Pakistan: Im Würgegriff von Wirtschaftskrise und IWF

Shahzad Arshad, Infomail 1217, 21. März 2023

Pakistan befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Trotz der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Umsetzung vieler seiner Bedingungen droht dem Land die reale Gefahr eines Staatsbankrotts. Die Inflation ist in die Höhe geschnellt und macht den ohnehin schon armen Menschen das Leben noch schwerer als je zuvor. Der pakistanische Verbraucher:innenpreisindex ist auf 31,5 % gestiegen, die höchste Jahresrate seit 50 Jahren – und selbst das spiegelt bei weitem nicht den tatsächlichen Preisanstieg  für die breite Masse der Bevölkerung wider.

In dieser Situation bildet den einzigen Ausweg, den die herrschende Klasse und alle ihre sich bekriegenden Fraktionen sehen, ein weiteres Abkommen mit dem IWF. Aber selbst die erste Vereinbarung auf „Stabsebene“ ist noch nicht abgeschlossen, obwohl dies seit der ersten Februarwoche, als ein IWF-Team Pakistan besuchte, wiederholt angekündigt wurde.

In der Tat hat die Regierung bereits eine Reihe von IWF-Bedingungen akzeptiert. So hat sie beispielsweise der Forderung zugestimmt, dauerhaft einen Schuldzuschlag von 3,82 Rupien pro Einheit zu erheben, um 284 Milliarden Rupien mehr von den Stromverbraucher:innen einzutreiben. Ganz allgemein berichtet die Presse, dass die Regierung bei Steuererhöhungen, höheren Energiepreisen und der Anhebung der Zinssätze auf den höchsten Stand seit 25 Jahren eingewilligt hat.

Die Vereinbarung ist noch immer nicht unterzeichnet, nicht zuletzt, weil nicht nur der IWF, sondern auch andere Staaten die benötigten Kredite bereitstellen müssen. Während der IWF die Finanzlücke des Landes auf insgesamt 7 Mrd. US-Dollar beziffert, behauptet das Finanzministerium, dass diese weniger als 5 Mrd. US-Dollar betragen wird und durch die Aufnahme neuer kommerzieller Kredite aus China und den Golfstaaten gedeckt werden soll. Der IWF steht bereits mit diesen Ländern in Verbindung, um neue Kredite und Pläne für die Verlängerung der Kredite für Pakistan zu erörtern, und verlangt nun schriftliche Zusicherungen.

Er verlangt nicht nur, dass die Regierung die zu erfüllenden Bedingungen unterschreibt, sondern auch den „Nachweis“, dass sie bereit ist, diese zu erfüllen. Ein Test dafür ist, die IWF-Einschätzung der Finanzlücke selbst zu akzeptieren. Da der IWF die interne Spaltung der herrschenden Klasse und den Machtkampf zwischen der Regierungskoalition und der oppositionellen PTI-Partei von Imran Khan kennt, verlangt er nicht nur von der Regierung, sondern auch von der wichtigsten Oppositionspartei Zusicherungen für die Umsetzung. Die Regierung befürchtet, dass eine öffentliche Vereinbarung zwischen dem PTI-Führer und dem IWF das politische Ansehen der Oppositionspartei weiter stärken könnte.

Die Wirtschaftspolitik von Finanzminister Ishaq Dar und der Dollar

Dies zeigt, dass der wahre Grund für die anhaltenden Verzögerungen nichts mit den Bedingungen zu tun hat, die den Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen in Pakistan auferlegt werden sollen, sondern mit dem Machtkampf innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen dem IWF und der Regierung.

In dieser Situation wird sich die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter hinziehen, ja sie wird sich sogar noch verschärfen. Die pakistanischen Devisenreserven sind dank eines weiteren Kredits aus China um 487 Mio. US-Dollar gestiegen und beliefen sich am 3. März auf 4,3 Mrd. US-Dollar. Dies ist der vierte wöchentliche Anstieg der von der Zentralbank gehaltenen Reserven in Folge, liegt aber immer noch unter dem kritischen Wert, der die Importe eines Monats decken könnte. Die Regierung hat sich zwar bereit erklärt, mehr lebenswichtige Güter zu kaufen, um Engpässe zu überbrücken, doch wird dieses „Versprechen“ nicht eingelöst werden, solange diese Bedingungen vorherrschen.

Seit Monaten sind wir mit dem Gegenteil konfrontiert, nämlich mit einem massiven Rückgang oder sogar der völligen Einstellung der Einfuhren wichtiger Güter. Derzeit stehen Tausende von Containern im Hafen von Karatschi, die nicht abgefertigt werden. Infolgedessen mangelt es an Medikamenten, chirurgischen Geräten und Krankenhausnahrung. Die verbleibenden medizinischen Leistungen werden immer teurer und sind für die einfache Arbeiter:innenklasse unerschwinglich.

Als Ishaq Dar das Finanzministerium übernahm, behauptete er, er werde den Wechselkurs der Rupie stabilisieren und ihn auf 200 Rupien pro Dollar oder noch weniger senken. Er erklärte, er werde keine Kompromisse bei der „nationalen Souveränität“ eingehen oder sich den Forderungen des IWF beugen. Bis Ende 2022 hielt er den Wechselkurs durch staatliche Interventionen unter Kontrolle, aber das änderte sich, als die Forderungen des IWF bekannt wurden. Die Rupie fiel rasch auf 275 zum Dollar und erreichte am 2. März 290. Jetzt zahlt die Bevölkerung den Preis, und es ist klar, dass sich eine Halbkolonie den Herr:innen des Kapitals beugen muss. Die offiziellen Dollarreserven wurden auch dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass pakistanische Arbeiter:innen im Ausland über „inoffizielle“ Kanäle Überweisungen nach Hause schicken, um einen etwas besseren Wechselkurs zu erhalten.

Rezession

Pakistan befindet sich nicht nur in einer Haushaltskrise. Das Land steckt auch in einer tiefen Rezession. Die Produktion des verarbeitenden Gewerbes in großem Maßstab ist drastisch zurückgegangen. Die letzten veröffentlichten nationalen Daten des Quantum-Index des verarbeitenden Gewerbes für November 2022 zeigen ein deutliches Bild. In den fünf Monaten von Juli bis November 2022 gab es im verarbeitenden Gewerbe einen Rückgang um 3,5 % und im November um 5,5 %. Die Erträge der wichtigsten Industriezweige Textilien, Erdölprodukte, Chemikalien, Düngemittel, Pharmazeutika, Zement, Eisen- und Stahlerzeugnisse fielen,  in einigen Fällen bis zu 25 %.

Ein wichtiger Grund für den Niedergang vieler dieser Industrien ist der Mangel an importierten Rohstoffen. Für die Einfuhren ist ein Akkreditiv erforderlich, aber die Kreditwürdigkeit der Importeur:innen oder die Zahlungsgarantien der Banken wurden in großem Umfang in Frage gestellt. Dies hat zu einer Blockade der Importe und in der Folge zu einem Rückgang des Verbrauchs um 20 % und der Stromerzeugung um 5 % geführt. Die Einlagen im Bankensektor sind um mehr als 8 % gesunken. Die rückläufige Produktion der Zement-, Eisen- und Stahlindustrie verdeutlicht die Stagnation der Bautätigkeit. Insgesamt wird das Bruttoinlandsprodukt in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 wahrscheinlich um 4 bis 5 Prozent schrumpfen. Dieser Rückgang stellt eine große Katastrophe dar.

Der Zinssatz sprang von 11 % zu Beginn des IWF-Programms im Jahr 2019 auf 17 % im November 2022 hoch, was zu einem weiteren wirtschaftlichen Niedergang führte. Am 2. März wurde er unter dem Druck des IWF erneut erhöht und liegt nun bei 20 %. Diese weitere Erhöhung um 3 % bedeutete für den Staat einen Verlust von etwa 600 Milliarden, der durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeglichen werden muss. Dies hat wiederum direkte Auswirkungen auf die arbeitende und arme Bevölkerung.

Die Kreditvergabe der Banken an den privaten Sektor ist mit 4 % nur geringfügig gestiegen. Die Maschineneinfuhren gingen um 45 % zurück, 44 % bei Textilmaschinen. Dies wird voraussichtlich zu einem weiteren Rückgang der Textilexporte führen, die sich bereits auf einem niedrigeren Niveau als in den Vorjahren befinden. Die Höhe der gesamtstaatlichen Entwicklungsausgaben im ersten Quartal 2022 – 2023 wurde entsprechend den Forderungen des IWF um etwa 48 Prozent gesenkt. Weitere Kürzungen sind jedoch geplant.

Die höchste Inflation der Geschichte

Die Folgen der Überschwemmungen von 2022, der anhaltende Anstieg der Rohstoffpreise seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, die Abwertung der Rupie und die negativen Auswirkungen der Einfuhrbeschränkungen haben zusammen zu einer Stagflation geführt. Die Inflationsraten, insbesondere die Lebensmittelpreise, haben Rekordhöhen erreicht, und das Bruttoinlandsprodukt war in den ersten sechs Monaten des laufenden Haushaltsjahres negativ. Die Überschwemmungen haben sich am stärksten auf die Produktion des Agrarsektors ausgewirkt. Der größte Rückgang ist bei der Baumwollernte zu verzeichnen, die um 40 Prozent gesunken ist, und bei der Reisproduktion um mehr als 15 Prozent. Auch bei anderen Feldfrüchten, vor allem bei Gemüse, ist das Angebot knapp. Der vierfache Preisanstieg bei Zwiebeln ist ein Beweis dafür. Insgesamt dürfte der Ertragsverlust in der Kharif-Saison, d. h. in der Monsunzeit, etwa 10 % betragen.

Die Verbraucher:innenpreise für Zwiebeln, Hühnerfleisch, Eier, Reis, Zigaretten und Treibstoff stiegen in letzter Zeit stark an, wobei die Inflation in diesem Sektor offiziellen Angaben zufolge zum ersten Mal seit fünf Monaten über 40 Prozent lag. Die kurzfristige Inflation, gemessen am wöchentlichen Inflationsfeingradmesser SPI, stieg in der Woche zum 23. Februar im Jahresvergleich auf 41,54 Prozent, gegenüber 38,42 Prozent in der Vorwoche.

Eine defizitäre Wirtschaft

Die gesamte Zahlungsbilanz weist für den Zeitraum Juli bis Dezember 2022 ein Defizit von 4,3 Mrd. US-Dollar auf. Dies ist trotz eines starken Rückgangs des Handelsbilanzdefizits auf 3,7 Mrd. US-Dollar gegenüber 9,1 Mrd. US-Dollar im gleichen Zeitraum 2021 – 2022 der Fall. Diese Verbesserung wurde durch eine starke Verschlechterung der Kapitalbilanz ausgeglichen. Hier ist ein Defizit von 1,2 Mrd. US-Dollar entstanden, gegenüber einem hohen Überschuss von 10,1 Mrd. US-Dollar im Zeitraum Juli-Dezember 2021. Die Haushaltsbilanz ist zum ersten Mal seit vielen Jahren negativ ausgefallen. Dies ist vor allem auf stark gesunkene  Einnahmen aus Einfuhrsteuern zurückzuführen. Die Schrumpfung betrug im ersten Quartal 6 % und im zweiten Quartal etwa 30 %. Letzteres ist eindeutig auf die von der Staatsbank ausgeübte Verwaltungskontrolle über Importkreditgarantien (Letters of Credit; LCs) zurückzuführen.

Ein stabiler Wechselkurs wurde nach Oktober durch die Intervention der Regierung aufrechterhalten, was die Nachfrage nach Importen steigerte, während die Staatsbank diese durch die Kontrolle der LCs drückte. Ziel war es, die Inflation einzudämmen, aber die Angebotskürzungen heizten die Inflation an, indem sie Importe im Wert von 4,5 Milliarden einschränkten. Die Staatsbank schränkte auch die Zahlungen für importierte Dienstleistungen wie Informationstechnologie, Fluggesellschaften und Banken ein. Die Gewinnausschüttungen der in Pakistan tätigen multinationalen Unternehmen sind ebenfalls zurückgegangen.

