geschieht nicht aus tatsächlicher Sorge um das Leben der Menschen, sondern um im Falle eines Aufstandes, der aufgrund der kriminellen Nachlässigkeit der Regierungen ausbricht, diesen im Keim zu ersticken. Die BJP-geführte Regierung hat im vergangenen Jahr bereits zwei Generalstreiks gegen ihre neoliberale, arbeiterInnen- und bäuerInnenfeindliche Politik erlebt.

Unterdessen läuft die chauvinistische Rhetorik gegen Pakistan seitens der BJP weiter. Der pakistanische Premierminister bot Indien am 25. April angesichts der Covidkrise Unterstützung an. Edhi, eine bekannte Wohltätigkeitsorganisation in Pakistan, erklärte sich ebenfalls bereit, angesichts der steigenden Covid-19-Fälle im Land medizinische Hilfe zu schicken. Modis hindunationalistische BJP-Regierung lehnte diese Angebote mit der Begründung ab, dass sie keine Hilfe von der „feindlichen Nation“ annehmen werde.

Höchstwahrscheinlich hat die pakistanische Regierung mit einer solchen Reaktion gerechnet und deshalb das Angebot gemacht. Realistisch betrachtet verfügt Pakistan nicht über die Mittel, sich um die Gesundheitsversorgung der eigenen Bevölkerung zu kümmern, geschweige denn einer so großen Population wie der Indiens zu helfen. Dennoch sind solche Manöver für die indische und pakistanische herrschende Klasse nützlich, da sie helfen, den nationalistischen Hass und Chauvinismus auf beiden Seiten am Leben zu erhalten.

Kerala

Schließlich hat das Beispiel des indischen Bundesstaats Kerala veranschaulicht, was auch unter dem Kapitalismus getan werden könnte, um die Auswirkungen der Pandemie zu mildern. Dort hat die reformistische Regierung der Linken Demokratischen Front, einer von der Communist Party of India – Marxist (CPI-M) dominierten Koalition, einen kommunalen Gesundheitsdienst eingerichtet und Regierungsbefugnisse genutzt, um die Reaktion auf die Pandemie zu unterstützen. Das Ergebnis: Während der größte Teil Indiens in Notstand geriet, herrschte in dem Bundesstaat kein Mangel an Sauerstoff, weil im Oktober letzten Jahres entsprechende Maßnahmen ergriffen wurden.

Außerdem beschaffte sie rechtzeitig ausreichende Vorräte an Remdesivir und Tocilizumab und anderen Medikamenten. Diese können die Infektion zwar nicht verhindern, aber die Sterblichkeitsrate durch das Virus drastisch senken. Als die Pandemie fortschritt, wurden diese Arzneimittel später zu exorbitanten Preisen auf dem Schwarzmarkt in der Hauptstadt und anderen Städten verkauft. Letzte Woche gab Kerala 100.000 unbenutzte Fläschchen mit Remdesivir an das Verteilerzentrum zurück, um sie an andere bedürftige Bundesstaaten auszuliefern.

Obwohl Kerala sicher kein kommunistisch regierter Staat ist, hat seine Strategie einen bedeutenden Einfluss auf die Eindämmung der Ausbreitung des Virus gehabt. Sie steht nicht nur in scharfem Kontrast zur Politik der Zentralregierung, sondern ist auch ein Hinweis darauf, was nötig ist, um mit einer so großen Krise umzugehen. Es müssen alle Ressourcen der Gesellschaft mobilisiert werden, unabhängig von Patenten, Profiten oder Eigentumsrechten. Wir brauchen eine Regierung, die wirklich die Interessen der Massen vertritt, ihnen gegenüber direkt rechenschaftspflichtig ist und die effiziente Verteilung der Ressourcen planen kann.

Wir brauchen zwar eine Koordination auf Landes- und Provinzebene, aber es bedarf einer zentralen Planung nicht nur für einzelne Länder, sondern auch zwischen ihnen. Die Notlage der Massen in der halbkolonialen Welt, wenn es um Impfstoffe geht, in Verbindung mit dem Horten und Überangebot von Impfstoffen in den imperialistischen Ländern, unterstreicht die Notwendigkeit einer demokratischen Planung auf globaler Ebene.

Forderungen

Einige Forderungen, die wir in diesem Szenario vorbringen sollten, sind:

  • Die imperialistischen Länder müssen von den ArbeiterInnenbewegungen gezwungen werden, die Verantwortung für die Bezahlung von Massenimpfungen und Behandlungen in halbkolonialen Ländern wie Indien und Pakistan zu übernehmen! Großbritannien und Australien haben sich beide dreimal mehr Impfstoffe gesichert, als ihre gesamte Bevölkerung benötigt. Das Horten von Impfstoffen muss sofort aufhören.
  • Streichung aller Schulden der halbkolonialen Länder! Die Regierungen Pakistans und Indiens müssen sich weigern, Schulden an alle imperialistischen Länder, an lokale und internationale Unternehmen und Banken sowie an internationale Finanzinstitutionen zurückzuzahlen. Die in den Haushalten eingestellten Mittel für den Schuldendienst müssen für die sofortige und kostenlose Versorgung mit Impfstoffen, Medikamenten, Sauerstoff und Betten sowie Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal verwendet werden.
  • Die ArbeiterInnenorganisationen und -bewegungen in den imperialistischen Ländern müssen Proteste rund um das Thema Schuldenerlass organisieren und es politisieren! Mit Verschuldung sind fast alle Halbkolonien konfrontiert, also müssen wir transnationale Bewegungen aufbauen, um die Schulden zu streichen. Internationale Solidarität ist der Weg nach vorn.
  • Große Hotels, Privatschulen und Luxusanlagen müssen in kostenlose und öffentliche Quarantäneeinrichtungen umgewandelt werden! Einrichtungen, die sich weigern, müssen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.
  • Schließung von nicht lebensnotwendigen Industrien ! Alle Unternehmen müssen die ArbeiterInnen bei vollem Lohn nach Hause schicken. Unternehmen, die sich weigern, müssen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.
  • Bereitstellung von kostenloser Schutzausrüstung, häufigen Tests und Rotationspläne für alle ArbeiterInnen in notwendigen Bereichen!
  • Öffnung der Geschäftsunterlagen aller Unternehmen, um ihre tatsächliche Bilanz einzusehen! Es muss eine progressive Besteuerung der Reichen eingeführt werden, um das Leben der einfachen Massen zu retten, indem nicht nur eine kostenlose Gesundheitsversorgung, sondern auch kostenlose Lebensmittel bereitgestellt werden.
  • Kostenlose Versorgung mit Strom, Gas und Wasser für alle!
  • Verweigerung der Mietzahlung, bis die Pandemie vorbei ist! Wir müssen MieterInnengewerkschaften aufbauen, was in Verbindung mit dem Mietboykott zur Notwendigkeit der Verstaatlichung des Wohnungssektors führen sollte. Wir fordern vom Staat die Einführung einer Gesetzgebung, die die Zwangsräumung von Menschen, die ihre Mieten während der Pandemie nicht zahlen können, unter Strafe stellt.
  • Alle Bildungseinrichtungen sind sofort zu schließen! Das Lehrpersonal soll mit einer angemessenen Ausbildung ausgestattet werden, um kostenlos Online-Unterricht zu erteilen! Allen SchülerInnen und LehrerInnen sind kostenloses Internet und kostenlose Geräte zum Online-Lernen durch öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen!
  • Erhöhung der Haushalte für Gesundheit und Bildung auf jeweils 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch Kürzung des Militärbudgets!
  • Recht auf Versammlung für Proteste und Demos! Die ArbeiterInnenklasse muss sich durch Sicherheitsmaßnahmen schützen. Wir können nur für unsere Zukunft kämpfen, wenn wir leben. Deshalb sind soziale Distanzierung, Masken und Händewaschen notwendige Maßnahmen.
  • Der Staat muss allen Bedürftigen ein Mindestmaß an Lebensmittelrationen (oder Geld dafür) zur Verfügung stellen!
  • Öffentliche Kontrolle und Transparenz über alle auf Covid-bezogenen Wohltätigkeitsorganisationen und Spendenaktionen!
  • Patentrechte für Impfstoffe und Arneimittel müssen sofort abgeschafft werden!
  • Entschädigungslose Enteignung aller große Pharmafirmen wie des Seruminstituts Indiens. Es darf ihnen nicht mehr erlaubt werden, vom Elend der Menschheit zu profitieren. Macht die Technologie und das Know-how für die Impfstoffproduktion zugänglich, um die Produktion weltweit zu maximieren! Die große Pharmaindustrie muss unter ArbeiterInnenkontrolle zwangsweise verstaatlicht werden.



Pakistan: Klerikalfaschismus erhebt wieder sein hässliches Haupt

Minerwa Tahir, Infomail 1147, 25. April 2021

Die Kräfte des klerikalen Faschismus, verkörpert durch die Tehreek-e-Labbaik Pakistan (Bewegung „Ich bin da, Pakistan“; TLP), haben ihre wachsende Stärke mit Massendemonstrationen in ganz Pakistan geltend gemacht. Die Situation stellt eine potenzielle Gefahr für die Organisationen und Kämpfe der arbeitenden Massen, der Frauen, geschlechtlichen und nationalen Minderheiten sowie aller anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft dar.

Reaktionäre Mobilisierung und Staat

Im Zentrum der reaktionären Mobilisierungen steht die Forderung, dass Pakistan den französischen Botschafter ausweist, weil die französische Regierung nicht gegen die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ vorgegangen ist, als diese Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlichte. Im vergangenen November, nachdem die TLP zu Massendemonstrationen mobilisiert hatte, versprach Premierminister Imran Khan, das Parlament innerhalb von drei Monaten in die Lösung der Situation einzubeziehen.

Als die Frist näher rückte, hatte die Regierung nichts unternommen. Das pakistanische Kapital hat eindeutig kein Interesse daran, die Beziehungen zu den imperialistischen Staaten zu kappen, und Khan hatte das sogar ganz offen gesagt. Der Hauptanführer der TLP, Saad Rizvi, veröffentlichte ein Video, in dem er seine AnhängerInnen aufrief, sich auf einen „langen Marsch“ gegen die Regierung vorzubereiten. Am 12. April schlugen die Behörden zurück und verhafteten Rizvi. Innerhalb weniger Stunden begannen im ganzen Land Sitzstreiks. In allen größeren Städten kam es zu schweren Ausschreitungen des Mobs, bei denen mehrere Menschen, darunter auch PolizistInnen, getötet wurden. TLP-Mitglieder blockierten viele wichtige Auto- und Eisenbahnen und unterbrachen den gesamten Reiseverkehr von und zu den wichtigsten Städten.

Die Regierung ging daraufhin dazu über, die TLP zu verbieten, ein Schritt, der von weiten Teilen der liberalen Intelligenz beklatscht wurde. Polizei und paramilitärische Truppen gingen hart gegen die TLP vor, und es wurde berichtet, dass mehr Menschen getötet wurden. Die TLP behauptete: 45. Die Regierung unterbrach auch die Internetverbindung in größeren Städten, darunter Lahore. Als Reaktion darauf mobilisierte die TLP ihre Massenunterstützung und nahm 11 PolizistInnen als Geiseln, nachdem sie eine Polizeistation in Lahore gestürmt hatte. Das Ausmaß der Mobilisierung, die das Land tatsächlich zum Stillstand brachte, unterstreicht die Anziehungskraft und die breite Unterstützung der TLP.

Der Druck auf die regierende rechtsgerichtete PTI-Partei (Tehreek-e-Insaf Pakistan; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) wuchs, als andere religiöse Parteien den Aufruf zu einem landesweiten Streik gegen die Regierung unterstützten. Auch die Tehreek-e-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban) bot der TLP ihre Unterstützung an. Einer ihrer Führer begrüßte die Geste nicht nur, sondern kündigte an, an der Seite der Taliban zu den Waffen zu greifen, falls ihre Forderungen nicht erfüllt würden.

Auch innerhalb der PTI kam es zu Spannungen, als ein Minister damit drohte überzulaufen, wenn das Verbot gegen die TLP nicht aufgehoben würde. Angesichts dessen beschloss die Regierung, in Verhandlungen einzutreten, und der Premierminister selbst verkündete im Fernsehen, dass seine Regierung und die TLP das „gleiche Ziel“ hätten, die Blasphemie auf der ganzen Welt zu bekämpfen, nur ihre Methoden seien unterschiedlich. Khan glaubt weiterhin, dass eine geeinte Haltung der weltweiten muslimischen Ummah (Gemeinschaft) die imperialistischen Zentren rational davon überzeugen könnte, keine religiösen Gefühle zu provozieren, indem sie heilige Figuren des Islam respektlos behandeln. Er versteht entweder nicht, oder er entscheidet sich dafür, die Rolle solcher islamfeindlichen Aufwiegelungen in Ländern wie Frankreich zu ignorieren, wenn deren rechte Regierungen sich unter dem Druck sozialer Bewegungen wiederfinden.

Teilsieg der TLP

Die Verhandlungen zwischen der PTI-geführten Regierung und den klerikalen FaschistInnen waren schließlich „erfolgreich“, als die TLP zustimmte, die Proteste abzubrechen, im Austausch für die Zustimmung der Regierung, in der pakistanischen Nationalversammlung eine Resolution gegen die französische Regierung einzubringen. Die Regierung stimmte auch zu, einige Anklagen gegen TLP-Mitglieder zurückzuziehen.

Imran Khan und seine Regierung mögen gedacht haben, dass ihre rechtspopulistische Rhetorik ihre Unterstützung in der Bevölkerung stärken würde, aber die wahrscheinlichste Folge ihres Rückzugs wird sein, dass sie die Kräfte des klerikalen Faschismus ermutigen werden. Sie mögen zugestimmt haben, ihre Proteste vorerst einzustellen, aber sie werden sicher nicht vergessen, dass sie das ganze Land innerhalb weniger Stunden zum Stillstand gebracht haben. Die Geschichte des Faschismus zeigt, wie er immer klein anfängt und durch solche Siege ermutigt wird.

In diesem Szenario ist auch die Rolle der sogenannten Opposition in Pakistan nicht fortschrittlich. Sowohl die Pakistanische Muslimliga – Nawaz, PML-N, die Partei des ehemaligen Premierministers Nawaz Sharif, als auch der Vorsitzende der Pakistanischen Demokratiebewegung, einer Allianz der Mainstream-Oppositionsparteien, Maulana Fazl- ur-Rehman, haben den Schritt zur Ausweisung des französischen Gesandten offen unterstützt. Die Illusionen der liberalen Linken verflüchtigen sich, während die vermeintlich fortschrittliche bürgerliche Opposition weiterhin dem vorherrschenden rechten Bewusstsein und Druck nachgibt.

