Der Kampf der Belutsch:innen gegen staatliche Morde und Ausbeutung

Minerwa Tahir, Gruppe Arbeiter:innemacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Ihr Land ist besetzt und Militärkontrollpunkte kontrollieren ihre Bewegungsfreiheit. Das Land ist reich an Gas, Mineralien und Öl, aber ihre Ressourcen werden ohne Entschädigung geplündert. Ihnen werden die grundlegenden sozialen und demokratischen Rechte vorenthalten. Sie werden häufig als „Terrorist:innen“ gebrandmarkt und entmenschlicht. Ähnlich wie die Palästinenser:innen sind die Belutsch:innen nicht länger bereit, ihr gewaltvolles Schicksal hinzunehmen.

Das Volk der Belutsch:innen lebt in der Region Belutschistan, die zwischen Pakistan und Iran aufgeteilt ist. Dies ist die Provinz mit der größten Fläche und der kleinsten Bevölkerung. Sie grenzt an den Iran und Afghanistan. In der Region gibt es seit Langem eine Aufstandsbewegung, die von Separatist:innen angeführt wird, die die Unabhängigkeit von Pakistan fordern. Andere Teile der nationalen Bewegung fordern eine größere Autonomie und/oder mehr Rechte innerhalb des pakistanischen Staatsgefüges.

Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Belutsch:innen und pakistanischem Staat wurde durch die Ermordung des 24-jährigen Balach Mola Bakhsh und dreier weiterer Personen am 23. Oktober 2023 in der Stadt Turbat im Distrikt Kech in Belutschistan ausgelöst. Es kam zu einer Welle von Protesten, da die Belutsch:innen den Staat dafür anklagen, dass Bakhsh ein weiteres Opfer außergerichtlicher Tötungen sei. Die Proteste gipfelten in dem „Langen Marsch der Belutsch:innen“, eines über 1.000 Meilen durchgeführten Protestmarsches, der von Familienangehörigen, Freund:innen und anderen Aktivist:innen zu Fuß unternommen wurde. Während dessen gesamter Dauer führten die pakistanischen Behörden eine Desinformationskampagne gegen die Demonstrant:innen und setzten sie wiederholt Einschüchterungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen aus.

Hintergrund

Am 23. November 2023 meldete die pakistanische Abteilung für Terrorismusbekämpfung (CTD), dass sie in einer geheimdienstlichen Operation vier „Terrorist:innen“ getötet habe. Einer von ihnen wurde als Bakhsh identifiziert, nachdem die Leichen der örtlichen Polizei übergeben worden waren. Unterdessen begann die Familie von Bakhsh mit dem Leichnam eine Sitzdemonstration. Sie berichteten, dass Bakhsh vor einem Monat von der CTD verhaftet und dem örtlichen Gericht vorgeführt worden war, das ihn für 10 Tage in Polizeigewahrsam nahm.

Die Demonstrant:innen forderten die Verhaftung der CTD-Beamt:innen und die Einsetzung einer gerichtlichen Kommission zur Untersuchung der Morde. Nach Angaben der Familie wurden alle vier Opfer in Gewahrsam getötet. Ein Richter am Gericht von Turbat hatte die örtliche Polizei daraufhin sogar angewiesen, eine Anzeige gegen den für die Morde verantwortlichen Beamten zu erstatten. Doch das verläuft seither im Sand.

BLM: Langer Marsch der Belutsch:innen

Der Lange Marsch der Belutsch:innen (BLM) begann am 6. Dezember 2023, wird vom Baloch Yakjehti Committee (Baloch-Solidaritätskomitee) organisiert und von unbewaffneten Frauen und Kindern aus Belutschistan angeführt, die auf ihrem Weg von dort nach Islamabad schweren Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt waren. Diese Frauen haben jahrzehntelang unter Schmerzen und Ängsten gelitten, denn ihre Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne sind „gewaltsam verschwunden“. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine jahrzehntelange Praxis, gegen die die Belutsch:innen immer wieder protestieren. Männer werden Berichten zufolge von staatlichen Behörden wegen Terrorismusverdachts festgenommen und „verschwinden“ dann. Am 16. Januar 2024 berichtete die Untersuchungskommission für gewaltsames Verschwindenlassen, dass sie seit 2011 insgesamt 10.078 Fälle registriert hat, davon 3.485 in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa und 2.752 in Belutschistan.

Zu den Forderungen der BLM gehörten nicht nur Gerechtigkeit für die vier Opfer der Morde vom Oktober, sondern auch ein Ende der barbarischen und undemokratischen Praktiken des Verschwindenlassens und Tötens.

Am 17. Dezember wurden 20 belutschische Demonstrant:innen verhaftet, als der lange Marsch über Dera Ghazi Khan in die Provinz Punjab (Pandschab) zu gelangen versuchte.

Als die unbewaffneten Demonstrant:innen in der Nähe von Islamabad ankamen, ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen sie vor, unter anderem mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern. Um ihnen den Weg nach Islamabad zu versperren, errichtete die Polizei Barrikaden rund um die Hauptstadt, schlug und verhaftete eine Reihe von Teilnehmer:innen. Gegen ältere Menschen und Minderjährige wurde brutale Gewalt angewandt, während Frauen von Männern in Uniform weggezerrt wurden.

Belutschische Frauen führen internationale Solidarität an

Der von Frauen angeführte Protest der Belutsch:innen musste aufgrund verschiedener Faktoren, die von extremer Kälte bis hin zu schweren staatlichen Repressionen reichten, abgebrochen werden. Dennoch bedeutet das nicht auf ein Ende der Bewegung hin. Es scheint vielmehr der Beginn der nächsten Phase der Bewegung zu sein, d. h. einer, die die Unterdrückten der Region zusammenführt. Am 21. Januar 2024 organisierte das Baloch Yakjehti Committee trotz aller staatlichen Hindernisse die erste Internationale Konferenz der Unterdrückten in Islamabad. Diese wurde mit dem Ziel organisiert, die Unterdrückten der Region zu vereinen und den „Völkermord an den Belutsch:innen“ aufzuklären. Dies ist natürlich eine positive Entwicklung, die der Bewegung gegen nationale Unterdrückung helfen wird, aus ihrer Isolation auszubrechen und Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung zu werden.

Der pakistanische Staat behauptet, die Vorwürfe über einen Völkermord an den Belutsch:innen seien übertrieben. Die Menschenrechtsaktivistin Mahrang Baloch verwies jedoch auf die Einrichtung eines Friedhofs mit unbekannten verstümmelten Leichen, auf Kinder, die auf der Straße nach ihren Vätern suchen, auf kollektive Tötungen und Massengräber als Beweis für den Ernst der Lage und forderte die internationale Gemeinschaft auf, diese Gräueltaten als eine Form des Völkermords anzuerkennen. Im Jahr 2014 wurden beispielsweise im Bezirk Khuzdar Massengräber gefunden.

Frauen wie Mahrang sind sich bewusst, dass sie nicht allein leiden. Auf der Internationalen Konferenz für unterdrückte Völker in Islamabad erhob sie ihre Stimme nicht nur gegen den  „Völkermord an den Belutsch:innen“, sondern auch gegen die Herausforderungen, mit denen Hazara, Sindhi, Muhajir, Paschtun:innen, Schiit:innen, Hindi, Christ:innen und andere unterdrückte Nationalitäten, aber auch religiöse Minderheiten in Pakistan zu kämpfen haben.

Das anhaltende Massaker an den Palästinenser:innen und die darauffolgende internationale Solidaritätsbewegung haben auch dazu geführt, dass es zumindest in einigen Staaten schwerer wird, die eigenen Gräueltaten zu vertuschen.

Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Ignoranz vieler Pakistaner:innen gegenüber dem Leiden der Belutsch:innen zu brechen. Das scheint jedenfalls ein Stück weit gelungen zu sein, was sich daran zeigt, dass die Mainstreammedien über den von Frauen geführten BLM berichtet haben wie nie zuvor.

Wir sehen, dass die Lehren, die die Bewegung der Belutsch:innen gegen die nationale Unterdrückung aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen politischen Strömungen gezogen hat, ihnen mehr und mehr bewusst gemacht haben, dass ihre Befreiung mit der anderer unterdrückter Nationen zusammenhängt, einschließlich derer, die unter der indischen Besatzung in Dschammu und Kaschmir unter ähnlicher Unterdrückung leiden.

Wir solidarisieren uns klar mit dem Volk von Belutschistan in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung. Das Volk der Belutsch:innen hat ebenso wie die Palästinenser:innen und die Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung. Wir stehen an ihrer Seite, so wie wir an der Seite der Palästinenser:innen, der Kurd:innen, der Iraner:innen, der Afghan:innen, der Armenier:innen, der Kaschmiris, der Dalits und der Rom:nja und Sinti:zze stehen. Wir rufen die Arbeiter:innen und Unterdrückten der Welt auf, sich die Sache der Belutsch:innen zu eigen zu machen. Schließlich ist niemand von uns frei, solange wir nicht alle frei sind.

Letztendlich besteht die Bedeutung des BLM und der oft von Frauen geführten neu entstehenden Massenbewegung auch darin, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung selbst einer politischen und strategischen Neuausrichtung bedarf. Historisch ist er stark vom Gueriallismus und von einer Etappentheorie der Befreiung geprägt, derzufolge das strategische Ziel des Kampfes die Errichtung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse – entweder in Form eines eigenen Staates oder von mehr demokratischen Rechten für die Provinz im Rahmen des pakistanischen Staates – sein solle. In beiden Fällen wären jedoch die kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse davon nicht berührt.

Genau darin liegt eine entscheidende Schwäche der bisherigen Bewegung. In Wirklichkeit ist die Unterdrückung der Belutsch:innen eng mit Kapitalismus und Imperialismus verbunden. Belutschistan ist reich an Rohstoffen, die von der pakistanischen und imperialistischen Bourgeoisie ausgebeutet werden. Es hat eine wichtige geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung für die „Neue Seidenstraße“ Chinas (CPEC). Dies sind nur einige Beispiele dafür. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, eine Perspektive zu weisen, wie der Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem gegen die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verbunden werden kann – in Belutschistan und ganz Pakistan. Nur eine Einheitsfront aller Organisationen unterdrückter Ethnien und Arbeiter:innen kann den pakistanischen Staat effektiv unter Druck setzen und ihn zwingen, das Morden zu stoppen. Die Nation der Belutsch:innen muss mithilfe demokratischer Rechte in der Lage sein, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Die führende Rolle von Frauen bei der Organisierung, Durchführung und öffentlichen Vertretung des BLM verweist darüber hinaus darauf, dass diese nicht nur eine führenden Rolle im Kampf für nationale Befreiung und sozialistische Umwälzung, sondern auch für den Kampf gegen das Patriarchat spielen können und werden.




Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

Leseempfehlung

Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
Mehr zur Lage von Frauen und Widerstand in Afghanistan:




Pakistan: Nach Wahlbetrug drohen IWF-Knechtschaft und Instabilität

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1245, 19. Januar 2024

Die Wahlen in Pakistan am 8. Februar ergaben ein geteiltes Mandat. Trotz schwerer Repressionen vor der Wahl und Manipulationen am Wahltag gewannen „unabhängige“ Kandidat:innen, die von Imran Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) unterstützt wurden, 92 der 266 direkt gewählten Sitze. Nawaz Sharifs Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) erhielt trotz der Unterstützung durch das militärische Establishment nur 75 Sitze. Die Pakistanische Volkspartei (PPP) der Bhutto-Dynastie kam mit 54 Sitzen auf den dritten Platz.

Daneben werden den Parteien weitere Mandate aus den 70 für Frauen und religiöse Minderheiten reservierten Sitzen zugewiesen. Da diese Plätze unabhängigen Kandidat:innen nicht zur Verfügung stehen, haben sich Khans „Unabhängige“ mit der Majlis Wahdat-i-Muslimeen (MWM) zusammengeschlossen, einer religiösen Partei der schiitischen Sekte, die einen Sitz in der Nationalversammlung von Khyber Pakhtunkhwa gewonnen hat. Die von der PTI unterstützten Unabhängigen haben eine ähnliche Koalition mit der Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft) in der Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa vorgeschlagen, doch wurde dieses Angebot bisher nicht angenommen.

In anderen Provinzparlamenten wie im Punjab behielt die PML-N ihre Mehrheit, während die PPP in Sindh die Mehrheit bewahren konnte. Die PPP wird wahrscheinlich auch in Belutschistan ein Bündnis mit den nationalistischen Parteien eingehen. In Khyber Pakhtunkhwa dominierten die „Unabhängigen“.

Stimmen und Mandate

In der Zwischenzeit haben die PML-N und die PPP ihr eigenes Bündnis mit vier anderen Parteien geschlossen, nämlich der Muttahida Qaumi Movement – Pakistan (MQM-P; Vereinigte Volksbewegung), der Pakistan Muslim League – Quaid (PML-Q), der Istehkam Pakistan Party (IPP; Pakistanische Partei für Stabilität) und der Belutschistan Awami Party (BAP; Belutschische Volkspartei). Damit kommen sie auf 152 Sitze, was sie zusammen mit den reservierten Mandaten über die für eine Regierungsbildung erforderlichen 169 Stimmen bringt. In dieser Koalition fehlt Maulana Fazal-ur-Rehman von der Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl), JUI (F) (Versammlung Islamischer Kleriker [Fazl]). Er war Vorsitzender der Pakistanischen Demokratischen Bewegung (PDM), die 2020 als Bewegung gegen die angebliche Manipulation der Wahlen von 2018 gegründet wurde, die Imran Khan an die Macht brachten, und eine wichtige Kraft hinter Khans Sturz 2022. Die anderen Mitglieder der PDM haben sich der Regierungskoalition angeschlossen. Die JUI (F) fällt unter das parlamentarische Dach der Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan, die nur vier Sitze in der Nationalversammlung erreichte. Die Partei hat die „manipulierten“ Ergebnisse zurückgewiesen.

Der PPP-Vorsitzende Asif Ali Zardari erklärte, dass seine Partei und die PML-N zwar getrennt zu den Wahlen angetreten seien, sich nun aber im „Interesse der Nation“ zusammengeschlossen hätten. Nawaz Sharifs Tochter Maryam Nawaz ist für das Amt der Ministerpräsidentin in der Pandschab-Provinz vorgesehen, während ihr Bruder Shehbaz Sharif als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten auserkoren wurde. Es gibt Andeutungen, dass Zardari Staatspräsident werden soll.