Das ehrgeizige Ziel besteht darin, das Haushaltsdefizit von 7,9 Prozent des BIP im Jahr 2021 – 2022 auf nur 4,9 Prozent des BIP im laufenden Haushaltsjahr zu senken. Doch das Gesamtdefizit ist in den ersten sechs Monaten des Rechnungsjahres 2022 – 2023 auf 2,4 % des BIP angestiegen. Da die Zahlungen in der zweiten Jahreshälfte viel höher ausfallen werden als in der ersten, ist das Ziel von 4,9 % nicht zu erreichen.0

Für die Verschlechterung der öffentlichen Finanzen gibt es viele Gründe. Erstens werden zusätzliche Ausgaben in Höhe von über 500 Mrd. Rupien für die Fluthilfe und den Wiederaufbau nach der Flut aufgewendet. Zweitens liegt die Wachstumsrate der FBR (Bundesfinanzamtseinnahmen) bei 13 Prozent und damit unter der angestrebten Rate von 22 Prozent, was vor allem auf den Rückgang der Importsteuerbasis und das negative Wachstum im verarbeitenden Großgewerbe zurückzuführen ist.

Drittens hat die Staatsbank den Leitzins erhöht, wodurch die inländischen Kreditkosten der Bundesregierung angehoben werden. Es besteht die Möglichkeit, dass die Zinszahlungen für das Darlehen bis zu 1 Billion Rupien betragen könnten. Auf Anweisung des IWF wurde der Leitzins auf 20 Prozent erhöht, was bedeutet, dass die Zahlungen an die Banken weiter steigen werden. Um diese Kosten zu decken, müsste der Umfang des föderalen öffentlichen Entwicklungsprogramms erheblich gekürzt werden. Ein letzter Risikofaktor ist, dass die Provinzregierungen den angestrebten Kassenüberschuss von 750 Mrd. Rupien weit verfehlen könnten. Insgesamt dürfte das Haushaltsdefizit bei den derzeitigen Trends im Haushaltsjahr 2022 – 2023 nahe bei 6,5 % des Bruttoinlandsprodukts liegen.

Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut

Aufgrund der Rezession in der Wirtschaft nimmt die Arbeitslosigkeit ständig zu. Schon jetzt sind Millionen von Arbeiter:innen arbeitslos. In den verbleibenden Monaten dieses Haushaltsjahres werden mindestens 2 Millionen weitere hinzukommen. Aufgrund von Inflation und Arbeitslosigkeit werden in diesem Haushaltsjahr weitere 20 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze fallen, so dass sich die Gesamtzahl auf mehr als 80 Millionen erhöht. Außerdem wird es für die Hälfte der Bevölkerung schwierig werden, den Grundnahrungsmittelbedarf zu decken. Diese Situation kann zur Grundlage einer großen sozialen Umwälzung werden, und die Angst davor ist in der herrschenden Klasse offensichtlich.

Schuldenfalle

Die herrschende Klasse und ihre Intellektuellen räumen ein, dass die Wirtschaftskrise trotz aller Maßnahmen nicht enden wird und sie ein weiteres Programm des IWF annehmen müssen.

Das Land benötigt eine beträchtliche Summe von 75 Mrd. US-Dollar, um die Auslandsschulden und Zinszahlungen in den nächsten drei Haushaltsjahren zu bedienen. Der Umfang der internen Verschuldung nimmt ebenfalls zu. Ein Beispiel dafür sind die zirkulären Schulden des Elektrizitätssektors, die sich auf 2,3 Billionen Rupien belaufen, obwohl der Preis pro Stromeinheit stark gestiegen ist. Die Situation ist nun so, dass die Regierung die Kreditraten und Zinsen nicht jedes Jahr selbst zahlen kann und dafür neue Kredite aufgenommen werden müssen. Das heißt, man muss einen neuen Kredit aufnehmen, um die alten Kredite zurückzuzahlen.

Vergleicht man die Darlehen und Zuschüsse, die in den letzten zwei Jahrzehnten eingegangen sind, mit den Geldern, die abgeflossen sind, so wird deutlich, dass die Zahlungen die Einnahmen überstiegen haben. Das bedeutet, dass Pakistan in einer Schuldenfalle steckt. Internationale Geldverleiher:innen verdienen an Pakistan durch die Vergabe von Krediten. Das heißt: Die Verschuldung ist zu einem Mechanismus für die Ausplünderung der Ressourcen geworden. Aufgrund der Position Pakistans im globalen Kapitalismus ist eine Rückzahlung nicht möglich. Diese Situation hat das Risiko eines Zahlungsausfalls erhöht, worauf die Regierung mit einem Programm brutaler Kürzungen reagiert.

Die IWF-Lösung

Alle bisherigen IWF-Rettungspakete und ihre neoliberalen Lösungen haben keine langfristige oder dauerhafte Verbesserung der Wirtschaft gebracht. Das aktuelle Rettungspaket wird sich nicht von den anderen unterscheiden und zu weiteren Massenprivatisierungen, steigender Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und Inflation führen. Der IWF besteht darauf, dass seine Maßnahmen zwar unmittelbare Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben, aber zu Verbesserungen führen werden, wenn die Kapitalist:innen wieder Vertrauen in die Wirtschaft gewinnen.

Was ist zu tun?

Die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich verschlechtert und die Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse nehmen zu. Dies kommt in den Spaltungen zwischen den und innerhalb der staatlichen Institutionen deutlich zum Ausdruck. Jede Schicht der herrschenden Klasse strebt nach ihren eigenen Interessen. Die Inflation hat enorm zugenommen, und die Gesellschaft leidet unter Desintegration. Die Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse bedeutet zunehmend mehr Brutalität, um die Stimme des Protests auf jede Weise zu unterdrücken.

Unter diesen Umständen müssen sich die Arbeiter:innen, die Armen auf dem Land und in der Stadt, die Bauern, Bäuerinnen und die unterdrückten Teile der Gesellschaft im Kampf gegen den tyrannischen Staat und seine Wirtschaft zusammenschließen. Es besteht die reale Gefahr, dass die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf verschiedene Sektoren und Regionen genutzt werden, um Spaltungen zu verstärken, Proteste abzulenken und einen einheitlichen Kampf gegen die wirklichen gemeinsamen Feind:innen zu verhindern. Es gibt Proteste gegen Inflation, Lohnerhöhungen und Privatisierung, aber diese Proteste müssen sich darauf konzentrieren, eine Alternative der Arbeiter:innenklasse zum IWF anzubieten. In der heutigen Zeit kann nur die Einheit der Arbeiter:innenklasse das IWF-Programm besiegen und die Regierung von Shehbaz Sharif absetzen.

Forderungen

  • Ein Mindestlohn, der für ein besseres Leben der Arbeiter:innen ausreicht. Die Löhne der Arbeiter:innenschaft sollten an die Inflation der Preise für wichtige Güter gekoppelt werden. Für jeden Anstieg der Inflationsrate um ein Prozent sollten die Löhne um ein Prozent steigen.

  • Anstelle der Privatisierung sollten die staatlichen Einrichtungen unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt werden. Alle Einrichtungen, die nach der Privatisierung geschlossen wurden, sollten unter Kontrolle der Beschäftigten wieder verstaatlicht werden. Einrichtungen, die an den privaten Sektor übergeben wurden, sollten unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt und somit alle Formen der Privatisierung abgeschafft werden.

  • Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollten die Arbeitszeiten verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

  • Aufstockung des Bildungs- und Gesundheitshaushalts durch Einführung einer Vermögenssteuer für Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft. Daraufhin sollten neue Gesundheitszentren und Bildungseinrichtungen gebaut werden.

  • Ein Ende aller Privilegien und Steuervergünstigungen für die Großgrundbesitzer:innen und Kapitalist:innenklasse.

  • Massive Subventionen sollten in der Landwirtschaft eingeführt werden. Außerdem sollte das Land den Großgrundbesitzer:innen weggenommen und den Bauern, Bäuerinnen und Landarbeiter:innen übergeben werden.

  • Die Haushaltsmittel für Entwicklungsprojekte sollten massiv aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse sowie für die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

  • Die Stromerzeugungsunternehmen sollten vom Staat übernommen und unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt werden.

  • Die Ablehnung des IWF-Programms, einschließlich der Weigerung, die Schulden der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu bezahlen, ist eine Vorbedingung für eine geplante und ausgewogene Entwicklung der Wirtschaft, aber eine dem Kapitalismus verpflichtete Regierung kann dies niemals tun. Wir brauchen eine Regierung, die sich auf die Organisationen der Arbeiter:innenklasse stützt, um die derzeitige katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen.

Die Unterstützung für eine solche Strategie wird nicht spontan erfolgen, sie muss durch eine entschlossene Kampagne gewonnen werden. Diejenigen, die die Notwendigkeit einer revolutionären Strategie erkennen, ob in linken Parteien oder Gewerkschaften, müssen sich organisieren, um in allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie unter den unterdrückten Schichten der Gesellschaft, den Frauen, der Jugend und den unterdrückten Nationalitäten dafür zu kämpfen.

Sie müssen sich zusammenschließen, um die politische Grundlage für eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei zu diskutieren und ein Aktionsprogramm auszuarbeiten, das den Kampf gegen den IWF mit dem für eine Revolution der Arbeiter:innenklasse in Pakistan und der gesamten Region verbindet. Auf diese Weise können wir uns gegen die Krise der herrschenden Klasse und ihre Angriffe auf das Proletariat und die Armen in Pakistan wehren.




Chinas zwei Seiten: Diktatur und Widerstand

Peter Main, Infomail 1217, 15. März 2023

Die letzte Woche hat zwei Seiten des heutigen Chinas gezeigt: die falsche parlamentarische Fassade der Diktatur der KPCh und die wortgewaltige Auflehnung der Hongkonger Demokratieaktivistin Chow Hang-tung gegen diese Diktatur in ihrer Rede auf der Anklagebank nach der Verurteilung, die wir im Folgenden wiedergeben.

KP-Tagung

In Peking ist die jährliche „Zwei-Sitzungen“-Tagung zu Ende gegangen, an der 2.900 „Delegierte“ teilnahmen, die alle von der Kommunistischen Partei handverlesen wurden, um den Mythos einer demokratischen Verfassung aufrechtzuerhalten. Die Zwei Tagungen, die so genannt werden, weil sie den Nationalen Volkskongress und die Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes zusammenbringen, sind verfassungsmäßig das höchste gesetzgebende Organ Chinas. Je komplizierter der Name, desto nichtssagender das eigentliche Gremium, so scheint es, denn die Aufgabe der Tagung besteht lediglich darin, die bereits von der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) getroffenen Entscheidungen zu bestätigen.

Dieses Jahr war insofern etwas anders, als die KPCh im vergangenen Oktober ihren alle fünf Jahre stattfindenden Kongress abhielt und Xi Jinping zum dritten Mal zu ihrem Generalsekretär berief. Gleichzeitig wurden neue Mitglieder des Politbüros und des Ständigen Ausschusses ernannt, die alle als Unterstützer:innen von Xis Fraktion innerhalb der KPCh anerkannt waren. Infolgedessen musste die Versammlung in der vergangenen Woche die gleichen Personen in die Gremien, die das Land formell regieren, wie den Staatsrat, berufen. Alle 2.900 Delegierten stimmten daher pflichtbewusst für Xi als Präsident – nicht, dass es irgendwelche alternativen Kandidat:innen gegeben hätte.

So vorhersehbar all diese Ernennungen auch waren, sehen professionelle China-Beobachter:innen, das heutige Äquivalent zu den „Kremlastrolog:innen“ des ersten Kalten Krieges, eine gewisse Bedeutung in der Beibehaltung von Yi Gang als Gouverneur der Zentralbank. Dies wird als ein beruhigendes Bekenntnis zur Stabilität für die Interessen des Großkapitals gedeutet, das durch das Gerede über größere wirtschaftliche „Reformen“, die die staatliche Kontrolle verstärken werden, beunruhigt ist. Die Ernennung von He Lifeng, dem Vorsitzenden der staatlichen Planungsabteilung (Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform), zum Vizepremier, deutet jedoch darauf hin, dass tatsächlich Veränderungen auf der Tagesordnung stehen.

Der Aufstieg von Li Qiang, Xis Nummer zwei in der KPCh und nun zum Ministerpräsidenten Chinas ernannt, veranschaulicht drei wesentliche Merkmale der KPCh-Politik: die anhaltende Unterstützung des Großkapitals, die unanfechtbare Macht der Partei und die völlige Unterordnung unter Xi Jinping. Li war der Shanghaier Parteichef, der Elon Musk dazu überredete, seine Mega-Tesla-Fabrik in der Stadt zu bauen, aber auch die umfassendste und oft tödliche Abriegelung von Chinas Wirtschaftsmetropole auf Anweisung von Xi durchsetzte.