Sozialer Hintergrund

Die Proteste der TLP fanden nicht in einem Vakuum statt, sondern in einer Zeit der verschärften Wirtschaftskrise, in der verschiedene Schichten der ArbeiterInnenklasse, Frauen sowie nationale und andere Minderheiten tapferen Widerstand geleistet haben. Im Jahr 2019 wandte sich die PTI-geführte Regierung an den Internationalen Währungsfonds IWF, um ein Rettungspaket zu erhalten, aber natürlich war der Deal an Bedingungen geknüpft.

Die Krise verschärfte sich im darauffolgenden Jahr noch weiter, da die globale Pandemie die ArbeiterInnenklasse, die unteren Mittelschichten sowie die Armen in den Städten und auf dem Land schwer traf. Die einfachen Massen sterben ohne einen Zugang zu qualitativ hochwertiger medizinischer Behandlung oder zu Impfstoffen, während ganze Familien der bürgerlichen Elite in ihren klimatisierten Salons geimpft werden. Diejenigen, die nicht an der Pandemie gestorben sind, werden von Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit hart getroffen. Der Lebensstandard bricht zusammen, da extrem hohe Inflationsraten mit einer Kürzung aller Subventionen dank der „Strukturanpassungen“ des IWF einhergehen.

Währenddessen verteilte die neoliberale Regierung milliardenschwere Hilfspakete an das Großkapital. Sie behauptete, sie könne nicht die Grundbedürfnisse des Lebens für die arbeitenden Massen garantieren, aber sie hatte genug, um die ohnedies immens Reichen zu versorgen.

Da die Klassenungleichheiten immer krasser werden und die ArbeiterInnenklasse keine revolutionäre Partei hat, die ihre Interessen verteidigt, können die Kräfte der Reaktion an die Gefühle der einfachen Massen appellieren, die nach einem Ausweg aus dem Wahnsinn der verfallenden Wirtschaft suchen. Im Jahr 2017, als die Sharif-Regierung mit einer ähnlichen sozialen Krise kämpfte und als auch die TLP mobilisiert hatte, tauchte die PTI als Alternative nicht nur für Teile des Kapitals auf, sondern auch als Antwort auf die Frustrationen großer Teile der Mittelklassejugend und junger ArbeiterInnen, die einen Ausweg aus dem Elend von Arbeitslosigkeit und Armut suchten.

Die damalige Popularität der PTI kann nicht nur als eine Verschwörung verstanden werden, die von mächtigen Teilen des Staates inszeniert wurde. Sie war eine Kombination, die Unterstützung aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft anzog, die sich von der PML-N und der PPP (Pakistanische Volkspartei) abwandten. Auch die Militärelite brauchte etwas Neues, um die Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten – eine Aufgabe, bei der die PML-N und PPP zunehmend versagten. Die PTI versprach Arbeitsplätze für die wachende Bevölkerung. In Kombination mit Khans Opposition gegen die US-Drohnenangriffe präsentierte sich die PTI als eine Partei, die Pakistan unabhängig von der US-Außenpolitik aufbauen wollte.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Wahlen 2018 durch beispiellose Manipulationen getrübt wurden. Aber es wäre falsch zu bestreiten, dass die Massen die PTI als Alternative zur Herrschaft der PML-N/PPP sahen. In Ermangelung einer revolutionären Partei der ArbeiterInnenklasse ist es keine Überraschung, dass die werktätigen Massen von der einen oder anderen „neuen“ bürgerlichen Alternative beeinflusst werden. Da solche Parteien natürlich nicht die Interessen der Lohnabhängigen und Unterdrückten vertreten, leiden sie weiterhin unter jeder neuen Regierung und die Verzweiflung wächst. Eine Ausrichtung der Klasse auf ihre eigenen Interessen kann nur erreicht werden, wenn die heranreifenden objektiven Bedingungen von einem auch ideologisch revolutionären subjektiven Faktor begleitet werden.

Die aktuelle soziale Krise zeigt deutlich einen Rechtsruck, der durch staatliche Gewalt, die, von bürgerlichen Liberalen fröhlich gefeiert, weiter angeheizt wurde. Dieser Rechtsruck hat begonnen, das Bewusstsein nicht nur von Teilen der Mittelschichten und des Lumpenproletariats zu beherrschen, sondern auch der am meisten unterdrückten Schichten der ArbeiterInnenklasse.

Basis der TLP

Was die klerikalfaschistische TLP betrifft, so ist klar, dass es für diese Partei angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der sunnitischen Barelvi-Sekte der Hanafi-Schule nicht schwer ist, auch jene Schichten der Mittelschichten und des Lumpenproletariats zu mobilisieren, die noch nie organisiert waren. Alles, was sie tun muss, ist, mit der Erzählung von der Gefahr, die dem Islam angeblich droht, hausieren zu gehen. Auch hier gilt: Ohne eine revolutionäre Alternative sorgen die bestehenden Bedingungen in einem verarmten halbkolonialen Staat wie Pakistan dafür, dass die Religion die Massen beherrscht.

Die Tatsache, dass der Faschismus sogar zur Ideologie von rückständigen ArbeiterInnen werden kann, sollte nicht überraschen, insbesondere unter den spezifischen Bedingungen Pakistans, die die anhaltende Herrschaft der Religion mit einer anhaltenden sozialen Krise verbinden. Wie Trotzki in Bezug auf Mussolinis Italien feststellte: „Die faschistische Bewegung in Italien … ging aus dem Kleinbürgertum, dem Slumproletariat und sogar bis zu einem gewissen Grad aus den proletarischen Massen hervor.“

MarxistInnen sind keine Liberalen, weshalb wir bei der Definition von Faschismus Vorsicht walten lassen. Nicht jede kapitalistische Reaktion ist faschistisch. Um den Faschismus zu verstehen, müssen wir seine soziale Basis, seine Form, die Klasseninteressen, denen er dient, und seine spezifischen Merkmale betrachten. Wir müssen den Aufstieg des Faschismus als einen Prozess analysieren und nicht als ein einmaliges Ereignis. Man wacht nicht plötzlich eines Tages auf und stellt fest, dass man unter Faschismus lebt. Wir müssen ihn in seiner Entwicklung verstehen.

Die Art und Weise, wie die TLP in der Lage war, Massen zu mobilisieren, die Gewalt des Mobs zu entfachen, verzweifelte KleinbürgerInnen und Lumpenproletarier an Waffen auszubilden und sogar dazu überzugehen, Polizeikräfte anzugreifen, ist ein Grund zur Sorge. Noch besorgniserregender ist jedoch, welchen Klasseninteressen sie dient. Im Namen des Islam nivelliert der Klerikalfaschismus Klassenunterschiede und ruft zu einer Einheit zwischen verschiedenen sozialen Klassen mit antagonistischen Beziehungen auf. Eine solche Verflachung bedeutet notwendigerweise, die Interessen einer Klasse über die der anderen zu stellen. Wie man in vielen Kämpfen sehen kann, sind es nie die Interessen der arbeitenden Massen, die diese Kräfte verteidigen. Tatsächlich bestand, wie Trotzki betonte, das Hauptziel des Faschismus in der Geschichte in der Vernichtung von ArbeiterInnenorganisationen und der „Vereitelung der unabhängigen Kristallisation des Proletariats“, wodurch es auf eine amorphe, atomisierte Masse reduziert wurde.

Ein wesentliches Merkmal des Faschismus ist sein tiefes Eindringen in die Massen, um diese unabhängige Kristallisation des Proletariats zu vereiteln. Wie könnte das in Pakistan aussehen? Die klerikalen FaschistInnen haben in den Slums, den „katchi abadis“, in verschiedenen Städten und Kleinstädten, besonders in der Provinz Punjab, stark Fuß gefasst. Wenn sie anfangen sollten, den Eintritt von SozialistInnen in diese Viertel zu kontrollieren, wäre das ein Hindernis für die ArbeiterInnen, sich durch gemeinsame Aktionen zu einer Klasse zu kristallisieren.

Natürlich würden die objektiven Bedingungen die große Mehrheit dieser Bevölkerungen immer noch ausbeuten und unterdrücken, aber ihr Elend würde ihnen entweder als Strafe für ihre eigenen oder die Sünden der Gesellschaft und ihren Mangel an Religiosität erklärt werden oder als Prüfung ihrer Geduld und Dankbarkeit gegenüber Gott, für die sie im Jenseits eine Belohnung erhalten werden. Die einfachen Massen würden auf hilflose AnbeterInnen reduziert, die um Vergebung oder Verbesserung der Bedingungen beten müssen, anstatt aktive AgentInnen der sozialen Veränderung gegen die Klassenherrschaft zu werden. In der Zwischenzeit würde jede sozialistische Organisation, die versuchen würde, in diese Wohnviertel einzudringen, mit Schikanen, wenn nicht sogar mit körperlichen Angriffen und realen Bedrohungen ihres Lebens konfrontiert werden. Dies würde effektiv bedeuten, dass SozialistInnen (oder, was das betrifft, jede Art von sozialen AktivistInnen) die katchi abadis und andere Viertel, die von den klerikalen FaschistInnen kontrolliert werden, nicht betreten könnten.

Ausmaß der Gefahr und die Linke

Faschismus an der Regierung ist eine Form der Klassenherrschaft, die der Gesellschaft aufgezwungen wird, wenn „normale“ Regierungsformen nicht in der Lage sind, die Widersprüche der Gesellschaft einzudämmen. Er ist die Folge der Unfähigkeit der ArbeiterInnenklasse, sich selbst am Steuer des Geschehens zu platzieren. Gegenwärtig glauben wir nicht, dass das Großkapital, weder das lokale noch das imperialistische, eine TLP-geführte Regierung will, weshalb ihre Chancen, eine solche Macht zu erlangen, gering sind. Solange solche Kräfte jedoch ArbeiterInnen- und Frauenmobilisierungen unterdrücken, Streikpostenketten durchbrechen und die wirklich demokratischen Kämpfe der PaschtunInnen und vieler anderer Minderheiten angreifen können, handeln sie im Interesse des Großkapitals. Die TLP ist eine faschistische Kraft, die wächst und ihre Macht ausbaut. Ihr Ziel ist es, die kleinbürgerlichen, lumpenproletarischen und politisch rückständigen Massen zu mobilisieren, um die verbliebenen demokratischen Rechte des Volkes im Allgemeinen und der ArbeiterInnenklasse im Besonderen zu zerstören.

Die linken Gruppen in Pakistan haben entweder keine Analyse der aktuellen Situation zu bieten (ein Blick auf die Website der Awami Workers‘ Party, AWP, liefert den Beweis) oder sie spielen deren Bedeutung als konspirativen „Start“ einer reaktionären Partei herunter, wie Adam Pal von der International Marxist Tendency, IMT, es ausdrückte. Ihm zufolge genießt die TLP keine Unterstützung in der Bevölkerung, und ihre Führung hat versagt, die Massen zu mobilisieren. Es scheint, dass der Genosse seine Analyse mit geschlossenen Augen geschrieben hat. Andere denken, sie könnten getrost und selbstgefällig zusehen, wie der Staat einige dieser antisozialen Elemente tötet. Imran Kamyana, ein führendes Mitglied von „The Struggle“, schrieb zum Beispiel auf Facebook: „Wenn Faschismus mit Faschismus kollidiert, ist es nicht notwendig, dass man mit dem Opium der eigenen Gewaltlosigkeit eingreift. Manchmal kann man auch schweigen.“

Diese „AnführerInnen“ erkennen nicht, dass staatliche Gewalt in solchen Fällen nur zur Popularität der klerikalfaschistischen Kräfte beiträgt. Noch wichtiger ist, dass solche staatlichen Antworten oft ein Vorwand für die staatliche Verfolgung seiner wahren FeindInnen sind, wie wir an der rassistischen Behandlung von PaschtunInnen im Namen der Bekämpfung der Taliban-TerroristInnen gesehen haben. Es gibt bereits Berichte über sunnitische Männer im Punjab, die vom Staat aufgegriffen werden.

Die Art von Mobgewalt, die die TLP ausübte, indem sie die vollstreckende Gewalt des bürgerlichen Staates herausforderte, zeigt deutlich, dass sie nicht einfach eine andere reaktionäre Organisation ist. Sie ist eine Partei, die aus der Verherrlichung von Mumtaz Qadri hervorging, einem Polizeischutzmann, der den Gouverneur des Punjab, Salmaan Taseer, erschoss, weil er eine fälschlicherweise der Blasphemie beschuldigte Christin verteidigte. Hätten ArbeiterInnen das Chaos verursacht, das die TLP in den letzten Tagen angerichtet hat, wären sie sicherlich innerhalb weniger Minuten niedergeschossen worden. Die Gefahren, die durch den Aufstieg der klerikalen FaschistInnen der TLP entstehen, sind sehr real. Sie stellen eine unmittelbare, physische Bedrohung für die Interessen und Organisationen der ArbeiterInnen und armen Bauern und Bäuerinnen sowie der Frauen und nationalen und sozialen Minderheiten dar.

Antifaschistische Einheitsfront

Wir können uns nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen, um diesen Kräften zu begegnen, wir müssen uns auf unsere eigene Stärke und Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse verlassen. Doch dabei müssen wir jedoch die Realitäten vor Ort anerkennen. Das Lage ist, gelinde gesagt, nicht rosig. Aber den Kopf in den Sand romantischer Vorstellungen über die ArbeiterInnenklasse zu stecken, hilft niemandem.

Die erste Aufgabe aller Kräfte der ArbeiterInnen- und fortschrittlichen Bewegungen, die den Aufstieg des Klerikalfaschismus stoppen wollen, liegt darin, die politische Alarmglocke zu läuten. Man darf angesichts der unmittelbaren und zukünftigen Gefahr nicht selbstgefällig sein. Die zwischen der TLP und der Regierung getroffenen Abmachungen werden die Moral der Rechten stärken. Dies wird zukünftige organisierte Angriffe auf den Straßen fördern und neue Kräfte aus dem verzweifelten Kleinbürgertum, dem Lumpenproletariat und sogar rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse anziehen.

Diese Gefahr ist besonders groß, weil die wirtschaftliche, soziale und politische Krise, die diese Kräfte hervorgebracht hat, weiter andauern wird und sich die Lebensbedingungen von Millionen noch weiter verschlechtern werden. Die KlerikalfaschistInnen werden versuchen, sich als pseudoradikale Alternative zu den Regierungsparteien und der bürgerlichen Opposition zu präsentieren. Die Massenbewegungen der national Unterdrückten und die aufstrebende Frauenbewegung werden in der kommenden Periode die Hauptziele der Rechten markieren. Das Gleiche wird für die kämpfenden ArbeiterInnen gelten, sobald ihre Forderungen und Streiks als „antiislamisch“ gebrandmarkt werden.

