Pakistan: Solidarität mit dem langen Marsch der Belutsch:innen!

Shahzad Arshad, Infomail 1240, 26. Dezember 2023

In der Nacht zum 21. Dezember wurden die Teilnehmer:innen des Langen Marsches der Belutsch:innen gegen das Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen in Islamabad von den staatlichen Kräften gnadenlos angegriffen, als sie die Hauptstadt erreichten. Eine große Zahl von Student:innen, darunter Frauen und ältere Menschen, wurde verhaftet. Die Regierung setzte alles daran, die verhafteten Frauen mit Gewalt nach Quetta (Provinzhauptstadt Belutschistans) zu bringen. Die Belutschinnen, die den Marsch angeführt hatten, leisteten trotz aller Gewalt und Drohungen Widerstand. In Belutschistan, aber auch in anderen Gebieten mit Belutsch:innen, begannen Proteste und Sitzstreiks gegen die Gewalt auf dem Langen Marsch, die sich in Radblockaden und Streiks an den Türen entluden.

Im ganzen Land, auch in Belutschistan, fanden in Städten und Distrikten wie Turbat, Panjgur (Pangor), Gwadar, Khuzdar, Mastung, Dalbandin, Quetta, Kohlu, Dera Bugti, Sibi, Rakhni, Barkhan, Logistikzentrum Awaran, Karatschi, Bela, Taunsa, Dera Ghazi Khan, Lahore, Islamabad, Bahawalpur, Multan und vielen anderen Proteste aus Solidarität mit den Angegriffenen statt.

Diese Gewalt in Belutschistan hat die Proteste nicht gebrochen, sondern vielmehr den Geist und den Mut des Kampfes der Bevölkerung gestärkt und die Angst allmählich überwunden. In diesen Gebieten entsteht eine neue politische Realität, die die bestehende so genannte politische Ordnung ins Wanken bringt. In dieser Situation hat das Gericht die Freilassung einiger verhafteter Personen angeordnet. Auch die Regierung hat Verhandlungen aufgenommen, und deshalb wird die Jirga (Versammlung der traditionellen Anführer:innen der Community) auch dazu benutzt, den politischen Kampf zu kontrollieren, der sich in allen Gebieten der Belutsch:innen ausgebreitet hat.

Am Beginn dieses Kampfes stand die brutale Ermordung von Balach Baloch in Turbat unter Gewahrsam der CTD (Counter Terrorism Department = Abteilung zur Terrorismusabwehr). Aber diese Bewegung ist auch das Ergebnis und die Fortsetzung vieler ähnlicher Bewegungen, die in den letzten Jahren immer wieder von belutschischen Student:innen und Frauen in verschiedenen Städten organisiert worden sind. Es wurden auch Solidaritätskomitees gebildet. Dadurch konnte die Angst in der belutschischen Bevölkerung überwunden werden, die der Staat durch schwere Zwangsgewalt, Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen und verstümmelte Leichen erzeugt hatte.

Es wurde eine Untersuchung gegen diejenigen eingeleitet, die der Ermordung von Balach Baloch beschuldigt werden, und anscheinend ist eine der Forderungen des Langen Marsches akzeptiert worden, aber die Hauptforderung des Langen Marsches ist derzeit die Beendigung der staatlichen Politik des gewaltsamen Verschwindenlassens und die Wiederkehr der so Verschwundenen. Dies ist eine legitime Forderung, die die gesamte Bevölkerung unterstützt und für die sie kämpft und die derzeit vom Langen Marsch unter der Schirmherrschaft des Belutsch:innen-Solidaritätskomitees unter der Leitung von Mahrang Baloch und anderen Aktivistinnen vertreten wird.

Die Haltung der staatlichen Institutionen gegenüber dem Langen Marsch hat die Politik des Staates gegenüber der Nation der Belutsch:innen verdeutlicht. Die Struktur des pakistanischen Staates basiert auf internem Kolonialismus, der diesem seine elementaren demokratischen Rechte verweigert hat. Was den Marsch angeht, hat sich der Staat verkalkuliert. Die Behörden wussten nicht, dass dieser eine so große Bewegung unter den Belutsch:innen auslösen würde, die trotz aller Gewalt, Verhaftungen und Einschränkungen nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Mit brutaler Gewalt wurde versucht zu verhindern, dass sich immer mehr Menschen dem Langen Marsch anchließen, bei dem auch belutschische Frauen, Mädchen und ältere Menschen verhaftet wurden.

Darüber hinaus wurden mehr als dreihundert Student:innen verhaftet, von denen bisher nur 167 wieder freigelassen wurden. Darüber hinaus sind mehrere Studierende bei der Niederschlagung des Langen Marsches gewaltsam „verschwunden“. Die Teilnehmer:innen des Langen Marsches protestieren derzeit vor dem Nationalen Presseclub in Islamabad. Sie haben deutlich gemacht, dass sie zu noch entschlosseneren Maßnahmen gezwungen sein werden, wenn die Student:innen nicht freigelassen werden oder noch mehr von ihnen gewaltsam verschwinden.

Der Lange Marsch, der vom Belutsch:innen-Solidaritätskomitee initiiert wurde, kam nach Islamabad in der Hoffnung, dass er den Staat unter dem Druck ihres Kampfes zwingen würde, seine Politik zu ändern und mehr vorgetäuschte Zusammenstöße und gewaltsames Verschwindenlassen zu beenden. Diese sollten gestoppt werden und die Nation der  Belutsch:innen sollte ihre demokratischen Rechte erhalten, damit sie über ihr eigenes Schicksal entscheiden kann. In diesem Sinne sollte der Lange Marsch einen erfolgreichen Kampf für seine Ziele fortsetzen.