Währenddessen wurde in Hongkong die wahre Bedeutung von „Ein Land, zwei Systeme“, auch bekannt als „Hongkong regiert, Peking herrscht“, vor den Gerichten und auf der Straße demonstriert. 47 Mitglieder von Oppositionsparteien, viele von ihnen ehemalige Mitglieder des Legislativrats der Stadt, stehen vor Gericht, weil sie die Frechheit besaßen, „Vorwahlen“ abzuhalten, um ihre Kandidat:innen für eine Wahl im September 2020 auszuwählen, die dann verschoben wurde.

Anklagen

Wie die Staatsanwaltschaft erklärte, hatten die Angeklagten geplant, ihre Wahlbeteiligung zu maximieren und so ihre Chancen zu erhöhen, genügend Sitze zu gewinnen, um von der Regierung unterstützte Gesetze zu blockieren. Dies stellte eine Verschwörung im Sinne des am 20. Juni 2020 erlassenen Gesetzes über die nationale Sicherheit dar!

Am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, wurde Mitgliedern der Liga der Sozialdemokrat:innen der Stadt mit Verhaftung gedroht, falls sie an einem Marsch für die Rechte der Frauen teilnähmen – und die Demonstration wurde abrupt abgesagt. Am selben Tag wurde Elizabeth Tang, die frühere Vorsitzende einer Hausangestelltengewerkschaft und Ehefrau von Lee Cheuk-yan, einem der 47 vormaligen Mitglieder des Legislativrats, wegen des Verdachts auf „Zusammenarbeit mit dem Ausland“ verhaftet.

Am Samstag, den 11. März, wurden drei Anführer:innen der Hongkong-Allianz, die die große Demonstration zum Gedenken an das Tiananmen-Massaker 2019 organisiert hatte, zu viereinhalb Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie es versäumt hatten, auf ein Ersuchen der Nationalen Sicherheitspolizei um Daten zu antworten. Die Bedeutung des Prozesses liegt nicht so sehr in der Verurteilung, sondern in seiner möglichen Verwendung als Vorbereitung für eine weitere Strafverfolgung wegen Subversion und Handelns als Agent:innen „einer ausländischen Macht“ – bei der der Schuldspruch zweifellos als „Beweis“ vorgelegt werden wird.

Rede von Chow Hang-tung

Eine der drei, Chow Hang-tung, weigerte sich, vom vorsitzenden Richter zum Schweigen gebracht zu werden, und bestand darauf, ihre Handlungen in einer letzten Rede von der Anklagebank aus zu rechtfertigen. Wir geben diese Rede wieder, sowohl als Geste der Solidarität als auch als Anerkennung für ihren Mut:

„Euer Ehren, wir wissen ganz genau, dass wir keine ausländischen Agent:innen sind, und in dieser einjährigen Prozedur hat sich nichts ergeben, was das Gegenteil beweist. Uns unter solchen Umständen zu verurteilen, bedeutet, Menschen dafür zu bestrafen, dass sie die Wahrheit verteidigen.

Die Wahrheit ist, dass die nationale Sicherheit als hohler Vorwand benutzt wird, um einen totalen Krieg gegen die Zivilgesellschaft zu führen. Die Wahrheit ist, dass unsere Bewegung für Menschenrechte und Demokratie im eigenen Land gewachsen ist und nicht von einem finsteren ausländischen Implantat stammt. Die Wahrheit ist, dass die Menschen hier eine eigene Stimme haben, die nicht zum Schweigen gebracht werden wird.

Dem Bündnis sind die Kosten nicht fremd, die entstehen, wenn man der Macht die Wahrheit sagt. Wir sollten es wissen, da wir seit über 30 Jahren die Wahrheit über das Tiananmen-Massaker bewahren und uns für viele derjenigen eingesetzt haben, die inhaftiert, schikaniert und gedemütigt wurden, weil sie die Wahrheit gesagt haben. Wir sind seit langem bereit, den Preis dafür zu zahlen.

Mit den Bekanntmachungen und der erniedrigenden Einstufung als ausländische Agent:innen wollte die Regierung uns sagen: Geht in die Knie, verratet eure Freund:innen, verratet eure Sache, akzeptiert die absolute Autorität des Staates, der alles weiß und alles entscheidet, und ihr werdet Frieden haben!

Was wir mit unserer Aktion sagen, ist ein einziges Wort: NIE. Ein ungerechter Frieden ist überhaupt keiner. Niemals werden wir unsere Unabhängigkeit vom Staat aufgeben. Niemals werden wir dazu beitragen, unsere eigene Bewegung zu delegitimieren, indem wir das falsche Narrativ der Regierung gutheißen. Niemals werden wir uns selbst und unsere Freund:innen als potenzielle Kriminelle behandeln, nur weil die Regierung uns das vorwirft.

Stattdessen werden wir das tun, was wir schon immer getan haben, nämlich Falschheit mit Wahrheit, Demütigung mit Würde, Geheimhaltung mit Offenheit, Wahnsinn mit Vernunft und Spaltung mit Solidarität bekämpfen. Wir werden gegen diese Ungerechtigkeiten angehen, wo immer wir müssen, sei es auf der Straße, im Gerichtssaal oder in der Gefängniszelle. Dieser Einsatz, einschließlich dessen, was wir in diesem Fall getan haben, ist ein Kampf, den wir hier, in dieser Stadt, die wir unser Zuhause nennen, führen müssen. Denn unsere Freiheit, wir selbst zu sein, steht auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unserer Stadt und sogar um die der ganzen Welt.

Euer Ehren, die heutige Anhörung findet zu einem ironischen Zeitpunkt statt. Während die falschen Volksvertreter:innen in Peking ihre große Versammlung abhalten und damit beschäftigt sind, die Wünsche eines Mannes als die der Nation anzuerkennen, wird den echten Stimmen des Volkes diese Anerkennung in diesem Gerichtssaal verweigert. Wenn die Interessen der Nation von einer Partei oder gar einer Person definiert werden, wird die so genannte ‚nationale Sicherheit’ unweigerlich zu einer Bedrohung für die Rechte und die Sicherheit des Volkes, und zwar auf nationaler und sogar auf globaler Ebene, wie die Beispiele Tiananmen, Xinjiang, die Ukraine und sogar Hongkong zeigen.

Im Vergleich zu diesen eingebildeten Agent:innen nicht identifizierbarer ausländischer Körperschaften ist die konkrete, aber nicht rechenschaftspflichtige Staatsmacht sicherlich die gefährlichere Bestie. Die Regierung betont stets die Priorität ‚Ein Land, zwei Systeme’, aber das bedeutet nicht, dass wir als Bürger:innen dieses Landes die Hauptverantwortung dafür tragen, diese Bestie, die die Welt bedroht, zu zügeln. Deshalb haben wir getan, was wir getan haben, und deshalb dürfen wir niemals aufgeben.

Herr Vorsitzender, verurteilen Sie uns für unseren Ungehorsam, wenn Sie müssen, aber wenn die Ausübung der Macht auf Lügen beruht, ist Ungehorsam die einzige Möglichkeit, menschlich zu sein. Dies ist meine Unterwerfung.“




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Pakistan: Rechte versucht, minimalen Schutz für Transpersonen rückgängig zu machen

Revolutionary Socialist Movement (Pakistan), Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Während im Iran die Arbeiter:innenklasse gegen das diktatorische, patriarchale Regime auf die Straße geht, wird über die Attacke der fundamentalistischen Rechten auf Transpersonen in Pakistan, die ohnehin schon massiv unterdrückt werden, geschwiegen.

Ebenso wie die Mullahs im Iran versuchen, Frauen daran zu hindern, selbst zu entscheiden, was sie tragen, will das pakistanische Äquivalent mit seiner protofaschistischen Basis die kleinen Erfolge des Gesetzes zum Schutz von Transpersonen aus dem Jahr 2018 zurücknehmen. Es war zwar kein großer Wurf, kann jedoch als kleiner Fortschritt angesehen werden. Es gewährt Transpersonen zum Beispiel nicht das Recht, sich entgegen ihrem eingetragenen Geschlecht als Mann oder Frau zu identifizieren. Dennoch erlaubt es ihnen, sich selbst dem dritten Geschlecht im Unterschied zu ihrem bei Geburt zugeschriebenen zuzuordnen. Dies gilt auch für Ausweisdokumente.

Die religiöse Rechte begehrt, wie zu erwarten war, bewaffnet gegen dieses Gesetz auf und verbreitet eine Deutung, die wie gewöhnlich in Betrug und Verderbtheit wurzelt, die typisch für ihresgleichen ist. Als Begründung gibt sie an, dass die amtliche Änderung des Geschlechts als Möglichkeit genutzt werden könne, das Verbot von Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare zu umgehen, indem sie vorgeben, ein anderes Geschlecht zu repräsentieren. Doch das ist unwahr.

Die Kräfte, die gegen dieses Gesetz mobilisieren, welches im Jahr 2018 verabschiedet wurde, sind dafür bekannt, seit langem protofaschistische Tendenzen zu umfassen. Sie sind ebenfalls dafür bekannt, ein extrem patriarchales und rückschrittliches Frauenbild zu vertreten. Die Partei Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft; JI) spielte eine zentrale Rolle für die drakonischen Gesetze, die der Diktator Zia-ul-Haq (1978 – 1988) während der Militärdiktatur eingeführt hat. Die Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl) (JUI-F; Versammlung Islamischer Kleriker), deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman ist, wurde vor kurzem, als die PDM (Pakistan Democratic Movement; Pakistanische Demokratische Bewegung; Parteienkoalition gegen Expremierminister Imran Khan, 2020 gegründet) in Opposition zu Imran Khan gegründet wurde, als  Held:in der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans gefeiert. Doch sie pflegt die hässliche Tradition, die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe zu beschmieren. In der Zwischenzeit hat sich noch eine weitere Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) der widerwärtigen Hasskampagne angeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan ein Frauenhasser vom selben Schlag ist.

Senator Mushtaq Ahmad Khan von der Partei Jamaat-e-Islami steht an der Spitze der derzeitigen Hasskampagne gegen die Rechte von Transmenschen, die zumindest auf dem Papier bestehen. Er hat vorgeschlagen die Gesetzeslage dahingehend zu ändern, dass Gremien von Ärzt:innen geschaffen werden sollen, die dann wiederum die Entscheidungsmacht darüber hätten, ob eine Person „komplett“ männlich oder weiblich sei. Dies solle mit einer invasiven körperlichen Untersuchung einhergehen. In seiner Vorstellung sollten nur die, bei denen das Geschlecht auf Basis der Fortpflanzungsanatomie bei Geburt „unklar“ sei, das Recht dazu haben, über ihr Geschlecht zu entscheiden. Kurz gesagt sollten lediglich Menschen mit mehrdeutigen Genitalien (Anm.: in der Regel sog. Intersexuelle) wählen dürfen und auch nur, wenn sie sich vorher der Tortur einer Leibesuntersuchung durch eine ärztliche Instanz unterzögen. In einem Land, wo die meisten Ärzt:innen (Anm: in der Regel Männer) bereits massiv in die Privatsphäre ihrer Patient:innen durch wertende Kommentare eingreifen, bspw. wenn es um Themen rund um Sex geht, kann man sich ausdenken, was das für Leben und Gesundheit von Transpersonen an Belastung mit sich bringt.

Die Begründung Mushtaq Ahmad Khans hat gezeigt, dass sowohl Frauenunterdrückung als auch die Geschlechterungleichheit und die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten eine Klassenfrage darstellen. So gab er bei Voice of America zu, dass die eigenständige Wahl des Geschlechtes „eine Gefahr für die Familie und das Erbschaftssystem darstellt“ und es „die Tür dafür öffnet, dass 220 Millionen Menschen auswählen zu können, irgendwas zu sein“. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Garant für das Überleben des kapitalistischen Systems, denn sie dient in erster Linie dazu, das Privateigentum dort zu halten. Für Pakistan ist wichtig anzumerken, dass insbesondere in islamischen Gesellschaften Frauen den halben Anteil des Mannes am Erbe erhalten. Die mickrige Hälfte, die ihnen zusteht, wird dennoch als Teil angesehen, der der Familie des Mannes zustünde. Die Ängste, dass Privatbesitz anders verteilt würde, und die Bedrohung, die das Gesetz offensichtlich für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes zusammenwirken, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu sichern. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne Familiensystem nicht fortbestehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Transgendern sieht vor, dass eine Person, die sich als Transmann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine Transfrau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional so manipulieren, dass sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten, oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich vorstellen, welche Ängste das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“. Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich.