Deshalb dürfen die Gewerkschaften, die linken Parteien und Organisationen, die Frauenbewegung, die StudentInnen und die Jugend, die Bewegungen gegen nationale Unterdrückung keine Zeit verlieren: Sie müssen jetzt mit dem Aufbau einer antifaschistischen Einheitsfront beginnen.

Vor diesem Hintergrund rufen wir die Organisationen der ArbeiterInnen, der StudentInnen, der Frauen und der geschlechtlichen Minderheiten, der armen Bauern und Bäuerinnen sowie der nationalen und religiösen Minderheiten auf, ein antifaschistisches Bündnis auf der Grundlage einer gemeinsam vereinbarten Aktion zu bilden. Dies wäre ein erster Schritt in Richtung Bildung einer antifaschistischen Einheitsfront.

Eine Informationskampagne über die aktuelle Gefahr wäre eine zentrale Aufgabe dieses Bündnisses, in der die wahren Pläne der KlerikalfaschistInnen vor den einfachen Massen erklärt und bloßgestellt werden. Noch wichtiger ist, dass es ein Bündnis zur Verteidigung der Organisationen der ArbeiterInnenklasse und deren Wohnviertel, der Frauen, der sozial und national Unterdrückten durch die Bildung von Organisationen zur Selbstverteidigung verkörpern muss.

Für ihren Erfolg und ihre Entwicklung ist es jedoch entscheidend, eine solche Einheitsfront als Teil des allgemeinen Klassenkampfes zu verstehen, um ihre Wirksamkeit zu gewährleisten. Um den Aufstieg des Klerikalfaschismus zu stoppen, müssen die ArbeiterInnenklasse und ihre Verbündeten auch die soziale Krise, das wirtschaftliche Elend und die politische Unterdrückung im Lande angehen, sie müssen den Kampf gegen den Faschismus mit dem gegen die kapitalistische Krise und Ausplünderung verbinden.

Deshalb denken wir, dass wir neben dem Aufruf an die bestehenden Organisationen eine Strategie entwickeln müssen, um unsere zahlenmäßige Schwäche zu überwinden, indem wir aktiv Massenorganisationen der ArbeiterInnen und eine revolutionäre Partei der ArbeiterInnenklasse aufbauen. Die soziale Krise in Pakistan stürzt die ArbeiterInnenklasse und die unterdrückten Schichten der Gesellschaft immer wieder in spontane Aktionen. Dieser fehlt jedoch die Fähigkeit, die Kräfte zu bündeln und zum Kampf um die Macht vorzubereiten. Um den Kapitalismus und damit den Aufstieg des Faschismus wirksam zu besiegen, brauchen wir jedoch die Macht der ArbeiterInnen. Und um die Verwirklichung dieses Sieges der einzigen revolutionären Klasse über die Bourgeoisie sicherzustellen, brauchen wir eine revolutionäre Partei, die über eine klare Strategie und ein entsprechendes Aktionsprogramm verfügt.




Wir werden nie wieder schweigen! Solidarität mit Pakistans Frauenbewegung!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1142, 17. März 2021

Gewalt gegen Frauen und Fälle von Vergewaltigungen in Pakistan hatten sich in den letzten sechs Monaten des Jahres 2020 verdoppelt. Fälle von Kindesmissbrauch hatten sich gar verdreifacht. Dabei müssen wir bedenken, dass das pakistanische System notorisch dafür bekannt ist, sich durch extrem hohe Dunkelziffern auszuzeichnen. Opfer zögern oft, Anzeigen zu erstatten, da sie weiteren Missbrauch durch Polizei, RichterInnen und die Öffentlichkeit fürchten. Darüber hinaus muss in vielen solcher Fälle mit Rache oder Ehrenmorden seitens der eigenen Verwandtschaft gerechnet werden, da wie in Deutschland die meisten Missbrauchsfälle in der Familie stattfinden.

Unter diesen Umständen gingen im vierten Jahr Tausende von Frauen in den urbanen Zentren Pakistans auf die Straße, um beim so genannten Aurat March (Frauenmarsch) ihre Stimme zu erheben. Die Liga für die Fünfte Internationale sieht sich als Teil dieser Bewegung und verteidigt sie bedingungslos gegen jeden Angriff von rechts.

In der Tat war der diesjährige Frauentag eine Demonstration der Stärke und des Stolzes.  Unsere Genossinnen und Genossen, ob männlich, weiblich oder nicht-binär, nahmen überall dort teil, wo Märsche stattfanden. Der Protest war eine Bestätigung dafür, dass der Aurat March „gekommen ist, um zu bleiben“. Trotz der anhaltenden Pandemie hatten sich Tausende versammelt, um demokratische, soziale und individuelle Rechte zu fordern. Diese Forderungen beschränkten sich nicht nur auf die Frauenbewegung. Sie berührten auch die Kämpfe unterdrückter nationaler, religiöser und sexueller Minderheiten.

Selbstbestimmung!

Seit dem letzten Jahr hatten die DemonstrantInnen begonnen, den Slogan mera jism, meri marzi (Mein Körper, meine Entscheidung) zu popularisieren, einen Slogan, den wir aus tiefster Überzeugung unterstützen. Denn wir glauben, dass es die Entscheidung jeder Frau ist, ja die Entscheidung jeder einzelnen Person, einer körperlichen oder geistigen Interaktion zuzustimmen oder sie abzulehnen. Jeder Mensch muss das Recht haben, informierte Entscheidungen in Bezug auf seinen eigenen Körper und seine Handlungen zu treffen, solange sie nicht die Freiheit eines anderen einschränken. Durch die Hervorhebung dieses einfachen Konzepts der Selbstbestimmung ist der Slogan bestens geeignet, um gegen Missbrauch, Belästigung und Vergewaltigung zu kämpfen.

Denn einfach nur ein Ende des Missbrauchs zu fordern, ist zwar völlig richtig, aber eine eingeschränkte Forderung. In diesem Szenario steht immer noch die Beschneidung der Möglichkeiten des/r Missbrauchenden, in die Freiheit einer anderen Person einzugreifen, im Mittelpunkt. Der/die Missbrauchende, meist ein „Er“, bleibt das primäre Subjekt. Mera jism, meri marzi hingegen bringt klar zum Ausdruck, dass Frauen, ja alle, die mit Missbrauch konfrontiert sind wie Kinder, sexuelle Minderheiten und die Unterdrückten im Allgemeinen Subjekte in ihrem eigenen Recht sind. Nur eine Gesellschaft, die dies akzeptiert, wird Frauen als die gleichberechtigten Menschen behandeln, die sie sind. Nur eine Gesellschaft, die sich dieses Verständnis zu eigen macht, kann eine der Voraussetzungen für die Verwirklichung des vollen Potenzials der Menschheit erfüllen. Mera jism, meri marzi ist also eine zentrale demokratische Forderung. Denjenigen, die diese erheben, die Unterstützung oder den Schutz zu verweigern, stellt daher auch den demokratischen Charakter jeder Partei oder staatlichen Institution in Frage, die sich dazu entschließen sollte.

Dies ist der wahre Kontext, in dem sich der diesjährige Backlash gegen den Aurat-Marsch entfaltet hat. Pakistans rechte Mullahs, was auch immer sie behaupten, stehen Frauen keine vollen Menschenrechte zu. In ihrem Gefolge entfalteten rechte JournalistInnen und PolitikerInnen eine schändliche Hetzkampagne. Sie haben gezeigt, dass sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen und obendrein ideologisch bankrott sind.

Reaktionäre Angriffe

Anders als in den Vorjahren unterzogen sie sich in vielen Fällen nicht einmal der Mühe, reaktionäre Positionen gegen die wirklichen Argumente und Forderungen des Marsches zu formulieren. Sie starteten eine Kampagne, die in erster Linie auf Fake News und der Erstellung falscher Inhalte mit Hilfe von Deep-Fake-Technologie basierte.

Erstens: Sie behaupteten, die DemonstrantInnen hätten in Islamabad die französische Flagge getragen. Tatsächlich bezogen sie sich dabei auf die der Women Democratic Front, der Hauptorganisatorin des Aurat-Marschs in der Hauptstadt. Die Farben der Organisation sind rot, weiß und lila und stehen für Sozialismus, Frieden und Feminismus. Die Intention der Rechten war es, die Bewegung so als eine ausländische Verschwörung darzustellen.

Die Wahrheit ist jedoch, dass patriarchale Unterdrückung ein einheimisches Problem ist. Gleichzeitig ist es aber natürlich eines, das sich nicht nur auf Pakistan beschränkt. Frauenunterdrückung ist ein globales Problem und Teil des patriarchalischen Kapitalismus. Deshalb kämpfen und protestieren Frauen auf der ganzen Welt schon seit mehr als einem Jahrhundert gemeinsam gegen ihn. Das Datum des internationale Frauentags, der 8. März, geht einerseits auf einen Streik der von New Yorker Textilarbeiterinnen im Jahr 1857 zurück. Andererseits erhielt dieses Datum wegen der Februarrevolution internationale Bedeutung, nachdem russische Frauen im Jahr 1917 eine Revolution gegen Imperialismus, Ausbeutung und Krieg begonnen hatten. In den folgenden Jahren wurde der Frauentag, der bereits 1911 zum ersten Mal international begangen wurde, immer am 8. März gefeiert.

Die demokratischen Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten sind also keine westliche Verschwörung, wie es die Rechten in Pakistan darstellen. Sie sind hart erkämpfte Zugeständnisse, die den Händen der gleichen Art von mächtigen Männern und den herrschenden Klassen im Westen  entrissen wurden, die auch in Pakistan Frauen unterdrücken. Unsere Bewegung sollte nicht defensiv mit dieser Tradition des Internationalismus umgehen. Stattdessen müssen wir sowohl uns selbst als auch die pakistanische ArbeiterInnenklasse und Frauenbewegung über unsere stolzen Traditionen aufklären.

Wenn die Rechten jedoch die „ausländische“ Karte spielen, nutzen sie auf demagogische Weise  reale Gefühle des Leidens unter vergangener und gegenwärtiger imperialistischer Herrschaft aus. Dennoch wird ihre Heuchelei sofort offensichtlich, wenn wir das Schweigen dieser selbsternannten „AntiimperialistInnen“ zu Fragen des tatsächlichen Imperialismus betrachten. Diese FundamentalistInnen erhielten ihre Waffen in den 1980er Jahren von den US-Geheimdiensten, beziehen ihre Gelder von saudischen Aristokraten, schweigen zu der heutigen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorherrschaft des chinesischen und US-amerikanischen Kapitalismus in Pakistan und verteidigen gleichzeitig lauthals Gesetze wie Abschnitt 377, die von den britischen KolonialherrInnen auf den Subkontinent gebracht wurden (Red.: Abschnitt 377 ist das so genannte „Sodomie-Gesetz“). Für sie bedeutet „Antiimperialismus“, demokratische Rechte vorzuenthalten und Frauen in Fesseln zu legen.

Die Wahrheit ist also, dass die imperialistische Herrschaft durch kein rechtsnationalistisches Konzept überwunden werden kann. Dessen Politik ist immer dazu verdammt, im besten Falle antiimperialistisch in Worten zu sein, während seine tatsächliche Politik in Abhängigkeit von dem einen oder anderen imperialistischen Lager verbleibt. Der Imperialismus kann nur durch einen internationalistischen Kampf der Unterdrückten weltweit überwunden werden. In diesem Kampf spielt die pakistanische Rechte eine zerstörerische Rolle und faktisch dem Imperialismus in die Hände.

Zweitens behaupteten die Mullahs, dass die Ausstellung eines roten Tuchs mit der Aufschrift „Ich war neun, er war fünfzig. Ich wurde zum Schweigen gebracht, seine Stimme ist heute noch in der Moschee zu hören“ ein Akt der Blasphemie sei. Dies, so sagen sie, sei eine Anspielung auf den Propheten (Friede sei mit ihm) und seine (dritte) Frau Aisha. Dies ist jedoch eine Lüge. Das genannte Tuch bezog sich auf einen Qari (Red.: Schriftgelehrter), der ein junges Mädchen belästigt hatte, das zum letztjährigen Aurat March kam. Es war Teil einer Protestaktion in Lahore, bei der Opfer von Missbrauch, Belästigung und Vergewaltigung gebeten worden waren, Hemden aufzuhängen oder auf roten Schals über ihre Erfahrungen zu schreiben.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass eine große Zahl von Mullahs in Pakistan ihre Machtposition ausnutzt, um Kinder psychisch, physisch und sexuell zu missbrauchen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von den überwiegend männlichen Geistlichen in anderen Ländern oder anderer Konfessionen. Dies ist keine Frage des Glaubens. Es ist eine Frage von mächtigen Männern, die das Vertrauen, das eine abhängige Gemeinschaft in sie setzt, ausnutzen und verletzen. Wenn jemand eine Sünde begangen hat, dann sind es diese Männer, die ihre eigenen Verbrechen gegen die Gemeinschaften, die sie zu vertreten vorgeben, zu vertuschen suchen, indem sie falsche Informationen herstellen oder verbreiten.

Drittens war ein Video des Marsches in Karatschi mit Bearbeitungsprogrammen gefälscht worden. Wo DemonstrantInnen in Wirklichkeit „Mullahs müssen auch zuhören“ riefen, hieß es nun „Allah muss auch zuhören“. Dies ist ein weiterer Versuch, die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Schuldigen abzulenken. Was der Aurat March fordert, ist, dass auch Mullahs zur Verantwortung gezogen werden müssen. Sie sind Menschen wie der Rest von uns und dürfen keine besonderen Privilegien genießen. Dass sie es wagen, sich der Rechenschaftspflicht zu entziehen, indem sie ihren Namen mit dem Allahs, subhanahu wa ta-ala, gleichsetzen, ist beschämend, geschmacklos und respektlos gegenüber den muslimischen Gemeinschaften, die sie zu vertreten vorgeben.

Doch wo Worte nichts mehr nützen, kommt Gewalt ins Spiel. Und das ist es, was diese Rechten im Sinn haben. Das ist der Grund für die Todesdrohungen der pakistanischen Taliban gegen die OrganisatorInnen des Aurat March. Unfähig, die tägliche Gewalt in ihren Häusern weiter zu verbergen, die durch die Enthüllungen, Slogans und Forderungen des Marsches offengelegt wird, drohen sie nun damit, die Gewalt auf die Straße zu bringen. Dass dies die Wahrheit ist, zeigte ein Angriff auf Mitglieder der Progressive Youth Alliance durch den fundamentalistischen Studentenflügel Islami Jamiat-e-Talaba, nur weil erstere einen Stand gegen sexuelle Übergriffe auf einem Campus in Karatschi organisiert hatten.