Die Wahlergebnisse zeigten auch eine massive Ablehnung der religiösen Parteien. Die JUI (F) verlor Sitze. Die klerikalfaschistische Tehreek Labbaik Pakistan (Bewegung „Hier bin ich!“ Pakistan) erhielt in keinem einzigen Wahlkreis mehr als fünf Prozent der Stimmen. Die Jamaat-e-Islami versuchte, in Städten wie Karatschi von der Antimanipulationskampagne der PTI zu profitieren, jedoch ohne Erfolg. Ihr Chef in Karatschi gewann zwar ein Mandat in der Provinzversammlung, gab es aber mit der Begründung wieder auf, dass in Wirklichkeit der von der PTI unterstützte Kandidat gewonnen habe. In Khyber Pakhtunkhwa hatte diese islamistische Partei drei Sitze errungen, doch kurz nachdem Nachrichten über eine Regierungskoalition mit der PTI in der Provinz aufgetaucht waren, führte eine Neuauszählung dazu, dass die Kandidat:innen der Partei ihre Sitze an Unabhängige verloren.

„Gestohlenes Mandat“

Das harte Vorgehen gegen die PTI vor den Wahlen war so heftig, dass man davon ausging, dass die PML-N bei den Wahlen einen klaren Sieg davontragen würde. Khan und andere führende Politiker:innen wurden disqualifiziert, nach Verurteilungen ins Gefängnis gesteckt und/oder von der Kandidatur ausgeschlossen. Einige Parteiführer:innen liefen über. Die PTI wurde ihres Wahlsymbols beraubt und ihre Bewerber:innen mussten als Unabhängige antreten und durften keinen Wahlkampf führen. Das Internet wurde am Tag der Wahl abgeschaltet.

Doch trotz dieser weit verbreiteten Repression konnten die von der PTI unterstützten Kandidat:innen am Wahltag Siege verbuchen. Die Ergebnisse der Wahllokale werden förmlich auf dem „Formular 45“ festgehalten, das die Grundlage für die spätere Zusammenstellung der Ergebnisse in den Wahlkreisen bildet. Es wird nicht nur vom Vorsitzenden des Wahllokals unterzeichnet, sondern auch von Vertretungen der anwesenden Kandidat:innen, die als Zeug:innen des Vorgangs fungieren. Die Wahllokale sind gesetzlich verpflichtet, Kopien des Formulars öffentlich auszuhängen, um die Rechenschaftspflicht und Transparenz der Wahlen zu gewährleisten. Die Formulare werden dann dem/r Leiter:in des Wahlkreises vorgelegt, der/die die Ergebnisse aller Wahllokale zusammenzählt, die Endergebnisse zusammenstellt und diese auf dem „Formular 47“ vermerkt. Die beiden Formulare standen im Mittelpunkt der Kontroverse um die Wahlergebnisse in Pakistan.

Laut den Formularen 45 erklärte die PTI 170 Sitze als gewonnen. Auf den Formblättern 47 wurden jedoch nur 93 Sitze für die von der PTI unterstützten Unabhängigen ausgewiesen. Die Partei hat die Ergebnisse gerichtlich angefochten und behauptet, dass die auf den Formblättern 47 ausgewiesenen Ergebnisse erheblich von den Angaben auf den Formblättern 45 abweichen. In anderen Fällen berichteten die Kandidat:innen, dass ihren Wahlhelfer:innen das Formular 45 von den Wahlleiter:innen verweigert wurde, obwohl mehrere Stunden nach Wahlschluss vergangen waren. Die PTI behauptet, dies sei geschehen, um die Wahlergebnisse zu manipulieren.

Inoffizielle Wahlergebnisse, die von den Medien auf Grundlage der Formulare 45 und 47 gemeldet wurden, zeigten eine Reihe von Siegen für die PTI. Die Medien wurden jedoch an der Ausstrahlung der Wahlergebnisse gehindert, die sich um Stunden verzögerte. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse bekanntgegeben, die einen Sieg der PML-N, der PPP und der MQM in vielen Sitzen zeigten, die die PTI nach den Formblättern 45 und 47 gewonnen hatte.

Bei Bekanntgabe der vorläufigen Wahlresultate lag Nawaz Sharif, der ursprünglich als Kandidat für das Amt des Premierministers vorgesehen war, mit einem Abstand von 13.000 Stimmen hinter der von der PTI unterstützten Yasmin Rashid. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse zugunsten von Nawaz Sharif bekannt gegeben.

Die Massen haben gesprochen

Die Wahlbeteiligung hat überdeutlich gezeigt, dass die Massen das harte Vorgehen gegen die PTI ablehnen. So sehr der Staat mit Verurteilungen, Inhaftierungen und Verleumdungen auch zeigen wollte, dass die Ära der PTI vorbei ist, die Wähler:innen machten sie dennoch zur größten Partei, was die Zahl der Sitze angeht.

Die PTI hat behauptet, sie habe vor der Manipulation der Ergebnisse 170 Sitze errungen. Selbst wenn man Übertreibungen zulässt, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Ergebnisse in mindestens 10 Bezirken in Karatschi und rund 30 Sitzen in der Provinz Punjab und anderen Gebieten zugunsten der PML-N und PPP verändert wurden.

Die hohe Wahlbeteiligung war nicht nur Ausdruck der Wut über Wahlmanipulationen, sondern auch über die steigenden Lebenshaltungskosten und das unerträgliche Elend, das der Internationale Währungsfonds (IWF) auferlegt hat. Die PTI ist keine Anti-IWF-Partei, vielmehr hat Khan das jüngste Hilfspaket eingebracht. Dadurch verlor er zwar an Unterstützung, doch nachdem er sich mit dem militärischen Establishment überworfen hatte, lehnte er einige der IWF-Bedingungen ab, die dann von der nachfolgenden geschäftsführenden Regierung umgesetzt wurden, so dass die PTI als Gegnerin des IWF auftreten konnte. Das harte Vorgehen des militärischen Establishments gegen die PTI stärkte dann ihren Status als wichtigste Oppositionspartei.

Eine neoliberale Regierung

Die PTI hat die Wahlergebnisse rechtlich angefochten. Das Ergebnis bleibt abzuwarten, aber es ist offensichtlich, dass den pakistanischen Massen im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik der kommenden Regierung dunkle Zeiten bevorstehen.

Abgesehen von den Lippenbekenntnissen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Entwicklung ist die PML-N eine Partei des Großkapitals und eine Sklavin ihrer Herr:innen in den USA, China und den Golfstaaten. Die Auflagen des IWF-Programms werden nur noch strenger werden. Sobald eine neue Regierung an der Macht ist, wird sie das Diktat des IWF umsetzen müssen. Angesichts der Opposition der PTI ist es unwahrscheinlich, dass die nächste Regierung stark sein wird. Gleichzeitig wird die Regierung auch die wirtschaftliche Agenda des militärischen Establishments durchsetzen müssen. Obwohl die PPP in einer Koalition sitzt, wird sie die Unzufriedenheit, mit der die neue Regierung wahrscheinlich schon bald konfrontiert sein wird, mit Sicherheit ausnutzen, weshalb sie sich als volksnahe Alternative präsentiert. Die vermeintliche Ablehnung der IWF-Bedingungen durch die PTI wird ihre Unterstützung in der Bevölkerung wahrscheinlich noch verstärken, auch wenn dies ein Irrtum sein mag.

Unterdessen ist der erwartete massive Sieg von Nawaz Sharif nicht eingetreten. Meinungsumfragen hatten darauf hingedeutet, dass die PML-N in ihrer Hochburg Punjab immer noch vor der PTI liegen würde. Er war so zuversichtlich, dass er nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale eine Siegesrede hielt. Diese Träume zerschlugen sich, als die Ergebnisse bekanntgegeben wurden. Seine Partei konnte kaum die Hälfte der Sitze im Punjab gewinnen, und fast alle übrigen gingen an die von der PTI unterstützten „Unabhängigen“ verloren. Die Niederlage kann mit Sicherheit auf die jahrzehntelange Korruption der Partei zurückgeführt werden. An der Regierung konzentrierte sich Shehbaz Sharif darauf, die Anklagen gegen seinen Bruder fallen zu lassen und gleichzeitig die Politik des IWF durchzusetzen. Die massive Inflation und die weit verbreitete Arbeitslosigkeit haben die Basis der Partei erschüttert.

Heute ist sich Sharif wahrscheinlich bewusst, dass, selbst wenn seine Partei vorerst die Regierung bilden mag, das geteilte Mandat immer Raum für ein Manöver gegen ihn lässt, sobald er in der Gunst des Militärs zurückfällt. Die Kombination aus der Tatsache, dass die PTI eine wichtige Partei des Großkapitals ist, und Khans narzisstischer Persönlichkeit wird dazu führen, dass die PTI-Führung immer bereit sein wird, ihre Wähler:innenschaft zu verraten, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Kurzum, es ist sicher, dass eine schwache und instabile Regierung einer frustrierten Opposition gegenüberstehen wird.

Kandidat:innen der Arbeiter:innenklasse

Die meisten Stimmen bei der Wahl waren entweder für oder gegen Khan. Diese Polarisierung ließ wenig Raum für Vertreter:innen der Arbeiterklasse. Abgesehen von einem Kandidaten der kommunistischen Mazdoor Kissan Party (Kommunistische Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei), der in Charsadda, Khyber Pakhtunkhwa, 10.000 Stimmen erhielt, konnte keiner der anderen Bewerber:innen linker Parteien und Organisationen die 1.500-Stimmen-Marke deutlich überschreiten.

Linke Kandidat:innen wie Ammar Ali Jan von der Haqooq-e-Khalq-Partei (HKP) erklärten, dass ihre Wahlniederlage unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass die Menschen über nationale Themen und damit für Parteien mit nationaler Präsenz abgestimmt hätten. Er schrieb, dass wir den Klassenkampf verschärfen und die Themen, mit denen die Massen konfrontiert sind, im nächsten Fünfjahreszeitraum in den nationalen Mainstream einbringen müssen.

Der Weg nach vorn

Auch wenn Ammar Ali Jan damit recht hat, möchten wir hinzufügen, dass dies einen zweigleisigen Ansatz erfordert. Erstens, der Aufbau einer Einheitsfront der Arbeiter:innen und Unterdrückten, um die Angriffe des IWF und seiner unterwürfigen Regierung zu bekämpfen. Zweitens, der Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms.

Erstgenanntes wird der Linken in Pakistan helfen, eine ernstzunehmende Kraft zu werden. Keine der kleinen, isolierten Gruppen mit Hunderten von Mitgliedern kann allein eine wirksame Verteidigung auf die Beine stellen. Wir müssen uns für ein gemeinsames Vorgehen gegen den IWF zusammenschließen. Wir rufen alle Gewerkschaften und Arbeiter:innen- sowie feministische und fortschrittliche Organisationen auf, sich an einer solchen antikapitalistischen, gegen den IWF gerichteten Einheitsfront zu beteiligen.

Das Zweite, die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, ist entscheidend für die Gewährleistung selbst aller grundlegenden demokratischen Forderungen. Wie die Erfahrung dieses und aller vergangenen sozialen Kämpfe gezeigt hat, werden die Grenzen der bürgerlichen Demokratie in dem Moment deutlich, in dem der Kampf beginnt, eine echte Dynamik zu entwickeln. Wir brauchen eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die nicht nur für grundlegende demokratische und wirtschaftliche Rechte kämpfen kann, sondern auch in der Lage ist, einen Kampf zum Aufbau von Arbeiter:innenorganisationen zu führen, die diese Rechte tatsächlich garantieren können. Das ist die Lehre, die wir aus den arabischen Revolutionen oder dem jüngsten Aufstand im Iran ziehen müssen. Ohne Organisationen wie demokratische Gewerkschaften, Arbeiter:innenräte und die Mittel, sie zu verteidigen, ist die Gefahr groß, dass durch den Kampf errungene Rechte verlorengehen. Jedes Eintreten für Demokratie oder soziale Fragen muss mit dem Bestreben für den Aufbau von Organisationen und Strukturen verbunden sein, die die Macht übernehmen und halten können. Dafür brauchen wir eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die eine solche Revolution anführen und eine auf diesen Strukturen basierende Arbeiter:innenregierung bilden kann, um den bestehenden kapitalistischen Staat zu ersetzen, das Kapital zu enteignen, eine Sofortprogramm im Interesse der Arbeiter:innen und Bäuer:innen umzusetzen und die Wirtschaft auf der Grundlage demokratischer Planung zu reorganisieren.




Pakistan-Wahlen: Nieder mit der Scheindemokratie! Vorwärts zu einer Arbeiter:innen-Alternative!

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1244, 6. Februar 2024

Am 8. Februar finden in Pakistan Parlamentswahlen statt. Dies wäre zwar das dritte Mal in Folge, dass die Pakistaner:innen eine zivile Regierung wählen, die nicht von Militärdiktaturen unterbrochen wird. Doch die Grenzen dieser demokratischen Struktur sind unübersehbar. Der zum Politiker gewordene Cricketspieler Imran Khan befindet sich heute in der gleichen Lage wie Nawaz Sharif bei der Wahl 2018. Die beiden scheinen die Plätze in dem Rollenspiel getauscht zu haben, das alle etablierten politischen Parteien abwechselnd vor dem mächtigen Militär des Landes spielen.

Wahlen an einem entscheidenden Punkt

Innenpolitisch ist Pakistan mit einer hohen Inflation und Arbeitslosigkeit konfrontiert, und ein Ende der Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ist nicht in Sicht. Aufgrund des hohen Zinssatzes haben Unternehmen mit Schließung gedroht. Die Übergangsregierung hat auch die Privatisierung und den Verkauf der nationalen Fluggesellschaft als Teil der IWF-Vereinbarung abgeschlossen, wobei die Pakistanische Muslimliga Nawaz (PML-N) versprochen hat, den Prozess nach ihrer Regierungsübernahme zu beschleunigen.

Die Inflation ist so hoch, dass Menschen Selbstmord begangen oder ihre eigenen Frauen und Kinder getötet haben. Am 31. Januar erhöhte die geschäftsführende Regierung den Benzinpreis um weitere 13,55 Rupien pro Liter für die nächsten vierzehn Tage. Er liegt nun bei 272,89 Rupien pro Liter, verglichen mit 95 Rupien im Jahr 2018. Der Strompreis pro Einheit für Haushalte ist von 12 im Jahr 2018 auf 30 Rupien angestiegen. Die Gaspreise haben sich mehr als verdoppelt. Der US-Dollar war im August 2018 123 Rupien wert. Heute liegt er bei 279 Rupien. In der Zwischenzeit hat die nationale Unterdrückung verschiedene Gemeinschaften dazu veranlasst, gegen das Leid, das ihnen durch das mörderische kapitalistische System zugefügt wird, auf die Straße zu gehen. Belutschische Frauen haben eine massive Kampagne gegen die ihrer Meinung nach staatlichen Entführungen und außergerichtlichen Tötungen von belutschischen Männern und Jugendlichen ins Leben gerufen. In Gilgit-Baltistan eine Massenbewegung gegen die Streichung der Subventionen für Weizenmehl im Gange, während im pakistanisch verwalteten Kaschmir Millionen von Menschen sich weigern, ihre Stromrechnungen zu bezahlen. In Chaman, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Afghanistan, protestieren zahlreiche Menschen seit drei Monaten gegen diskriminierende Gesetze, die sich gegen die lokale paschtunische Bevölkerung (Achakzai) richten.