Obwohl sie unbegründet sind, bedeuten sie in der Realität eine Bedrohung für das Leben und die Sicherheit von Transpersonen. Im Jahr 2021 wurden nachweislich mindestens 20 Transpersonen in Pakistan umgebracht. Das pakistanische Religionsgericht sowie der ständige Ausschuss für die Überprüfung im Senat prüfen die Argumente zum Gesetz. Der Rat für Islamische Ideologie (ein weiteres Verfassungsorgan Pakistans), dessen Aufgabe es ist, die pakistanischen Gesetze im Lichte des Islam zu überprüfen, hat das Gesetz aus dem Jahr 2018 für unislamisch erklärt. Wenn das Gesetz geändert wird, um die religiöse Rechte und ihre frauenfeindlichen Verbündeten in fast allen etablierten Parteien Pakistans zu besänftigen, käme das einer großen Niederlage für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Menschen in Pakistan gleich. Heute haben sie es auf die Transgender abgesehen. Morgen könnten sie versuchen, den Hidschab (Verschleierung oder Kopfbedeckung nach islamischem Gesetz) im Namen des Islam durchzusetzen wie ihre benachbarten Kleriker im Iran. Es ist ein Teufelskreis, in dem die imperialistischen Mächte diese Beispiele nutzen werden, um zu Hause weiter mit der Islamophobie hausieren zu gehen, während die arbeitenden Massen sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Halbkolonien weiter leiden.

Daher rufen wir Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kräfte in Pakistan auf, sich gegen diese dogmatischen Kräfte zu stellen. Wir können nur selbst etwas bewirken, denn die Bourgeoisie wird keinen Finger rühren. Mushtaq Khan hatte bereits 2021 versucht, seine unsägliche Agenda durchzusetzen. Doch es schlug damals dank des Einsatzes von Shireen Mazari (pakistanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende der Parlamentskommission für die Ernennung der/s Chef:in der Wahlkommission und ihrer Mitglieder) fehl. Gegenwärtig braucht die pakistanische Bourgeoisie eine Angst, die sie über ihre Medien und Kleriker in den Köpfen der Massen hervorrufen kann, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Jamaat-e-Islami spielt langjährig die Rolle der Schutzmacht eines sich auflösenden kapitalistischen Systems. Ohne selbst je an die Macht kommen zu können, besteht darin ihr einziger Job, um sich ihren Anteil an den Pfründen zu sichern. Denn die Gruppe, auf die sie sich in der Gesellschaft stützt, ist überschaubar. Es sind vor allem kleine Geschäftsleute und Händler:innen, also Kleinbürger:innen. Historisch gesehen sind das genau diejenigen, die dazu mobilisiert werden können, auch mit Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen vorzugehen. Genau deswegen ist es unsere Aufgabe, sie nicht gewähren zu lassen und uns mit all unserer Kraft gegen diese Attacken (auf Transsexuellenrechte) als Ausdruck patriarchaler Gewalt durch reaktionäre Kräfte zu stellen. Unsere Brüder und Schwestern im Iran weisen uns den Weg!




China: Ende der Null-Covid-Politik

Peter Main, Infomail 1210, 14. Januar 2023

Die rasche Lockerung von Chinas Null-Covid-Sperren ist eine direkte Folge der Massenproteste, die das Land erschüttert haben. Die Proteste selbst korrigieren auch das weit verbreitete Bild, dass die Bevölkerung nur die ewig gehorsame, gedankenlose Sklavin der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist.

Die erste Reaktion des Einparteienstaates bestand jedoch im Versuch, die Demonstrationen zu unterdrücken. Das Aufgebot an gut ausgebildeter und ausgerüsteter Bereitschaftspolizei macht deutlich, dass sich das Regime seit langem auf solche Konfrontationen vorbereitet hat. Es weiß, dass seine weitere Herrschaft von der Repression abhängt.

Die Auswirkungen der Proteste bedeuten jedoch nicht, dass sie den einzigen Faktor für das Einlenken von Ministerpräsident Xi Jinping ausmachten. Die Entscheidungen einiger Provinzbehörden und lokaler Regierungen, die Lock-down-Regeln „neu zu interpretieren“, bevor es eine neue Entscheidung aus dem Machtzentrum Peking gab, weisen auf Spaltungen innerhalb der KPCh selbst hin.

Das ist nicht überraschend. Die unteren Ränge der Partei stehen in ständigem Kontakt mit der Öffentlichkeit, und zu ihnen gehören auch Zehntausende von „Geschäftsleuten“, d. h. Kapitalist:innen, die den Zusammenbruch ihrer Unternehmen erlebt haben. Parteimitglieder sind auch Schlüsselfiguren in den Kommunalverwaltungen auf allen Ebenen.

Ein Beamter der Stadt Dongguan sagte laut Financial Times, dass die lokalen Regierungen Schwierigkeiten hätten, die Subventionen aufrechtzuerhalten, um die Fabriken offen zu lassen, da sie auch für die Covid-Tests aufkommen müssten. Bei Millionen von Menschen, die sich täglich testen lassen müssen, nur um zur Arbeit zu gehen, wird es immer schwieriger, die Bilanzen auszugleichen.

Am anderen Ende der sozialen Skala, laut Forbes-Liste der 100 reichsten Menschen Chinas, ist das Vermögen der reichsten Tycoons des Landes im letzten Jahr um 39 Prozent gesunken. Das liegt nicht nur an den Covid-Maßnahmen, sondern auch an der Rezession in der übrigen Welt, von der China betroffen ist. Die Exporte, für die ein Wachstum von 4,5 % für das dritte Quartal bis September erwartet wurde, schrumpften tatsächlich um 0,3 %.

Nicht nur bei den Covid-Beschränkungen macht Xi einen Rückzieher. Auch die finanziellen Anforderungen, die sich auf die so wichtige Bau- und Immobilienbranche auswirken, wurden erheblich gelockert. Die Beschränkungen des Verhältnisses von Schulden zu Kapital, die so genannten „drei roten Linien“, bedrohten die Zahlungsfähigkeit vieler großer Unternehmen, von denen Evergrande nur das bekannteste ist.

Die chinesische Zentralbank hat eine ursprünglich für Ende des Jahres angesetzte Frist verlängert, innerhalb derer die Kreditinstitute ihren Anteil an Krediten im Immobiliensektor begrenzen müssen. Dies bedeutet, dass Banken und andere Kreditgeber:innen mehr Zeit haben, um den Anteil der immobilienbezogenen an ihren Gesamtschulden anzupassen. Die Zeit soll genutzt werden, um Projekte abzuschließen und so die ausstehenden Schulden zu verringern.

Insgesamt sehen die Aussichten für das kommende Jahr in China düster aus. Die zentrale Rolle der Exporte in der Wirtschaft, bisher eine der größten Stärken des Landes, wird zu einer Gefahr, wenn die Nachfrage im Rest der Welt zurückgeht, teils wegen der steigenden Zinsen, teils wegen der Lager, die immer noch mit unverkauften Waren gefüllt sind. Sportausrüsterkonzern Nike zum Beispiel meldete im September, dass seine nordamerikanischen Lagerbestände am Ende des dritten Quartals um 65 % höher waren als im Vorjahr.

Mit der Verlangsamung der Wirtschaft werden Arbeitsplätze, -bedingungen und Löhne unweigerlich unter Druck geraten, und es wird für Aktivist:innen immer wichtiger werden, die Lehren aus den Anti-Lockdown-Protesten zu ziehen. Die Geschwindigkeit, mit der Taktiken in einer Stadt oder Region in weit entfernten Orten aufgegriffen wurden, zeigt, dass Pekings Überwachungsprogramme, so mächtig sie auch sein mögen, die Kommunikation nicht gänzlich unterbinden.

In der Tat wird berichtet, dass die Zensur von „We Chat“ und anderen „sozialen Medien“ in den letzten zwei Wochen deutlich nachgelassen hat, wobei Beiträge, die früher innerhalb von Stunden entfernt worden wären, nun tagelang im Umlauf sind. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, müssen die Aktivist:innen an allen Fronten ihre völlige Unabhängigkeit von den sich entwickelnden Fraktionen in der KP bewahren, so wie sie auch unabhängig von den Kapitalist:innen sein müssen, die beginnen, sich mit der Partei zu zerstreiten.




Nicht nur Chinas Coronastrategie steht auf dem Spiel: Heiße Nächte in chinesischen Großstädten

Resa Ludivien, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

In weiten Teilen Chinas herrscht mal wieder ein strenger Lockdown. Ein Brand in einem Haus in Xinjiang hat das Fass zum Überlaufen gebracht. In der Viermillionenstadt Urumtschi mussten Anwohner:innen dabei zusehen, wie es in einem Mehrfamilienhaus brannte. Grund dafür war, dass wegen der im Zuge der Coronamaßnahmen errichteten Straßensperrungen für die Feuerwehr kein Durchkommen war. Auch an dem Haus angekommen, war eine reguläre Intervention „schwierig“. Bedenkt man, dass in vielen chinesischen Großstädten in jedem Viertel so viele Menschen wie in ganzen europäischen Großstädte leben, ist es kein Wunder, dass diese Bilder auch jene in Angst und Panik versetzt haben, die sich sonst wenig mit dem abgelegenen Westen des Landes beschäftigen. Noch wahnwitziger ist, dass die Ausgangssperre die Menschen am Verlassen des brennenden Hauses gehindert hat. Resultat: 10 Tote, die wahrscheinlich noch leben würden, wenn die Staatsdoktrin nicht so unflexibel wäre.

Doch der tragische Tod dieser Menschen führte auch dazu, dass sich die lange angesammelte Wut und Verzweiflung der Menschen Bahn brachen.

Seit dem 27. November gibt es landesweit Proteste. Sogar Rufe nach Xis Rücktritt sind zu vernehmen. So weit haben es die Forderungen in den letzten Jahrzehnten selten getrieben. Der Staat reagierte mit einer gestiegenen Polizeipräsenz und der undurchsichtigen Aussage: „Wir passen die Strategie an“. Nur wie und ob, steht im luftleeren Raum.

Bereits im Frühjahr hatten die Maßnahmen zu Protesten geführt (https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/20/china-vor-dem-scheitern-des-nationalen-projektes-0-covid/), doch die  Proteste der letzten Woche stellen wohl die größten öffentlichen politischen Proteste seit Jahrzehnten dar. Auch wenn sie massiv unterdrückt und infolgedessen auch kleiner wurden, so verweisen sie auf die tiefe soziale und politische Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen China unter KP-Diktat. In Urumtschi (Xinjiang), Changsha (Hunan), Chengdu (Tschengdu; Sichuan), Zhengzhou (Tschengtschau Schi; Henan), Wuhan (Hubei; Zentralchina), Guangzhou (Kanton; Guangdong; Südchina), Shanghai (Schanghai; Ostchina), Beijing (Peking; Nordchina) sowie weiteren Städten gingen und gehen die Menschen auf die Straße.

Ausgangspunkt: Xinjiang

Urumtschi, der Ausgangspunkt der Proteste, ist die Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang. Gerade durch Großereignisse wie die Olympischen Spiele wurde die Unterdrückung regelmäßig noch einmal verstärkt, um „Störungen“ zu vermeiden. Das trifft vor allem die autonomen Regionen. So ist es in diesen Zeiten noch viel schwieriger, nach Xinjiang oder Tibet zu reisen, als ohnehin schon. Auch wenn die Coronamaßnahmen das ganze Land treffen, ist es in Krisenzeiten zusätzlich einfacher, bereits unterdrückte nationale Minderheiten mit noch mehr Repressalien zu schikanieren.

Laut Staatsdoktrin gibt es 55 anerkannte ethnische Minderheiten in China. Doch spielen sie in der öffentlichen Darstellung nur in zwei Fällen eine Rolle: Wenn sie „stören“ und man sie kommerziell vermarkten kann. An einem Tag werden dann Tourist:innen durch singende und tanzende Menschen in Tracht geführt und am nächsten sind alle von der Han-Mehrheit abweichenden Traditionen, Sprachen und Kultur der Führung ein Dorn im Auge.