Perspektiven und Aufgaben

Hier müssen wir für einen Moment innehalten. Womit drohen sie uns eigentlich? Sie drohen uns, damit wir die Gewalt wieder im Geheimen ertragen. Das bedeutet aber unweigerlich, dass diese weitergeht. Das ist keine Option für uns! Wir werden nie wieder zum Schweigen gebracht werden.

Damit eröffnet sich aber ein wichtiges Szenario. Es zeigt, dass sich diese Kräfte einerseits ernsthaft bedroht fühlen. Und in der Tat, auch wenn der Aurat March heute kein sozialistisches Programm vertritt, hat es die Bewegung erfolgreich geschafft, ein wachsendes kollektives Bewusstsein von Frauen für patriarchale Unterdrückung quer durch alle Klassen zu schaffen. Dies ist eine echte Errungenschaft, die niemand leugnen kann.

Dennoch ist die Bewegung eindeutig nicht auf eine direkte Konfrontation mit rechten Kräften vorbereitet. Der ideologische Einfluss, den der Aurat March hat, ist groß, aber er muss genährt werden. Währenddessen sind die realen organisatorischen Kräfte keinesfalls vergleichbar mit jenen der Rechten. Wir dürfen zwar keine Position aufgeben, müssen aber sozusagen die Schützengräben sichern.

Praktisch bedeutet das, sich auf die Umwandlung der wachsenden Sympathien von Frauen aus der ArbeiterInnenklasse und den unterdrückten Klassen in echte Unterstützung, Beteiligung und schließlich Führung der Frauenbewegung zu konzentrieren. Das wird natürlich bedeuten, die aufgebauten Verbindungen zu den Gemeinden und Organisationen der ArbeiterInnenklasse zu vertiefen. Aber mehr als das, es wird auch bedeuten, die Probleme, Forderungen und Strategien der arbeitenden Frauen in den Vordergrund zu stellen. Aktuelle Bewegungen wie die der Gesundheitsarbeiterinnen im Punjab sind es, mit denen wir uns auseinandersetzen und letztlich verbinden müssen.

Einige haben kritisiert, dass der Aurat March nur eine eintägige Veranstaltung ist. Und ja, das ist ein Problem. Aber wir müssen diese Frage pro-aktiv begreifen. Als SozialistInnen glauben wir nicht, dass uns Kritik allein weiterbringen wird. Stattdessen rufen wir alle, die eine Bewegung arbeitender Frauen aufbauen wollen, dazu auf, unsere Kräfte, Erfahrungen und bereits bestehenden Versuche zu bündeln. Denn die einzige Kraft, auf die wir letztlich vertrauen können, ist die unsere.

Aufgrund unserer eigenen heutigen Schwäche ist es verständlich, dass Führungspersönlichkeiten und Personen des Aurat March, die zur Zielscheibe von Todesdrohungen durch die pakistanischen Taliban geworden sind, den Staat um Schutz gebeten haben. Wir erkennen an, dass sie jedes Recht haben, um rechtlichen und persönlichen Schutz zu bitten. Ebenso denken wir, dass Eröffnung von Verleumdungsklagen gegen TäterInnen, die Fake News verbreiten, um Lynchmorde zu provozieren, eine berechtigte Taktik sein kann. Nicht primär deswegen, weil so in der Zukunft derartige gestoppt werden können. Vielmehr deswegen, weil ein solcher Prozess genutzt werden kann, um der gesamten Nation medienwirksam alle Fakten darzulegen, inklusive der größten Wahrheit, dass die rechten Mullahs Lügner sind.

Wir müssen jedoch davor warnen, dass der pakistanische Staat selbst für Frauen der oberen Mittelschicht bestenfalls ein wankelmütiger Freund ist. In der Tat ist er für die breite Masse der Frauen überhaupt kein Freund. Auch wenn sich viele dessen bewusst sind, ist es wichtig, dies vollständig zu verstehen, es wirklich zu verinnerlichen, damit unsere Bewegung die richtigen Prioritäten setzen kann. Und manchmal ist das Einzige, was uns die Kraft gibt, das Richtige zu tun, uns einer beängstigenden Situation bewusst und mit aller Klarheit zu stellen.

Ungeachtet dessen ist Moral von großer Wichtigkeit. Oft entscheidet sie über den Ausgang einer Auseinandersetzung. Gemeinschaft und Solidarität zu erleben, ist das, was so vielen unserer Kämpfe Leben einhaucht. Aus diesem Grund appellieren wir an die Frauen- und ArbeiterInnenbewegung der ganzen Welt, sich mit unserer Bewegung zu solidarisieren. Wir bitten Euch, Diskussionen über unseren Kampf zu führen, Artikel über unsere Kämpfe zu veröffentlichen, Proteste zu organisieren und Botschaften der Solidarität zu senden.

Die größte Stärke unserer Bewegungen war es immer, gemeinsam zu kämpfen, in Solidarität voneinander zu lernen in unseren gemeinsamen Kämpfen gegen Unterdrückung, Kapitalismus und Imperialismus. Wir werden nicht zulassen, dass die pakistanische Rechte uns unserer größten Stärke beraubt. Wir werden nie wieder schweigen!




Queer-Unterdrückung in Pakistan

Huma Khan & Falak Ali, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Auf dem Aurat-Marsch (1) 2020 hissten queere (2) Genossinnen und Genossen die Regenbogenflagge. Während wir als SozialistInnen stolz auf diesen Akt des Widerstands gegen sexuelle und Gender-Unterdrückung sind, waren einige feministische FührerInnen anderer Meinung. In der Folge mussten sich queere AktivistInnen mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es „unfair und dominierend von queeren Menschen sei, die Aurat Marsch-Bewegung auf diese Weise zu kapern“. In diesem Artikel werden wir argumentieren, warum Pakistans Queers ein integraler Bestandteil der sozialen Bewegungen des Landes sein müssen. Insbesondere die Queer- und die Frauenbewegung teilen gemeinsame Interessen. Indem wir sie hervorheben, wollen wir zeigen, wie queere Forderungen zu einem dynamischen Hebel bei der Entwicklung einer sozialistischen und ArbeiterInnenklasse-Politik werden können.

Queer-AktivistInnen sehen seit langem, wie sich das Schweigen, das sie in der Gesellschaft erfahren, in Pakistans linken und feministischen Kreisen reproduziert. Während die meisten linken Parteien und Organisationen sich einfach nicht darum scheren, ist die Stimmung, insbesondere in den etablierteren und damit einflussreichen feministischen Kreisen: „Frauenrechte zuerst“. In der Zwischenzeit sind viele der OrganisatorInnen des Aurat-Marsches, so werden wir argumentieren, nur gegenüber Teilen der queeren Gemeinde einladend. Nur eine kleinere und weniger einflussreiche Gruppe von radikalen FeministInnen und SozialistInnen wie wir will, dass alle queeren Menschen ein integraler Bestandteil des Kampfes gegen das Patriarchat sind. Solche ausgrenzenden Praktiken der derzeitigen Mehrheit der pakistanischen feministischen Bewegung beginnen, unseren Bewegungen zu schaden. Dieses Jahr haben sich queere Kollektive wie das Non-Binary Collective (Nicht-Binäres Kollektiv) aus den Organisationsgremien des Aurat-Marsches zurückgezogen.

Nach unserem Verständnis sind obengenannte politischen Konzepte mehr als ausgrenzend. Sie folgen einer Logik, die von den klassenbezogenen Strategien der Bewegung geprägt ist. Obwohl der Aurat-Marsch bisweilen eine radikale Terminologie verwendet, würden wir seine vorherrschende Politik zum jetzigen Zeitpunkt jedoch als bürgerlichen Feminismus charakterisieren. Es ist richtig, dass die pakistanische Frauenbewegung mit dem neuen Jahrhundert eine neue Wendung genommen hat. Im Mittelpunkt der heutigen Proteste stehen die individuellen Erfahrungen und Rechte der Frauen. Auch wenn der Aurat-Marsch jedes Jahr einen Forderungskatalog herausgibt, ist der klassische Kampf für eine bestimmte Gesetzgebung nicht mehr so präsent wie früher.

Eine Bewegung mit einem Mittelklassen-Standpunkt

Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit schmälern zu wollen, die der Aurat-Marsch auf die verabscheuungswürdige Frauenunterdrückung in Pakistan gelenkt hat, sei gesagt, dass es sich dabei in der Regel um die spezifischen Erfahrungen von Frauen aus den Mittelschichten und der Bourgeoisie handelt. Als Reaktion auf radikalere Stimmen innerhalb der Bewegung haben einige FührerInnen für eine „klassenübergreifende Bewegung“ plädiert, die „alle Frauen“ repräsentiert. Das praktische Ergebnis bliebe jedoch dasselbe, da eine solche Konzeption notwendigerweise die Zurückstellung der spezifischen Interessen der Bäuerinnen, der Unterschicht und der Arbeiterinnen und damit der Interessen der Mehrheit der sozial Unterdrückten bedeuten würde. Dies hat wichtige Implikationen für die Perspektive sowohl der Frauen- als auch der Queer-Bewegung.

Wenn sich unsere Bewegungen nicht mit der ausbeuterischen Arbeitsteilung des Kapitalismus befassen und sie tatsächlich in den Mittelpunkt stellen, die sowohl in der Industrie und der Landwirtschaft (produktive Sphäre) als auch in unseren Familien (reproduktive Sphäre) zum Ausdruck kommt, werden sie die pakistanische Gesellschaft nicht radikal verändern können. Die Befreiung bleibt also auf den Bereich der formalen Rechte beschränkt, sei es durch eine Änderung des gesunden Menschenverstands oder der Gesetze.

Dies wiederum erklärt den Alibicharakter des Aurat-Marsches in Karatschi gegenüber Khwaja Sira (Trans-Frauen). Diejenigen, denen eine Bühne gegeben wird, wären oft Trans-Frauen, die sich mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen in glamouröse, liberale Berühmtheiten verwandelt haben. Dieser Ansatz stellt die Frage jedoch vom Kopf auf die Füße. Natürlich sollten queere Menschen das gleiche Recht haben, Prominente und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu werden, aber das Problem der queeren Gemeinschaften Pakistans, insbesondere der Khwaja Sira, besteht darin, dass sie gezwungen sind, unter den prekärsten Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Die Lösung ihrer Probleme liegt nicht darin, dass einige wenige von ihnen Teil der Elite werden, sondern darin, ein patriarchalisches Klassensystem herauszufordern, das sie in die Prostitution, die Aufführung von Tänzen oder zum Betteln zwingt.

Außerdem zählte diese Inklusion nur für einige queere Menschen. Wie die Cis-Het-OrganisatorInnen des Aurat-Marschs 2019 sagten: „Unsere Mitgliedschaft ist nur für Trans-Frauen offen“. Interne Widerstände radikaler AktivistInnen führten dazu, dass sie ihre Haltung aufweichten, aber nur geringfügig. Während man sich darauf einigte, dass der Marsch die Unterdrückung von „sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten“ thematisieren würde, hieß es, dass nur binäre Trans-Frauen und geschlechtsinkonforme Menschen OrganisatorInnen des Aurat-Marsches werden könnten. Schwule und Trans-Männer wurden ausgeschlossen, da behauptet wurde, dass „schwule Männer auch Frauenfeindlichkeit verinnerlicht haben“.

Bevor wir erörtern, was unserer Meinung nach ein sinnvoller Kampf sein könnte, der sich in die Kämpfe und Forderungen der queeren Menschen integriert, lasst uns einen Blick auf die bestehende Situation der queeren Gemeinschaft in Pakistan werfen.

Vielschichtige Natur der Unterdrückung: Familie, Gesetz und staatliche Strukturen

Die Frauenbewegung in einem halbkolonialen Land wie Pakistan wird eindeutig von globalen Entwicklungen wie den weltweiten Frauenstreiks beeinflusst. Gleichzeitig hat sie aber auch ihre eigenen spezifischen Merkmale und Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus den besonderen objektiven Bedingungen der pakistanischen Gesellschaft ergeben. Die Existenz der Khwaja Sirai als soziales und kulturelles Phänomen in der südasiatischen Gesellschaft – aus Gründen, auf die wir in diesem Artikel nicht näher eingehen können – ermöglicht ihre Sichtbarkeit und eine gewisse Akzeptanz für ihre wahrnehmbare Existenz in Pakistan. Für bestimmte TheoretikerInnen mit postkolonialen Neigungen führt dies zu einer Romantisierung der scheinbar fortschrittlichen südasiatischen Gesellschaft im Vergleich zu den oft offen transphoben „westlichen“ Gesellschaften. Die objektiven Bedingungen in Ländern wie Pakistan zeigen jedoch ein anderes Bild. Für die meisten queeren und Transgender-Menschen ist finanzielle Unabhängigkeit nach wie vor das größte soziale Problem für das Funktionieren ihres Lebens. Aber die Schwere dieses Problems ist im Fall von binären Trans-Menschen noch viel gravierender. Ihre Geschlechtsidentität entspricht nicht dem biologischen Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, was bedeutet, dass sie durch ihr Geschlechtsverhalten und sexuellen Ausdruck sehr sichtbar sind. Der Preis für diese Sichtbarkeit wird zuerst im Elternhaus bezahlt. Familien von Trans-Personen werfen sie aus dem Haus und entziehen ihnen ihren Anteil am Erbe. Dies ist eine weit verbreitete soziale Realität für die große Mehrheit der Trans-Menschen. In diesem Sinne wird die spezifische Natur der Sexualität von Trans-Menschen von der Institution Familie gegen sie verwendet. Diese spezifische Natur nimmt ihnen auch die Möglichkeit, ein geheimes Doppelleben zu führen wie binäre Schwule oder Lesben. Infolgedessen bleiben den Khwaja Sira drei Berufe zur Auswahl: Sexarbeit, Tanzen auf Partys und Betteln.

Während das weithin gefeierte Transgender-Schutzgesetz eine dritte Geschlechtskategorie in allen offiziellen Dokumenten vorsieht, zeigt die Frage der Erbschaft, wie Transgender-Frauen gezwungen werden, sich als Männer eintragen zu lassen. Das liegt daran, dass nach dem Scharia-Gesetz Männer zwei Anteile am Erbe bekommen, Frauen nur einen. Aufgrund dieser patriarchalen Diskriminierung würden sich die meisten Transgender-Frauen in ihren Ausweisdokumenten als Männer eintragen lassen, in der Hoffnung, dass sie in der grausamen Anarchie des Kapitalismus einen größeren Anteil am Erbe erhalten würden.