Der Lange Marsch wird in großem Umfang von anderen unterdrückten Nationen unterstützt, darunter die PTM (Paschtunische Tahafuz-Bewegung) und andere Organisationen unterdrückter Ethnien. Zum ersten Mal hat der Lange Marsch in begrenztem Umfang Unterstützung im Punjab erhalten, und das Leiden des belutschischen Volkes und sein Schmerz sind spürbar. PTM, das Belutsch:innen-Solidaritätskomitee und die Parteien und Organisationen der Linken haben die Verantwortung, den Kampf der Belutsch:innen nicht nur zu unterstützen, sondern eine Einheitsfront zu bilden und diesen Kampf zur Arbeiter:innenklasse zu tragen. Es gilt, diesen demokratischen Kampf zu verbreiten und den Staat zu zwingen, die Serie des Verschwindenlassens und des Völkermordes zu beenden und dem Volk der Belutsch:innen volle demokratische Rechte zu gewähren.




Pakistan: Solidarität mit den afghanischen Flüchtlingen und Massenprotesten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 20. November 2023

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele der 1,7 Millionen sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung.

Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und der Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung miserabel gemacht hat. Sie erkennen, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Darüber hinaus will die Regierung paschtunische Führer:innen und Händler:innen dazu zwingen, künftig Grenzkontrollen durchzuführen. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und lokalen Stämmen soll gezwungen werden, Pässe und Visa auszustellen. Doch zumindest bisher haben sie diese Anordnungen abgelehnt. Derzeit beteiligen sich Bauern und Bäuerinnen, Händler:innen, Stammesführer:innen und berufstätige Paschtun:innen verschiedener politischer Parteien an diesem Protest und lehnen die Regierung und ihre Politik ab.

Die Demonstrant:innen lehnen die Zwangsvertreibung von afghanischen Flüchtlingen ab und fordern, dass die Regierung diese unmenschliche Politik zurücknimmt und das Leben der afghanischen Flüchtlinge nicht noch härter und ärmer macht. Ihre Vertreibung wird alles zerstören, was sie in harter Arbeit ein Leben lang und über Generationen hinweg aufgebaut haben. Zurück in Afghanistan gibt es nichts für sie und viele sind ernsthaften Bedrohungen durch das Regime ausgesetzt.

Die geschäftsführende Regierung von Anwaar-ul-Haq Kakar will von der Krise des Systems, der grassierenden Inflation und der Energieknappheit ablenken. Sie macht die Afghan:innen für den Mangel an Ressourcen verantwortlich. Deshalb werden die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt und der Rassismus gegen sie wird angeheizt. In der Tat wird die Bewegungsfreiheit aller Menschen ohne Pass an der Grenze von Chaman in Zukunft vollständig unterbunden.

Der Grenzhandel ist auch in Belutschistan zu einem ernsten Problem geworden. Dort ist die Beschäftigung und der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen damit verbunden. Die Politik der pakistanischen Regierung vernichtet diese im Interesse des Großkapitals.

Diejenigen, die bereits Opfer der vom Imperialismus und dem Staat aufgezwungenen Marginalisierung und des Krieges sind, werden um alles gebracht. Daher liegt es in der Verantwortung der Arbeiter:Innen im ganzen Land, auch in Belutschistan, sich mit den afghanischen Flüchtlingen zu solidarisieren. Die pakistanischen Gewerkschaften müssen die Massensitzstreiks und Proteste an den Grenzen unterstützen. Sie müssen in Solidaritätsmobilisierungen und Streiks mit ihren afghanischen Brüdern und Schwestern auftreten und sich in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Abschiebungen, für das Recht aller Flüchtlinge, in Pakistan zu leben und zu arbeiten, und gegen die Inflation, die staatlichen Kürzungen, die Diktate des Internationalen Währungsfonds und die kapitalistische Krise, die die wahre Ursache für das Elend der pakistanischen Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der afghanischen Flüchtlinge sind, vereinen.

Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Sie müssen Proteste und Kundgebungen in verschiedenen Ländern organisieren und Solidaritätsbotschaften an die Protestierenden senden!




Pakistan: Stoppt den rassistischen Krieg gegen afghanische Flüchtlinge!

Minerwa Tahir, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Am 1. Oktober stellte die pakistanische Regierung schätzungsweise 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen, von denen viele vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen sind, ein Ultimatum, innerhalb eines Monats die Landesgrenzen zu verlassen. Denjenigen, die dies nicht tun würden, drohten Haft und Abschiebung. Bis zum 9. Oktober hatten die Behörden der Provinz Sindh bereits 1.700 Afghan:innen, die sich „illegal“ in Karatschi aufhielten, festgenommen. Die Entscheidung wurde in einer Sitzung des Apex-Komitees (des Nationalen Aktionsplans) unter der Leitung des geschäftsführenden Premierministers Anwar ul Haq Kakar getroffen, an der u. a. der Generalstabschef der Armee, General Asim Munir, Bundesminister:innen und die Ministerpräsident:innen der Provinzen teilnahmen.

Die Regierung beschloss, dass für den Grenzverkehr zwischen Pakistan und Afghanistan Pässe und Visa erforderlich sind und die elektronischen afghanischen Personalausweise, die so genannten E-Tazkiras, nach dem 31. Oktober nicht mehr akzeptiert werden. Nach Ablauf dieser Frist würde eine Operation beginnen, die sich gegen illegale Immobilien und Unternehmen richtet, die Migrant:innen gehören oder in Zusammenarbeit mit pakistanischen Staatsangehörigen betrieben werden. Offensichtlich hat die Regierung die Frist nicht abgewartet und mit Maßnahmen gegen eine bereits vertriebene Bevölkerung begonnen.