Nach außen hin ist Pakistan von Nachbarn wie Afghanistan, Indien und Iran umgeben, zu denen die Beziehungen von offener Feindseligkeit bis hin zu Verhärtungen reichen. Die jüngsten Eskalationen mit dem Iran sowie die Massenabschiebungen afghanischer Flüchtlinge haben Pakistan ins internationale Rampenlicht gerückt. China, der vermeintliche Freund Pakistans, tritt oft als Vermittler auf, wenn die Spannungen in der Region eskalieren. Es ist auch die imperialistische Macht, deren Einflussbereich auf Pakistan immer größer zu werden scheint, insbesondere durch den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC). Zugleich setzt sich die Unterordnung Pakistans unter die USA und andere westliche Mächte fort. Neben der Bindung an den IWF zeigt sich diese Unterordnung am deutlichsten in der drastischen Änderung der pakistanischen Haltung gegenüber Palästina. Während Pakistan den Staat Israel nicht anerkennt, hat der geschäftsführende Premierminister offen darüber gesprochen, wie der Frieden im Nahen Osten durch eine Zweistaatenlösung erreicht werden könnte, und ist damit in die Fußstapfen seiner saudischen Geldgeber getreten und hat den Weg für die Anerkennung des zionistischen Gebildes geebnet.

Prekäre Lage

Zudem ist die Sicherheitslage rund um die Wahlen prekär. Am 31. Januar wurde ein der Pakistan Tehreek-e-Insaf-Partei (PTI; Bewegung für Gerechtigkeit, Partei Imran Khans) nahestehender Kandidat bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Bajaur in Khyber Pakhtunkhwa erschossen. Am selben Tag kam es in Belutschistan zu zwei weiteren Zwischenfällen: Ein Mitglied der Awami-Nationalpartei (ANP) wurde während einer Wahlkampfveranstaltung der Partei in Chaman getötet, während fünf weitere Personen bei einem Granatenangriff auf das Wahlbüro der Pakistan Peoples Party (Pakistanische Volkspartei, PPP) in Quetta verletzt wurden. Am 30. Januar wurden bei einer Bombenexplosion auf einer PTI-Kundgebung im Verwaltungsdistrikt Sibi (Belutschistan) vier Menschen getötet und sechs weitere verletzt. Die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte sich zur Verantwortung dafür. Die Aktivitäten der belutschischen Aufständischen und die staatliche Repression gegen sie gehen ebenfalls weiter. Die Belutschische Befreiungsarmee (BLA) soll 15 Menschen getötet haben, während das Militär am 2. Februar erklärte, dass in den vergangenen drei Tagen bei Feuergefechten und Räumungsaktionen in den Städten Mach und Kolpur 24 „Terrorist:innen“ der BLA getötet worden seien. Das Ausmaß der Sicherheitsprobleme in Pakistan lässt sich an der Tatsache ablesen, dass es im Jahr 2023 bei 789 Terroranschlägen und Antiterroroperationen 1.524 gewaltbedingte Todesopfer und 1.463 Verletzte gab, darunter fast 1.000 Todesopfer unter Zivilist:innen und Sicherheitskräften. Trotzdem sollen die Wahlen abgehalten werden.

Die Wahl in Pakistan wird auch internationale Auswirkungen haben. Welche Partei auch immer an die Regierung kommt, wird den künftigen Kurs des Landes in Bezug auf Schlüsselfragen wie die Abhängigkeit des Landes vom imperialistischen Gendarmen IWF, die Neutralität oder deren Fehlen im Russland-Ukraine-Krieg, die Haltung gegenüber den großen Rivalen China und USA, gegenüber dem Iran, insbesondere vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts im Nahen Osten, und die Anerkennung des Staates Israel bestimmen. Pakistan könnte in dem sich zunehmend verändernden globalen Konflikt eine wichtige Rolle spielen, vor allem jetzt, da es Berichte gibt, dass die Saudis noch vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Militärabkommen mit den USA abschließen könnten, solange die Israelis bereit sind, die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung mündlich zu bestätigen. Pakistan ist eines der wenigen Länder, das weiterhin Handelsbeziehungen mit dem Iran unterhält. Eine US-freundliche Regierung in Pakistan könnte unter Druck gesetzt werden, den Iran weiter zu isolieren, um die amerikanisch-saudische Verflechtung in der Region zu stärken. Dies würde auch Auswirkungen auf den chinesischen Einfluss in Pakistan und der Region zeitigen.

Wenig Begeisterung für die Wahlen

Weniger als eine Woche vor dem Wahltag ist die Stimmung in Pakistan alles andere als wahlbewegt. Bei einer Bevölkerung von 270 Millionen werden schätzungsweise 120 Millionen zur Wahl gehen. Doch die Massen scheinen wenig begeistert zu sein. Die Parteien beklagen, dass sie aufgrund steigender Kosten nicht genug Geld haben, um in Wahlkampfaktivitäten zu investieren. Angriffe auf Wahlkundgebungen durch nichtstaatliche Akteur:innen, ein hartes Vorgehen gegen diejenigen, die in Ungnade gefallen sind (Imran Khan und seine Partei), und das mangelnde Vertrauen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in das Wahlsystem haben ebenfalls zu dieser gedämpften Stimmung beigetragen.

Ein großer Teil derjenigen, die Vertrauen in den Staat und seine Wahlpolitik hegen, ist unzufrieden mit der repressiven Behandlung von Khan und seiner Partei. In einem Eilurteil verurteilte ein Antikorruptionsgericht Khan am 31. Januar zu 14 Jahren Haft wegen illegalen Verkaufs von Staatsgeschenken, nur einen Tag, nachdem er in einem anderen Fall zu 10 Jahren Haft verurteilt worden war. Dies ist seine dritte Verurteilung in den letzten Monaten. In den letzten Tagen vor den Wahlen wurden er und seine Frau in einem weiteren Fall wegen „unrechtmäßiger Heirat“ verurteilt. Das Gericht hat entschieden, dass ihre Ehe unislamisch und illegal war, da die Frau die „Iddah“-Frist (Wartezeit) nach der Scheidung von ihrem früheren Ehemann nicht eingehalten und Imran Khan vor Ablauf der vorgeschriebenen Dreimonatsfrist geheiratet hat.

Der ehemalige Cricketstar wurde außerdem für 10 Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Seiner Partei wurde das Wahlsymbol entzogen, und eine Reihe von Parteiführer:innen wurde ausgeschlossen oder ihre Ernennungsunterlagen wurden abgelehnt. Diejenigen, die noch zu den Wahlen antreten können, müssen als Unabhängige kandidieren. Zwar ist keine dieser Taktiken neu, doch das Ausmaß der Repression ist für „demokratische Wahlen“ beispiellos. Der Zeitpunkt der Verurteilung Khans deutet auch darauf hin, dass die Wähler:innenschaft für seine Partei gestimmt hätte. Inzwischen ist Sharif, ebenfalls ein ehemaliger Premierminister, aus seinem luxuriösen Exil in London zurückgekehrt. Er wurde abgesetzt und abgelehnt, weil er beim militärischen Establishment in Ungnade gefallen war, als Khan deren Unterstützung genoss und an die Regierungsmacht kam. Heute ist Sharif der Favorit für das Amt des nächsten Premierministers, während seine Vorstrafen in den Papierkorb gewandert sind.

Alle etablierten Parteien haben in jedem Wahlzyklus ein ähnliches Schicksal erlitten. Dennoch schaffen sie es nie, sich gegen diese Umgangsmethode zusammenzuschließen. Und warum sollten sie auch? Schließlich liegt es in ihrem Interesse, das System aufrechtzuerhalten, das sich auf ein allmächtiges Militär stützt, das das Sagen hat, während diese nationalen Spitzenpolitiker:innen abwechselnd als ihre Marionetten fungieren. Die Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems zwingen sie dazu, sich irgendwann in ihrer Amtszeit gegen ihre Herr:innen in Uniform zu stellen, was dazu führt, dass Ausschlüsse und Entlassungen zur Routine zu werden scheinen. Man lasse sich aber nicht täuschen. Jedes Mal, wenn sich ein pakistanischer nationaler Bourgeois gegen die Streitkräfte stellt, ist dies darauf zurückzuführen, dass sie sich nicht einig sind über die Strategie zur Verteidigung der Interessen eines Teils der pakistanischen Kapitalist:innen. Meistens beruhen diese Spaltungen auf imperialistischen Rivalitäten. Verschiedene Teile des pakistanischen Kapitals sind mit verschiedenen globalen Mächten verbündet. Es geht immer darum, welcher Teil seinen Anteil am Kuchen bekommt, indem er seine Vorherrschaft durchsetzen kann. Doch für welche Seite sich ein:e Premierminister:in auch immer entscheidet, für die ausgebeuteten und unterdrückten Massen hat das wenig bis gar keine Auswirkungen. Die Kapitalfraktionen sind Bollwerke des neoliberalen Kapitalismus und Förder:innen der imperialistischen Enteignung. Das politische Programm einer jeden etablierten Partei basiert praktisch auf Privatisierung, Sparmaßnahmen, Inflation und Personalabbau. Insbesondere die PML-N und PTI sind Parteien des Großkapitals.

Und dann sind da noch die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die Armen des Landes, deren Leben sich unter dem erdrückenden Diktat des IWF, das sowohl die Regime von Nawaz als auch von Khan gerne akzeptiert hatten, nur verschlechtert hat. Diese Schichten haben aus ihren Erfahrungen gelernt, dass die Wahl für sie nichts ändern wird. Das Grundverständnis des Wahlmanifests der PML-N besteht darin, wie man im Interesse des Großkapitals regiert, indem man die Industrie effizient betreibt, die Exporte steigert und die Inflation als Ergebnis dieser wirtschaftlichen Entwicklung senkt. Die PPP von Bilawal Bhutto Zardari hat ein vergleichsweise „besseres“ Manifest vorgelegt, aber Bhutto entlarvte dessen Realität, indem er es als einen Traum bezeichnete. Jede PPP-geführte Regierung hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die Partei des neoliberalen Kapitalismus ist, die sich in einem leicht sozialdemokratischen Jargon präsentiert.

Was tun?

Die von Belutsch:innen bewohnten Bezirke des Punjab (Pandschab) und die Regionen Belutschistan, Kaschmir, Gilgit-Baltistan und Khyber Pakhtunkhwa haben sich gegen die wirtschaftliche und nationale Unterdrückung erhoben. Vor allem die Frauen der Belutsch:innen haben mit ihrem gefahrvollen Marsch von Turbat nach Islamabad ihr Bewusstsein unter Schichten der pandschabischen Massen verbreitet. Die Aufstände der Unterdrückten haben das Potenzial, den Widerstand in ganz Pakistan zu inspirieren. Alle politischen Parteien Pakistans haben gezeigt, dass sie Söldnerinnen des globalen Kapitalismus sind. Die Politik dieses Systems und die herrschenden Klassen, die die Show leiten, werden zunehmend entlarvt. Alle Herrscher:innen sind entblößt und abgelehnt. Wir sind zwar gegen das harte Vorgehen gegen die PTI, frönen aber gleichzeitig auch keinen Illusionen in diese Partei.

Deshalb brauchen wir eine Alternative aus der Arbeiter:innenklasse. Bei jeder Wahl mobilisiert die Bourgeoisie die plebejischen Massen, aber sie sorgt auch dafür, dass die politische Macht nicht mit ihnen geteilt wird. Auf diese Weise bleiben wir selbst bei sogenannten demokratischen Wahlen entrechtet, weshalb die vom IWF auferlegten Privatisierungen und Sparmaßnahmen unhinterfragt angenommen werden.

Während die Labour Qaumi Movement (LQM) ihre Kandidat:innen aufgrund technischer Probleme und rechtlicher Einschränkungen nicht aufstellen konnte, treten 45 Kandidat:innen anderer linker und fortschrittlicher Organisationen in verschiedenen Regionen zu den Wahlen an. Wir rufen Arbeiter:Innen, Gewerkschaften, Unterdrückte und alle linken, feministischen und fortschrittlichen Kräfte auf, für die Genoss:Innen der Barabri Party Pakistan, Awami Workers‘ Party, Haqooq-e-Khalq Party (HKP; vormals: Haqooq-E-Khalq Movement, HKM), Mazdoor Kisan Party und andere ArbeiterInnen- und fortschrittliche Organisationen zu stimmen, ohne deren im Wesentlichen reformistische Programme zu unterstützen. Gleichzeitig fordern wir diese Kandidat:innen auf, unmittelbar nach den Wahlen die folgenden Vorschläge aufzugreifen.

Wir rufen alle Arbeiter:innenorganisationen und fortschrittlichen Kräfte auf, eine Einheitsfront zu bilden, um sich auf die bevorstehenden Angriffe der nächsten Regierung vorzubereiten und dagegen zu kämpfen, die von der Auferlegung eines arbeiter:innenfeindlichen IWF-Programms und der Fortsetzung der Angriffe auf demokratische Freiheiten bis hin zur Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten und der Abschiebung und Diskriminierung von Flüchtlingen reichen werden. Wir rufen die Arbeiter:innenorganisationen auf, eine landesweite Arbeiter:innenkonferenz einzuberufen, um den Kampf gegen die nächste kapitalistische Regierung zu koordinieren.

Gleichzeitig betonen wir die Notwendigkeit, dass die Arbeiter:innenklasse über eine eigene Partei verfügt. Wir unterstützen die Schritte der Labour-Qaumi-Bewegung in diese Richtung, und dies muss mit Entschlossenheit fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht plädieren wir dafür, dass eine solche Partei eine revolutionäre Partei wird, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die Klassenkämpfer:innen in die Lage versetzt, sich den Herausforderungen des Kapitalismus zu stellen, die Kämpfe der Arbeiter:innenschaft und Unterdrückten zu vereinen und für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu kämpfen, die sich auf Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine Arbeiter:innen- und Volksmiliz stützt, die das Großkapital und die imperialistischen Unternehmen enteignet und einen Notfallplan einführt, der den Bedürfnissen der Massen und nicht den Profiten einiger weniger dient.




Pakistan: Solidarität mit dem langen Marsch der Belutsch:innen!