Transgender-Schutzgesetz: eine progressive bürgerliche Reform?

Das 2018 von der pakistanischen Nationalversammlung verabschiedete Transgender-Schutzgesetz (3) bietet auf dem Papier eine Reihe von Schutzmaßnahmen für Transgender-Menschen, darunter das Recht auf Selbstidentifikation. Es wird sowohl von Liberalen und Nichtregierungsorganisationen (4) (5) als auch von bürgerlichen Medien (6) (7) als fortschrittliche Maßnahme angepriesen. Während wir die Verabschiedung eines Gesetzes begrüßen, das Menschen das Recht auf Selbstidentifikation zugesteht, bleibt das Gesetz weitgehend ein Fortschritt nur auf dem Papier. Erst letztes Jahr wurde eine Transgender-Überlebende einer Vergewaltigung, Julie, acht Tage lang mit männlichen Insassen im Gefängnis eingesperrt. (8)

Außerdem wird die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine bürgerliche Reform dargestellt, die von einem Teil der herrschenden Klasse Pakistans aus der Güte ihres „fortschrittlichen“ Herzens gewährt wird. Doch wie jeder anderen Reform geht auch dieser Gesetzgebung eine Geschichte des Widerstands voraus. Sie folgt auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2012, das pakistanischen Transgender-Personen zwar die Anerkennung als BürgerInnen eines dritten Geschlechts gewährte, aber auch empfahl, Tests durchzuführen, um festzustellen, ob „Eunuchen“ – wie das Urteil sie gerne nannte – tatsächlich „Eunuchen“ waren. Diese Empfehlung führte zu Protesten von Trans-Menschen, die argumentierten, dass Männern und Frauen die Identität auf der Grundlage ihres Wortes zugestanden wird. Warum also müssen sich Trans-Menschen entsetzlichen Prozeduren solch invasiver Tests unterziehen? (9)

Darüber hinaus gewährt das Transgender-Personen-Gesetz 2018 Trans-Männern und -Frauen aller Religionen die gleichen Erbrechte, die cis-geschlechtlichen Männern und Frauen nach islamischem Recht zustehen (der Anteil der Frau beträgt die Hälfte des Anteils ihrer männlichen Geschwister am Erbe). (10)

In ähnlicher Weise darf es laut dem Gesetz keine Diskriminierung von Transgender-Personen bei der Zulassung zu öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtungen geben, „vorbehaltlich der Erfüllung der vorgeschriebenen Anforderungen“. Wie Semra Islam jedoch veranschaulicht, berücksichtigen die vorgeschriebenen Anforderungen nicht, dass die gelebten Erfahrungen von Trans-Personen diese Anforderungen nicht erfüllen können, da sie oft aus ihren Familienhäusern geflohen sind, unter anderem aufgrund der Auferlegung von normativen männlichen Rollen. (11) Dies wird auch durch Shahnaz Khans Forschung unterstützt:

Viele brechen die Schule ab und laufen von zu Hause weg, um eine einladendere Umgebung unter der Leitung eines Gurus zu finden, der sie ermutigt, zu singen, zu tanzen und Formen der Lust auszudrücken, die zu Hause und in der Schule verboten sind. (12)

Islam weist auch auf die transphobe gelegentliche Verwendung des männlichen Pronomens „er“ für alle Transgender-Personen als eine „eklatante ,Inkonsistenz’ im Gesetz“ (13) hin. Die Verwendung des Begriffs „Eunuchen“ zeigt auch, wie sich die juristischen Eliten an die diskriminierende koloniale Ausdrucksweise angepasst haben. Kurzum, entgegen der Darstellung in den bürgerlichen Medien ist das Gesetz in einem begrenzten Sinne fortschrittlich, und das auch nur auf dem Papier. Das Fehlen von Strafmaßnahmen (14), die für alles, was das Gesetz kriminalisiert, skizziert werden, reduziert es auf einen progressiven Alibicharakter, dessen Anwendungsbereich nur in der Theorie besteht.

Der Fluch von Abschnitt 377 und Hudood-Gesetzen für die sexuell Unterdrückten

Eine weitere wichtige Überlegung, die berücksichtigt werden muss, ist das Vorhandensein von Gesetzen wie Section 377 und der Hudood Verordnungen (4 Verordnungen zur Islamisierung des Strafrechts in Pakistan, die der Diktator Zia ul-Haq 1979 erließ), die Teil des komplexen Rechtssystems in Pakistan sind, in dem zwei parallele Systeme gleichzeitig gelten. Es gibt Gesetze, die auf der Verfassung beruhen, und solche, die sich aus einer bestimmten (hanafitischen; eine der 4 Rechtsschulen des sunnitischen Islams) Lesart der Scharia, also der islamischen Rechtsprechung, ableiten. Wie Khan darlegt, gewähren diese Gesetze Männern und Frauen unterschiedliche Rechte in Bezug auf Heirat und Erbschaft. (15) Auf diese Weise lassen andere diskriminierende Gesetze und soziale Strukturen trotz scheinbar antidiskriminierender und trans-anerkennender Gesetze oft wenig Raum für Trans-Frauen, sich in Personaldokumenten tatsächlich als Frauen auszuweisen. Denn wenn sie das täten, würde dies bedeuten, dass sie auf die Hälfte des Anteils am Erbe verzichten müssten, den sie erhalten würden, wenn sie sich als Männer auswiesen.

Dies verdeutlicht das objektive Interesse von Trans-Frauen und Cis-het-Frauen, einen kollektiven Kampf gegen eine solche Gesetzgebung unter der Führung eines Programms der ArbeiterInnenklasse zu führen. Warum bestehen wir auf der Notwendigkeit eines Programms der ArbeiterInnenklasse?

Wir erkennen zwar an, dass Trans-Menschen aus allen Klassen unter schwerer und systematischer Unterdrückung leiden, aber ihre unterschiedlichen Klasseninteressen verleihen ihr auch einen anderen Ausdruck und prägen das politische Programm und die Forderungen, die sie vertreten und priorisieren. Für Trans-Frauen (und -Männer) aus der ArbeiterInnenklasse, binäre lesbische Frauen oder schwule Männer und nicht-binäre Menschen ist die Unterdrückung selbst an ihre Klassenposition gebunden. Das bedeutet nicht nur, dass sie dieselben objektiven Interessen mit allen Teilen der ArbeiterInnenklasse teilen, sondern auch, dass ihre Befreiung eng mit der Bewältigung der sozialen Benachteiligung, der Armut und des Elends verbunden ist, mit denen sie als Trans-Menschen mit einem ArbeiterInnenhintergrund konfrontiert sind.

Die Situation für unterdrückte Menschen aus einem kleinbürgerlichen oder Mittelschichts-Hintergrund (um nicht von der herrschenden Klasse zu sprechen) stellt insofern anders dar, als sie auch an die sozialen Privilegien gebunden sind, die mit ihrer Klassenposition einhergehen. Daher neigen sie dazu, sich auf den Kampf um gleiche Rechte zu konzentrieren oder ihn sogar zu begrenzen, und vernachlässigen dabei die große Masse der Trans-Menschen. Während wir möglichst viele Unterdrückte aus der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch aus dem städtischen KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten vereinen wollen, bleibt die Frage, welche soziale Klasse eine solche Bewegung anführt.

Aus unserer Sicht ist ein Programm der ArbeiterInnenklasse der Schlüssel, wenn wir konsequent für die Befreiung aller Unterdrückten kämpfen wollen, denn nur ein solches Programm kann den Kampf mit seinen gesellschaftlichen Wurzeln, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus und der damit einhergehenden patriarchalischen Familieninstitution und -gesetze, verbinden.

Wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden, weist die diskriminierende Gesetzgebung auf die Notwendigkeit eines kollektiven Kampfes zusammen mit allen queeren Menschen hin, einschließlich der binären schwulen und lesbischen sowie der nicht-binären Menschen.

Während es für Transgender-Personen einen gewissen Schutz gibt, wenn auch nur auf dem Papier, gibt es in Pakistan keine BürgerInnenrechtsgesetze zum Schutz von Schwulen und Lesben vor Diskriminierung. (16) Homosexuelle Handlungen sind nach Gesetzen aus der Kolonialzeit wie Abschnitt 377 illegal. Ebenso können eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann, die nicht miteinander verheiratet sind, nach Abschnitt 496B des pakistanischen Strafgesetzbuchs ins Gefängnis gehen und mit einer Geldstrafe belegt werden, wenn sie einvernehmlichen Sex miteinander haben. (17) Wie RechtsexpertInnen wie Rafia Zakaria betonten:

„Die Unterlagen über Frauen, die unter dem Vorwurf der Unzucht oder des Ehebruchs nach den Hudood-Verordnungen inhaftiert wurden, zeigen, dass es die armen Frauen Pakistans sind, die am häufigsten Opfer der unkontrollierten Macht des Staates bei der Gesetzgebung zur Moral im Namen des Islam werden. Daher mögen die versprochenen Änderungen der Rechtsprechung im Rahmen des [Frauenschutz-]Gesetzes zwar ein linderndes Pflaster auf eine eiternde Wunde legen, aber sie gehen an der Realität vorbei, dass eine arme Frau, die sich dazu entschließt, eine Vergewaltigungsklage einzureichen, immer noch mit unglaublichen Herausforderungen konfrontiert ist, die von diesem politisch inspirierten Stück Gesetzgebung grob ignoriert werden.“ (18)

In ähnlicher Weise haben schwule Männer und Khwaja Sira aus der ArbeiterInnenklasse nur zwei Möglichkeiten, wenn sie Angst vor einer HIV/AIDS-Exposition haben: in ein öffentliches Krankenhaus zu gehen, um innerhalb von 72 Stunden nach der Exposition Zugang zu PEP (Postexpositionsprophylaxe) zu erhalten oder zu riskieren, HIV/AIDS zu bekommen, indem sie nichts dagegen unternehmen. An dieser Stelle kommen Abschnitt 377 und die Heuchelei des pakistanischen Staates ins Spiel. Einerseits wird PEP aufgrund internationaler Abkommen und der finanziellen Unterstützung des pakistanischen Staates von der Regierung in öffentlichen Krankenhäusern angeboten, in denen es Abteilungen gibt – separate Räume für Khwaja Sira, Schwule und Lesben. Auf der anderen Seite wird Abschnitt 377 gegen diese Menschen eingesetzt, weil sie „unnatürlichen Sex“ haben, und es gab sogar schon Fälle, in denen ÄrztInnen diese Menschen wegen dieses „Verbrechens“ bei der Polizei angezeigt haben. Die ÄrztInnen in solchen Einrichtungen verfügen über immense Macht über diese verletzlichen PatientInnen, weil PEP nur nach dem Sammeln nicht nur persönlich identifizierbarer Informationen, sondern auch übermäßig eindringlicher Details wie dem Geschlecht der Person, mit der man Sex hatte, bereitgestellt wird.

Währenddessen müssen Schwule aus reichen, gehobenen und bürgerlichen Verhältnissen nicht mit all diesen Hürden kämpfen, wenn sie die „richtigen Kontakte“ haben. Natürlich gibt es auch in der queeren Gemeinschaft verschiedene Klassen, deren objektive Interessen im Kapitalismus unvereinbar sind. Kleinbürgerliche queere Menschen hatten ebenso wie die entsprechenden Cis-het-Menschen ein Problem damit, die Erkennungsfahne beim Aurat-Marsch zu hissen. Ihrer Meinung nach ist eine solche Sichtbarkeit „nicht“ das, was wir brauchen, weil sie uns angreifbarer macht. Auf der anderen Seite sind kleinbürgerliche Queers, die Nichtregierungsorganisationen leiten, ins Ausland reisen und Zuschüsse von der EU bekommen, bereits sichtbar und als schwul geoutet. Ihre sexuelle Identität ist bereits offengelegt, weil sie nicht denselben Gefahren ausgesetzt sind wie ein schwuler Mann aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund des Privilegs ihrer sozialen Klasse. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse fragen ihre kleinbürgerlichen KollegInnen, warum sie ihre privilegierte Position in der Gesellschaft nicht nutzen, um die Frage der Offenlegung der eigenen sexuellen Identität zu politisieren. „Warum kämpfen sie nicht dafür, dass die große Mehrheit von uns sich outen kann?“, fragen sie. „Queerness ist ein politisches Problem, das im Mainstream verankert werden muss. Unsere Sichtbarkeit ist nicht irgendein liberales Narrativ, es ist eine politische Frage. Indem sie sich weigern, die Frage zu politisieren, drängen privilegierte queere Menschen die größere queere Gemeinschaft dazu, im Verborgenen zu bleiben.“

All dies verdeutlicht, dass Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische sowie nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund ihrer Klassenlage einer spezifischen sozialen Unterdrückung ausgesetzt sind und daher ein objektives Interesse hegen, gemeinsam zu kämpfen. Es ist wahr, dass Machtkämpfe, Konkurrenz und Gleichgültigkeit die Gemeinschaft derjenigen plagen, die aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt werden. Wir sehen das an der mangelnden Bereitschaft von Arbeiterinnen, für die bürgerlichen Freiheiten lesbischer Kolleginnen zu kämpfen. Wir sehen dies auch in der Gleichgültigkeit, die gegenüber der Unterdrückung von Schwulen und Lesben von Trans-Frauen an den Tag gelegt wird, nachdem das Transgender-Schutzgesetz verabschiedet wurde. Der Terfismus (Transphobie) in der Frauen- oder binären Schwulen- und Lesbenbewegung ist ein weiteres Beispiel dafür.

Dies verdeutlicht, was die Liga bereits in ihren Thesen zur Trans-Unterdrückung festgestellt hat: „ … Konflikte zwischen sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen von gegenseitigen Forderungen und Ansprüchen sind in der bürgerlichen Gesellschaft keine Seltenheit, sie kommen immer wieder vor.“ (19)

Kampf gegen die Institutionen bürgerliche Familie und Kapitalismus

Der entscheidende Punkt hier ist, dass, ob die geschlechtlich und sexuell Unterdrückten sich dessen bewusst sind oder nicht, ihre Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie im Kapitalismus verwurzelt ist. Diese Unterdrückung ist entscheidend für die Funktionsweise des Kapitalismus. Ob man sich dessen nun in der gegenwärtigen Lage bewusst ist oder nicht, unser objektives Interesse als Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische und nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse liegt daher darin, gemeinsam gegen repressive und diskriminierende Gesetze und für bürgerliche Freiheiten wie das Recht zu heiraten, das Recht zu adoptieren usw. zu kämpfen.