Die Lage in Afghanistan

In Afghanistan hat die Übernahme von Kabul durch die Taliban nach dem Abzug der US-geführten Truppen im August 2021 die ohnehin schon große Instabilität und Gewalt im Land noch verstärkt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mindestens 8,2 Millionen Afghan:innen durch Konflikte, Gewalt und Armut vertrieben worden und haben in 103 verschiedenen Ländern Zuflucht gesucht. Nach Syrer:innen und Ukrainer:innen stellen die Afghan:innen die drittgrößte vertriebene Bevölkerungsgruppe der Welt. Pakistan und der Iran beherbergen derzeit die größte Zahl der Vertriebenen. Im Gegensatz zu den ukrainischen Flüchtlingen ist diese Lebensweise für die afghanischen nicht neu, da ihre Region seit vier Jahrzehnten von Konflikten und Instabilität geprägt ist. Hunger, Auszehrung und Menschenrechtsverletzungen nehmen zu.

Im Jahr 2023 sind 20 Millionen Afghan:innen von akutem Hunger bedroht, wobei 6 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt sind. Eine Rekordzahl von 28,3 Millionen Bewohner:innen benötigt im Jahr 2023 humanitäre Hilfe und Schutz, was einen drastischen Anstieg gegenüber 24,4 Millionen im Jahr 2022 und 18,4 Millionen Anfang 2021 darstellt. In Afghanistan hat die Verschuldung zugenommen, sowohl was die Zahl der verschuldeten Personen (82 Prozent aller Haushalte) als auch die Höhe der Schulden (etwa 11 Prozent mehr als im Vorjahr) betrifft. Darüber hinaus hat die fundamentalistische Regierung dafür gesorgt, dass Afghanistan für niemanden mehr eine Heimat ist, der/die seinen/ihren Töchtern das gleiche Leben wie seinen/ihren Söhnen bieten möchte. Erschwerend kommt hinzu, dass Naturkatastrophen ihren Teil zum Elend beigetragen haben. Im Juni 2022 wurden bei dem schwersten Erdbeben, das das Land in den letzten 20 Jahren heimgesucht hat, mindestens 1.000 Menschen getötet und viele weitere verletzt. In diesem Jahr sind bereits über 2.400 Einwohner:innen ums Leben gekommen, und viele weitere sterben noch immer, da der Westen Afghanistans von einem weiteren schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Man würde erwarten, dass die Berichte über die erneut zu Tausenden vertriebenen Afghan:innen die Haltung der pakistanischen Regierung, wenn auch nur vorübergehend, aufweichen würden. Doch nichts davon ist geschehen. Obwohl die Vereinten Nationen das Regime in Islamabad dringend aufforderten, die Risiken einer Zwangsrückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan zu bedenken, hielt die pakistanische Regierung an ihrer Entscheidung fest. Während die pakistanischen Beweggründe für sich genommen reaktionär sind, verfolgen die imperialistischen Staaten, die die UNO dominieren, ihre eigenen Ziele, wenn sie Pakistan drängen, die Afghan:innen zu behalten. Schließlich will keines der imperialistischen Zentren afghanische Flüchtlinge aufnehmen, die vor den Folgen eines jahrzehntelangen Krieges fliehen, für den diese Staaten direkt verantwortlich sind.

Die Argumentation der pakistanischen Regierung und die Reaktion der Taliban

Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind rund 1,3 Millionen Afghan:innen als Flüchtlinge in Pakistan registriert und weitere 880.000 verfügen über einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Regierung behauptet jedoch, dass sich weitere 1,73 Millionen aus dem Nachbarland illegal in Pakistan aufhalten. Nach Angaben des Innenministers der geschäftsführenden Regierung, Sarfraz Bugti, beläuft sich die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan auf insgesamt 4,4 Millionen. Er erklärte, die Regierung habe die Entscheidung, afghanische Flüchtlinge auszuweisen, angesichts der zunehmenden Angriffe militanter Islamisten getroffen.

Die Ausweisungen sollen in mehreren Phasen erfolgen. „In der ersten Phase werden illegal ansässige Personen, in der zweiten Phase solche mit afghanischer Staatsbürgerschaft und in der dritten Phase mit nachgewiesener Aufenthaltsgenehmigung ausgewiesen“, heißt es in dem Bericht, der hinzufügt, dass diese Ausländer:innen „eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit Pakistans darstellen“.

Bugti erklärte, dass „das Wohlergehen und die Sicherheit eines/r Pakistaner:in für uns wichtiger sind als jedes andere Land oder dessen Politik. Die erste Entscheidung, die wir getroffen haben, betrifft unsere illegalen Einwanderer:innen, die sich auf illegale Weise in Pakistan aufhalten. Wir haben ihnen eine Frist bis zum 1. November gesetzt, um freiwillig in ihre Länder zurückzukehren, und wenn sie das nicht tun, werden alle Strafverfolgungsbehörden des Staates und der Provinzen sie abschieben.“ Bugti fügte hinzu, dass die Einreise ohne Pass oder Visum in kein anderes Land der Welt erlaubt sei.

Die Regierung teilte außerdem mit, dass eine universelle Notrufnummer und ein Webportal eingerichtet werden, über die Bürger:innen anonym Informationen über illegale Ausweise, illegale Migration und andere illegale Praktiken wie Schmuggel und Horten von Geld weitergeben können. Im Rahmen eines solchen Programms würden auch Belohnungen für diese Denunziation festgelegt werden. Man kann sich gut vorstellen, was für eine rassistische Katastrophe dies in einem Land wäre, in dem die meisten mit hungrigen Mägen schlafen! Es könnte außerdem auch dazu benutzt werden, persönliche Rechnungen zu begleichen.