Shahzad Arshad, Infomail 1240, 26. Dezember 2023

In der Nacht zum 21. Dezember wurden die Teilnehmer:innen des Langen Marsches der Belutsch:innen gegen das Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen in Islamabad von den staatlichen Kräften gnadenlos angegriffen, als sie die Hauptstadt erreichten. Eine große Zahl von Student:innen, darunter Frauen und ältere Menschen, wurde verhaftet. Die Regierung setzte alles daran, die verhafteten Frauen mit Gewalt nach Quetta (Provinzhauptstadt Belutschistans) zu bringen. Die Belutschinnen, die den Marsch angeführt hatten, leisteten trotz aller Gewalt und Drohungen Widerstand. In Belutschistan, aber auch in anderen Gebieten mit Belutsch:innen, begannen Proteste und Sitzstreiks gegen die Gewalt auf dem Langen Marsch, die sich in Radblockaden und Streiks an den Türen entluden.

Im ganzen Land, auch in Belutschistan, fanden in Städten und Distrikten wie Turbat, Panjgur (Pangor), Gwadar, Khuzdar, Mastung, Dalbandin, Quetta, Kohlu, Dera Bugti, Sibi, Rakhni, Barkhan, Logistikzentrum Awaran, Karatschi, Bela, Taunsa, Dera Ghazi Khan, Lahore, Islamabad, Bahawalpur, Multan und vielen anderen Proteste aus Solidarität mit den Angegriffenen statt.

Diese Gewalt in Belutschistan hat die Proteste nicht gebrochen, sondern vielmehr den Geist und den Mut des Kampfes der Bevölkerung gestärkt und die Angst allmählich überwunden. In diesen Gebieten entsteht eine neue politische Realität, die die bestehende so genannte politische Ordnung ins Wanken bringt. In dieser Situation hat das Gericht die Freilassung einiger verhafteter Personen angeordnet. Auch die Regierung hat Verhandlungen aufgenommen, und deshalb wird die Jirga (Versammlung der traditionellen Anführer:innen der Community) auch dazu benutzt, den politischen Kampf zu kontrollieren, der sich in allen Gebieten der Belutsch:innen ausgebreitet hat.

Am Beginn dieses Kampfes stand die brutale Ermordung von Balach Baloch in Turbat unter Gewahrsam der CTD (Counter Terrorism Department = Abteilung zur Terrorismusabwehr). Aber diese Bewegung ist auch das Ergebnis und die Fortsetzung vieler ähnlicher Bewegungen, die in den letzten Jahren immer wieder von belutschischen Student:innen und Frauen in verschiedenen Städten organisiert worden sind. Es wurden auch Solidaritätskomitees gebildet. Dadurch konnte die Angst in der belutschischen Bevölkerung überwunden werden, die der Staat durch schwere Zwangsgewalt, Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen und verstümmelte Leichen erzeugt hatte.

Es wurde eine Untersuchung gegen diejenigen eingeleitet, die der Ermordung von Balach Baloch beschuldigt werden, und anscheinend ist eine der Forderungen des Langen Marsches akzeptiert worden, aber die Hauptforderung des Langen Marsches ist derzeit die Beendigung der staatlichen Politik des gewaltsamen Verschwindenlassens und die Wiederkehr der so Verschwundenen. Dies ist eine legitime Forderung, die die gesamte Bevölkerung unterstützt und für die sie kämpft und die derzeit vom Langen Marsch unter der Schirmherrschaft des Belutsch:innen-Solidaritätskomitees unter der Leitung von Mahrang Baloch und anderen Aktivistinnen vertreten wird.

Die Haltung der staatlichen Institutionen gegenüber dem Langen Marsch hat die Politik des Staates gegenüber der Nation der Belutsch:innen verdeutlicht. Die Struktur des pakistanischen Staates basiert auf internem Kolonialismus, der diesem seine elementaren demokratischen Rechte verweigert hat. Was den Marsch angeht, hat sich der Staat verkalkuliert. Die Behörden wussten nicht, dass dieser eine so große Bewegung unter den Belutsch:innen auslösen würde, die trotz aller Gewalt, Verhaftungen und Einschränkungen nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Mit brutaler Gewalt wurde versucht zu verhindern, dass sich immer mehr Menschen dem Langen Marsch anchließen, bei dem auch belutschische Frauen, Mädchen und ältere Menschen verhaftet wurden.

Darüber hinaus wurden mehr als dreihundert Student:innen verhaftet, von denen bisher nur 167 wieder freigelassen wurden. Darüber hinaus sind mehrere Studierende bei der Niederschlagung des Langen Marsches gewaltsam „verschwunden“. Die Teilnehmer:innen des Langen Marsches protestieren derzeit vor dem Nationalen Presseclub in Islamabad. Sie haben deutlich gemacht, dass sie zu noch entschlosseneren Maßnahmen gezwungen sein werden, wenn die Student:innen nicht freigelassen werden oder noch mehr von ihnen gewaltsam verschwinden.

Der Lange Marsch, der vom Belutsch:innen-Solidaritätskomitee initiiert wurde, kam nach Islamabad in der Hoffnung, dass er den Staat unter dem Druck ihres Kampfes zwingen würde, seine Politik zu ändern und mehr vorgetäuschte Zusammenstöße und gewaltsames Verschwindenlassen zu beenden. Diese sollten gestoppt werden und die Nation der  Belutsch:innen sollte ihre demokratischen Rechte erhalten, damit sie über ihr eigenes Schicksal entscheiden kann. In diesem Sinne sollte der Lange Marsch einen erfolgreichen Kampf für seine Ziele fortsetzen.

Der Lange Marsch wird in großem Umfang von anderen unterdrückten Nationen unterstützt, darunter die PTM (Paschtunische Tahafuz-Bewegung) und andere Organisationen unterdrückter Ethnien. Zum ersten Mal hat der Lange Marsch in begrenztem Umfang Unterstützung im Punjab erhalten, und das Leiden des belutschischen Volkes und sein Schmerz sind spürbar. PTM, das Belutsch:innen-Solidaritätskomitee und die Parteien und Organisationen der Linken haben die Verantwortung, den Kampf der Belutsch:innen nicht nur zu unterstützen, sondern eine Einheitsfront zu bilden und diesen Kampf zur Arbeiter:innenklasse zu tragen. Es gilt, diesen demokratischen Kampf zu verbreiten und den Staat zu zwingen, die Serie des Verschwindenlassens und des Völkermordes zu beenden und dem Volk der Belutsch:innen volle demokratische Rechte zu gewähren.




Pakistan: Solidarität mit den afghanischen Flüchtlingen und Massenprotesten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 20. November 2023

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele der 1,7 Millionen sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung.

Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und der Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung miserabel gemacht hat. Sie erkennen, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Darüber hinaus will die Regierung paschtunische Führer:innen und Händler:innen dazu zwingen, künftig Grenzkontrollen durchzuführen. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und lokalen Stämmen soll gezwungen werden, Pässe und Visa auszustellen. Doch zumindest bisher haben sie diese Anordnungen abgelehnt. Derzeit beteiligen sich Bauern und Bäuerinnen, Händler:innen, Stammesführer:innen und berufstätige Paschtun:innen verschiedener politischer Parteien an diesem Protest und lehnen die Regierung und ihre Politik ab.

Die Demonstrant:innen lehnen die Zwangsvertreibung von afghanischen Flüchtlingen ab und fordern, dass die Regierung diese unmenschliche Politik zurücknimmt und das Leben der afghanischen Flüchtlinge nicht noch härter und ärmer macht. Ihre Vertreibung wird alles zerstören, was sie in harter Arbeit ein Leben lang und über Generationen hinweg aufgebaut haben. Zurück in Afghanistan gibt es nichts für sie und viele sind ernsthaften Bedrohungen durch das Regime ausgesetzt.

Die geschäftsführende Regierung von Anwaar-ul-Haq Kakar will von der Krise des Systems, der grassierenden Inflation und der Energieknappheit ablenken. Sie macht die Afghan:innen für den Mangel an Ressourcen verantwortlich. Deshalb werden die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt und der Rassismus gegen sie wird angeheizt. In der Tat wird die Bewegungsfreiheit aller Menschen ohne Pass an der Grenze von Chaman in Zukunft vollständig unterbunden.

Der Grenzhandel ist auch in Belutschistan zu einem ernsten Problem geworden. Dort ist die Beschäftigung und der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen damit verbunden. Die Politik der pakistanischen Regierung vernichtet diese im Interesse des Großkapitals.

Diejenigen, die bereits Opfer der vom Imperialismus und dem Staat aufgezwungenen Marginalisierung und des Krieges sind, werden um alles gebracht. Daher liegt es in der Verantwortung der Arbeiter:Innen im ganzen Land, auch in Belutschistan, sich mit den afghanischen Flüchtlingen zu solidarisieren. Die pakistanischen Gewerkschaften müssen die Massensitzstreiks und Proteste an den Grenzen unterstützen. Sie müssen in Solidaritätsmobilisierungen und Streiks mit ihren afghanischen Brüdern und Schwestern auftreten und sich in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Abschiebungen, für das Recht aller Flüchtlinge, in Pakistan zu leben und zu arbeiten, und gegen die Inflation, die staatlichen Kürzungen, die Diktate des Internationalen Währungsfonds und die kapitalistische Krise, die die wahre Ursache für das Elend der pakistanischen Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der afghanischen Flüchtlinge sind, vereinen.

Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Sie müssen Proteste und Kundgebungen in verschiedenen Ländern organisieren und Solidaritätsbotschaften an die Protestierenden senden!




Pakistan: Stoppt den rassistischen Krieg gegen afghanische Flüchtlinge!

Minerwa Tahir, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Am 1. Oktober stellte die pakistanische Regierung schätzungsweise 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen, von denen viele vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen sind, ein Ultimatum, innerhalb eines Monats die Landesgrenzen zu verlassen. Denjenigen, die dies nicht tun würden, drohten Haft und Abschiebung. Bis zum 9. Oktober hatten die Behörden der Provinz Sindh bereits 1.700 Afghan:innen, die sich „illegal“ in Karatschi aufhielten, festgenommen. Die Entscheidung wurde in einer Sitzung des Apex-Komitees (des Nationalen Aktionsplans) unter der Leitung des geschäftsführenden Premierministers Anwar ul Haq Kakar getroffen, an der u. a. der Generalstabschef der Armee, General Asim Munir, Bundesminister:innen und die Ministerpräsident:innen der Provinzen teilnahmen.

Die Regierung beschloss, dass für den Grenzverkehr zwischen Pakistan und Afghanistan Pässe und Visa erforderlich sind und die elektronischen afghanischen Personalausweise, die so genannten E-Tazkiras, nach dem 31. Oktober nicht mehr akzeptiert werden. Nach Ablauf dieser Frist würde eine Operation beginnen, die sich gegen illegale Immobilien und Unternehmen richtet, die Migrant:innen gehören oder in Zusammenarbeit mit pakistanischen Staatsangehörigen betrieben werden. Offensichtlich hat die Regierung die Frist nicht abgewartet und mit Maßnahmen gegen eine bereits vertriebene Bevölkerung begonnen.

Die Lage in Afghanistan

In Afghanistan hat die Übernahme von Kabul durch die Taliban nach dem Abzug der US-geführten Truppen im August 2021 die ohnehin schon große Instabilität und Gewalt im Land noch verstärkt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mindestens 8,2 Millionen Afghan:innen durch Konflikte, Gewalt und Armut vertrieben worden und haben in 103 verschiedenen Ländern Zuflucht gesucht. Nach Syrer:innen und Ukrainer:innen stellen die Afghan:innen die drittgrößte vertriebene Bevölkerungsgruppe der Welt. Pakistan und der Iran beherbergen derzeit die größte Zahl der Vertriebenen. Im Gegensatz zu den ukrainischen Flüchtlingen ist diese Lebensweise für die afghanischen nicht neu, da ihre Region seit vier Jahrzehnten von Konflikten und Instabilität geprägt ist. Hunger, Auszehrung und Menschenrechtsverletzungen nehmen zu.

Im Jahr 2023 sind 20 Millionen Afghan:innen von akutem Hunger bedroht, wobei 6 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt sind. Eine Rekordzahl von 28,3 Millionen Bewohner:innen benötigt im Jahr 2023 humanitäre Hilfe und Schutz, was einen drastischen Anstieg gegenüber 24,4 Millionen im Jahr 2022 und 18,4 Millionen Anfang 2021 darstellt. In Afghanistan hat die Verschuldung zugenommen, sowohl was die Zahl der verschuldeten Personen (82 Prozent aller Haushalte) als auch die Höhe der Schulden (etwa 11 Prozent mehr als im Vorjahr) betrifft. Darüber hinaus hat die fundamentalistische Regierung dafür gesorgt, dass Afghanistan für niemanden mehr eine Heimat ist, der/die seinen/ihren Töchtern das gleiche Leben wie seinen/ihren Söhnen bieten möchte. Erschwerend kommt hinzu, dass Naturkatastrophen ihren Teil zum Elend beigetragen haben. Im Juni 2022 wurden bei dem schwersten Erdbeben, das das Land in den letzten 20 Jahren heimgesucht hat, mindestens 1.000 Menschen getötet und viele weitere verletzt. In diesem Jahr sind bereits über 2.400 Einwohner:innen ums Leben gekommen, und viele weitere sterben noch immer, da der Westen Afghanistans von einem weiteren schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Man würde erwarten, dass die Berichte über die erneut zu Tausenden vertriebenen Afghan:innen die Haltung der pakistanischen Regierung, wenn auch nur vorübergehend, aufweichen würden. Doch nichts davon ist geschehen. Obwohl die Vereinten Nationen das Regime in Islamabad dringend aufforderten, die Risiken einer Zwangsrückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan zu bedenken, hielt die pakistanische Regierung an ihrer Entscheidung fest. Während die pakistanischen Beweggründe für sich genommen reaktionär sind, verfolgen die imperialistischen Staaten, die die UNO dominieren, ihre eigenen Ziele, wenn sie Pakistan drängen, die Afghan:innen zu behalten. Schließlich will keines der imperialistischen Zentren afghanische Flüchtlinge aufnehmen, die vor den Folgen eines jahrzehntelangen Krieges fliehen, für den diese Staaten direkt verantwortlich sind.

Die Argumentation der pakistanischen Regierung und die Reaktion der Taliban

Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind rund 1,3 Millionen Afghan:innen als Flüchtlinge in Pakistan registriert und weitere 880.000 verfügen über einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Regierung behauptet jedoch, dass sich weitere 1,73 Millionen aus dem Nachbarland illegal in Pakistan aufhalten. Nach Angaben des Innenministers der geschäftsführenden Regierung, Sarfraz Bugti, beläuft sich die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan auf insgesamt 4,4 Millionen. Er erklärte, die Regierung habe die Entscheidung, afghanische Flüchtlinge auszuweisen, angesichts der zunehmenden Angriffe militanter Islamisten getroffen.