Unsere cis-het und schwulen männlichen GenossInnen aus der ArbeiterInnenklasse sollten auch Teil dieses Kampfes werden. Warum? Ihr objektives Interesse liegt in einem antisexistischen Kampf. Es sind immer diejenigen aus dem ArbeiterInnenmilieu, die für etwas so Menschliches und Natürliches wie Sex zum Opfer werden. Unser Recht auf körperliche Autonomie als Menschen sollte nicht von diesem oder jenem religiösen oder kulturellen Dogma abhängig gemacht werden.

Es stimmt, dass es angesichts der extrem rückständigen Natur des pakistanischen Patriarchats gefährlich sein kann, seine Stimme gegen ein solches Dogma zu erheben. Aber jede politische Arbeit in Pakistan birgt die Gefahr staatlicher Unterdrückung. Wenn wir schon in Bezug auf unsere grundlegenden bürgerlichen Freiheiten unterdrückt  werden, können wir genauso gut mit staatlicher Repression rechnen, wenn wir für das kämpfen, was unser kollektives Recht ist, nämlich das Recht, unser Leben in Würde und mit den Freiheiten zu leben, die jeder Mensch verdient.

Aber kann dieser Kampf nur über die Gesetzgebung gewonnen werden? Nein. Es muss ein Kampf geführt werden. Es muss ein Ringen sein, das von Anfang an sehr klar ist über die unversöhnlichen Interessen der queeren Menschen aus der ArbeiterInn- und der herrschenden Klasse sowie auch jener queeren Menschen, die sich sozialer Privilegien erfreuen und diese gegen die Interessen der ArbeiterInnenklasse verteidigen. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse haben ihre Verbündeten in den cis-het Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse. Gleichzeitig versuchen sie, queere kleinbürgerliche und Mittelschichts-Menschen und cis-het Männer und Frauen für ihre Sache zu gewinnen, ohne Zugeständnisse an kleinbürgerliche politische Programme zu machen. Während die ArbeiterInnenklasse in der Lage sein kann, die Mittelschichten der Gesellschaft hinter sich zu versammeln, ist es klar, dass diejenigen, die aus einem bürgerlichen Hintergrund kommen, die die Produktionsmittel besitzen und verwalten, immer im Widerspruch zu denen stehen werden, die mit diesen Produktionsmitteln arbeiten. Daher werden letztere mit ihrer Klasse brechen müssen. Beider Interessen sind unversöhnlich, und das ist das Wesen der Produktionsverhältnisse und die Grundlage der politischen Ökonomie.

Als wissenschaftliche MarxistInnen erkennen wir auch die grassierende Trans- und Queerphobie in der ArbeiterInnenklasse, und wir wollen eine Strategie entwickeln, mit der wir auch gegen solche Übel in der ArbeiterInnenbewegung aufstehen, weil unser wirkliches materielles Interesse darin liegt, gemeinsam zu kämpfen. Aber wir sind uns darüber im Klaren, dass dies – genau wie im Fall des Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen in der ArbeiterInnenklasse – eine scharfe und dauerhafte Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus und Transphobie innerhalb der Klasse erfordert, einschließlich des Rechts auf Caucus für Trans-Personen und der offenen Herausforderung aller Formen von Transphobie innerhalb unserer Bewegung.

Letztendlich liegt es im objektiven Interesse der gesamten ArbeiterInnenbewegung, einschließlich der cis-het Männer und Frauen sowie aller queeren Menschen der ArbeiterInnenklasse, zu verstehen, dass die Wurzel der geschlechtsspezifischen sozialen Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie liegt.  Um gegen diese Wurzel zu kämpfen, müssen wir kollektiv uns für die Abschaffung des Privateigentums engagieren. Damit meinen wir keineswegs, dass wir den Kampf für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen der ArbeiterInnenklasse und queeren Menschen am Erbe aufgeben. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen persönlichem Eigentum und Privateigentum. Letzteres ist das Eigentum an den Produktionsmitteln, das die Essenz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Was wir meinen, ist, dass unsere Kämpfe darauf ausgerichtet sein müssen, die Wurzel unserer kollektiven Unterdrückung und Ausbeutung abzuschaffen, das heißt, die ungleichen Eigentumsverhältnisse unter der Anarchie des Kapitals. Nur unter der Führung einer wirklich revolutionären Strategie können wir die gemeinsame Ursache unserer Unterdrückung mit Stumpf und Stiel ausreißen. Eine solche Strategie muss auf unnachgiebiger Klassenunabhängigkeit und der kollektiven Notwendigkeit beruhen, das ausbeuterische und unterdrückerische System des Kapitalismus abzuschaffen und es durch eine demokratische Regierung der ArbeiterInnen zu ersetzen, die alle umfasst, also auch cis-het und queere ArbeiterInnen.

In der gegenwärtigen Situation müssen wir unmittelbare demokratische und soziale Forderungen für Trans-Personen mit den breiteren Fragen der ArbeiterInnenklasse verknüpfen.

Wir können unseren Kampf in diese Richtung beginnen, indem wir eine Kampagne für die Abschaffung von Abschnitt 377 und aller anderen diskriminierenden Gesetze aufbauen. Frauen und Trans-Personen müssen auf allen Ebenen, vor den Gerichten und im privaten und öffentlichen Leben die gleichen Rechte erhalten.

Wir müssen ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Arbeit für alle Trans-Menschen bei voller Bezahlung sicherstellen, damit sie nicht zur Prostitution und zum Betteln gezwungen werden.

Trans-Menschen müssen, genau wie Frauen, das Recht auf Schutz vor Gewalt und Entbehrung zu Hause sowie durch reaktionäre Kräfte haben. Wir fordern den Bau von sicheren Häusern für Opfer solcher Gewalt – öffentlich finanziert, aber von Trans-Menschen selbst betrieben.

Solche unmittelbaren Forderungen sollten beim Aurat-Marsch in diesem Jahr und von der gesamten Frauenbewegung sowie von den Gewerkschaften und allen linken Organisationen als Teil des Kampfes gegen soziale Diskriminierung im ganzen Land aufgegriffen werden.

Endnoten

(1) Aurat ist das Urdu-Wort für Frauen. Der Aurat-Marsch wird seit 2018 am achten März organisiert. Für weitere Informationen lesen Sie den Artikel von Minerwa Tahir in Fight 8/2020

(2) Wir verwenden queer als allumfassenden Begriff, um alle Menschen zu bezeichnen, deren sexuelle oder geschlechtliche Identitäten nicht dem heteronormativen binären Geschlecht entsprechen.

(3) Nadir Guramani, “National Assembly passes bill seeking protection of transgender rights”, Dawn, May 8, 2018 https://www.dawn.com/news/1406400

(4) Rimmel Mohydin, “With Transgender Rights, Pakistan has an Opportunity to be a Pathbreaker”, Amnesty International, January 22, 2019 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/01/with-transgender-rights-pakistan-has-an-opportunity-to-be-a-path-breaker/

(5) “Kami Sid expresses joy as the Transgender Persons (Protection of Rights) Bill 2017 passes”, Images, May 8, 2018 https://images.dawn.com/news/1180033/kami-sid-expresses-joy-as-the-transgender-persons-protection-of-rights-bill-2017-passes

(6) “Education for trans people”, Dawn, April 18, 2018 https://www.dawn.com/news/1402275

(7) “Affirming trans identity”, Dawn, May 11, 2018 https://www.dawn.com/news/14

(8) Saniyah Eman, “The not-so-curious case of trans oppression in Pakistan”, The News, September 11, 2020 https://www.thenews.com.pk/magazine/us/712330-the-not-so-curious-case-of-trans-oppression-in-pakistan

(9) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(10) Ebenda

(11) Ebenda

(12) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(13) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(14) Ebenda

(15) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(16) Meghan Davidson Ladly, “Gay Pakistanis, Still in Shadows, Seek Acceptance”, The New York Times, November 3, 2012 https://www.nytimes.com/2012/11/04/world/asia/gays-in-pakistan-move-cautiously-to-gain-acceptance.html?pagewanted=all&_r=0

(17) Rafia Zakaria, “Sex and the state”, The Hindu, December 29, 2006 https://frontline.thehindu.com/world-affairs/article30211901.ece

(18) Ebenda

(19) International Executive Committee, “The Oppression of Transgender People”, League for the Fifth International, March 17, 2019 https://fifthinternational.org/content/oppression-transgender-people




Pakistan: Gerechtigkeit für Hayat Baloch und alle anderen Opfer der Unterdrückung!

Liga für die 5. Internationale, 22. August 2020, Infomail 1115, 22. August 2020

Solidarität mit dem Aktionstag am 22. August 2020

Am 22. August wird in ganz Belutschistan und in Karatschi, Lahore und hoffentlich auch in vielen anderen Städten Pakistans eine weitere Protestwelle gegen die Tötung von Personen aus der belutschischen Bevölkerung stattfinden.

Es war die Ermordung des 25-jährigen Studenten Hayat Baloch durch einen Soldaten des Grenzkorps (Frontier Corps = FC) in Turbat (Stadt im Südwesten der Provinz Belutschistan und Verwaltungssitz des Distrikts Kech), die zu einer Reihe von Protesten geführt hat, die am kommenden Samstag in koordinierten Kundgebungen gipfeln werden.

Der Mord an Hayat Baloch veranschaulicht einmal mehr die Diskriminierung, den Missbrauch und den Terror, denen das belutschische Volk ausgesetzt ist. Hayat war ein Student im letzten Studienjahr an der Fakultät für Physiologie der Universität Karatschi. Da die Universität wegen SARS CoV-2 geschlossen worden war, hatte er sich in Turbat aufgehalten, um seinen Eltern zu helfen.

Am 13. August wurde Hayat Baloch zusammen mit einigen anderen Einheimischen vom Grenzkorps nach einer Explosion in der Stadt festgenommen. Es wurde kein Grund für seine Verhaftung angegeben, und es gab keinen Anlass zu der Annahme, dass er an der Initiierung der Explosion beteiligt war. Als Vorwand für die Festnahme durch die Sicherheitskräfte reichte aus, dass er Belutsche war.

Er wurde von einem Grenzsoldaten acht (!) Mal mit Kugeln durchsiebt und ohne jede Gnade ermordet. Diese Tat hat zu massiven Protesten in Quetta, Karatschi, dem Distrikt Kech und anderen Teilen Belutschistans geführt.

Die pakistanischen Staatsbehörden und das Kommando des Grenzkorps stellen diesen Mord als einen zufälligen Unfall dar, als ob 8 Schüsse etwas anderes als vorsätzlich gewesen sein könnten. Diese beiläufige Missachtung der Verantwortung unterstreicht die Überzeugung des FC, dass es über dem Gesetz steht.

Erst vor einigen Monaten wurde Malik Naaz Baloch, eine Frau im Kech-Gebiet von Turbat, erschossen, weil sie sich einem bewaffneten Überfallversuch widersetzt hatte, während ihre vierjährige Tochter Bramsh schwer verletzt wurde. Es ist allen klar, dass solche mörderischen Banden und Paramilitärs von den Sicherheitsdiensten unterstützt werden. In den letzten Jahrzehnten wurden Tausende von belutschischen Jugendlichen, Intellektuellen, ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen von verschiedenen staatlichen Streitkräften getötet oder fielen dem erzwungenen „Verschwindenlassen“ zum Opfer – ein barbarisches Mittel, um die systematische Unterdrückung des belutschischen Volkes immer wieder zu verstärken.

Aber wie im Fall von Bramsh Baloch ist eine landesweite Bewegung entstanden, die Gerechtigkeit für die Opfer von Mord und Repression fordert; eine Bewegung, die die staatlichen Behörden und Sicherheitskräfte wie das Grenzkorps in Bedrängnis gebracht hat. Die Proteste, mit denen Empörung und Besorgnis über die außergerichtliche Tötung von Hayat Baloch zum Ausdruck gebracht werden sollen, wurden vom Bramsh-Baloch-Solidaritätskomitee in verschiedenen Teilen Belutschistans organisiert, um zu betonen, dass es sich hierbei nicht um einen isolierten Vorfall handelt. Trotz jahrzehntelanger Drohungen und Einschüchterungen zeigen sich immer mehr Menschen öffentlich solidarisch.

Alle KommunistInnen und SozialistInnen, ja die gesamte ArbeiterInnenbewegung und alle demokratischen Kräfte müssen sich mit der belutschischen Bewegung solidarisch zeigen, sie unterstützen und Solidaritätsaktionen und -botschaften in ganz Pakistan und auf der ganzen Welt organisieren. Das Grenzkorps und andere Sicherheitsdienste sind Kräfte der Unterdrückung in Belutschistan, die sich gegen die Selbstbestimmung des Volkes richten. Ihr übergreifendes Ziel ist es, die Interessen des pakistanischen und des globalen Kapitals zu sichern, sei es durch die Programme des Internationalen Währungsfonds oder durch Chinas „neue Seidenstraße“.

Deshalb fordern wir, dass alle militärischen und halbmilitärischen Kräfte unverzüglich aus Belutschistan, Khyber Pakhthunkhwa, Kaschmir und anderen Gebieten abgezogen werden. Man kann den staatlichen Behörden und Diensten nicht trauen, den Mord an Hayat Baloch und anderen zu untersuchen. Die StudentInnen, ArbeiterInnen und Gewerkschaften aus Kech und anderen Bezirken müssen einen eigenen unabhängigen Ausschuss bilden, der den Vorfall untersucht und ArbeiterInnen- und Volkstribunale wählt, die darüber entscheiden, welche Strafe den Kriminellen zuteil werden soll.

Links

https://www.facebook.com/Justice-For-Hayat-Baloch-1361150580695045/

#JusticeForHayatBaloch




Der Angriff auf die Pakistanische Börse in Karatschi

Liga für die Fünfte Internationale, 2. Juli 2020, Infomail 1109, 3. Juli 2020

Am 29. Juni wurden 10 Menschen bei einem Anschlag auf die Börse (Pakistan Stock Exchange) in Karatschi getötet, darunter die 4 Angreifer, die einen Bombenanschlag verübten und dann mit Schusswaffen das Feuer eröffneten. Bei einer Schießerei töteten reguläre und Spezialkräfte der Polizei alle vier. Sechs Wachen und PassantInnen kamen ebenfalls ums Leben.

Die „Baloch Liberation Army“ (BLA; Belutschische Befreiungsarmee), eine nationalistische, guerillaistische Untergrundorganisation, bekannte sich zu dem Angriff. In einer Erklärung rechtfertigte sie den Überfall als Antwort auf die fortgesetzte Unterdrückung und Ausplünderung Belutschistans durch die pakistanische herrschende Klasse und ihre imperialistischen Verbündeten, die Operationen der Armee, die im letzten Jahrzehnt zur Tötung und zum „Verschwinden“ von Zehntausenden von Menschen geführt haben, und die Plünderung der Region durch den chinesischen Imperialismus in jüngster Zeit.