Bugti behauptete, dass seit Januar 24 Selbstmordattentate verübt wurden, davon 14 von afghanischen Staatsangehörigen, darunter die jüngsten Anschläge auf eine Polizeistation und die dazugehörige Moschee im Distrikt Hangu in Khyber-Pakhtunkhwa, bei denen fünf Menschen getötet wurden, sowie die Explosion in einer Moschee in Peschawar auf einem Hochsicherheitsgelände, auf dem sich u. a. das Hauptquartier der Provinzpolizei und eine Abteilung für Terrorismusbekämpfung befinden, bei der 59 Menschen getötet wurden.

Am nächsten Tag schrieb der Pressesprecher der afghanischen Taliban, Zabiullah Mudschahid, auf X (früher: Twitter), dass Pakistans Verhalten „gegen afghanische Flüchtlinge inakzeptabel“ sei. Er fügte hinzu: „Die pakistanische Seite sollte ihren Plan noch einmal überdenken. Die afghanischen Flüchtlinge sind nicht in die Sicherheitsprobleme Pakistans verwickelt. Bis sie Pakistan freiwillig verlassen, sollte das Land sie tolerieren.“

Auch die Vereinten Nationen stellen sich nicht hinter die pakistanische Regierung. Sie haben angeboten, Pakistan bei der Einrichtung eines Systems zur Überwachung und Erfassung von Personen, die innerhalb seiner Grenzen internationalen Schutz suchen, zu unterstützen und „spezifische Schwachstellen“ zu beseitigen. Inzwischen haben Afghan:innen berichtet, dass sie wahllos verhaftet werden.

Warum jetzt?

Jahrelang hat Pakistan die Taliban als beste Option für Pakistan als Herrscher Afghanistans favorisiert, aber die Beziehungen haben sich in den letzten Jahren abgenutzt. Der Hauptvorwurf des pakistanischen Staates lautet, dass die Islamisten, die den pakistanischen Staat bekämpfen, ihre Operationen von afghanischem Boden aus durchführen, wo ihre Kämpfer ausgebildet und Anschläge in Pakistan geplant werden. Die Taliban bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, dass Pakistans Sicherheitsprobleme hausgemacht sind. Unterdessen hat die Tehrik-i-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban; TTP), eine sunnitische militante Hardlinergruppe, ihren Waffenstillstand mit der pakistanischen Regierung im November letzten Jahres beendet.

Seitdem hat die Gewalt in Pakistan einen ungewöhnlichen Aufschwung erlebt. Tatsache ist, dass alle Akteure in der Region, seien es die Halbkolonien wie Pakistan, Indien, Afghanistan und Iran oder imperialistische Mächte wie die USA, Russland und China, häufig die eine oder andere islamistische oder anderweitig militante Gruppe in der Region unterstützen. Es ist ein offenes Geheimnis, denn die Führer:innen fast aller Länder haben dies zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegeben. Das Problem besteht darin, dass a) die gesamte Bevölkerung eines Landes in einen Topf geworfen wird und b) diese Zugehörigkeiten nur zu bestimmten Zeitpunkten zum Problem geraten, nämlich dann, wenn sie lästig werden.

Pakistan wird derzeit von einer geschäftsführenden Regierung verwaltet, die seit August im Amt ist, um die bevorstehenden Wahlen zu überwachen. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, die in Pakistan herrscht, konnte das Militär in der gegenwärtigen Situation noch mehr Einfluss als üblich ausüben. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und seine Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Covidpandemie, die Überschwemmungen von 2022, die allgemeine Verschuldung bei den imperialistischen Gendarmen IWF und Weltbank und deren neoliberales Diktat, eine abwertende Währung und ein allgemeiner Anstieg der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Terroranschläge sind alles Faktoren, die die Massen des verarmten Landes in einen Zustand schweren Leidens und Aufruhrs versetzt haben.

Selbst die Mittelschicht kämpft ums Überleben, da Lebens- und Grundnahrungsmittel unerschwinglich und unzugänglich geworden sind. In dieser Situation liegt es im Interesse der herrschenden Klassen, die Massen vom Klassenkampf abzulenken, der der Kern ihres Leidens ist, und sie in eine fremdenfeindliche Kampagne gegen ein leichtes Ziel zu verwickeln. Afghan:innen sind seit langem in der pakistanischen Region präsent. Historisch gesehen gab es während der Kolonialzeit viele Bewegungen auf der Suche nach Arbeit. Aufgrund des imperialistischen Krieges und des damit verbundenen Leids nahm diese Bewegung um ein Vielfaches zu. Pakistan war einer der Hauptakteure im so genannten Krieg gegen den Terror und erhielt zudem massive Finanzmittel von den imperialistischen Mächten. Das Mindeste, was es dann tun sollte, war die Aufnahme von Tausenden, die vor Verfolgung und Krieg flohen. Nach dem 11. September kamen afghanische Flüchtlinge massenhaft nach Pakistan und stützten sich dabei auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen über die poröse, gebirgige Grenze.

Heute leben sie zumeist entweder als Kleinunternehmer:innen – vor allem als Betreiber:innen von Teeläden und als Leiter:innen von Bustransitstrecken neben anderen ähnlichen Berufen – oder als Gelegenheitsarbeiter:innen oder als obdachlose Bettler:innen. Inzwischen hat auch eine Reihe von Angehörigen der Intelligenz in Pakistan Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, dass imperialistische Mächte wie das Vereinigte Königreich und Deutschland ihre Versprechen einlösen und ihnen, auf pakistanischem Boden angelangt, Visa gewähren würden. Angesichts der Tatsache, dass Afghan:innen in der Vergangenheit keinen Teil des Großkapitals in Pakistan ausmachten, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute der Sündenbock für eine herrschende Klasse sind, die darum kämpft, so zu herrschen, wie sie früher herrschte.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die pakistanische Wut gegenüber Afghanistan ist der Transithandel durch Pakistan. Laut der Tageszeitung Dawn „wurde der afghanische Transithandel schon immer von Händler:innen beider Länder zum Schmuggel missbraucht. Berichten zufolge werden Transitladungen oft von den Häfen direkt auf pakistanische Märkte umgeleitet, bevor sie die Grenze überqueren.“ Der Leitartikel fügt hinzu, dass der Wert dieses afghanischen Transithandels von vier Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf 6,7 Milliarden in diesem Jahr gestiegen ist und der Wert der im Rahmen der Transitfracht geschmuggelten Güter um 63 Prozent auf 3,7 Milliarden zugenommen hat. Da die pakistanische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist Pakistan natürlich nicht glücklich über die Milliarden, die der afghanische Handel angeblich eingebracht hat.