Dass aus dieser von Repressalien gequälten Region eine Bewegung ausgehen könnte, hätte wohl niemand gedacht. Zu abgeschottet, zu überwacht und zu weit weg von dem Gedächtnis der Han-chinesischen Mehrheit, die sonst nur wenig zur chinesischen Umerziehungspolitik verlauten lässt. Doch nun könnte Xinjiang insofern ein Zünglein an der Waage sein, als vor allem die dort lebende muslimische Minderheit nichts mehr zu verlieren hat. Was könnte schlimmer sein als Verfolgung, Personen, die verschwinden und in „Umerziehungslager“ gesteckt werden?

Bisher nehmen die unwillkürlichen Festnahmen im Land weiter zu. Dies trifft nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ an Aktivist:innen oder Menschen, die sich ohne gültigen Aufenthaltsstatus (Hukuo) in Großstädten aufhalten. Sogar westliche Journalist:innen sind betroffen, wie ein Video zeigt, auf dem ein BBC-Vertreter festgenommen wird. Das Einzige, was er den Umherstehenden noch zurufen kann, war: „Informiert das Konsulat!“  Eine Exit-Strategie, die Chines:innen nicht haben. Kein Wunder also, dass gerade in dieser Zeit mehr und mehr sich nach einem politischen Umschwung sehnen.

Der Ruf nach Demokratie

Der Ruf nach Demokratie und Menschenrechten stellt nicht zufällig eine immer wiederkehrende Forderung von Protestbewegungen in China dar. Die Herrschaft der KP und die scheinbare Allmacht des obersten Führers, Xi Jinping, bedeuten auch, dass sich der Kampf um obige Forderungen direkt gegen diese Herrschaft richtet – und damit auch enorme Sprengkraft besitzt. Die Möglichkeiten chinesischer Bürger:innen und insbesondere von nationalen und ethnischen Minderheiten, aber auch der Arbeiter:innenklasse außerhalb der Großstädte, sind so begrenzt, dass unter der Oberfläche ein Vulkan brodelt. Es ist zugleich auch ein tiefer sozialer Widerspruch, denn schließlich profitierten der chinesische Kapitalismus, aber auch europäische und US-amerikanische Unternehmen von der Ausbeutung entrechteter Arbeitskraft.

Bewegungsfreiheit, ja selbst die Freiheit, sein Haus zu verlassen, gibt es in der chinesischen Variante des Lockdowns nicht. Die Straßen werden durch Polizei und Militär kontrolliert. Quarantäne bedeutet, in seinem Haus eingesperrt zu sein. Ganz zu schweigen von der dauerhaft fehlenden Versammlungs- und Pressefreiheit sowie Wahlen, bei denen nicht nur klar ist, dass sich nichts ändert, sondern auch welche immer gleichen Männer die Macht in ihren Händen halten werden.

Da wird schon ein weißes Blatt zum Politikum. Eben solch ein Blatt ist nun ein Zeichen des Protests, weswegen einige von der „white paper revolution“ sprechen. Es soll darauf aufmerksam machen, was alles nicht gesagt werden darf. Ob es tatsächlich eine Revolution wird, bleibt abzuwarten. Aber die von den Aktionen in Hongkong inspirierte kreative Protestform verdeutlicht, dass die Aktiven in verschiedenen Regionen voneinander lernen und verweisen auf entstehende, wenn auch noch schwache Verbindungen zwischen den Städten. Während der Proteste bleibt es nicht bei den unbeschriebenen Blättern. Wenn die Demonstrierenden diese in die Luft halten, skandieren sie: „Wir brauchen keine Diktatur, wir wollen Wahlen“.

Repression

Die Polizei reagiert mit Gewaltausbrüchen und Festnahmen. Insgesamt ist die Gewaltbereitschaft gestiegen, auch bei der Nichteinhaltung von Coronamaßnahmen. So gab es in Hongkong Angriffe der Polizei bei Maskenverweigerung. Allerdings sollte man nicht aus westlicher Arroganz heraus die chinesischen Proteste mit den reaktionären in Deutschland oder Österreich vermischen. Und auch das Nichttragen einer Maske in Zeiten eine Pandemie macht eine/n noch nicht zum/r Held:in.

Die Auswirkungen der Maßnahmen hierzulande sind auch nicht zu vergleichen mit denen in China. Denn trotz der immer mehr verarmenden Arbeiter:innenklasse in Europa gibt es zumindest in Ländern wie Deutschland formal einen Sozialstaat mit „Hilfsgeldern“ und Gewerkschaften als Interessenvertretung, die, auch wenn sie schlechte Abschlüsse in Tarifverhandlungen erzielen, zumindest einige Zugeständnisse erreichen können. Eben genau das, was es in China nicht gibt. Die soziale Lage ist untrennbar mit der wirtschaftlichen verbunden. Hier nur ein paar Beispiele:

Es wird auch in weiten Teilen Chinas langsam Winter. Wer kein Geld besitzt oder viel weniger als der Durchschnitt verdient, weil er oder sie nicht zur Arbeit kann, sondern zuhause eingesperrt ist, bekommt schlimmstenfalls gar nichts. Besonders diejenigen, die im großen Schattensektor der Großstädte ohne Arbeitserlaubnis arbeiten, betrifft dies. Kein Geld, kein Essen, keine Heizung.

Covid als Gefahr für die Wirtschaft

Chinas Nutzen aus der Pandemie ist nicht mehr so stark wie zu Beginn, als sich seine Politik als die überlegene zeigte. Mittlerweile ist die westliche Welt durchgeimpft, zumindest alle, die es wollten, und immer mehr halbkoloniale Länder erhalten Zugang. China hingegen setzt auf Sinovac und Sinopharm, deren Wirksamkeit bei um die 50 % der modernen Impfstoffe liegt. 69 % der älteren Bevölkerung erhielten bisher eine vollständige Impfung. Die Infektionszahlen steigen dennoch oder gerade deswegen und die Regierung versucht, sie in den Griff zu bekommen. Vergebens. Eine großangelegte Impfkampagne oder die Zulassung der M-RNA-Impfstoffe sind nicht in Sicht.

Die ständigen Lockdowns zeitigen mittlerweile Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Produktivität sinkt, die jährliche Wachstumsrate auch. Letztere wird 2022 nur noch ungefähr 3,9 % betragen. Schon jetzt zeigt sich, dass Chinas Aufschwung und somit auch seiner Durchsetzungskraft im imperialistischen Konkurrenzkampf die Lockdowns im Weg stehen. Bereits jetzt machen sich aber auch die Proteste an den Börsen bemerkbar.

Ein weiteres Problem für Staatsführer Xi. Über kurz oder lang wird die Führung von der Null-Covid-Strategie in einem Land abrücken müssen. Denn es sind derzeit vor allem Investor:innen, die fernbleiben. Aber irgendwann setzt China auch die eigene Versorgung aufs Spiel. Wenn weite Teile regelmäßig nicht arbeiten können, hat das auch Konsequenzen für die Nahrungsmittel- oder Energieversorgung. Inwiefern in diesem Fall auch einfache Mitglieder des Militärs genug vom Eingesperrtsein, Trennung von der Familie und wirtschaftlicher Schwäche des Landes haben oder gar selbst die Gefahr von Versorgungsengpässen sehen und nicht mehr bedingungslos hinter der Führung stehen, bleibt abzuwarten. Schaden würde es nicht.

Arbeiter:innenrevolte

Besondere, längerfristige Bedeutung spielt die Rolle der Lohnabhängigen in der aktuellen Protestwelle. In Zhengzhou wurden Arbeiter:innen von Foxconn sogar an ihrem Arbeitsplatz zu Tausenden in Quarantäne gepfercht, nachdem es ein paar positive Tests gab. Einziger Vorteil daran, mit den positiv getesteten Kolleg:innen eingesperrt zu sein: Zum Organisieren weiterer Aktionen sind schon mal alle an Ort und Stelle. Auch hier kam es zu Protesten. Bisher scheinen sich aber noch keine Führungspersonen über lokale Aktionen hinaus herauskristallisiert zu haben.

Die Proteste sprießen mehr wie Pilze aus dem Boden, als sie koordiniert sind. Sie umfassen Jugendliche, Arbeiter:innen, aber auch die sog. „Mittelschicht“, die es vor allem in den Großstädten gibt. Oft spielen Studierende eine zentrale Rolle. Das spricht dafür, dass trotz der starken Überwachung der sozialen Medien nicht alles eingedämmt werden kann, birgt aber auch die Gefahr, dass diese Schwäche ausgenutzt wird. Eine Bewegung entsteht zwar dynamisch und „spontan“, eine richtungsweisende, fortschrittliche Führung und somit eine Strategie und Programmatik aber nicht.

Dieser besondere Moment muss genutzt werden. Wenn die Proteste so weiter gehen wie bisher, ist es wahrscheinlich, dass sie trotz ihres Elans und ihres Heroismus unterdrückt werden von einem zentralisierten Staatsapparat. Aber schon die Tatsache, dass die Regierung Versprechen zu Veränderungen ihrer Politik abgeben muss, verdeutlicht, dass sie diese Bewegung nicht bloß zerschlagen kann, weil ihr sehr bewusst ist, dass Tausende Demonstrierende nur die Spitze eines viel größeren Eisbergs an Opposition zum herrschenden Regime darstellen.

Zugeständnisse durch die Regierung, eine Modifikation ihrer Coronapolitik wären schon ein Teilerfolg, der zeigt, dass auch in China Widerstand nicht zwecklos ist. Schafft es der scheinbar allmächtige Xi in dieser Krise nicht, das Land wieder zu befrieden und die Wirtschaft anzukurbeln, könnte sich auch seine eigene Partei gegen ihn wenden. Aber die Menschen brauchen mehr als eine etwaige Reform von oben oder den Austausch von Führer:innen.

Wie auch immer die Bewegung weiter verlaufen wird, so wird sie einen prägenden Einfluss auf viele Aktivist:innen ausüben, weil sie grundlegende Fragen von Strategie und Taktik, Programm und Organisierung unter den Bedingungen des chinesischen Kapitalismus aufwirft. Dabei gilt es, den Kampf um demokratische Rechte mit dem der Lohnabhängigen zu verbinden, die Frage nach Meinungs- und Organisationsfreiheit mit der zu verbinden, welche Klasse das zukünftige China lenken soll.

Dabei wird die Verbindung der fortschrittlichen Teile der Studierenden mit der Arbeiter:innenklasse von entscheidender Bedeutung sein, denn letztlich kann nur sie die notwendigen Veränderungen erzwingen und durchsetzen. Dafür braucht es koordinierte Aktionen, Streikkomitees in Betrieben sowie in Stadtteilen und eine landesweite Vernetzung. Die aktuellen Proteste zeigen, dass wahrscheinlich demokratische Forderungen am Beginn der nächsten Welle von Aktionen stehen und größere politische Bewegungen rasch mit der Frage des Regimes konfrontiert werden. Außerdem dürfen all die mutigen Demonstrierenden im Osten des Landes, die mehr in der medialen Berichterstattung erscheinen, die Minderheiten im Westen sowie die Landarbeiter:innen nicht vergessen lassen. Die gezielte Spaltungspolitik der letzten Jahre muss überwunden werden. Dazu zählen die Abschaffung der Lager für Muslim:innen sowie des Hukuos, der Klassenzugehörigkeit qua Geburt aufrechterhält und zusätzlich die Arbeiter:innen auch geografisch spaltet.

Es braucht also einen gezielten Aufbau und eine Vernetzung der Kampfstrukturen auch über die großen Städte hinaus auf dem Land. Da rein legale Arbeit in China so gut wie unmöglich ist, muss ihr Aufbau, vor allem aber der einer revolutionären Partei auch mit illegaler Untergrundtätigkeit verknüpft werden.




China: Xi schottet die Partei ab

Peter Main, Neue Internationale 269, November 2022

Der zwanzigste Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verlief vorhersehbar und nach Plan. Nun ja, fast. Dem Parteivorsitzenden Xi Jinping gelang es endlich, alle 24 Plätze im Politbüro und die sieben Plätze im Ständigen Ausschuss mit seinen eigenen Anhänger:innen zu besetzen. Obwohl er 2012 die Unterstützer:innen von Hu Jintao und Li Keqiang, dem vorherigen Präsidenten und dem bis Ende diesen Jahres noch amtierenden Premierminister, ausgeschaltet hatte, war er gezwungen, sie bis jetzt im höchsten politischen Gremium, dem Ständigen Ausschuss, zu behalten.