Allah Nazar, der Anführer einer anderen Guerillaorganisation, der „Baloch Liberation Front“ (BLF; Belutschischen Befreiungsfront), rechtfertigte den Angriff ebenfalls als eine Botschaft an Pakistan und China, ähnlich dem Angriff auf das chinesische Konsulat in Karatschi durch BLA-KämpferInnen im Jahr 2018.

Reaktion der Herrschenden

Die pakistanischen Staatsorgane und die Polizei brandmarkten die Attacke sofort als eine Operation von „Terroristen“. Sie beabsichtigen eindeutig, den Ansturm der BLA als Vorwand für Vergeltung, Einschüchterung und Unterdrückung der gesamten Befreiungsbewegung in Belutschistan zu benutzen, deren Massenkämpfe in den letzten Wochen sowohl gegen die gewaltsame Unterdrückung durch die Polizei und andere staatliche Kräfte als auch auf soziale und politische Fragen ausgerichtet waren.

Auf einer Pressekonferenz beglückwünschte sich der Leiter der Einheiten der Sindh Rangers, General Omer Ahmed Bukhari, zu der „erfolgreichen Operation“ und „starken Reaktion“ und behauptete, dass die vier AngreiferInnen innerhalb von 8 Minuten getötet worden seien. Natürlich vergaß er auch nicht, darauf hinzuweisen, dass eine Beteiligung „ausländischer Kräfte“, wie z. B. der indischen Dienste, „nicht ausgeschlossen“ werden könne. Der Vorsitzende der pakistanischen Börse, Sulaiman S. Mehdi, wies stolz darauf hin, dass sich der Markt von kurzfristigen Verlusten schnell erholt habe und dass „der Handel nicht einmal für eine Minute ausgesetzt wurde“.

Das gesamte Establishment des Landes schloss sich in ähnlicher Weise an. Der Außenminister, Shah Mahmood Qureshi, würdigte die getöteten Sicherheitskräfte und deutete an, dass Indien hinter dem Angriff steckte, indem es „SchläferInnen“ aktivierte, ein „Narrativ“, das von mehreren MinisterInnen und führenden Sicherheitskräften wiederholt wurde. Darüber hinaus haben die staatlichen Behörden in der Provinz Sindh und in ganz Pakistan deutlich gemacht, dass sie den Anschlag als Vorwand für umfangreiche Operationen nutzen werden.

Der Ministerpräsident der Provinz Sindh, Shah, wies die Strafverfolgungsbehörden an, gezielte Operationen zu „intensivieren“ und die Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen weiter zu verstärken, „damit die aufkommende Bedrohung durch TerroristInnen in ganz Sindh zerschlagen werden kann“. Führende Polizeibeamte und Ranger-Offiziere erklärten, dass innerhalb von 24 Stunden eine gezielte Aktion gegen Militante in Karatschi und anderen Distrikten der Provinz gestartet werden soll.

In Belutschistan wird mit ziemlicher Sicherheit eine weitere Runde von verstärkten Repressions-, Militär- und Polizeioperationen beginnen. Das Schweigen zu diesem Thema in den bürgerlichen Medien ist in einem Staat wie Pakistan kein Grund zur Beruhigung, sondern eher ein Anlass zur Besorgnis. Bisher haben die Sicherheitskräfte die Häuser der an der Karatschi-Börse getöteten Personen durchsucht und einige Familienmitglieder entführt, während andere gewaltsam „verschwunden“ sind.

Zusätzlich zu den Bedrohungen durch „Sicherheits“-Operationen startet eine öffentliche Hasskampagne gegen all jene, die sich mit Vermissten solidarisiert oder sich gegen die Verletzung der Menschenrechte und die Repression in Belutschistan gewehrt haben. Selbst der bekannte Journalist Hamid Mir, der die Erschießung der BLA-KämpferInnen durch die Polizei eigentlich begrüßte, ist dennoch des „Landesverrats“ beschuldigt worden, weil er in der Vergangenheit Reformen in Belutschistan gefordert hatte.

Ursache der Anschläge

RevolutionärInnen und die ArbeiterInnenklasse in Pakistan dürfen sich nicht von den geschichtsverfälschenden Erzählungen der Sicherheitskräfte und der Bundes- und Provinzregierungen blenden lassen, in denen der Staat als Verteidiger der „Demokratie“ und des „Fortschritts“ in einem Kampf gegen „TerroristInnen“ oder gar ausländische Kräfte dargestellt wird. Dies dient nur dazu, jene Realität zu vertuschen, die einen Befreiungskampf sowie nationalistische und guerillaistische Bewegungen und Organisationen überhaupt erst hervorgebracht hat: die systematische nationale Unterdrückung des Volkes der BelutschInnen seit Gründung Pakistans.

Belutschistan ist mit seinen 13 Millionen EinwohnerInnen (von 220 Millionen in Pakistan) nicht nur geographisch die größte Provinz des Landes, die etwa 44 Prozent des gesamten Territoriums umfasst, sondern auch eine Region, die reich an Ressourcen wie Kohle, Gas, Gold, Kupfer und vielen anderen natürlichen und mineralischen Rohstoffen ist. Der größte Teil der Einnahmen daraus wird jedoch direkt vom Zentralstaat Pakistan und imperialistischen InvestorInnen vereinnahmt. Darüber hinaus ist sie von zentraler Bedeutung für die Interessen des chinesischen Imperialismus und sein Projekt des Wirtschaftskorridors China-Pakistan, CPEC.

Es war die Unterdrückung und Verarmung der belutschischen ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen sowie sogar großer Teile des KleinbürgerInnentums, die zu einem Widerstandskampf führten. Dem wurde mit massiver Repression begegnet, bei der Zehntausende von der Armee und den Sicherheitsdiensten getötet wurden oder „verschwanden“. Es sind diese Kräfte, die die wahren TerroristInnen sind. Der pakistanische Staat verteidigt nicht die Freiheit oder die Demokratie in Belutschistan, sondern nur seine sozialen, wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen und die der imperialistischen Mächte, denen er selbst untergeordnet ist.

Wenn er droht, die „TerroristInnen“ zu jagen, meint er nicht nur oder nicht einmal in erster Linie die KämpferInnen der BLA, sondern alle demokratischen, nationalistischen oder sozialistischen Kräfte in Belutschistan, die gesamte Massenbewegung, die sich in den letzten Jahren gegen die Ausplünderung, Ausbeutung und Unterdrückung entwickelt hat. Mehr noch, er will auch eine Warnung an all jene ArbeiterInnen und Jugendlichen in anderen Teilen Pakistans aussprechen, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen oder sich in Solidarität mit den BelutschInnen und anderen unterdrückten Minderheiten mobilisieren.

Deshalb müssen sich RevolutionärInnen und die ArbeiterInnenbewegung den Operationen gegen alle belutschischen Organisationen widersetzen. Obwohl wir und viele andere mit der Politik und Strategie der BLA nicht einverstanden sind, müssen wir uns weigern, das Recht der staatlichen Streitkräfte anzuerkennen, belutschische KämpferInnen zu unterdrücken, zu verhaften oder zu töten. Die ArbeiterInnenbewegung und ihre Organisationen müssen sich gegen alle repressiven Operationen gegen das Volk und die AktivistInnen in Belutschistan unter dem Vorwand eines „Kampfes gegen den Terrorismus“ wenden. Sie müssen sich solidarisch zeigen, nicht nur in Pakistan, sondern weltweit.

Es steht außer Frage, dass der Kampf gegen die nationale Unterdrückung gerechtfertigt ist und die Unterstützung der gesamten ArbeiterInnenklasse, der Linken und aller fortschrittlichen Kräfte in Pakistan und weltweit verdient und braucht. Deshalb müssen wir alle Kräfte in Belutschistan verteidigen, die diese Unterdrückung bekämpfen, unabhängig davon, ob wir ihre politische Strategie teilen oder ablehnen. Jede andere Position würde bedeuten, die Kräfte der Unterdrückung mit denen der Unterdrückten gleichzusetzen.

Welche Strategie?

Das bedeutet nicht, dass RevolutionärInnen die Strategie und Taktik der BLA oder anderer nationalistischer Guerillaorganisationen unkritisch beurteilen sollten. Vielmehr sollten sie die Strategie und den kleinbürgerlichen Charakter ihrer Politik ablehnen und offen kritisieren.

Aber als MarxistInnen kritisieren wir sie von einem rein revolutionären Blickwinkel aus. RevolutionärInnen wie Lenin oder Trotzki lehnten die Methoden des individuellen Terrorismus ab, aber nicht von einem heuchlerischen oder bürgerlich-moralistischen Standpunkt aus. Mit ihnen erkennen wir an, dass eine Massenrevolution und damit revolutionäre Gewalt notwendig sind, wenn man die bestehende kapitalistische und imperialistische Ordnung stürzen will. Wir stimmen voll und ganz zu, dass die nationale Unterdrückung der BelutschInnen, PaschtunInnen und anderer unterdrückter Völkerschaften nicht durch eine schrittweise Reform von oben gewährt wird, sondern nur als Ergebnis eines sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kampfes.

Aber die Strategien des Guerillakampfes und des individuellen Terrorismus fördern oder stärken diesen Kampf nicht, im Gegenteil, sie desorganisieren ihn. Sie geben dem Staat einen Vorwand, um bestehende Bewegungen zu zerschlagen. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie die ArbeiterInnenklasse und die unterdrückten Massen nicht als das Subjekt revolutionärer Veränderungen sehen, sondern sie durch eine nicht rechenschaftspflichtige, selbsternannte kleine Gruppe von Menschen ersetzen.

Revolutionäre KommunistInnen in der Tradition von Lenin und Trotzki treten für eine radikal andere revolutionäre Strategie, ein anderes Programm und eine andere Organisationsform ein. Wir setzen uns für die Schaffung einer revolutionären Partei der ArbeiterInnenklasse ein, die den Massenkampf anführen kann, die aber den kämpfenden Organen der ArbeiterInnenklasse, den demokratisch organisierten Gewerkschaften, den Komitees und Aktionsräten und schließlich den demokratischen ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenräten gegenüber rechenschaftspflichtig ist und bleibt.

In den vergangenen Monaten sind in Belutschistan und vielen anderen Teilen Pakistans neue Massenbewegungen, Bewegungen des politischen Kampfes, entstanden, seien es die Solidaritätsbewegung mit Bramsh Baloch, die StudentInnenbewegung oder Aktionen und Streiks der ArbeiterInnenklasse gegen die Krise. Unsere Aufgabe ist es, auf diesen ersten, wichtigen Schritten aufzubauen, die begonnen haben, die Kampfmoral, das Selbstvertrauen und die Selbstorganisation der Massen zu stärken. Wir müssen den Weg zum Aufbau, zur Vereinigung und Verallgemeinerung solcher Bewegungen gehen, zum Aufbau einer Massenvereinigungsfront aller Kräfte der ArbeiterInnenklasse, aller Organisationen der Unterdrückten, aller kampfbereiten Sektoren der Linken.

Die Solidarität mit allen Angegriffenen und mit den national Unterdrückten ist eine Voraussetzung dafür, dass eine solche Verbindung wirksam und dauerhaft sein kann. Nur auf einer solchen Grundlage kann eine wirkliche Einheit zwischen den ArbeiterInnen, Bauern, Bäuerinnen und revolutionären Jugendlichen der verschiedenen Nationen und eine Partei der ArbeiterInnenklasse und Internationale aufgebaut werden!




Pakistan: Solidarität mit der belutschischen Bewegung für Gerechtigkeit

Beberg Baloch, in Solidarität mit der Baloch Student Organisation (BSO), Infomail 1107, 15. Juni 2020

In Belutschistan kam es nach dem so genannten Dannuk-Zwischenfall in der gesamten Provinz zu massiven Erhebungen. Wütende, aber friedliche Menschenmengen riefen Parolen gegen das Unterdrückungsregime und ihre angeheuerten Todesschwadronen, die in Morde an einfachen Leuten, Entführungen gegen Lösegeld und verschiedene kriminelle Aktivitäten verwickelt waren. Die DemonstrantInnen forderten Gerechtigkeit für die vierjährige Bramsh Baloch, deren Mutter Malik Naz vor wenigen Tagen von Mitgliedern der Todesschwadron bei einem Einbruch in ihr Haus in Kech getötet wurde.

VertreterInnen der Regierung Belutschistans haben in den Mainstream-Medien behauptet, dass Recht und Ordnung in der Provinz unter Kontrolle seien. Doch täglich kommt es zu Zwischenfällen, und die Patrouillen von Paramilitärs in zivilen Gebieten erzählen eine andere Geschichte. Auf der einen Seite geben die MachthaberInnen vor, zum Frieden aufzurufen, aber auf der anderen Seite werden unter ihren Fittichen Todesschwadronen ausgebildet und geschützt. Wie können Todesschwadronen so mächtig sein und völlig ungestraft operieren? Wer finanziert und unterstützt sie? Wo ist die Zivilverwaltung? Dies alles sind Fragen, die in der Vergangenheit aufgeworfen wurden, die aber vor der ganzen Welt deutlich hervorstechen, nachdem Malik Naz ihr Leben im Widerstand gegen sie geopfert hat. Es ist nicht so, dass die Menschen von all dem nichts wussten, aber Angst und Einschränkungen durch UnterdrückerInnen hinderten sie daran, zu sprechen und offen Stellung zu beziehen. Die Ermordung von Malik Naz, Bilder und Videos von Bramshs Verletzungen trafen das Volk der BelutschInnen wie eine Schockwelle. Sie empfinden Schmerz und Erniedrigung und treten für Gerechtigkeit für Bramsh Baloch ein. Damit wurde die Angst vor dem unterdrückenden Staat und seinen Todesschwadronen gebrochen.

Die Rolle der Todesschwadronen in der Region besteht darin, die Interessen von DrogenhändlerInnen zu schützen, die es irgendwie auch ins Parlament schaffen. Die Marktstruktur in Belutschistan ist ganz anders als in weiten Teilen der Welt, deshalb werden solche KillerInnen von hochrangigen autorisierten Personen angeheuert, um ihre schwarzen Taten auszuführen. Vom Menschenhandel bis zur Erpressung, vom Drogenhandel bis zu anderen abscheulichen Verbrechen – bewaffnete MörderInnen operieren, um sie zu schützen und Chaos in der Gesellschaft zu schaffen. Obwohl es eigentlich so sein sollte, dass Kriminelle Angst haben, wurde diese stattdessen dem einfachen Volk, das um sein bloßes Überleben kämpft, indoktriniert. Wir können all dies nicht verstehen, ohne die Rolle des Staates zu begreifen, der diese Banden unter seine Fittiche nimmt, weil sie die BelutschInnen angreifen, töten und den Kampf des Volkes der BelutschInnen für ihre demokratischen Rechte unter Druck setzen.