Der vielleicht wichtigste Grund ist jedoch, dass der pakistanische Staat gehofft hatte, Afghanistan auf der geopolitischen Ebene in seinem Einflussbereich zu halten, und nun die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge als Strafmaßnahme gegen seinen widerspenstigen Nachbarn einsetzt, von dem er befürchtet, dass er mit einem Bein in Indiens Boot sitzt. Die wachsende Annäherung Afghanistans an Indien hat in Pakistan einen saueren Beigeschmack hinterlassen. Das von den Taliban beherrschte Afghanistan hat den Kaschmirkonflikt als bilaterale Angelegenheit zwischen Indien und Pakistan bezeichnet und zu den Gräueltaten in dem überwiegend muslimischen Tal geschwiegen. In diesem Jahr lieferte Indien über den iranischen Hafen Tschahbahar am Golf von Oman 20.000 Tonnen Weizen in das eingeschlossene Land, das mit einer extremen Nahrungsmittelkrise zu kämpfen hat, gefolgt von 40.000 Tonnen, die im vergangenen Jahr über die pakistanischen Landwege verschickt wurden. Indien schickte auch medizinische Hilfsgüter nach Afghanistan und hat auch sein diplomatisches Engagement gegenüber der Talibanregierung fortgesetzt und seine Botschaft in Kabul wiedereröffnet. Indien hat in seinem Haushalt 2023-24 25 Millionen US-Dollar für Entwicklungshilfe für Afghanistan vorgesehen, was von den Taliban begrüßt wird.

Es versteht sich von selbst, dass die islamfeindliche Hindutva-Regierung in Delhi eine ausgewogene Nähe zur islamistisch-fundamentalistischen Regierung in Kabul in erster Linie auf der Grundlage regionaler Interessen pflegt. (Dies wird umso deutlicher, wenn man sieht, wie Indien nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht nur keine Visa mehr an afghanische Student:innen ausstellt, sondern am 25. August 2021 auch die Visa derjenigen annullierte, die zwar ein Visum erhalten hatten, sich aber nicht in Indien aufhielten.) Bei diesen Interessen geht es nicht nur darum, den Einflussbereich Pakistans auszuschalten, sondern vor allem auch den des weitaus stärkeren Rivalen China. Chinas Botschafter in Kabul, Zhao Xing, wurde im vergangenen Monat von den Taliban sehr herzlich empfangen, und beide Länder haben den gegenseitigen Wunsch nach engeren Beziehungen, vor allem geschäftlichen, geäußert. Dies bedroht Indiens Investitionen in Afghanistan, die es während der Herrschaft der Marionettenregierung von Aschraf Ghani getätigt hatte, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Indien sich so aufführen musste, dass es die Islamophobie beiseiteschob und mit Kabul über Geschäfte sprechen musste.

Dennoch zeigt sich Islamabad nicht begeistert. Es ist sich auch bewusst, dass die Wirtschaft Afghanistans mit seiner international immer noch nicht anerkannten Regierung, den eingefrorenen Vermögenswerten, der hungerähnlichen Situation und der hohen Verschuldung die Last der Rückkehr von einer Million Flüchtlingen nicht tragen könnte. Das zeigt auch die Reaktion des Talibansprechers auf die Entscheidung aus Pakistan.

Was das für afghanische Flüchtlinge bedeutet

Die Schikanen gegenüber afghanischen Flüchtlingen sind in Pakistan nichts Neues, sie tragen jetzt nur einen rechtlichen Deckmantel. Am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, forderte Amnesty International die pakistanische Regierung auf, die willkürliche Verhaftung und Schikanen gegen afghanische Flüchtlinge und Asylsuchende einzustellen. Nach der Machtübernahme der Taliban floh eine große Zahl von Flüchtlingen nach Pakistan. Angaben von Amnesty International zufolge kamen viele von ihnen mit regulären Visa nach Pakistan, die inzwischen abgelaufen sind (und um sie zu verlängern, müssen sie erneut nach Afghanistan einreisen), und wegen erheblicher Verzögerungen im Registrierungsverfahren sind die meisten nicht im Besitz einer „Registrierungsachweiskarte“, dem Ausweis, der afghanische Flüchtlinge zu einem regulären Aufenthalt in Pakistan berechtigt. Neben der Beteuerung freundschaftlicher nachbarschaftlicher Beziehungen, um seinen Einflussbereich zu erweitern, hat Pakistan diese Flüchtlinge wahrscheinlich auch in der Hoffnung auf internationale Hilfe aufgenommen.

Seit ihrer massenhaften Ankunft im August 2021 sind die Afghan:innen nicht nur Schikanen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, sondern auch Erpressung und Arbeitslosigkeit. Ohne Dokumente, mit denen sie ihren Rechtsstatus nachweisen können, ist es für die Behörden leichter, nach oder unter Androhung einer willkürlichen Verhaftung Geld von ihnen zu erpressen. Ebenso führt das Fehlen von Dokumenten dazu, dass sie in schlecht bezahlten prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen, da eine formelle Beschäftigung keine Option ist. Ohne einen Registrierungsnachweis können sie keine Bankkonten einrichten oder ihre SIM-Karten registrieren lassen. Auch Vermieter:innen und Immobilienmakler:innen nutzen das Fehlen eines Nachweises über ihren regulären Status aus.