Die einzige Unterbrechung der sorgfältig inszenierten Inszenierung monolithischer Einheit erfolgte in der letzten Sitzung, als der Kongress über seine geänderten Statuten, d. h. die Bedingungen der Parteimitgliedschaft, abstimmen sollte. Plötzlich wurde Hu von Beamt:innen von seinem Platz am obersten Tischende entfernt und weggeführt. Beim Gehen warf er einen Blick auf Xi und klopfte Li leicht auf die Schulter.

Episode

Wir werden vielleicht nie genau erfahren, was hinter dieser außergewöhnlichen Episode steckt, aber viele haben bemerkt, dass Hu unmittelbar vor seiner Absetzung die rote Mappe vor ihm geöffnet hatte, die Berichten zufolge geschlossen bleiben sollte, bis Xi gesprochen hatte. Wurde er, der frühere Parteivorsitzende, der die Erholung von der Großen Rezession beaufsichtigte, einfach wegen eines Verstoßes gegen das Protokoll abgesetzt? Befürchtete man, er könnte Xi unterbrechen? Oder war es einfach nur eine Demonstration, dass es absolut niemandem erlaubt ist, von dem von Xi festgelegten Drehbuch abzuweichen?

An die offizielle Version, dass Hu erkrankt war und ihm zu seinem eigenen Wohl weggeholfen wurde, scheint jedoch niemand zu glauben.

Was auch immer daran wahr sein mag, der gesamte Kongress hat auf jeden Fall deutlich gemacht, dass Xi jetzt die volle Kontrolle innehat. Für den Fall, dass irgendjemand Zweifel hatte, verpflichtet die Änderung der „Satzung“ alle Parteimitglieder, seinen Status als „Kern der Parteiführung“ zu wahren.

Eine solche Beweihräucherung, eine solche monolithische Einheit, wirft sofort die Frage auf: „Wovor hat er Angst?“ Sicherlich sind solche Maßnahmen nur dann notwendig, wenn es irgendeine Art von Bedrohung gibt. Selbst in einem so streng kontrollierten Land gibt es in der Tat Anzeichen von Dissens. Eine Woche vor Beginn des Kongresses erklärten zwei führende Mediziner, George Fu Gao und Zhong Nanshan, dass die durch Abriegelungen erzwungene Pandemiestrategie, die als das Markenzeichen von Xis Politik gilt, nicht mehr zu erreichen sei. Am nächsten Tag widerlegte die Tageszeitung People’s Daily diese Idee und lobte die Politik in den höchsten Tönen.

Am ersten Tag des Kongresses ließ eine einsame Figur ein Transparent von einer Straßenbrücke in Peking herunter, unter den vielen Slogans lautete der erste: „Wir wollen keine Tests, wir wollen Essen!“ Der „Brückenmann“, wie er jetzt genannt wird, in offensichtlicher Anspielung auf den „Panzermann“, der sich nach dem Tiananmen-Massaker im Juni 1989 einer Panzerkolonne widersetzte, fasste die Gefühle von Millionen Menschen treffend zusammen.

Er wies auch auf die entscheidende Schwäche von Xis Diktatur hin: Wenn seine Herrschaft so vollständig ist, dann ist er direkt für alle Fehler, alle Misserfolge verantwortlich – und angesichts der weltweiten Verbreitung von Covid wird die Abriegelungsstrategie scheitern. Die Gesundheitsbehörden wissen es, die lokalen Regierungsvertreter:innen wissen es, zweifellos wissen es auch viele Parteimitglieder – aber man darf es nicht sagen, und man kann es nicht korrigieren. In dieser Frage hat sich Xi selbst in eine Ecke gedrängt. Langfristig führt dies zu einer politischen Lähmung: Xi kontrolliert die Partei, die Partei kontrolliert alles, wenn Xi abgesetzt würde, wäre das gesamte Regime bedroht.

Wirtschaft

Die Abriegelung ist nur eines der Themen, aus denen Xis Gegner:innen in der Partei und im ganzen Land Kraft schöpfen werden. Ein weiteres ist die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten fand der Kongress vor dem Hintergrund einer sich abschwächenden Wirtschaft statt. Die Industrieproduktion ist 2022 bis Juli nur um 0,4 % gestiegen. Die Quartalsvergleichszahl des Bruttoinlandsprodukts, die während des Kongresses veröffentlicht werden sollte, sich aber bis an dessen Ende verzögerte, wies eine jährliche Wachstumsrate von 3,9 % auf, geplant waren 5,5 %.

Die von Xi verhängten Abriegelungen sind zum Teil dafür verantwortlich, da sie die Produktion, die Lieferwege und den Inlandsverbrauch stören. Seine Gegner:innen weisen auch darauf hin, dass die Vereitelung jeglicher Hoffnung auf eine Lockerung der Politik durch den Kongress internationale Folgen zeitigte. Am Morgen nach Ende des Kongresses erlitt der Nasdaq-Index der in den USA notierten chinesischen Unternehmen mit einem Minus von 14,4 % seinen bisher größten Tageseinbruch. Auch der Hang-Seng-Index Hongkongs verzeichnete mit einem Minus von 1,6 % den stärksten Rückgang seit der Krise von 2008.

Chinas wirtschaftlicher Abschwung ist jedoch nicht nur Ergebnis einer verfehlten Politik. Im Inland unterliegt es ebenso den zyklischen Mustern der kapitalistischen Produktion wie jede andere kapitalistische Wirtschaft. Das rasante Wachstum nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 endete in der Krise von 2008. Der Aufschwung wurde durch enorme staatliche Ausgaben für die Infrastruktur angeheizt, wurde aber durch den Börsencrash von 2016 gestoppt, der Xi dazu veranlasste, gegen einige der kapitalistischen Kreise vorzugehen, die er anfangs gefördert hatte. Seitdem sind die Wachstumsraten stetig gesunken.

Auf internationaler Ebene hat der Aufstieg des Landes zu einer großen kapitalistischen Wirtschaft, einer imperialistischen Macht, es in Konflikt mit den bereits bestehenden Weltmächten gebracht, vor allem mit den USA. Die US-Sanktionen gegen China, die unter Obama begonnen und seither aufrechterhalten wurden, bringen nun schwerwiegende Auswirkungen mit sich, vor allem in den Bereichen, in denen Spitzentechnologie nicht nur industriell, sondern auch militärisch genutzt werden kann.

Dies sind die Faktoren, die Xis Politik geprägt haben, die im Allgemeinen durch eine größere Kriegslust auf internationaler Ebene und die Unterdrückung potenzieller Rival:innen im Inland gekennzeichnet ist. Wie der Brückenmann gezeigt hat, gibt es jedoch weitverbreitete Ressentiments und Feindseligkeit gegenüber der Einparteiendiktatur und dem angeblich allmächtigen Führer. Er hat auch gezeigt, vor wem Xi Jinping wirklich Angst hat, nämlich nicht vor den Amerikaner:innen, sondern vor den Chines:innen.




Flut in Pakistan: kein natürliches, sondern ein kapitalistisches Desaster

Revolutionäre Sozialistische Bewegung, Infomail 1120, 5. Oktober 2022

Seit Monaten leidet die Bevölkerung Pakistans unter einer der schwersten Überschwemmungen, die je verzeichnet wurden. Die durch den Klimawandel verursachte Katastrophe hat zur Überflutung eines Drittels seiner gesamten Landmasse geführt. Schätzungsweise 33 Millionen Menschen sind vertrieben worden. Offizielle Zahlen sprechen von 1.500 Toten, ein Drittel der Opfer sind Kinder. Angesichts des weitgehenden Zusammenbruchs der Infrastruktur, der Telekommunikation und der medizinischen Versorgung bleibt die tatsächliche Zahl unbekannt und liegt sicherlich weit höher.

Die verursachte Zerstörung wird auf mindestens 30 Milliarden US-Dollar geschätzt. Eine astronomische Summe, wenn man die schwache pakistanische Rupie (Währung) bedenkt.

Insgesamt belaufen sich die Schäden auf mehr als 11 % des pakistanischen Bruttoinlandsprodukts. Selbst die verheerende Flut von 2010, bei der damals mehr als 2.000 Menschen ums Leben kamen und die bis dahin die schlimmste aller Zeiten war, lässt sich nicht mit der aktuellen Situation vergleichen.

Bisher wurden Ernteflächen von 3,6 Millionen Hektar zerstört. Drei Millionen Nutztiere starben. So ist ein großer Teil der Ernte vernichtet. Für die nächste kann möglicherweise nicht ausgesät werden, da viele Gebiete noch monatelang überflutet sein werden. Nun naht der Winter. In jüngster Zeit kam es bereits aufgrund des weltweiten Sanktionskriegs zu Preissteigerungen. Jetzt droht eine noch nie dagewesene Hungerkrise.

Keine „natürliche“ Katastrophe

Seit dem Ausbruch der Krise im Juni wurde Pakistan zu wenig und zu spät unterstützt. Das Land wird unter seinen Auslandsschulden bei privaten und staatlichen Akteur:innen in den imperialistischen Ländern erdrückt. In ihrem Namen hat der Internationale Währungsfonds (IWF) eine weitere Runde von Preiserhöhungen, Subventionskürzungen und Privatisierungen gefordert. Unterdessen sind die verschiedenen politischen Fraktionen der herrschenden Klasse im Lande damit beschäftigt, sich untereinander zu bekämpfen, anstatt die Krise zu bewältigen.

In Belutschistan begann das Leiden bereits Mitte Juni. Das Hauptaugenmerk der von Shehbaz Sharif geführten Regierung und der von Imran Khan gelenkten Opposition sowie jenes der Medien drehte sich um die Machtspiele dieser verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie. Obwohl es beschämend ist, überrascht es nicht, dass das Leiden der einfachen Menschen in Belutschistan die geringste Sorge der herrschenden Klassen ist.

„Wir bereiteten uns gerade auf die bevorstehende Hochzeit meines Bruders vor, als die verheerenden Überschwemmungen meine Familie obdachlos machten und uns die wenigen verbliebenen Ressourcen entrissen“, so ein 30-jähriger Bergarbeiter aus Belutschistan gegenüber der Deutschen Welle. Er fügte hinzu, dass seine Mutter seit dem Tod ihres Mannes und Sohnes unter Schock stehe. Dies geschah im Juli. Trotz der weitreichenden Zerstörung in seiner Stadt sei keine Hilfe geleistet worden, sagte er weiter.

Erst als die Regionalhauptstadt Quetta betroffen war und die Autobahnen, auf denen Waren aus Sindh, Punjab (Pandschab) und Khyber Pakhtunkhwa transportiert wurden, blockiert waren, wurde das Problem relevant genug, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zerstörung in der Region Swat war der Wendepunkt. Als Brücken und Straßen weggerissen wurden, kam die Aufmerksamkeit, die international bereits wieder abgeklungen ist.

Hätte man dem Problem die nötige Bedeutung beigemessen, hätten viele Menschenleben gerettet werden können. Die einfache Bevölkerung beginnt dies zu spüren. Berichten aus Süd-Punjab zufolge hat die Empörung über die Untätigkeit der Regierung zu Protesten der Anwohner:innen geführt. In einem Fall wurde ein Provinzminister umzingelt und floh schließlich in aller Eile. Ähnliche Vorfälle passierten in Sindh, einer der am stärksten von der Flut und Untätigkeit der Regierung betroffenen Provinzen. Einige Stimmen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft haben sogar behauptet, dass die Überschwemmungen bewusst in kleinere Dörfer umgeleitet wurden, um die Industrie und den Großgrundbesitz zu schützen, anstatt Menschenleben zu retten, insbesondere in Sindh und Süd-Punjab, wo Großgrundbesitzer:innen immer noch großen Einfluss auf die Politik haben. In Sukkur (Sindh) wagte es die Polizei, 100 Flutopfer unter dem Vorwurf des Terrors anzuklagen, weil sie gegen den Mangel an Nahrungsmitteln und Hilfsgütern protestiert hatten, als Premier- und Außenminister zu Besuch kamen, um „ihr Mitgefühl zu zeigen“.

Dies zeigt, dass es sich nicht einfach um eine Naturkatastrophe handelt. Sowohl das grauenhafte Management der Krise als auch ihre Ursache, der Klimawandel, sind von Menschen gemacht. Aber nicht alle Menschen haben gleichermaßen dazu beigetragen. Die ökologische Krise ist das Ergebnis eines fossil betriebenen Kapitalismus, in dem wenige Reiche, darüber hinaus noch global ungleich verteilt, von der unkontrollierten Ausbeutung von Natur und Mensch profitieren. Die Verantwortung für das Leid der betroffenen Bewohner:innen Pakistans liegt nicht einfach bei einer mystischen „Naturgewalt“. Sie liegt bei einem sehr realen gesellschaftlichen System. Schuld daran ist die kapitalistische Wirtschaft im Allgemeinen und sind im Besonderen die wenigen bürgerlichen Politiker:innen in Pakistan und im Ausland, die bewusst Entscheidungen gegen die Interessen der Vielen treffen.