Die Kette von Protesten, die in Gwadar, Turbat, Quetta, Awaran, Naseerabad, Karatschi und anderen Orten stattfanden, schuf eine neue Welle der Solidarität in der Gesellschaft  BelutschIstans. Die Angst starb und die Tradition des Widerstands gegen Unterdrückung wurde wiederbelebt, da sich die Menschen nicht mehr den MörderInnen und ihren Waffen beugen. Zwar war es der Dannuk-Vorfall, der den Aufstand in der belutschischen Gesellschaft auslöste, aber er hat sehr tiefe Wurzeln und Ursachen. Das Volk von Belutschistan ist mit Rassismus konfrontiert, und wenn es seine Stimme für demokratische Rechte erhebt, hat es nur ein einziges Schicksal, und das sind erzwungene Entführungen und gedemütigte Körper. Das ist die Situation, aus der die belutschische Bewegung emporkommt. Sie braucht die internationale Solidarität der ArbeiterInnenklasse, sozialistischer Parteien und antirassistischer Bewegungen auf internationaler Ebene. Bevor diese angeheuerten MörderInnen die Gesellschaft in weiteres Chaos und fortgesetzte Konflikte stürzen, bedarf es der Entwaffnung der UnterdrückerInnen und des Friedens für die Unterdrückten.

Was die parlamentarischen Kräfte hier betrifft, so waren sie mit Punkte Einheimsen und der Politik mit Parteifahnen beschäftigt. Es ist nicht so, dass sie den Dannuk-Zwischenfall nicht verurteilt hätten, aber Belutschistan braucht viel mehr. Die parlamentarischen politischen Parteien sind nicht in der Lage, ein politisches Programm zu liefern und der Öffentlichkeit eine bewusste Richtung vorzugeben. Deshalb braucht die belutschische Gesellschaft eine neue, junge Führung, die in der Lage wäre, die Massen mit einer klaren Haltung zu lenken und zu führen, statt mit den verrotteten Ideen der gegenwärtigen Parteien, die mit ihren unklaren Erzählungen nur großartige Behauptungen äußern können.

Die Proteste sind kein Ende dieser Tragödie, das ist sicher, und die Menschen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, beziehen klar Position gegen die Todesschwadronen. Die Behörden müssen lernen, dass Angst und Kollaboration mit den angeheuerten MörderInnen nicht weitergehen dürfen, da alles aufgedeckt wird. Malik Naz gibt es nicht mehr, und Bramsh kann die Tragödie nicht aus ihrem Unterbewusstsein löschen, aber die Menschen in Belutschistan sind aufgewacht.

Trotz der Herausforderungen, vor denen Belutschistan heute steht, ist es unerlässlich, sich international zu vernetzen und die Menschen in der ganzen Welt auf sein Elend hören zu lassen. Die Belutschische Studentenorganisation appelliert an die Massen in der ganzen Welt, ihre Solidarität mit Bramsh und der belutschischen Nation zum Ausdruck zu bringen.




Pakistan: Von ArbeiterInnenprotesten zu ArbeiterInnenrevolten

Shehzad Arshad, Infomail 1104, 22. Mai 2020

Am Dienstag, dem 19. Mai, fanden in ganz Pakistan unter der Schirmherrschaft des Workers‘ Solidarity Committee (WSC; ArbeiterInnensolidaritätskomitee) Proteste statt. Unter den TeilnehmerInnen waren politische AktivistInnen, StudentInnen und Frauen. In vielen Städten schlossen sich ArbeiterInnen, die aus verschiedenen Fabriken entlassen worden waren, den Protesten an oder verknüpften ihre eigenen Aktionen damit. Insgesamt wurden trotz der von der Regierung auferlegten politischen Restriktionen in etwa 30 Städten Kundgebungen und Demonstrationen abgehalten.

Die Hauptforderungen des WSC sind:

  1. Keine Entlassungen oder Gehaltskürzungen! Unwesentliche Arbeiten sollten gestoppt, aber die ArbeiterInnen weitere volle Bezahlung und die Zusicherung der Aufrechterhaltung ihres Arbeitsplatzes am Ende der Krise erhalten!
  2. Brot und Medikamente für alle! Während dieser Abriegelung sollten jeder Familie Lebensmittel und grundlegende Medikamente im Wert von 30.000 Rupien (ca. 170 Euro) pro Monat zur Verfügung gestellt werden!
  3. Automatische Mietentlastung! Keine Arbeit, keine Miete!
  4. Keine Abzüge bei Rentenzahlungen!

Die Ziele des WSC bestehen darin, die Stimme der ArbeiterInnen gegen die Angriffe der herrschenden Klasse zu erheben, diese zu organisieren und eine Massenbewegung für den Schutz der Gesundheit und des Lebens der Lohnabhängigen aufzubauen.

Zu dieser Front gehören die Awami Workers‘ Party, der pakistanische Gewerkschaftsbund (PTUF), die National Trade Union Federation (NTUF; Nationaler Gewerkschaftsbund), Mazdoor Mahaz (PMM), die Women’s Democratic Front (WDF; Demokratische Frauenfront), Mehnat Kash Thereek (MKT), die Revolutionary Socialist Movement (RSM; Revolutionäre Sozialistische Bewegung), Workers‘ Democracy (WD; ArbeiterInnendemokratie), Mazdoor Ikhath (MI), die National Students Federation (NSF; Nationaler Studierendenverband) sowie weitere Organisationen. Obwohl sie erst um den 1. Mai dieses Jahres gegründet wurde, zeigt die Zahl der Proteste und Mobilisierungen trotz der politischen Restriktionen, die in der letzten Woche auferlegt wurden, das Potenzial dieser Initiative.

Aktionen

Die massiven Auswirkungen der Pandemiekrise und die wachsende Zahl von ArbeiterInnenkämpfen waren der Grund für die Gründung des WSC. Viele Aktivistinnen und Aktivisten waren der Meinung, dass Kämpfe nicht nur möglich seien, sondern dass sie miteinander verbunden und vereint werden müssten. So reagierte eine Reihe linker Organisationen und Gewerkschaften positiv auf den Aufruf zu einer Einheitsfront, und ihnen schlossen sich StudentInnen- und Frauenorganisationen an.

Anfangs dachten wir, dass Online-Videokonferenzen und Demonstrationen in einigen wenigen Städten ein guter Anfang wären, aber in den letzten Tagen vor dem Aktionstag änderte sich die Situation. In vielen Städten bereiteten sich linke Organisationen und Gewerkschaften auf Proteste vor und setzten sich mit uns in Verbindung. Dies deutet auf eine sich verändernde objektive Situation hin, was bedeutete, dass der Aufruf zu einer gemeinsamen Aktion auf fruchtbaren Boden fiel.

Der WSC-Protest war für einen Tag geplant, an dem auch die Beschäftigten in Karatschi, Lahore und Scheikhupura für die Zahlung von Löhnen und Zulagen protestierten. Auch Mitglieder des WSC schlossen sich diesen Protesten an. Unmittelbar nach der Abriegelung protestierten viele Beschäftigte gegen Entlassungen, die Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern sowie die Kürzung von Gehältern und Zulagen.

In Karatschi hatten bereits in mehreren Fabriken, nämlich Roof, Lucky und International Textiles, Proteste stattgefunden. Bis zu einem gewissen Grad haben die Erfolge der Arbeiterinnen und Arbeiter in diesen Fabriken, in denen die Unternehmen gezwungen waren, ihren Forderungen nachzugeben oder zumindest Zugeständnisse zu machen, bei den Beschäftigten Begeisterung ausgelöst. Es hat gezeigt, dass EigentümerInnen und Geschäftsführungen herausgefordert und besiegt werden können.

Ebenfalls in Karatschi wurden unter der Schirmherrschaft des WSC zwei Demonstrationen organisiert. Die erste davon fand in Ghani Chowrangi (Stadtteil in Karatschi) statt, wo der Vorsitzende der Mazdoor Kisan Party (MKP; ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenpartei), Qamar Abbas, sagte: „Die ArbeiterInnen werden ständig entlassen, und bisher sind etwa 700 von Ghani Glass entlassen worden. Uns liegen Berichte über die Entlassung von etwa 500 ArbeiterInnen von Artistic Millionaire Korangi, 800 bis 1000 von Al-Karam, 700 von Gul Ahmed, etwa 200 von Rajabi Textiles und allen Beschäftigten von Siddique Sons vor.“

Die zweite Demonstration fand in Habib Chowrangit, einem anderen Stadtteil von Karatschi, statt, angeführt von der NTUF. Die Demonstration wurde von einer großen Zahl örtlicher FabrikarbeiterInnen und GewerkschaftsführerInnen angeführt, von denen viele auch während der Abriegelung an verschiedenen Protesten teilgenommen hatten. Mitglieder der NTUF waren auch ständig am Kampf der Denim-FabrikarbeiterInnen in Karatschi beteiligt. Sie hatten drei Tage lang protestiert, als Polizei und Werkschutz am 19. Mai das Feuer auf sie eröffneten.

Abdullah Basit, der Führer der NTUF, schreibt über die verletzten ArbeiterInnen: „Die Industriezone Korangi ist die größte Pakistans. Seit gestern finden in der Denim Clothing Company (Bekleidungsfabrik) Korangi Demonstrationen statt. Gestern hatte die Unternehmensleitung versprochen, Prämien zu gewähren, aber sobald die Arbeiterinnen und Arbeiter heute Morgen das Tor der Fabrik erreichten, schloss die Unternehmensleitung die Tür und sagte, dass der/die EigentümerIn das Unternehmen geschlossen habe. Die ArbeiterInnen saßen friedlich am Haupttor, als die Verwaltung mit Hilfe der Polizei das Feuer eröffnete und die ArbeiterInnen mit Hilfe politischer Parteien einschüchterte, aber die ArbeiterInnen blieben vereint.“

Tariq Mahmood, der Verwaltungsleiter des Unternehmens, kniete vor den ArbeiterInnen nieder und kündigte an, dass am 21. Mai eine Prämie ausgezahlt wird. Die Denim Clothing Company arbeitet für internationale Marken, und das Unternehmen befolgt nicht einmal die grundlegenden Anforderungen der Einhaltung der sozialen Distanzierung und Hygiene und verstößt in schwerwiegender Weise gegen das Arbeitsrecht. Entgegen der kürzlich verabschiedeten Verordnung der Regierung von Sindh (eine der Provinzen Pakistans) wurden während der Abriegelung 15.000 Beschäftigte ohne Lohn entlassen. Aber ihr Kampf hat sich als fruchtbar erwiesen, und alle großen Unternehmen in der Industriezone Korangi haben jetzt angekündigt, dass sie Prämien zahlen werden.

In Lahore, in der Nähe des Ortes, an dem das WSC protestiert hat, begannen am Morgen 5.000 Beschäftigte der Fabrik US Apparel gegen die Nichtzahlung von Gehältern und Prämien zu protestieren. Die Beschäftigten haben deutlich gemacht, dass sie ihren Protest fortsetzen werden, wenn ihre UnternehmerInnen nicht zahlen. Tausende Beschäftigte aus verschiedenen Fabriken im Industriegebiet wurden bereits entlassen, und viele von ihnen werden nicht bezahlt. In Lahore beteiligten sich auch entlassene Beschäftigte von BSl und DSl an den Protesten. Diese Kämpfe haben die Möglichkeiten für eine breitere Organisierung der ArbeiterInnenklasse in dem Gebiet verbessert.

In Sheikhupura, wo die Hauptforderung des ArbeiterInnenprotestes das Ende der Rentenkürzungen lautete, in einiger Entfernung an der Straße Sheikhupura–Faisalabad, veranstalteten die ArbeiterInnen von Sapphire Textile einen Protest. Sie sagten, dass die ChefInnen seit drei Monaten ihre Löhne und Gehälter nicht gezahlt hätten. Sollten die EigentümerInnen sich weiterhin weigern, die Gehälter zu zahlen, drohen sie damit, die Straße Scheikhupura–Faisalabad zu blockieren.

Veränderung der Lage

Diese ganze Situation zeigt, dass sich unter der Oberfläche ein bedeutender Wandel vollzieht, die ArbeiterInnenklasse ist in Bewegung! Diese Streiks nehmen zu – und das stärkt das Vertrauen der ArbeiterInnen, was wiederum diese Botschaft auf andere Klassengeschwister in der Region überträgt. Das heißt, wenn wir die Angriffe der UnternehmerInnen abwehren wollen, müssen wir kämpfen. Es ist klar, dass Appelle und Verhandlungen in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation Pakistans nicht viel bewirken werden.

Wir brauchen einen alle umfassenden Kampf mit Massendemonstrationen, -streiks und Besetzungen. Wir müssen die Proteste, die sonst lokal oder auf einzelne Betriebe beschränkt bleiben würden, vereinen und koordinieren. Nur so können wir die Verarmung, den Hunger und die Gesundheitsrisiken stoppen, denen Millionen von ArbeiterInnen, BäuerInnen und sogar Teile der „Mittelschicht“ ausgesetzt sind.

Sicherlich ergeben sich neue Möglichkeiten, aber wir müssen uns der Schwäche der gewerkschaftlichen und linken Organisationen in Pakistan bewusst sein. Vor diesem Hintergrund müssen wir eine Strategie entwickeln, wie wir in dieser Situation arbeiten können. Um die Kämpfe zu organisieren, wird es von wesentlicher Bedeutung sein, Betriebskomitees und Aktionskomitees in den Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse zu bilden.

Gleichzeitig müssen wir die Lohnabhängigen auffordern, den Gewerkschaften beizutreten, sie zu Kampforganen zu machen und sich zu organisieren, um ihre Zersplitterung durch Fusionen auf demokratischer Grundlage zu überwinden und Industriegewerkschaften in allen Wirtschaftszweigen zu schaffen.

Während es für SozialistInnen jetzt unerlässlich ist, sich den Industriegebieten zuzuwenden und mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, müssen wir auch die Grenzen des rein gewerkschaftlichen Kampfes verstehen und eine revolutionäre Strategie formulieren, um die ArbeiterInnenklasse für den Sozialismus zu gewinnen. Das ist eine schwierige und mühsame Aufgabe, aber es kann keinen besseren Zeitpunkt geben, sie zu beginnen, als dann, wenn die Krise des Kapitalismus die ArbeiterInnen zum Kampf drängt.