Die Verlängerung eines abgelaufenen Visums bedeutet, dass die Afghan:innen erneut nach Afghanistan einreisen müssen, um ein neues zu erhalten. Für viele, insbesondere Frauen und geschlechtliche Minderheiten, Journalist:innen, Aktivist:innen, Schiit:innen, Musiker:innen und fortschrittliche Menschen, ist dies keine Option. Daher haben sie sich dafür entschieden, unterzutauchen und in Pakistan ein Leben in prekären Verhältnissen zu führen.

Da Pakistan die Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 nicht angenommen hat, das laut der in Karatschi ansässigen Anwältin Moniza Kakar „Staaten daran hindert, Menschen zu bestrafen, die illegal in ein Land einreisen“, kann es sich auf das inländische Ausländergesetz von 1946 berufen, um Afghan:innen, die sich illegal in Pakistan aufhalten, zu bestrafen und auszuweisen. Offensichtlich steckt Pakistan immer noch in der Barbarei der Kolonialzeit fest!

In ganz Pakistan, vor allem aber an den Gerichten Sindhs, herrscht die Meinung vor, dass Afghan:innen keine humanitäre Hilfe verdienen, weil sie „Kriminelle“ sind und in „terroristische Aktivitäten“ verwickelt. Dieses rassistische Schema gilt nicht nur für Afghan:innen, auch ihre paschtunischen Cousin:innen werden nicht verschont. Die Motivation für die Ermordung von Naqeebullah Mehsud, die die Pashtun Tahaffuz Movement (Bewegung zum Schutz der Paschtun:innen) ausgelöst hat, war genau dieselbe. Diese rassistische Diskriminierung und Feindseligkeit ist in allen pakistanischen Einrichtungen weit verbreitet – in Krankenhäusern, an Schulen, Hochschulen und Universitäten, am Arbeitsplatz, in den Stadtvierteln, vor Gericht und auf den Polizeistationen.

Deshalb müssen wir gegen alle derartigen Ressentiments ankämpfen. Afghan:innen, die vor der reaktionären Talibanregierung Asyl suchen, haben keinen Grund, sich in Selbstmordwesten in die Luft zu sprengen. Sie sind Opfer von Verfolgung und fliehen aus ihrer Heimat, um Zuflucht und Schutz zu finden. Die Vorstellung, dass sie ihre Heimat nur verlassen haben, um Pakistan bombardieren zu können, ist bizarr. Das Leid der großen Mehrheit der vertriebenen Afghan:innen, die erst durch den imperialistischen Krieg in ihrem Land, dann durch die Taliban und jetzt durch Pakistan und andere Aufnahmeländer bestraft wurden, muss jetzt ein Ende haben. Länder wie Deutschland haben auch nicht gerade eine andere Rolle gespielt. Die Dringlichkeit, die bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge an den Tag gelegt wurde, fehlte eindeutig im Fall der Afghan:innen. Das Verfahren, um Flüchtlinge von dort über Pakistan nach Deutschland zu bringen, war von vornherein so mühsam und kompliziert, wie für Migrant:innen mit muslimischem Hintergrund fast alles ist, was die Einwanderungsbürokratie betrifft. Bei anderen imperialistischen Ländern liegt der Fall nicht viel anders.

Aufgaben und Forderungen

Der pakistanische Staat sieht sich selbst als Fackelträger islamischer Prinzipien und ist gekränkt, wenn Muslim:innen in Palästina oder Indien leiden müssen. Interessant ist jedoch, dass diese Sichtweise nicht auf die große Mehrheit der Muslim:innen in Afghanistan angewandt wird.

Kurz gesagt, die afghanischen Flüchtlinge befinden sich in einem ähnlichen Dilemma wie die Menschen im Gazastreifen heute. Sie können nirgendwo hin. Außerdem will sie kein Land aufnehmen, und die meisten von ihnen können einfach nicht in ihr Heimatland zurückkehren, solange die Taliban an der Macht sind. Die Aufgaben, die sich aus der gegebenen Situation für die Sozialist:innen ergeben, sind daher zweifach. Wir haben nicht nur die Pflicht, das Recht der armen afghanischen Flüchtlingsfamilien zu verteidigen, in den Nachbarländern zu bleiben, d. h. in Pakistan, China, Indien, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sowie in Europa, Nordamerika und Australien.

Wir stehen auch vor der Aufgabe, unseren fortschrittlichen Brüdern und Schwestern, insbesondere den mutigen Frauen in Afghanistan, internationale Solidarität und praktische Unterstützung zu gewähren, damit sie das reaktionäre Regime der Taliban stürzen können. Für eine solche Unterstützung ist es notwendig, die Grenzen nicht zu verstärken, sondern abzubauen. Das liegt auch im Interesse der werktätigen Massen in allen Nachbarländern Afghanistans. Der Schlachtruf für die Verwirklichung dieser permanenten Revolution wird lauten: „Sagt es laut, sagt es deutlich, alle Afghan:innen sind hier willkommen“. Die folgenden Forderungen können einen Ausgangspunkt für ein Aktionsprogramm zur Überwindung der gegenwärtigen Situation bilden:

  • Afghan:innen müssen in jedem Land, in dem sie sich aufhalten, die gleichen Bürger:innenrechte erhalten! Nein zur Diskriminierung von Flüchtlingen, die durch imperialistischen Krieg, Hunger und Talibanherrschaft vertrieben wurden!

  • Die europäischen und nordamerikanischen imperialistischen Zentren, die jahrzehntelang direkt in den Krieg in Afghanistan verwickelt waren, haben das Leben und die Infrastruktur in Afghanistan massiv zerstört. Sie müssen jetzt Reparationen zahlen, um das Land wieder aufzubauen!