Die Prioritäten der herrschenden Klassen sind klar. Premierminister Sharif kündigte ein Hilfspaket im Wert von 14 Milliarden Rupien an, nachdem Millionen von Menschen im Sindh vertrieben worden waren. Dies ist derselbe Mann, der vor einigen Tagen ein Hilfspaket für eine Handvoll exportierender Kapitalist:innen im Wert von 70 Milliarden Rupien verkündet hatte.

Gleichzeitig leiden die Arbeiter:innen in ihren Industrien weiter. Die an den Webstühlen und in der Textilindustrie litten bereits unter der Last der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die zuvor in Pakistan herrschte. Jetzt, da fast die Hälfte der Baumwollernte des Landes weggeschwemmt wurde, ist ein großer Teil der Industrie in Faisalabad und Gujranwala stillgelegt worden, was zu einer noch höheren Arbeitslosigkeit führt.

Eine drohende Hungerkrise

Nach den Überschwemmungen sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschnellt. Allein die für Zwiebeln sind um das Fünffache gestiegen. Acht Prozent der Tomatenernte wurden vernichtet und die Preise sind ebenfalls gestiegen. Beide Gemüse sind wichtige Bestandteile der pakistanischen Küche. Da unzählige Gemüse-, Obst-, Weizen- und Reisfelder beschädigt wurden, ist eine Lebensmittelkrise sicher. Die Landwirt:innen haben die Befürchtung geäußert, dass sie nicht in der Lage sein werden, für die Wintersaison zu pflanzen, wenn die Anbauflächen nicht sofort trockengelegt werden, wobei die Weizenernte die wichtigste ist. Nun müssen Lebensmittel aus Afghanistan und dem Iran importiert werden, was zu einem weiteren Preisanstieg führt. Die Lage ist so miserabel, dass sich die Menschen bei den Hilfsaktionen um die Lebensmittelpakete streiten.

Die Verwüstung der Landwirtschaft wird sich auch langfristig auf die gesamte Nationalökonomie auswirken. Allein in Sindh drohen bei drei wichtigen Kulturen, Tomaten, Zwiebeln und Chili, Verluste in Höhe von 374 Millionen US-Dollar. Das Land ist weltweit der viertgrößte Exporteur von Reis. In der von den Überschwemmungen heimgesuchten Provinz Sindh wurden 42 % der Reisproduktion angebaut, wovon schätzungsweise 1,9 Millionen Tonnen verlorengegangen sind, was einem Verlust von 80 % der erwarteten Produktion entspricht. Zusammen mit einem Verlust von 88 % bei Zuckerrohr und 61 % bei Baumwolle belaufen sich die wirtschaftlichen Auswirkungen allein in Sindh auf 1,3 Milliarden US-Dollar, berichtet die Deutsche Welle.

Die öffentliche Infrastruktur in vielen Teilen Pakistans war bereits zuvor in einem schlechten Zustand. Nach den Überschwemmungen sind sogar diese grundlegenden Annehmlichkeiten verlorengegangen. Viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Tausende von Vertriebenen sind gezwungen, das schmutzige Wasser zu trinken, das zuvor ihre Häuser weggespülte. So breitet sich die Cholera im ganzen Land aus. Auch andere durch Wasser übertragene Krankheiten wie Durchfall, Denguefieber und Malaria sowie zahlreiche Hautinfektionen grassieren.

Doch die kapitalistische Gier diktiert, dass auch in einer solchen Situation mit dem Elend der Menschen Profit gemacht werden muss – weil er sich machen lässt. Die Transportunternehmen, die Hilfsgüter transportieren, haben ihre Gebühren erhöht, so dass es schwieriger geworden ist, lebenswichtige Güter zu versenden.

Nieder mit Inflation und Verschuldung!

Die Inflation war jedoch bereits zuvor auf dem Vormarsch. Hiervon waren bis vor kurzem vor allem die Öl- und Gaspreise betroffen. Der Preisanstieg im Gefolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine war bereits schrecklich. Deutschland und andere europäische Staaten suchen sich neue, wenn auch teurere und unökologischere Lieferant:innen für Gas und Öl. Aber arme Länder wie Pakistan können das nicht so kompensieren wie die imperialistischen. Letztere subventionieren jetzt fossile Brennstoffe mit Hilfe von Extraprofiten, die sie durch wirtschaftliche Ausbeutung im eigenen Land und in der halbkolonialen Welt erzielen. Gleichzeitig zwingen dieselben Länder Pakistan über den IWF, die Subventionierung von Gas und anderen wichtigen Gütern einzustellen.

Nach Angaben der Tageszeitung Dawn befindet sich die pakistanische Industrie in einer Rezession. Das verarbeitende Gewerbe schrumpfte im Juli um 1,4 Prozent, was auf die Kombination von Überschwemmungen und den höchsten Energie- und Rohstoffkosten in der Geschichte der Industrie zurückzuführen ist. Die Textilindustrie sank im Vergleich zum Vorjahr um 0,5 %.

Die Regierung hat an internationale Geber:innen, humanitäre Einrichtungen, Organisationen und verbündete Länder appelliert, Hilfe zu leisten. Planungsminister Ahsan Iqbal sagte, das Land könne bis zu 10 Milliarden US-Dollar für Reparaturen benötigen. Der IWF hat 1,7 Milliarden US-Dollar aus einem Rettungsfonds freigegeben, der eingefroren worden war, weil die vorherige Regierung der Forderung nach einer weiteren Kürzung der Energiesubventionen nicht nachgekommen war.

Die UNO hat zu einer Soforthilfe in Höhe von 160 Millionen US-Dollar aufgerufen und 3 Millionen US-Dollar bereitgestellt. Das Vereinigte Königreich hatte die Bereitstellung von 1,8 Millionen US-Dollar für die Fluthilfe angekündigt. Aber das ist nichts! Vergleichen wir dies allein mit den Gewinnen, die  britische Gaskonzerne in diesem Jahr generierten, eine Industrie, die direkt mit dem Klimawandel verbunden ist, erröten wir vor Zorn. Und denkt nur an die Militärausgaben der Großmächte, von China über Russland bis hin zu Deutschland oder den USA. Sie beliefen sich im letzten Jahr auf mehr als eine Billion US-Dollar (1.000.000.000.000)!

Die Verbindung von Krieg und Klimawandel

Kurz gesagt, nicht nur der Klimawandel, sondern auch der Krieg sowie die Aktionen und Prioritäten der imperialistischen Mächte und des kapitalistischen Systems als Ganzes betreffen Länder wie Pakistan besonders.

Wir möchten klar sagen, dass wir Putin und der russischen Armee eine Niederlage in der Ukraine wünschen. Das ukrainische Volk hat ein Recht auf Selbstbestimmung. Aber zugleich wird immer deutlicher, dass die Regierung in Kiew einen Stellvertreter:innenkrieg für die NATO und den westlichen Imperialismus führt, dass die Ukraine konkreter Austragungsort für den Kampf um die Neuteilung der Welt geworden ist.

Ein Blick auf Pakistan offenbart die Scheinheiligkeit der Gespräche westlicher imperialistischer Mächte (wie auch unseres vermeintlichen „Bruders“ China, der inzwischen Pakistans größter Einzelgläubiger ist). Pakistan leidet noch immer unter dem 20 Jahre andauernden Krieg im benachbarten Afghanistan. Währenddessen präsentieren sich die westlichen Nationen als Beschützerinnen der „globalen Freiheit“. Aber es sind die westlichen Imperialist:innen, die arme Länder wie Pakistan gemeinsam und in Konkurrenz vor allem mit China ausrauben und ihnen diktieren (wobei die pakistanische Bourgeoisie ihren Teil dazu beiträgt).

Während sie „Freiheit und Demokratie“ predigen, bestimmen ihre Institutionen wie der IWF die Innenpolitik Pakistans. Während sie von der Sicherung einer freien Zukunft sprechen, zerstören imperialistische Banken und Monopolkonzerne die ohnedies miserablen Lebensgrundlagen in Pakistan.

Sicher, der Unterschied ist, dass diese so genannten „westlichen Mächte“ ihre Herrschaft mit einem (mehr oder weniger) demokratischen Regime im eigenen Land in Verbindung bringen, anders als China oder Russland dies tun. Aber es ist ein demokratisches Regime, von dem arme Pakistaner:innen und die Welt, die diese Nationen anzuführen vorgeben, weitestgehend ausgeschlossen sind. Das simpelste Beispiel sind laufende Abschiebungen von deutschen Flughäfen zurück nach Pakistan, während das Land unter der Krise zusammenbricht.

Die Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Armen können ihr Vertrauen nicht in eine dieser Mächte setzen. Sie müssen die nötige Kraft in sich selbst finden. Die aktuelle Situation zeigt mehr denn je, dass Pakistan eine sozialistische Partei braucht, die wirklich die Interessen der um ihr Überleben kämpfenden Massen vertritt. Aber die Situation in Pakistan muss auch ein moralischer Weckruf an die Arbeiter:innenbewegungen in Ländern wie Europa, den USA, Russland oder China sein.

Auch Ihr habt eine Verantwortung! Ihr müsst erkennen, dass der/die Hauptfeind:in im eigenen Land steht. Anstatt „Euren“ politischen und wirtschaftlichen Eliten zu folgen, die letztlich nur versuchen, ihre Machtambitionen zu erhalten und dies mit einem neuen Militarismus zu verbinden, solltet Ihr Euch unserem Kampf gegen den Klimawandel und das kapitalistische System, das ihn befeuert, anschließen.

Erhebt Eure Stimme in den Metropolen jener Länder, die Pakistan mit Schulden belasten. Erhebt Eure Stimme in den Ländern, die uns an den Rand des ökologischen Kollapses bringen. Fordert in unserem Namen:

  • Die Streichung aller Schulden Pakistans!
  • Die Bereitstellung von Klimareparationen, damit wir uns auf den Klimawandel vorbereiten und eine ökologische Transformation durchführen können, ohne Bedingungen!
  • Die sofortige Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten!

Aber wir trauen unseren eigenen kapitalistischen Herrscher:innen nicht. Zu Hause kämpfen wir für dieses Notprogramm:

  • Die Regierung muss die Zahlungen der Auslandsschulden sofort einstellen. Die Reichen müssen endlich progressiv besteuert werden, um die Kosten der Krise zu bezahlen.
  • Bildung von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenausschüssen, die die Verteilung der Reparationen und Hilfen überwachen!
  • Kontrolle der Lebensmittelpreise durch Preisausschüsse der Arbeiter:innen! Die Regierung muss Subventionen für alle lebensnotwendigen Güter gewähren!
  • Gleichmäßige Erhöhung aller Löhne mit jedem Prozent Inflationsanstieg! Kontrolle der Geschäftsbücher der pakistanischen Kapitalist:innen, um zu überprüfen, ob sie die Krise auf dem Rücken der Armen ausnutzen, um Extraprofite zu machen.
  • Entsendung von Gesundheitspersonal in die von der Flutkatastrophe betroffenen Regionen, um dort eine kostenlose medizinische Versorgung zu gewährleisten! Die Regierung soll eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle Flutopfer sicherstellen!
  • Wo Fabriken geschlossen werden, kämpfen wir für ihre entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung unter Arbeiter:innenkontrolle.
  • Wir sagen, wenn die Bourgeoisie die Krise nicht lösen kann, müssen die Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Armen bereit sein, die Regierung selbst zu übernehmen.



Flutkatastrophe in Pakistan: Unterstützt die Workers and Youth Relief Campaign!

Workers and Youth Relief Campaign, Neue internationale 268, Oktober 2022

In Pakistan begannen die Überschwemmungen im Juni und erreichten Mitte August ihren Höhepunkt, wobei selbst nach offiziellen Angaben, die wahrscheinlich zu niedrig angesetzt sind, fast 1.500 Menschen ums Leben kamen. Etwa 1,7 Millionen Häuser wurden zerstört und die Hälfte der 160 Bezirke des Landes offiziell zu „Katastrophengebieten“ erklärt. Nach Berichten der pakistanischen Katastrophenschutzbehörde wurden rund 7.000 Kilometer Straßen weggespült und 250 Brücken zerstört.