Die Ausweisungen sollen in mehreren Phasen erfolgen. „In der ersten Phase werden illegal ansässige Personen, in der zweiten Phase solche mit afghanischer Staatsbürgerschaft und in der dritten Phase mit nachgewiesener Aufenthaltsgenehmigung ausgewiesen“, heißt es in dem Bericht, der hinzufügt, dass diese Ausländer:innen „eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit Pakistans darstellen“.

Bugti erklärte, dass „das Wohlergehen und die Sicherheit eines/r Pakistaner:in für uns wichtiger sind als jedes andere Land oder dessen Politik. Die erste Entscheidung, die wir getroffen haben, betrifft unsere illegalen Einwanderer:innen, die sich auf illegale Weise in Pakistan aufhalten. Wir haben ihnen eine Frist bis zum 1. November gesetzt, um freiwillig in ihre Länder zurückzukehren, und wenn sie das nicht tun, werden alle Strafverfolgungsbehörden des Staates und der Provinzen sie abschieben.“ Bugti fügte hinzu, dass die Einreise ohne Pass oder Visum in kein anderes Land der Welt erlaubt sei.

Die Regierung teilte außerdem mit, dass eine universelle Notrufnummer und ein Webportal eingerichtet werden, über die Bürger:innen anonym Informationen über illegale Ausweise, illegale Migration und andere illegale Praktiken wie Schmuggel und Horten von Geld weitergeben können. Im Rahmen eines solchen Programms würden auch Belohnungen für diese Denunziation festgelegt werden. Man kann sich gut vorstellen, was für eine rassistische Katastrophe dies in einem Land wäre, in dem die meisten mit hungrigen Mägen schlafen! Es könnte außerdem auch dazu benutzt werden, persönliche Rechnungen zu begleichen.

Bugti behauptete, dass seit Januar 24 Selbstmordattentate verübt wurden, davon 14 von afghanischen Staatsangehörigen, darunter die jüngsten Anschläge auf eine Polizeistation und die dazugehörige Moschee im Distrikt Hangu in Khyber-Pakhtunkhwa, bei denen fünf Menschen getötet wurden, sowie die Explosion in einer Moschee in Peschawar auf einem Hochsicherheitsgelände, auf dem sich u. a. das Hauptquartier der Provinzpolizei und eine Abteilung für Terrorismusbekämpfung befinden, bei der 59 Menschen getötet wurden.

Am nächsten Tag schrieb der Pressesprecher der afghanischen Taliban, Zabiullah Mudschahid, auf X (früher: Twitter), dass Pakistans Verhalten „gegen afghanische Flüchtlinge inakzeptabel“ sei. Er fügte hinzu: „Die pakistanische Seite sollte ihren Plan noch einmal überdenken. Die afghanischen Flüchtlinge sind nicht in die Sicherheitsprobleme Pakistans verwickelt. Bis sie Pakistan freiwillig verlassen, sollte das Land sie tolerieren.“

Auch die Vereinten Nationen stellen sich nicht hinter die pakistanische Regierung. Sie haben angeboten, Pakistan bei der Einrichtung eines Systems zur Überwachung und Erfassung von Personen, die innerhalb seiner Grenzen internationalen Schutz suchen, zu unterstützen und „spezifische Schwachstellen“ zu beseitigen. Inzwischen haben Afghan:innen berichtet, dass sie wahllos verhaftet werden.

Warum jetzt?

Jahrelang hat Pakistan die Taliban als beste Option für Pakistan als Herrscher Afghanistans favorisiert, aber die Beziehungen haben sich in den letzten Jahren abgenutzt. Der Hauptvorwurf des pakistanischen Staates lautet, dass die Islamisten, die den pakistanischen Staat bekämpfen, ihre Operationen von afghanischem Boden aus durchführen, wo ihre Kämpfer ausgebildet und Anschläge in Pakistan geplant werden. Die Taliban bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, dass Pakistans Sicherheitsprobleme hausgemacht sind. Unterdessen hat die Tehrik-i-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban; TTP), eine sunnitische militante Hardlinergruppe, ihren Waffenstillstand mit der pakistanischen Regierung im November letzten Jahres beendet.

Seitdem hat die Gewalt in Pakistan einen ungewöhnlichen Aufschwung erlebt. Tatsache ist, dass alle Akteure in der Region, seien es die Halbkolonien wie Pakistan, Indien, Afghanistan und Iran oder imperialistische Mächte wie die USA, Russland und China, häufig die eine oder andere islamistische oder anderweitig militante Gruppe in der Region unterstützen. Es ist ein offenes Geheimnis, denn die Führer:innen fast aller Länder haben dies zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegeben. Das Problem besteht darin, dass a) die gesamte Bevölkerung eines Landes in einen Topf geworfen wird und b) diese Zugehörigkeiten nur zu bestimmten Zeitpunkten zum Problem geraten, nämlich dann, wenn sie lästig werden.

Pakistan wird derzeit von einer geschäftsführenden Regierung verwaltet, die seit August im Amt ist, um die bevorstehenden Wahlen zu überwachen. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, die in Pakistan herrscht, konnte das Militär in der gegenwärtigen Situation noch mehr Einfluss als üblich ausüben. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und seine Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Covidpandemie, die Überschwemmungen von 2022, die allgemeine Verschuldung bei den imperialistischen Gendarmen IWF und Weltbank und deren neoliberales Diktat, eine abwertende Währung und ein allgemeiner Anstieg der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Terroranschläge sind alles Faktoren, die die Massen des verarmten Landes in einen Zustand schweren Leidens und Aufruhrs versetzt haben.

Selbst die Mittelschicht kämpft ums Überleben, da Lebens- und Grundnahrungsmittel unerschwinglich und unzugänglich geworden sind. In dieser Situation liegt es im Interesse der herrschenden Klassen, die Massen vom Klassenkampf abzulenken, der der Kern ihres Leidens ist, und sie in eine fremdenfeindliche Kampagne gegen ein leichtes Ziel zu verwickeln. Afghan:innen sind seit langem in der pakistanischen Region präsent. Historisch gesehen gab es während der Kolonialzeit viele Bewegungen auf der Suche nach Arbeit. Aufgrund des imperialistischen Krieges und des damit verbundenen Leids nahm diese Bewegung um ein Vielfaches zu. Pakistan war einer der Hauptakteure im so genannten Krieg gegen den Terror und erhielt zudem massive Finanzmittel von den imperialistischen Mächten. Das Mindeste, was es dann tun sollte, war die Aufnahme von Tausenden, die vor Verfolgung und Krieg flohen. Nach dem 11. September kamen afghanische Flüchtlinge massenhaft nach Pakistan und stützten sich dabei auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen über die poröse, gebirgige Grenze.

Heute leben sie zumeist entweder als Kleinunternehmer:innen – vor allem als Betreiber:innen von Teeläden und als Leiter:innen von Bustransitstrecken neben anderen ähnlichen Berufen – oder als Gelegenheitsarbeiter:innen oder als obdachlose Bettler:innen. Inzwischen hat auch eine Reihe von Angehörigen der Intelligenz in Pakistan Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, dass imperialistische Mächte wie das Vereinigte Königreich und Deutschland ihre Versprechen einlösen und ihnen, auf pakistanischem Boden angelangt, Visa gewähren würden. Angesichts der Tatsache, dass Afghan:innen in der Vergangenheit keinen Teil des Großkapitals in Pakistan ausmachten, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute der Sündenbock für eine herrschende Klasse sind, die darum kämpft, so zu herrschen, wie sie früher herrschte.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die pakistanische Wut gegenüber Afghanistan ist der Transithandel durch Pakistan. Laut der Tageszeitung Dawn „wurde der afghanische Transithandel schon immer von Händler:innen beider Länder zum Schmuggel missbraucht. Berichten zufolge werden Transitladungen oft von den Häfen direkt auf pakistanische Märkte umgeleitet, bevor sie die Grenze überqueren.“ Der Leitartikel fügt hinzu, dass der Wert dieses afghanischen Transithandels von vier Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf 6,7 Milliarden in diesem Jahr gestiegen ist und der Wert der im Rahmen der Transitfracht geschmuggelten Güter um 63 Prozent auf 3,7 Milliarden zugenommen hat. Da die pakistanische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist Pakistan natürlich nicht glücklich über die Milliarden, die der afghanische Handel angeblich eingebracht hat.

Der vielleicht wichtigste Grund ist jedoch, dass der pakistanische Staat gehofft hatte, Afghanistan auf der geopolitischen Ebene in seinem Einflussbereich zu halten, und nun die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge als Strafmaßnahme gegen seinen widerspenstigen Nachbarn einsetzt, von dem er befürchtet, dass er mit einem Bein in Indiens Boot sitzt. Die wachsende Annäherung Afghanistans an Indien hat in Pakistan einen saueren Beigeschmack hinterlassen. Das von den Taliban beherrschte Afghanistan hat den Kaschmirkonflikt als bilaterale Angelegenheit zwischen Indien und Pakistan bezeichnet und zu den Gräueltaten in dem überwiegend muslimischen Tal geschwiegen. In diesem Jahr lieferte Indien über den iranischen Hafen Tschahbahar am Golf von Oman 20.000 Tonnen Weizen in das eingeschlossene Land, das mit einer extremen Nahrungsmittelkrise zu kämpfen hat, gefolgt von 40.000 Tonnen, die im vergangenen Jahr über die pakistanischen Landwege verschickt wurden. Indien schickte auch medizinische Hilfsgüter nach Afghanistan und hat auch sein diplomatisches Engagement gegenüber der Talibanregierung fortgesetzt und seine Botschaft in Kabul wiedereröffnet. Indien hat in seinem Haushalt 2023-24 25 Millionen US-Dollar für Entwicklungshilfe für Afghanistan vorgesehen, was von den Taliban begrüßt wird.

Es versteht sich von selbst, dass die islamfeindliche Hindutva-Regierung in Delhi eine ausgewogene Nähe zur islamistisch-fundamentalistischen Regierung in Kabul in erster Linie auf der Grundlage regionaler Interessen pflegt. (Dies wird umso deutlicher, wenn man sieht, wie Indien nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht nur keine Visa mehr an afghanische Student:innen ausstellt, sondern am 25. August 2021 auch die Visa derjenigen annullierte, die zwar ein Visum erhalten hatten, sich aber nicht in Indien aufhielten.) Bei diesen Interessen geht es nicht nur darum, den Einflussbereich Pakistans auszuschalten, sondern vor allem auch den des weitaus stärkeren Rivalen China. Chinas Botschafter in Kabul, Zhao Xing, wurde im vergangenen Monat von den Taliban sehr herzlich empfangen, und beide Länder haben den gegenseitigen Wunsch nach engeren Beziehungen, vor allem geschäftlichen, geäußert. Dies bedroht Indiens Investitionen in Afghanistan, die es während der Herrschaft der Marionettenregierung von Aschraf Ghani getätigt hatte, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Indien sich so aufführen musste, dass es die Islamophobie beiseiteschob und mit Kabul über Geschäfte sprechen musste.

Dennoch zeigt sich Islamabad nicht begeistert. Es ist sich auch bewusst, dass die Wirtschaft Afghanistans mit seiner international immer noch nicht anerkannten Regierung, den eingefrorenen Vermögenswerten, der hungerähnlichen Situation und der hohen Verschuldung die Last der Rückkehr von einer Million Flüchtlingen nicht tragen könnte. Das zeigt auch die Reaktion des Talibansprechers auf die Entscheidung aus Pakistan.

Was das für afghanische Flüchtlinge bedeutet

Die Schikanen gegenüber afghanischen Flüchtlingen sind in Pakistan nichts Neues, sie tragen jetzt nur einen rechtlichen Deckmantel. Am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, forderte Amnesty International die pakistanische Regierung auf, die willkürliche Verhaftung und Schikanen gegen afghanische Flüchtlinge und Asylsuchende einzustellen. Nach der Machtübernahme der Taliban floh eine große Zahl von Flüchtlingen nach Pakistan. Angaben von Amnesty International zufolge kamen viele von ihnen mit regulären Visa nach Pakistan, die inzwischen abgelaufen sind (und um sie zu verlängern, müssen sie erneut nach Afghanistan einreisen), und wegen erheblicher Verzögerungen im Registrierungsverfahren sind die meisten nicht im Besitz einer „Registrierungsachweiskarte“, dem Ausweis, der afghanische Flüchtlinge zu einem regulären Aufenthalt in Pakistan berechtigt. Neben der Beteuerung freundschaftlicher nachbarschaftlicher Beziehungen, um seinen Einflussbereich zu erweitern, hat Pakistan diese Flüchtlinge wahrscheinlich auch in der Hoffnung auf internationale Hilfe aufgenommen.

Seit ihrer massenhaften Ankunft im August 2021 sind die Afghan:innen nicht nur Schikanen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, sondern auch Erpressung und Arbeitslosigkeit. Ohne Dokumente, mit denen sie ihren Rechtsstatus nachweisen können, ist es für die Behörden leichter, nach oder unter Androhung einer willkürlichen Verhaftung Geld von ihnen zu erpressen. Ebenso führt das Fehlen von Dokumenten dazu, dass sie in schlecht bezahlten prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen, da eine formelle Beschäftigung keine Option ist. Ohne einen Registrierungsnachweis können sie keine Bankkonten einrichten oder ihre SIM-Karten registrieren lassen. Auch Vermieter:innen und Immobilienmakler:innen nutzen das Fehlen eines Nachweises über ihren regulären Status aus.

Die Verlängerung eines abgelaufenen Visums bedeutet, dass die Afghan:innen erneut nach Afghanistan einreisen müssen, um ein neues zu erhalten. Für viele, insbesondere Frauen und geschlechtliche Minderheiten, Journalist:innen, Aktivist:innen, Schiit:innen, Musiker:innen und fortschrittliche Menschen, ist dies keine Option. Daher haben sie sich dafür entschieden, unterzutauchen und in Pakistan ein Leben in prekären Verhältnissen zu führen.

Da Pakistan die Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 nicht angenommen hat, das laut der in Karatschi ansässigen Anwältin Moniza Kakar „Staaten daran hindert, Menschen zu bestrafen, die illegal in ein Land einreisen“, kann es sich auf das inländische Ausländergesetz von 1946 berufen, um Afghan:innen, die sich illegal in Pakistan aufhalten, zu bestrafen und auszuweisen. Offensichtlich steckt Pakistan immer noch in der Barbarei der Kolonialzeit fest!