  • Die imperialistischen Mächte müssen allen Afghan:innen, die in der ganzen Welt vertrieben wurden, sofort die Staatsbürger:innenschaft und gleiche Rechte gewähren! Sie haben es nicht verdient, ein Leben im Elend in halbkolonialen Slums zu führen, nachdem sie durch Kriege vertrieben wurden, die diese Mächte selbst verursacht und von denen sie profitiert haben!

  • Die imperialistischen Mächte, die die afghanischen Reserven eingefroren haben, sind direkt für das Aushungern der afghanischen Massen verantwortlich. Gebt die Reserven der afghanischen Zentralbank jetzt frei!

  • Verschuldung ist eine koloniale Falle. Streicht die Schulden von Afghanistan, Pakistan und allen halbkolonialen Ländern jetzt!



Indien: Hindu-Extremismus provoziert ethnische Säuberung in Manipur

Bernie McAdam, Infomail 1231, 19. September 2023

Als im Juli ein Video auftauchte, das zwei Frauen zeigte, die von einem Mob im indischen Bundesstaat Manipur nackt vorgeführt wurden, warf es ein Schlaglicht auf die Verbrechen von Modis Indien.

Das Hindutva-Regime (Hindutva ist eine extreme Form des Hindu-Chauvinismus) von Premierminister Nahendra Modi hat zu einer alarmierenden Zunahme von Übergriffen auf ethnische Minderheiten, Muslime, Christ:innen und Frauen geführt. Auf den Überfall vom 4. Mai reagierte Modi erst im Juli. Als dann der Angriff auf zwei christliche Kuki-Frauen durch eine Bande von Meitei-Hindu-Männern international bekannt wurde, sah er sich mit Verspätung gezwungen, eine Verurteilung auszusprechen, „da dies Indien Schande bereitet hat“.

Manipur

Der nordöstliche Bundesstaat Manipur wird von Modis Partei, der BJP, regiert, und die Regierung des Bundesstaates unterstützt zweifellos eine Kampagne zur ethnischen Säuberung des Kuki-Volkes mit fadenscheinigen Argumenten über die Notwendigkeit des Schutzes der Wälder, „illegale“ Migration und Mohnanbau. Dies hat dazu geführt, dass rund 60.000 Menschen vertrieben und über 7.000 Häuser niedergebrannt wurden. Mehr als 100 Menschen starben und Hunderte von Dörfern und Kirchen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Wie bei ähnlichen Konflikten üblich, sind es die Frauen, die die Hauptlast der Gewalt tragen.

Die Aktivitäten der Regierung des Bundesstaates unter Biren Singh bedrohen mehrere ethnische Gruppierungen und haben zu wütenden Protesten geführt. Insbesondere die Anordnung, 38 Dörfer in einem geschützten Waldgebiet zu räumen, hat Widerstand ausgelöst. Die Siedlungen wurden als illegal und ihre Bewohner als „Eindringlinge“ bezeichnet. Proteste gegen diese Räumungsaktionen wurden von der Polizei angegriffen.

Das Volk der Kuki war auch das Ziel von Meitei-Milizen, die offenbar mindestens fünf Waffenlager geplündert haben, wobei die Polizei zweifellos ein Auge zugedrückt hat. 

Unmittelbarer Auslöser der aktuellen Gewalt war die Anordnung des Obersten Gerichtshofs von Manipur an die Regierung des Bundesstaates, der indischen Unionsregierung die Aufnahme der Meitei-Gemeinschaft in die Liste der „Scheduled Tribes“ zu empfehlen. Die Meitei sind die vorherrschende ethnische Gemeinschaft in Manipur, und dieser neue Status wird ihre ohnehin schon mächtige Position stärken und ihnen Vorteile in den Bereichen Bildung und Arbeit verschaffen, aber auch Landrechte gewähren, um sich in Kuki-Gebieten „niederzulassen“ – oder besser gesagt, um Kuki zu vertreiben.

Angesichts dieser Unterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass das Volk der Kuki zunehmend die vollständige Trennung vom Staat Manipur fordert. Es gibt eine lange Geschichte von Kuki-Aufständen in Manipur und auch Konflikte mit den Nagas, die ihren eigenen Aufstand und Forderungen nach Selbstbestimmung hatten. Sozialist:innen und Kommunist:innen sollten natürlich Forderungen nach Selbstverteidigung und Selbstbestimmung unterstützen, wo Unterdrückung herrscht. Ein erfolgreicher Kampf zum Sturz von Modi und der BJP wird jedoch eine Offensive der gesamten indischen Arbeiter:innenklasse erfordern.

Die verschiedenen Kräfte der Opposition in der indischen Gesellschaft erfordern einen vereinten Kampf aller indischen Arbeiter:innen und Bäuer:innen, um die Modi-Regierung und das von ihr verteidigte kapitalistische System zu stürzen. Nur ein Kampf zur Abschaffung des Kapitalismus, der für die chronische Armut, die kommunale Gewalt und die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten verantwortlich ist, kann den gesamten indischen Subkontinent grundlegend verändern. Nur ein Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die das Kapital enteignet und die sich auf Räte stützt, kann die Grundlagen für eine menschwürdigen, sozialistischen Zukunft frei von Ausbeutung und Unterdrückung legen.




China nach dem 20. Parteikongress der KP

Peter Main, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

In den letzten Monaten des Jahres 2022 wurden der Welt zwei sehr unterschiedliche Bilder von China präsentiert. Der 20. Parteitag der KPCh, der Mitte Oktober stattfand, war das China, wie seine Herrscher:innen es von der Welt sehen wollten: geordnet, geeint, mächtig, ein Staat, mit dem man rechnen muss, ein Staat, der die Fremdherrschaft abgeschüttelt und sich unter einer entschlossenen und einfallsreichen Führung zu einer Weltmacht entwickelt hat.