Ersten Schätzungen zufolge wurden 65 Prozent des pakistanischen Nahrungsmittelanbaus, darunter 70 Prozent des Reises, während der Überflutungen weggeschwemmt. Darüber hinaus wurden 3 Millionen Rinder getötet und insgesamt 45 % der landwirtschaftlichen Flächen zerstört. Nach ersten Schätzungen belaufen sich die Gesamtschäden auf mehr als 30 Milliarden US-Dollar. Diese Zahlen und Schätzungen werden wahrscheinlich noch weiter steigen, denn die Flut ist noch lange nicht vorbei.

Dies ist die schwerste humanitäre Krise in der Geschichte Pakistans. Soziale Organisationen, Basisaktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Sozialist:innen und junge Menschen führen Kampagnen durch und sammeln Lebensmittel, Kleidung, Medikamente und Binden für Frauen, da die Regierung nur sehr langsam reagiert und die Hilfe der UNO im Vergleich zum Ausmaß der Zerstörung sehr gering ist. Während Millionen Menschen leiden, wird das Land gleichzeitig durch die vom Internationalen Währungsfonds auferlegten Kürzungen und Sparmaßnahmen sowie durch eine Politik, die das Vermögen und den Besitz der Kapitalist:innen und Großgrundbesitzer:innen schützen soll, zerstört.

Die Workers and Youth Relief Campaign (Arbeiter:innen- und Jugendhilfskampagne) wurde von jungen Menschen, Gewerkschaften und Sozialist:innen gegründet, um Geld und Hilfsgüter für die von den Überschwemmungen Betroffenen zu sammeln. Sie wird von der Revolutionären Sozialistischen Bewegung, der Gewerkschaft der Hausangestellten und Heimarbeiter:innen und der Gewerkschaft der Rikschafahrer:innen im Punjab unterstützt. Sie hat in einer Woche 146.000 Rupien sowie Lebensmittel, Medikamente, Decken und andere Hilfsgüter zusammengetragen, die in die betroffenen Gebiete geschickt werden sollen.

Krankheiten und schwerwiegende Engpässe an Nahrungsmittel breiten sich in den heimgesuchten Gegenden aus. Es wird zwei Monate dauern, ehe die Wassermassen abgeflossen sein werden, und das wiederum wird die Aussaat für die nächste Weizenernte verhindern. In der Folge müssen Lebensmittel eingeführt werden. Auch schon vor den Überschwemmungen stiegen die Preise an. Die Inflationsrate lag bei 27,3 %.

Die Armen und Besitzlosen Pakistans brauchen dringend eine Notversorgung mit elementaren Nahrungsmitteln und anderen Gütern. Wir rufen die Brüdern und Schwestern der internationalen Arbeiter:innenbewegung auf, der Basiskampagne in Pakistan Hilfe zu leisten als Antwort auf diese Krise.

Solidarische Spenden allein, so wichtig sie auch sind, werden das Ausmaß der Zerstörung nicht wettmachen können. Solidaritätsspenden, so wichtig sie auch sein mögen, werden die Zerstörung nicht ausgleichen können. Deshalb rufen wir alle Arbeiter:innen-, Jugend- und fortschrittlichen Organisationen auf, für den Schuldenerlass, die Abschaffung des IWF-Sparprogramms, die Zahlung durch die Reichen und die bedingungslose Hilfe der imperialistischen Länder zu kämpfen! 

An der  Workers and Youth Relief Campaign beteiligen sich in Pakistan: Home-based and Domestic Workers‘ Union, Punjab Rikshaw Drivers‘ Union, Daily Wage Workers, Revolutionary Socialist Movement

Spenden über PayPal: https://www.paypal.com/donate/?hosted_button_id=E9F3249N4CZT2, Kennwort: Relief Campaign




Pakistan: Flutkatastrophe als Folge kapitalistischer Fehlentwicklung

Peral Azad, Infomail 1197, 1. September

Offiziellen Schätzungen zufolge haben die Überschwemmungen in Pakistan bereits mehr als 1.100 Todesopfer gefordert, die endgültige Zahl dürfte noch weitaus höher liegen.

Der diesjährige Monsun in Pakistan hat sich als ungewöhnlich lang und zerstörerisch erwiesen. In den Provinzen, Regionen und Territorien Sindh, Belutschistan, Khyber Pakhtunkhwa, Gilgit-Baltistan (Sonderterritorium, keine Provinz, Teil Kaschmirs; ehemals: Nordgebiete genannt) und Süd-Punjab wurden Millionen von Häusern zerstört und Vieh millionenfach vernichtet. Die Flutmassen schwemmten Straßen hinweg, Nah- und Fernverkehrswege waren davon betroffen. Das Stromnetz wurde massiv beschädigt.

Die Menschen in diesen Regionen haben nichts zu essen und hungern. Auch Trinkwasser ist für die Arbeiter:innen und die Armen nicht verfügbar. Verschiedene Krankheiten breiten sich aus, aber es gibt kein Behandlungssystem. Der Staat bietet der einfachen Bevölkerung keinerlei Hilfe und Unterstützung an, auch nicht denjenigen, die sich an den Hilfsaktionen beteiligen, doch nur die regionale und die zentrale Regierung können die erforderlichen Mittel, Ressourcen und technischen Geräte bereitstellen.

Die Flut und ihre Folgen sind nicht einfach eine Naturkatastrophe, als welche sie von der Regierung, den Politiker:innen und den Intellektuellen in den Medien dargestellt wird. Sie sind das Ergebnis einer kapitalistischen Entwicklung, in der der Profit des Kapitals Vorrang vor dem menschlichen Leben und der Umwelt genießt. Sie haben sich im Vergleich zu früheren Jahren und Jahrzehnten verschlimmert. Darüber hinaus gibt es im südlichen Punjab und im Sindh Berichte, dass die Flut in die Dörfer umgeleitet wurde, um den Besitz von Großgrundbesitzer:innen und Eliten zu schützen.

Die Regionen

Sindh und Belutschistan waren als Erste betroffen, aber die Katastrophe breitet sich auch in Süd-Punjab und Khyber Pakhtunkhwa aus. Millionen von Menschen sind obdachlos geworden, und viele sind gezwungen, trotz der starken Regenfälle im Freien zu leben.

Anstatt Maßnahmen zu ergreifen, um die einfache Bevölkerung vor der Bedrohung durch Überschwemmungen zu schützen, lässt der Staat jedes Jahr rund 2.700 Milliarden Rupien (etwa 12 Milliarden US-Dollar) in die Taschen von Großkapitalist:innen und Eliten fließen. Die Exporteur:innen erhielten vor einigen Wochen eine zusätzliche Subvention in Höhe von 60 Milliarden Rupien, während die Zentralregierung nur 15 Milliarden Rupien (etwa 68 Millionen US-Dollar) für ganz Sindh ankündigte. Gleichzeitig wurden Milliarden ausgegeben, um den 14. August, den pakistanischen Unabhängigkeitstag, zu feiern, ein symbolischer Tag für die herrschende Klasse.

Die Provinzregierung von Sindh hat es völlig versäumt, Maßnahmen zu ergreifen, um die Bevölkerung vor den außerordentlichen Verlusten durch diese Regenfälle zu schützen, obwohl die ungewöhnlichen Regenfälle im Voraus angekündigt worden waren. Die von der Pakistanischen Volkspartei geführte Provinzregierung hat vielmehr im Interesse von Malik Riaz und anderen Kapitalist:innen und Großgrundbesitzer:innen gehandelt. Ihre Fabriken und Großplantagen wurden geschützt, anstatt einer Strategie zur Bekämpfung der bevorstehenden Katastrophe und zum Schutz der Masse der Bevölkerung Priorität einzuräumen.

In Belutschistan hat sich die Katastrophe seit mehr als einem Monat entwickelt, und wasserwirtschaftliche Praktiken haben eine wichtige Rolle bei der Verwüstung gespielt. Dämme und verschiedene andere Bauwerke und Siedlungen wurden an Stellen errichtet, die den natürlichen Fluss des Regenwassers beeinträchtigten. Infolgedessen wurden Straßen überflutet, die für jede Hilfsmaßnahme unerlässlich sind. Erst jetzt, da die Überschwemmungen die Stadt Quetta überflutet haben und auf andere Provinzen übergreifen und die Profite des Kapitals bedrohen, hat die herrschende Klasse begonnen, das Problem zur Kenntnis zu nehmen. Als die Überflutungen nur die ländlichen Gebiete und Dörfer betrafen, wurden sie ignoriert.

Auch in Pakhtunkhwa im Norden des Landes hat sich die Lage in den letzten Tagen dramatisch verschlechtert. Wolkenbruchartige Regenfälle haben dazu geführt, dass große Flüsse wie der Swat, der Kabul und der Panjkora über die Ufer getreten sind und Tausende von Häusern sowie Straßen und Brücken weggespült haben. Tausende von Reisenden sind durch Erdrutsche eingeschlossen worden.

Der Monsun bringt jedes Jahr die Gefahr von Überschwemmungen mit sich, aber die Bundes- und Provinzregierungen Pakistans haben keine Strategie entwickelt, weil sie sich nicht um die Werktätigen und die Armen in Stadt und Land kümmern. Die Flutkatastrophen von 2010 waren besonders schlimm, doch in 12 Jahren wurden keine Lehren daraus gezogen.

Schlimmer noch: Politiker:innen und Eigentümer:innen, die der Verwaltung angehören, haben illegal Hotels und Märkte an den Ufern der Flüsse gebaut. Deren Besitzer:innen pflegen Verbindungen zu verschiedenen politischen Parteien und spenden riesige Geldbeträge, die den Mitgliedern der Versammlung und sogar den Minister:innen zugutekommen. Indem sie den Flusslauf behindern, tragen sie dazu bei, dass die Überschwemmungen noch verheerender werden und die Menschen noch mehr Schaden nehmen. Im Swat-Tal sind in den sozialen Medien Videos von verschiedenen Hotels zu sehen, die bei Überschwemmungen zusammengebrochen sind. Die meisten dieser Hotels und Gebäude wurden an den Ufern des Flusses gebaut.

Was tun?

In dieser Situation bildeten die Bemühungen der örtlichen Bevölkerung und einiger Nichtregierungsorganisationen die einzigen Kräfte, die versucht haben, die Menschen zu schützen und Hilfe, Unterkünfte und Nahrungsmittel bereitzustellen. Natürlich ist die Beteiligung an den Hilfsmaßnahmen eine sehr wichtige Aufgabe für alle, aber damit kann nicht einmal der dringendste Bedarf gedeckt werden. Darüber hinaus sind umfangreiche Mittel und Ressourcen erforderlich, um zerstörte Häuser wiederaufzubauen, diejenigen zu entschädigen, die ihr Hab und Gut verloren haben, und Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine Wiederholung der Katastrophe in den kommenden Jahren verhindern können.

Die Masse der Menschen ist erschüttert vor Verzweiflung, Wut und Hass auf die Regierung und die Reichen, die sie wieder einmal durch Ignoranz und Profitgier im Stich gelassen haben. An vielen Orten haben Proteste stattgefunden, und weitere werden folgen. Sozialist:innen, die ganze Arbeiter:innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte sollten sie unterstützen und sich einmischen.

Sie müssen auf die Bereitstellung sofortiger und kostenloser Hilfsgüter für die betroffenen Regionen, für die Städte und das Land drängen. Es sollten mehr Proteste organisiert werden, um zu fordern, dass alle staatlichen Mittel sofort für Hilfsarbeiten zur Verfügung gestellt werden, die von den Kapitalist:innen und den Reichen bezahlt werden. Von Großgrundbesitzer:innen, Export- und Bauunternehmen sollten massive Steuern erhoben werden, um den Flutopfern zu helfen.

Wir brauchen einen Plan zum Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Infrastrukturen und zur Entschädigung der Opfer der Überschwemmungen. Angesichts des Versagens des Staates, wirksame Unterstützung zu organisieren, müssen die Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen für die Kontrolle über alle Hilfsprogramme kämpfen. Sie sollten lokale Räte in den Städten und auf dem Land bilden, um sicherzustellen, dass die Hilfe an die Bedürftigen gelangt und der Wiederaufbau von Häusern und Infrastruktur entsprechend den Sicherheitsanforderungen und Bedürfnissen der vielen und nicht der wenigen erfolgt.