In ganz Pakistan, vor allem aber an den Gerichten Sindhs, herrscht die Meinung vor, dass Afghan:innen keine humanitäre Hilfe verdienen, weil sie „Kriminelle“ sind und in „terroristische Aktivitäten“ verwickelt. Dieses rassistische Schema gilt nicht nur für Afghan:innen, auch ihre paschtunischen Cousin:innen werden nicht verschont. Die Motivation für die Ermordung von Naqeebullah Mehsud, die die Pashtun Tahaffuz Movement (Bewegung zum Schutz der Paschtun:innen) ausgelöst hat, war genau dieselbe. Diese rassistische Diskriminierung und Feindseligkeit ist in allen pakistanischen Einrichtungen weit verbreitet – in Krankenhäusern, an Schulen, Hochschulen und Universitäten, am Arbeitsplatz, in den Stadtvierteln, vor Gericht und auf den Polizeistationen.

Deshalb müssen wir gegen alle derartigen Ressentiments ankämpfen. Afghan:innen, die vor der reaktionären Talibanregierung Asyl suchen, haben keinen Grund, sich in Selbstmordwesten in die Luft zu sprengen. Sie sind Opfer von Verfolgung und fliehen aus ihrer Heimat, um Zuflucht und Schutz zu finden. Die Vorstellung, dass sie ihre Heimat nur verlassen haben, um Pakistan bombardieren zu können, ist bizarr. Das Leid der großen Mehrheit der vertriebenen Afghan:innen, die erst durch den imperialistischen Krieg in ihrem Land, dann durch die Taliban und jetzt durch Pakistan und andere Aufnahmeländer bestraft wurden, muss jetzt ein Ende haben. Länder wie Deutschland haben auch nicht gerade eine andere Rolle gespielt. Die Dringlichkeit, die bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge an den Tag gelegt wurde, fehlte eindeutig im Fall der Afghan:innen. Das Verfahren, um Flüchtlinge von dort über Pakistan nach Deutschland zu bringen, war von vornherein so mühsam und kompliziert, wie für Migrant:innen mit muslimischem Hintergrund fast alles ist, was die Einwanderungsbürokratie betrifft. Bei anderen imperialistischen Ländern liegt der Fall nicht viel anders.

Aufgaben und Forderungen

Der pakistanische Staat sieht sich selbst als Fackelträger islamischer Prinzipien und ist gekränkt, wenn Muslim:innen in Palästina oder Indien leiden müssen. Interessant ist jedoch, dass diese Sichtweise nicht auf die große Mehrheit der Muslim:innen in Afghanistan angewandt wird.

Kurz gesagt, die afghanischen Flüchtlinge befinden sich in einem ähnlichen Dilemma wie die Menschen im Gazastreifen heute. Sie können nirgendwo hin. Außerdem will sie kein Land aufnehmen, und die meisten von ihnen können einfach nicht in ihr Heimatland zurückkehren, solange die Taliban an der Macht sind. Die Aufgaben, die sich aus der gegebenen Situation für die Sozialist:innen ergeben, sind daher zweifach. Wir haben nicht nur die Pflicht, das Recht der armen afghanischen Flüchtlingsfamilien zu verteidigen, in den Nachbarländern zu bleiben, d. h. in Pakistan, China, Indien, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sowie in Europa, Nordamerika und Australien.

Wir stehen auch vor der Aufgabe, unseren fortschrittlichen Brüdern und Schwestern, insbesondere den mutigen Frauen in Afghanistan, internationale Solidarität und praktische Unterstützung zu gewähren, damit sie das reaktionäre Regime der Taliban stürzen können. Für eine solche Unterstützung ist es notwendig, die Grenzen nicht zu verstärken, sondern abzubauen. Das liegt auch im Interesse der werktätigen Massen in allen Nachbarländern Afghanistans. Der Schlachtruf für die Verwirklichung dieser permanenten Revolution wird lauten: „Sagt es laut, sagt es deutlich, alle Afghan:innen sind hier willkommen“. Die folgenden Forderungen können einen Ausgangspunkt für ein Aktionsprogramm zur Überwindung der gegenwärtigen Situation bilden:

  • Afghan:innen müssen in jedem Land, in dem sie sich aufhalten, die gleichen Bürger:innenrechte erhalten! Nein zur Diskriminierung von Flüchtlingen, die durch imperialistischen Krieg, Hunger und Talibanherrschaft vertrieben wurden!

  • Die europäischen und nordamerikanischen imperialistischen Zentren, die jahrzehntelang direkt in den Krieg in Afghanistan verwickelt waren, haben das Leben und die Infrastruktur in Afghanistan massiv zerstört. Sie müssen jetzt Reparationen zahlen, um das Land wieder aufzubauen!

  • Die imperialistischen Mächte müssen allen Afghan:innen, die in der ganzen Welt vertrieben wurden, sofort die Staatsbürger:innenschaft und gleiche Rechte gewähren! Sie haben es nicht verdient, ein Leben im Elend in halbkolonialen Slums zu führen, nachdem sie durch Kriege vertrieben wurden, die diese Mächte selbst verursacht und von denen sie profitiert haben!

  • Die imperialistischen Mächte, die die afghanischen Reserven eingefroren haben, sind direkt für das Aushungern der afghanischen Massen verantwortlich. Gebt die Reserven der afghanischen Zentralbank jetzt frei!

  • Verschuldung ist eine koloniale Falle. Streicht die Schulden von Afghanistan, Pakistan und allen halbkolonialen Ländern jetzt!



Zehntausende bei LQM-Bewegung für Arbeiter:innenrechte – Vorwärts zu einer Arbeiter:innenpartei in Pakistan!

Khaliq Ahmad, Infomail 1228, 24. Juli 2023

Die pakistanische Regierung hat die gesamte Last auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen in Stadt und Land abgewälzt, um das Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF) wiederzubeleben. Die Verbraucher:innenpreisinflation in Pakistan hat derzeit den höchsten Stand in der Geschichte erreicht. Nach offiziellen Angaben stieg sie im März auf 35,4 %, was vor allem auf die in die Höhe geschnellten Kosten für Lebensmittel, Strom, Getränke und Transport zurückzuführen ist.

Die Lohnerhöhungen im jüngsten Haushalt liegen unter dem aktuellen Inflationsniveau,

Die Unternehmen in der Privatwirtschaft weigern sich sogar, diese zu erhöhen, und die Arbeiter:innen müssen jedes Jahr einen organisierten Kampf führen, um wenigstens ihre Verluste auszugleichen. Das jüngste IWF-Abkommen im Wert von 3 Milliarden US-Dollar wird die Situation für die Lohnabhängingen, die Bäuer:innen und die Armen noch verschlimmern, da es Kürzungen der Subventionen für grundlegende Konsumgüter, weitere Privatisierungen und Senkungen der öffentlichen Ausgaben fordert.

Kampagne

Als Reaktion auf diese Situation startete die LQM (Labour Qaumi Movement) Anfang Juni eine Kampagne für höhere Löhne und zu den Problemen am Arbeitsplatz. Vor der Konferenz für Rechte der arbeitenden Bevölkerung am 18. Juni fanden zehn Kundgebungen und zahlreiche Versammlungen unter freiem Himmel in den Arbeiter:innenvierteln und an Arbeitsplätzen statt.

Im Rahmen dieser Kampagne sprach die LQM Zehntausende von Arbeiter:innen an und organisierte sie, darunter eine große Zahl von Heimarbeiter:innen. Auf den Kundgebungen und an den Straßenecken sprachen sie über die Probleme, vor denen Millionen stehen. Sie luden sie ein, sich der LQM anzuschließen, um gemeinsam gegen Inflation, Kürzungen und das IWF-Paket zu kämpfen und zu erklären, warum nicht nur Gewerkschaften und lokale Aktionskomitees braucht, sondern auch eine eigene Partei der Arbeiter:innenklasse. Eine Partei, die sich in die täglichen Kämpfe einmischt, die Wahlen nutzt, um die unabhängige Stimme der Lohnabhängigen zu erheben, und die ihre gesamte Tätigkeit mit dem Kampf gegen das System verbindet. Die Haltung der Arbeiter:Innen gegenüber dem Aufbau der LQM und ihrer 2022 gestarteten Initiative zum Aufbau einer Partei der Arbeiter:innenklasse ist sehr positiv.

Diese Kampagne ist insofern von Bedeutung, als sie sich nicht nur auf eine für Lohnerhöhungen beschränkt, sondern auch die Fragen der Politik und der Partei der Arbeiter:innenklasse in den Vordergrund rückt, mit denen sie  seit Jahrzehnten konfrontiert ist. In Ermangelung einer nennenswerten politischen Organisation, die unter den Lohnabhängigen verwurzelt ist, waren die Klasse und ihre potenziellen Verbündeten – Kleinbäuer:innen, städtische und ländliche Arme, Student:innen und Unterdrückte – den verschiedenen Parteien der herrschenden Klasse oder des Kleinbürger:innentums politisch untergeordnet. Diese politische Schwäche wird in Zeiten der Krise und intensiver Klassenkämpfe besonders deutlich.

Die LQM hat mit dem Aufbau einer solchen Partei begonnen und kämpft auf der Grundlage eines Programms mit Forderungen der Arbeiter:innenklasse. Sie wehrt sich gegen die gegenwärtige Wirtschaftskrise, in der die Regierung im Rahmen des IWF-Programms der Arbeiter:innenklasse und den Armen in Stadt und Land alle Lasten aufgebürdet hat. Die unterdrückten Nationen, die Frauen und die Studierenden sind hiervon besonders betroffen. Und gleichzeitig wächst der obszöne Reichtum der pakistanischen herrschenden Klasse.

Nach Angaben der Behörde für nationale menschliche Entwicklung schüttet die Regierung jährlich 17,4 Milliarden US-Dollar an die Elite aus. Darunter fallen nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich Boni und Einkommen für hochrangige Beamt:innen. Dazu gehören auch Vergünstigungen und Subventionen für die landbesitzende Elite. Exporthändler:innen und Industrielle erhalten ebenfalls mehr Unterstützung im Namen der nationalen Wirtschaft. Gleichzeitig setzt die Regierung die Masse der Bevölkerung unter Druck und belastet es, für das es schwierig geworden ist, zwei Mahlzeiten am Tag zu bekommen.

Konferenz

Tausende von Arbeiter:innen aus ganz Faisalabad nahmen an der Konferenz vom 18. Juni unter der Schirmherrschaft der LQM teil und hissten mit großen Märschen und Kundgebungen rote Fahnen. Auch eine große Zahl von proletarischen Frauen beteiligte sich an dieser Konferenz. Neben den Lohnabhängigen aus Faisalabad kamen auch Vertreter:innen verschiedener Gewerkschaften, linker Organisationen und Studierendenorganisationen aus dem ganzen Land.

Auf der Konferenz für Rechte der Arbeiter:innen sagten die Redner:innen, es sei klar, dass die Ursache für die bestehende Krise und die Probleme die Prioritäten der herrschenden Klasse seien. Sie benutzen ihren Staat für ihr kapitalistisches System und bieten keine Lösung für die Arbeiter:innen und die Armen. Unter diesen Umständen ist die LQM die einzige Partei, die aus der Arbeiter:innenklasse besteht, die in ihr und bei den Armen verwurzelt ist. Sie sind das Rückgrat des Kampfes, um dieses auf Ausbeutung und Zwang basierende System zu beenden. Aber sie müssen vernetzt, organisiert und politisch geeint werden, um den Kampf der Arbeiter:innenklasse anzuführen.

Der Kampf der LQM, so erklärten die Redner:innen, richtet sich gegen das kapitalistische System, und ihr wichtigstes Kampfziel ist die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innenklasse. Deshalb ist die LQM mit keiner kapitalistischen Partei verbunden, organisatorisch und politisch unabhängig und eine Partei des Klassenkampfes. Und der Redner fuhr fort: „Wir hegen keine Hoffnung in dieses Parlament. Der Zweck der Teilnahme an der Wahl wird sein, den Arbeiter:innenkampf zu verstärken, Themen aus der Arbeitswelt ins Parlament zu bringen und den Kampf außerhalb des Parlaments damit zu verbinden und für die Macht der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen“. Die LQM unterscheidet sich auch deshalb von anderen Parteien, weil sie sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und die Mehrheit ihrer Führung aus Arbeiter:innen besteht. Sie sind stolz darauf, dass dies ihre Partei ist – also schließt euch ihr an und organisiert einen gemeinsamen Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung dieses Systems!

Forderungen

Auf der Arbeitsrechtskonferenz wurde angekündigt, den Kampf um die folgenden Forderungen auf nationaler Ebene zu organisieren und alle anderen Gewerkschaften und Arbeiter:innenorganisationen aufzurufen, sich dem gemeinsamen Ringen gegen Preiserhöhungen, das IWF-Paket und für die Grundbedürfnisse der Arbeiter:innenklasse anzuschließen.

  • Senkung der Preise für Strom, Gas und Benzin. Mehl, Fett, Hülsenfrüchte, Gemüse und Obst sollten billig gemacht und Preiskontrollausschüsse eingerichtet werden.

  • Der Entwicklungshaushalt sollte durch Besteuerung der Reichen und Kapitalist:innen erhöht werden, damit die grundlegende Infrastruktur aufgebaut werden kann.

  • Die Gehälter sollten im Verhältnis zur Inflation erhöht werden.

  • Das Akkord- und Vertragssystem sollte abgeschafft werden. Das Tagelohnvertragssystem sollte beseitigt und die Arbeiter:innen regulär eingestellt werden.

  • Arbeiter:innen sollten ohne Unterschied des Geschlechts den gleichen Lohn und die gleiche wirtschaftliche und soziale Sicherheit erhalten.

  • Die Umsetzung des Mindestlohns sollte sichergestellt werden.

  • Jede/r Arbeiter:in sollte bei der Sozialversicherung und der Altersrentenanstalt gemeldet sein.

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung und Behandlung sollten bereitgestellt werden.

  • Arbeit und Wohnung sollten garantiert, Arbeitslosengeld sollte allen Arbeitslosen gewährt werden.

  • Es sollten Sozialwohnungen gebaut werden, in denen alle grundlegenden Einrichtungen vorhanden sind.

  • Die gewerkschaftliche Organisierung ist das Recht der Arbeiter:innen und alle diesbezüglichen Beschränkungen sollten aufgehoben werden, die Studierendengewerkschaft wieder operieren dürfen.

  • Es sollten Agrarreformen durchgeführt und den Bauern und Bäuerinnen billiges Saatgut, Dünger, Strom und Wasser zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Recht der unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, ihr Recht auf ihre Ressourcen sollten anerkannt werden.

  • Die Schulden sollten gestrichen werden.

Solche Forderungen können nur durch einen Massenkampf der gesamten Arbeiter:innenbewegung, durch Massenstreiks, Besetzungen und Massenkundgebungen durchgesetzt werden. Und das kann nicht nur durch Absprachen zwischen den Führer:innen der Organisationen entstehen, sondern muss von unten durch Massenkundgebungen, wie wir sie in Faisalabad gesehen haben, durch die Wahl von Aktionskomitees an den Arbeitsplätzen, in den Arbeiter:innenbezirken oder auf dem Lande erfolgen, die sich zu einer nationalen Kampfkoordination zusammenschließen. Eine solche Massenbewegung muss demokratisch, aber auch effektiv sein und sich auf einen Aktionsplan für die Bewegung einigen. Und sie muss auch Organe der Selbstverteidigung schaffen, um sich gegen Provokationen zu schützen.

Sollte sich eine solche Bewegung etablieren und Forderungen durchsetzen, wäre das natürlich nicht das Ende des Kampfes. Die herrschende Klasse und ihr Staat würden nach allen Mitteln suchen, um selbst kleine Erfolge anzugreifen. Der Kampf muss also dauerhaft sein und zu einem revolutionären Ringen um die Macht führen, für die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innen- und Kleinbäuerinnen auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten und einer Miliz – einer Regierung, die nicht nur dem Diktat des IWF und der neoliberalen Politik ein Ende setzen würde, sondern auch dem kapitalistischen System, indem sie einen demokratischen Plan aufstellt. Und eine solche Regierung darf sich nicht auf Pakistan beschränken, sie kann und muss zu einem Sammelpunkt für die Ausbreitung der Revolution auf die gesamte Region werden und zu einer Föderation von Arbeiter:innenstaaten führen.




Pakistan: Reaktionäre Rechte gegen Rechte von trans Personen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 22. Mai 2023

In einer bahnbrechenden Niederlage für die Rechte sexuell unterdrückter Menschen hat das religiöse Gericht Pakistans am 19. Mai entschieden, dass trans Personen ihr Geschlecht nicht auf eigenen Wunsch ändern können. Dies ist eine Umkehrung der partiellen Errungenschaften, die für den Schutz von trans Personen in Pakistan durch das Gesetz zum Schutz der Rechte von trans Personen im Transgender Persons Act 2018 erzielt wurden, da das Gericht auch bestimmte Klauseln des Gesetzes als schariawidrig (mit den Gesetzen des Islam unvereinbar) erklärt hat.

Dies geschieht zu einer Zeit, in der die demokratischen Rechte in Pakistan generell angegriffen werden, da Hunderte von Anhänger:innen der Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit; PTI) wegen des Angriffs auf Militäreinrichtungen am 9. Mai als „Terrorist:innen“ bezeichnet werden. Sie werden nach dem Armeegesetz und dem Gesetz über Amtsgeheimnisse vor Gericht gestellt, was bedeutet, dass sie vor Militärgerichten und nicht vor zivilen angeklagt werden.

Pakistan ist eine islamische Republik, und das Scharia-Bundesgericht ist ein Verfassungsorgan, das befugt ist, zu prüfen und festzustellen, ob die Gesetze des Landes mit der Scharia vereinbar sind. Dieses Gremium wurde während der Militärdiktatur von General Zia-ul-Haq eingerichtet. Haqs Name ist für die drakonischen Verordnungen in die Geschichte eingegangen. Sein Regime schränkte massiv demokratische Rechte sowie Frauenrechte ein und erließ die Hudood-Verordnungen zur Islamisierung des Rechts. Nun wird sein Erbe von der reaktionären Rechten, sowohl der religiösen als auch der liberalen, in Pakistan genutzt, um die Rechte einer extrem unterdrückten Gemeinschaft zu beschneiden.

Das bestehende Gesetz war nicht besonders fortschrittlich, aber dennoch ein Schritt nach vorn, und als Sozialist:innen sind wir verpflichtet, selbst die minimalen Errungenschaften zu verteidigen, die es bot. Zum Beispiel gewährte das Gesetz trans Frauen oder trans Männern nicht das Recht, sich als Frauen oder Männer zu identifizieren, aber es gewährte ihnen das Recht, sich selbst als ein drittes Geschlecht „X“ zu identifizieren, im Gegensatz zu dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. So konnte sich beispielsweise eine Person, der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, als Frau in der Kategorie X identifizieren, die in Pakistan das dritte Geschlecht symbolisiert. Dies galt für Ausweisdokumente. Die X-Klassifizierung wurde auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2009 speziell für die trans Gemeinschaft geschaffen. Das Gesetz verbot auch die Diskriminierung von trans Personen in Bildungseinrichtungen, bei der Beschäftigung, im Handel, im Gesundheitswesen usw. Es verbot auch die Belästigung von trans Personen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses auf der Grundlage „ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität und/oder ihres Geschlechtsausdrucks“. Die Regierung wurde verpflichtet, Schutzzentren und sichere Unterkünfte einzurichten sowie medizinische Einrichtungen, psychologische Betreuung, Beratung und Erwachsenenbildung bereitzustellen.

Die Gesetzesänderungen im Detail

Das Religionsgericht hat zwar nur eine Klausel und einen Unterabsatz des Gesetzes für nichtig erklärt, doch wird dies Auswirkungen auf jeden Aspekt des Lebens von trans Personen zeitigen. Die für nichtig erklärte Klausel 2(f) definiert „Geschlechtsidentität“ als „das innerste und individuelle Selbstverständnis einer Person als männlich, weiblich oder eine Mischung aus beidem oder keinem von beiden; das kann dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen oder nicht“. Dies ist eine entscheidende Klausel des Gesetzes, die es trans Personen ermöglicht, sich in ihren Ausweispapieren als trans Mann der trans Frau auszuweisen, anstatt als Mann im Falle von trans Frauen oder als Frau im Falle von trans Männern.

Der andere für nichtig erklärte Unterabsatz, 2(n)(iii), definierte eine trans Person als „einen Transgendermann, eine Transgenderfrau, eine Khawaja Sira oder eine Person, deren Geschlechtsidentität und/oder Geschlechtsausdruck von den sozialen Normen und kulturellen Erwartungen abweicht, die auf dem Geschlecht beruhen, das ihr zum Zeitpunkt ihrer Geburt zugewiesen wurde“. Dies bedeutet, dass die Definition einer trans Person nun auf den Unterabschnitt 2(n)(i) (der sie als „Intersex (Khunsa) mit einer Mischung aus männlichen und weiblichen Genitalmerkmalen oder angeborener Uneindeutigkeit“ definiert) und 2(n)(ii) (der sie als „Eunuch, dem bei der Geburt ein männliches Geschlecht zugewiesen wurde, der sich aber einer Genitalbeschneidung oder Kastration unterzogen hat“ definiert) beschränkt wurde. Dies bedeutet, dass Menschen, die keine kastrierten oder uneindeutigen Genitalien aufweisen, sich nicht mehr als trans einstufen können. Untersuchungen haben gezeigt, wie schwerwiegend die Auswirkungen sein können, wenn Menschen in ein Geschlecht gezwungen werden, mit dem sie sich nicht identifizieren, wobei Selbstmord die extremste Reaktion auf ein unerfülltes und unehrliches Leben darstellt.

Wer steht hinter dem Angriff?

Diese Umkehrung der minimalen Errungenschaften des bestehenden Gesetzes erfolgt auf Betreiben einer seltsamen Kombination aus Klerus und liberaler Intelligenz. Auf der einen Seite steht die klerikale Rechte, vertreten durch den bekannten frauenfeindlichen Heuchler Orya Maqbool Jan, Senator Mushtaq Ahmad Khan von der reaktionären rechtsgerichteten Organisation Jamaat-e-Islami (Dsachama’at-e-Islami) (Islamische Gemeinschaft; im Folgenden als JI bezeichnet) und einige andere von der ebenso, wenn nicht noch reaktionäreren Organisation Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan-Fazl (Vereinigung Islamischer Gelehrter; im Folgenden als JUI-F bezeichnet). Natürlich musste auch die Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf auf den Zug der Reaktion aufspringen.

Ihre Führer:innen schlossen sich dieser bösartigen, hasserfüllten Kampagne in den gesetzgebenden Versammlungen an, was angesichts des frauenfeindlichen Hasses, den der Parteivorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan in seinem Herzen trägt, nur natürlich ist. Auf der anderen Seite stehen die Bigotten der oberen und mittleren Intelligenz, vertreten durch die verachtenswerte Luxusmode-Besitzerin Maria B. Es hätte ihr gut angestanden, weiterhin ihre Selfie-Videos mit der Kamera an der Decke zu drehen, in denen es um Themen geht, die Frauen ihrer Klasse betreffen, z. B. wie man Hausangestellte quält. Leider weitete sie ihren Wirkungskreis aus und tat ihr Bestes, um eine pakistanische Möchtegernkopie von J.K. Rowling, der Autorin der Harry Potter-Romane, abzugeben, mit einer Prise modernen liberalen islamischen Jargons, um es einer pakistanischen Mittelschicht-Unterstützer:innenbasis schmackhaft zu machen.

Gemeinsam ist diesen beiden Seiten der reaktionären Medaille die Befürchtung, dass das bestehende Gesetz es Homosexuellen erlauben würde, die Person zu heiraten, die sie lieben, und dass trans Personen geschlechtsangleichende Behandlungen erhalten könnten und Männer zu Frauen und Frauen zu Männern würden. Es ist bizarr, sich vorzustellen, dass in einem so sexistischen Land wie Pakistan ein Mann seine Rechte als Mann im Erbrecht aufgeben und nur vortäuschen wolle, eine trans Frau werden will. Was würde er davon haben? Trotz aller Antidiskriminierungsgesetze sind die meisten trans Frauen in Pakistan auf drei Tätigkeiten zum Erwerb ihres Lebensunterhaltes beschränkt: Tanzen, Betteln und Sexarbeit. Alle drei sind rechtlich ungeschützt und bieten Männern die Möglichkeit, diese trans Frauen zu belästigen, zu vergewaltigen und, wann immer es ihnen passt, auch zu töten, wenn sie ihr Ego nur ein wenig verletzen. Aber trans Frauen sind gezwungen, diese Berufe zu wählen, um sich zu ernähren und am Leben zu bleiben. Die wirkliche Angst rührt von der Aussicht her, dass eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeschrieben wurde, ihr Geschlecht in das von „X“ männlich ändern könnte.

Konservative Parteien wie die JI und die JUI-F bestehen aus Elementen, die historisch gesehen protofaschistische Tendenzen aufweisen. Sie sind auch für ihre extrem patriarchalischen und regressiven Ansichten über Frauen bekannt. Die JI spielte eine zentrale Rolle bei der Einführung drakonischer Gesetze durch den Militärdiktator Zia-ul-Haq. Die JUI-F, deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman noch vor kurzem ein Held der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans war, als die Regierungskoalition des Pakistan Democracy Movement in Opposition zu Imran Khan ins Leben gerufen wurde, ist dafür bekannt, dass sie die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe beschmiert.

Bürgerliche Familie

Die Verfechter:innen der Angriffe auf trans Rechte sind allesamt Vertreter:innen der bürgerlichen Ideologie. Die wahren Ängste liegen in der Bedrohung der bürgerlichen Familie und der dominanten Stellung des Mannes im bürgerlichen Familiensystem, die die bloße Existenz von trans Menschen darstellt. Die Argumente unterscheiden sich nicht von denen der republikanischen und evangelikalen Konservativen in den USA oder der AfD in Deutschland. Im Mittelpunkt stehen Fragen im Zusammenhang mit Kindern, sexuellem Ausdruck, Bedrohungen für Religion und Familienform und vor allem die Vererbung von Eigentum. Wenn eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, später in der Kategorie X männlich wird, hat sie Anspruch auf den gleichen Anteil am Erbe wie ihre Brüder. Gemäß der Scharia erhalten Frauen nur die Hälfte des Erbteils ihrer Brüder. Dies stellt eine direkte Bedrohung für das angeblich „natürliche“ Recht „natürlicher“ Männer auf einen doppelten Anteil am Erbe dar. Wie Mushtaq Ahmad Khan letztes Jahr sagte, stellt die Möglichkeit, die eigene Geschlechtsidentität zu wählen, eine „Gefahr für das Familien- und Erbschaftssystem“ dar.

Die Familienform im kapitalistischen Patriarchat ist die obligatorische Norm für die gesellschaftliche Existenz und gewährleistet zwei Hauptziele: erstens, dass sichergestellt wird, dass das Privateigentum in der Familie verbleibt, und zweitens, dass der Staat von den Kosten der Reproduktionsarbeit, wie Kinderbetreuung, Kochen, Waschen, Putzen, entlastet werden kann, die in die Grenzen des Familienhauses verlagert werden können, wo all diese Arbeit kostenlos, vor allem von Frauen, geleistet wird. Die Familienform wird als die natürliche und neutrale Form der sozialen Existenz dargestellt, als ob es nie eine Abweichung von ihr gegeben hätte. In Wirklichkeit ist die heutige Familienform selbst ein historisches Produkt. Diese natürliche Erscheinung der bürgerlichen Familienform wird durch die Institutionen der Religion, der Schule, des Arbeitsplatzes, der Medien usw. aufrechterhalten.

Die geschlechtsspezifischen Rollen, die die kapitalistische Familienform uns als Männern und Frauen auferlegt hat, ergeben sich aus den Bedürfnissen des Kapitals. Diese Rollen sind in Wirklichkeit nur für die herrschenden und mittleren Klassen repräsentativ, in denen es sich die Frau leisten kann, sich nur um das Haus zu kümmern. Für die große Mehrheit der arbeitenden Massen tragen Frauen die Doppelbelastung, sowohl außerhalb des Hauses zu arbeiten als auch die Reproduktionsarbeit kostenlos im Haus zu erledigen. Selbst wenn trans Personen ein anderes binäres Geschlecht annehmen, um sich zu identifizieren, und alle damit verbundenen geschlechtsspezifischen Rollen erfüllen, stören sie den Mythos der Natürlichkeit dieser Rollen. Somit verkörpert ihre bloße Existenz eine Bedrohung für das natürliche Erscheinungsbild der bürgerlichen Familienform.

Die gegenwärtigen Ängste in Pakistan in Bezug auf die Übertragung von Privateigentum und die Bedrohung, die das Gesetz anscheinend für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes ineinandergreifen, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu gewährleisten. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne das Familiensystem einfach nicht weitergehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Trans Menschen sieht vor, dass eine Person, die sich als trans Mann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine trans Frau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional manipulieren, damit sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich die Ängste vorstellen, die das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“.

Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich. Während diese meist unbegründet sind, sind die Bedrohungen für das Leben und die Sicherheit von trans Menschen gefährlich real. Im Jahr 2021 wurden Berichten zufolge mindestens 20 trans Personen in Pakistan getötet. Das pakistanische Religionsgericht hat am 19. Mai 2023 trans Personen das Recht abgesprochen, so zu sein, wie sie sind. Dies ist ein fundamentaler Angriff auf ihr Selbstverständnis. Das Blut der jungen Menschen, die in den kommenden Tagen Selbstmord begehen, wird an den Händen von Mushtaq Ahmad Khan kleben und ebenso an den luxuriösen Dupatta-Schals und Kronleuchtern der JK Rowling-Imitation, die in Pakistan ihren Tee schlürft.

Kampf für die Rechte von trans Personen

Als Sozialist:innen und Arbeiter:innen sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass dies nicht nur einen Angriff auf die Rechte von trans Menschen ausmacht. Es ist in der Tat ein Angriff auf uns alle. Der heutige Tag ist ein schwarzer Tag und eine große Niederlage für die arbeitenden Massen und unterdrückten Menschen in Pakistan. Das Gericht, das benutzt wurde, um diesen Angriff auf unsere demokratischen Rechte zu inszenieren, trägt das Erbe des Militärdiktators Zia-ul-Haq. Heute haben sie es auf unsere transsexuellen Brüder und Schwestern abgesehen. Morgen werden sie es auf alle Frauen abgesehen haben und uns den Hidschab-Schleier aufzwingen, wie im benachbarten Iran im Namen des Islam. Warum sollte man überhaupt in den Iran gehen? Noch vor einigen Jahrzehnten hat Zia-ul-Haq den Hidschab für Staatsbedienstete vorgeschrieben.

Deshalb appelliert die Liga für die Fünfte Internationale an alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Gewerkschaften, Feminist:innen und fortschrittlichen Menschen in Pakistan, gegen diese dogmatischen Kräfte zu kämpfen. Wir werden es selbst tun müssen, denn die Bourgeoisie wird es eindeutig nicht tun. Mushtaq Khan versuchte 2021, seine hässliche Agenda voranzutreiben, hatte aber keinen Erfolg, da sich Shireen Mazari damals gegen ihn stellte. Die derzeitige Gegenreaktion gegen trans Personen hat es dem herrschenden Regime ermöglicht, mit Hilfe der Medien, der Intelligenz und der Geistlichen Angst in den Köpfen der Massen zu schüren, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den Angriffen auf demokratische Rechte, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Die Jamaat-e-Islami-Partei hat diese Rolle lange gespielt, um das schwächelnde kapitalistische System zu verteidigen. Da die JI nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft an die Macht zu kommen, ist dies in der heutigen Zeit ihre einzige Aufgabe, um sich ihren Anteil am Kuchen zu sichern. Auch wenn ihre soziale Basis überschaubar ist, so kann doch nicht übersehen werden, dass sie sich hauptsächlich aus der Schicht der Kleinunternehmer:innen und Händler:innen, d. h. dem Kleinbürgertum, zusammensetzt. Diese Schichten können mobilisiert werden und wurden in der Vergangenheit auch mobilisiert, um die Arbeiter:innen und ihre Organisationen physisch zu bekämpfen und zu zerschlagen. Deshalb dürfen wir ihnen keinen Erfolg gönnen und müssen uns mit aller Kraft gegen diese patriarchalischen Angriffe der reaktionären Kräfte wehren. Unsere Brüder und Schwestern im Kampf im benachbarten Iran sollten uns dabei ein Vorbild liefern!

  • Fort mit der Aufhebung der Selbstidentifizierungsklauseln im Gesetz zum Schutz von trans Personen jetzt! Freiheit für alle, sich als ihr wahres Ich zu identifizieren!

  • Gleicher Mindestlohn für alle Männer, Frauen und trans Personen!

  • Staatlich finanzierte Schutzräume für trans Menschen, die von trans Personen aus der Arbeiter:innenklasse selbst verwaltet werden!

  • Nein zu jeglicher Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Orientierung, Religion, Rasse!

  • Recht auf gewerkschaftliche Organisierung für alle Berufe!

Wir rufen auch Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen auf, Transphobie und andere derartige Missstände innerhalb unserer Bewegung zu bekämpfen. Das bedeutet, dass wir Gewerkschaften aufbauen müssen, in denen auch trans Personen vertreten sind, und dass wir auf ihre spezifischen Probleme eingehen müssen, indem wir ihnen und Frauen das Recht einräumen, sich ohne männliche Anwesenheit zu treffen (Caucus), um ihre Probleme offen und ohne Angst oder Behinderung zu diskutieren und die Entscheidungen und Vorschläge dann in die Gewerkschaften einzubringen. Wir müssen unsere Gewerkschaften stärken und demokratisieren, um unsere Forderungen durch Arbeitsniederlegungen wirksam durchzusetzen. Schließlich müssen wir eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufbauen, die nicht nur für unsere grundlegenden demokratischen Forderungen kämpft, sondern auch für die Macht, diese Forderungen durchzusetzen.




Pakistan: Auf dem Weg in eine Verfassungskrise?

Minerwa Tahir, Infomail 1222, 12. Mai 2023

Die Verhaftung und anschließende Freilassung von Imran Khan, dem ehemaligen Premierminister und Vorsitzenden der Partei Pakistan Tehreek Insaf (PTI), verdeutlicht die tiefe Spaltung der herrschenden Klasse und der staatlichen Institutionen des Landes. Khan, der seit Monaten mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, wurde nicht von der Polizei, sondern von den paramilitärischen Punjab Rangers festgenommen.

In vielen Städten brachen sofort Proteste aus. In Peshawar wurden acht Menschen getötet und mehr als 2.000 weitere verhaftet. Andere Parteiführer:innen wie Asad Umar, Shah Mehmood Qureshi, Fawad Chaudhry, Jamshed Iqbal Cheema, Falaknaz Chitrali, Musarrat Jamshed Cheema und Maleeka Bokhari wurden ebenfalls in Gewahrsam genommen. Ungewöhnlich ist, dass Demonstrant:innen in vielen Bezirken Einrichtungen der Armee angriffen.

Worum geht es?

Bewaffnete Kräfte wurden in Punjab, Khyber Pakhtunkhwa, Belutschistan und Islamabad eingesetzt. In Sindh erließen die Behörden eine Anordnung nach Section 144, die bis auf Weiteres alle Versammlungen von mehr als vier Personen sowie alle Proteste, Demonstrationen, Kundgebungen und Sitzstreiks in der Provinz verbietet. Die Medienabteilung der Armee (ISPR) gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie davor warnte, dass jeder weitere Angriff auf die Armee, die Strafverfolgungsbehörden, militärische oder staatliche Einrichtungen und Besitztümer schwere Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würde.

Seit seiner Absetzung als Premierminister im vergangenen Jahr durch ein Misstrauensvotum des Parlaments, das nach weit verbreiteter Ansicht von der Armee inszeniert worden war, hat Khan das Land bereist und sich im Vorfeld der bevorstehenden Wahlen eine starke Unterstützung in der Bevölkerung erworben. Obwohl er offiziell wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde, liegt es auf der Hand, dass der Grund dafür politischer Natur war. Sowohl die Regierung von Shehbaz Sharif als auch zumindest Teile des Militärs und des Staatsapparats wollen ihn als potenziellen Herausforderer ihrer Herrschaft vollständig beseitigen.

Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs, ihn freizulassen, weil seine Verhaftung an sich rechtswidrig war, wird wahrscheinlich nicht das letzte Kapitel in dieser Geschichte bleiben. Tatsächlich bedeutete dies nicht einmal, dass Khan seine Freiheit wiedererlangte, da das Gericht ihn aufforderte, „zu seiner eigenen Sicherheit“ in dem Gebäude zu bleiben, das als vorläufiger Gerichtssaal diente. Eine erneute Verhaftung unter Anwendung korrekter rechtlicher Verfahren ist nach wie vor möglich, und selbst ein hartes Durchgreifen gegen die PTI als Ganzes und ein Verbot der Partei sind nicht ausgeschlossen. Premierminister Sharif hat die Proteste der Partei bereits als terroristische Akte gebrandmarkt. Das Ziel seiner Gegner:innen ist nach wie vor, Khan als Kandidaten auszuschalten, und eine Verurteilung wegen eines der Korruptionsvorwürfe würde dies sicherstellen.

Selbst dann könnten die Krise der pakistanischen Gesellschaft, die verzweifelte Lage der Millionen Menschen, die bei den Überschwemmungen des letzten Jahres alles verloren haben, die Auswirkungen der Auflagen des Internationalen Währungsfonds für die finanzielle Unterstützung sowie die Wut der Anhänger:innen Khans die sehr fragilen demokratischen Institutionen des Landes erschüttern. Die derzeitige Regierung der Pakistan Muslim League (Nawaz), die nach der Absetzung Khans eingesetzt wurde, stellte immer nur eine Übergangslösung dar. Zweifellos existieren in der Armee bereits Elemente, die in einem Militärputsch den einzigen Weg zur „Wiederherstellung der Ordnung“ sehen.

Wenn Khan seine Freiheit wiedererlangt, wird er natürlich wieder in den Wahlkampf ziehen und seine Anhänger:innen angesichts der unrechtmäßigen Art und Weise seiner Verhaftung aufstacheln. Die PTI stützt sich weitgehend auf die „Mittelschicht“, hat aber, was für eine populistische Partei nicht überrascht, auch an die verarmten Massen appelliert. Die aktuellen Umstände werden diese Wendung noch verstärken, da Khan die mangelnde Unterstützung für Obdach- und Arbeitslose anprangert und die Verbrechen der Reichen und die Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte angreift. Dies ist jedoch alles Demagogie. Seine Differenzen mit anderen Fraktionen der herrschenden Klasse und des Staatsapparats haben eher mit der Außenpolitik Pakistans zu tun, die sich an China und Russland anlehnen oder zu den USA und „dem Westen“ zurückkehren soll.

Krise

Angesichts einer sich entwickelnden Verfassungskrise muss man feststellen, dass die Arbeiter:innenklasse Pakistans schlecht darauf vorbereitet ist, ihre Interessen und Rechte zu verteidigen. Obwohl Imran Khan keine politische Unterstützung gewährt werden sollte, gab es allen Grund, gegen das barbarische Verhalten der Sicherheitskräfte, die ihn verhaftet haben, zu protestieren.

Darüber hinaus sind sich alle Fraktionen der herrschenden Klasse einig, dass die brutalen Bedingungen des IWF-Abkommens umgesetzt werden müssen und allen Versuchen, die Löhne gegen die Inflation und die Arbeitsplätze gegen Kürzungen und Privatisierungen zu verteidigen, widerstanden werden muss.

In dieser Situation ist es umso notwendiger, dass die Kräfte der pakistanischen Linken, die Frauenbewegung und die Bewegungen der nationalen Minderheiten mobilisieren und eine aktive Alternative bieten. Wir rufen die Labour-Qaumi-Bewegung (LQM), andere Gewerkschaften, linke, feministische, Jugend- und andere fortschrittliche Organisationen sowie die unterdrückten Nationalitäten und anderer sozialer Gruppen auf, sich gegen die zunehmende autoritäre Herrschaft und die steigende Inflation zusammenzuschließen. Die wichtigsten Themen und Forderungen sollten sein:

  • Ein Mindestlohn, der für ein besseres Leben der Lohnabhängigen ausreicht. Die Löhne sollten an die Preisinflation für lebenswichtige Güter gekoppelt werden. Für jeden Anstieg der Inflationsrate um ein Prozent sollten die Löhne um ein Prozent steigen.

  • Alle privatisierten Konzerne sollten unter Arbeiter:innenkontrolle wieder verstaatlicht werden.

  • Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollte die Arbeitszeit ohne Lohneinbußen verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

  • Aufstockung der Bildungs- und Gesundheitsbudgets durch Einführung einer Vermögenssteuer für Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft.

  • Abschaffung aller Privilegien und Steuervergünstigungen für Großgrundbesitz und Kapital.

  • Massive Subventionen sollten in der Landwirtschaft eingeführt werden. Außerdem sollte das Land den Großgrundbesitzer:innen weggenommen und den Bäuer:innen und Landarbeiter:nnen übergeben werden.

  • Die Mittel für Entwicklungsprojekte sollten massiv aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse und die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

  • Verstaatlichung der Stromerzeugungsunternehmen unter demokratischer Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse.

  • Ablehnung des IWF-Programms. Weigerung, die Schulden der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu bezahlen.

Der Kampf für solche Forderungen erfordert Organisation. Wo es Gewerkschaften gibt, sollten sie diese Forderungen aufstellen, aber wo dies nicht der Fall ist, muss die Priorität auf dem Aufbau demokratischer Betriebsorganisationen liegen, in erster Linie, um den Ausbeuter:innen entgegenzutreten, aber auch als Schritt zum Aufbau dauerhafter Industriegewerkschaften. In den proletarischen Bezirken sollten sich Sozialist:innen für die Bildung lokaler Räte einsetzen, die sich aus Delegiert:innen dieser betrieblichen Organisationen und Gewerkschaften zusammensetzen, um die Organisation zu verbreiten, Solidarität zu organisieren und eine Politik zu formulieren, die der Entwicklung der Ereignisse entspricht.

Sollte das Oberkommando der Armee beschließen, die gegenwärtige politische Krise durch einen Militärputsch selbst zu lösen, wie es das in der Vergangenheit getan hat, sollten Sozialist:innen zu einem Generalstreik aufrufen, für den von den bestehenden Gewerkschaften und betrieblichen Organisationen mobilisiert wird. Anders als die Massendemonstrationen der letzten Tage beinhaltet ein Generalstreik das Potenzial, das Land zum Stillstand zu bringen und die Frage aufzuwerfen, wer regieren soll, das Volk oder die Militärspitze?

Auch ohne Putsch ist es immer wahrscheinlicher, dass sich das Land auf eine Verfassungskrise zubewegt, die die gleiche Frage aufwirft. Unsere Antwort darauf sollte der Ruf nach einer verfassunggebenden Versammlung sein, einem demokratischen Forum, in dem genau das entschieden werden soll: Wer soll regieren? Eine solche Versammlung kann ihren Zweck nicht erfüllen, wenn sie von den bestehenden Eliten und ihren Parteien kontrolliert und einberufen wird. Ihre Wahl und Einberufung muss von Komitees der Arbeiter:innen, Bäuer:innen sowie Armen kontrolliert werden.

In einer verfassunggebenden Versammlung werden Sozialist:innen nicht nur das volle demokratische Programm gleicher Rechte für alle Bürger:innen und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts nationaler Minderheiten fordern, sondern auch die zentralen Forderungen der Arbeiter:innenklasse, die notwendig sind, um mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen: die Enteignung des Großkapitals, die Vergesellschaftung des Bodens und der natürlichen Ressourcen, die Beschlagnahmung des imperialistischen Vermögens, die Ablehnung von Schulden bei imperialistischen Institutionen und die Einführung von Planung.

Ein solches Programm kann nur durch Massenkämpfe verwirklicht werden, an deren Ende eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung steht, eine Regierung, die sich auf ihre eigenen Organisationen stützt, um die derzeitige katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen. Alle, die sich einer solchen Strategie verschreiben, sollten sich zu einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse zusammenschließen.