Einige Wochen später verbreiteten sich Szenen von Straßenschlachten zwischen Tausenden von Bürger:innen und schwer bewaffneten Bereitschaftspolizist:innen nicht nur in Chinas Wirtschaftsmetropole S(c)hanghai, sondern auch in Provinzstädten im ganzen Land, in den sozialen Medien Chinas und anschließend in der ganzen Welt. Mitte Dezember wurde die Null-Covid-Politik, die vom Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten Xi Jinping selbst nicht nur als notwendig, sondern auch als vorbildlich verteidigt wurde, vollständig abgeschafft.

Es lohnt sich, Xis Hinweis auf die Covid-Politik des Regimes, Zero-Covid, in seinem Bericht an den Parteitag ausführlich zu zitieren:

„Als wir auf den plötzlichen Ausbruch von Covid-19 reagierten, stellten wir die Menschen und ihr Leben über alles andere, arbeiteten daran, sowohl importierte Fälle als auch das Wiederaufflammen im eigenen Land zu verhindern, und verfolgten beharrlich eine dynamische Null-Covid-Politik. Indem wir einen umfassenden Volkskrieg gegen die Ausbreitung des Virus geführt haben, haben wir die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung so weit wie möglich geschützt und sowohl bei der Bekämpfung der Epidemie als auch bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung äußerst ermutigende Erfolge erzielt.“ (1)

Kein Wort über die Umkehrung dieser Politik. In der Tat wurde die Verpflichtung zur „dynamischen Null-Covid“-Politik in den folgenden Wochen immer wieder wiederholt, bis sie angesichts des breiten Widerstands nicht nur der aufbegehrenden Bevölkerung, sondern auch der Provinzbehörden, die es sich nicht mehr leisten konnten, sie durchzusetzen, kurzerhand fallen gelassen wurde. Auch die Sorge um den „größtmöglichen Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung“ scheint sich verflüchtigt zu haben, obwohl bei einer zu schnellen Aufhebung der Null-Covid-Bestimmungen eine Welle von Covid-Infektionen unvermeidlich gewesen wäre.

Die Kehrtwende in der Politik war nicht nur dramatisch, sondern auch ganz offensichtlich nicht geplant. Dies ist vielleicht noch bedeutsamer als der Wandel selbst und deutet darauf hin, dass Xis Führungsteam im Ständigen Ausschuss des Politbüros das Land nicht so vollständig im Griff hat, wie die Bilder der dicht gedrängten Reihen von Kongressdelegierten vermuten ließen.

In jüngster Zeit gab es weitere Anzeichen für weitreichende Änderungen der Politik. Im Zuge der dramatischen Schuldenkrise auf dem Immobilienmarkt, die durch Evergrande symbolisiert wird, aber keineswegs auf dieses Unternehmen beschränkt ist, wurden die „drei roten Linien“, die das Verhältnis von Schulden zu Vermögenswerten beschränken und die Krise ausgelöst hatten, im Dezember gelockert. Berichten zufolge sollte die Frist für die Einhaltung der neuen Quoten verlängert werden, um den Unternehmen und ihren Gläubiger:innen mehr Zeit zu geben, halbfertige Projekte abzuschließen und zu verkaufen.

Im Januar folgte dann eine plötzliche Lösung der Probleme, die das Regime bei einigen der reichsten und erfolgreichsten Privatunternehmen Chinas, den Hightechgiganten wie Alibaba, Tencent und Didi Chuxing (DiDi), entdeckt hatte. Die Unternehmen räumten ihre Fehler ordnungsgemäß ein, wie aus Berichten der Regulierungskommission für das Banken- und Versicherungswesen hervorgeht, und die Möglichkeit künftiger Fehler wurde dadurch beseitigt, dass der Staat „goldene Aktien“ erwarb, die eine größere Transparenz und, sagen wir, eine bessere Koordinierung mit den Prioritäten der Regierung gewährleisten werden. Oder, wie einige sagen würden, mit den Prioritäten der chinesischen Kommunistischen Partei.

Im Bereich der Außenbeziehungen wurde der Verfechter der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie, Zhao Lijian, in die Abteilung für Grenz- und Meeresangelegenheiten des Außenministeriums versetzt, d. h. degradiert, und stattdessen sahen wir Liu He, Vizepremier und ehemaliges Mitglied des Politbüros, wie er den Reichen und Einflussreichen in Davos freudig die Hand reichte und ihnen versicherte, dass Peking nichts so sehr wünsche wie herzliche gegenseitige Beziehungen.

Dass Regierungen ihre Politik ändern, manchmal sogar drastisch, ist natürlich nichts Neues. In den imperialistischen Demokratien ist es praktisch selbstverständlich, dass im Wahlkampf geäußerte Versprechen routinemäßig zurückgenommen oder ganz fallen gelassen werden, sobald man im Amt ist. In China gibt es jedoch keine Wähler:innen, die sich täuschen lassen, und so kurz nach der Präsentation des Parteikongresses passt das Fallenlassen von Null-Covid einfach nicht in das Schema einer Partei, die populäre Maßnahmen vorstellt, um die Zustimmung der Öffentlichkeit zu gewinnen, und dann auf die unpopuläre Politik zurückgreift, die sie schon immer umsetzen wollte. Im Gegenteil, es war die unpopuläre Politik, die hervorgehoben wurde.

Bedeutet dies also, dass die KPCh durchaus die Absicht hatte, mit Null-Covid fortzufahren, aber einfach nicht in der Lage war, ihre gewählte Politik durchzusetzen, da die scheinbar unwiderstehliche Kraft auf ein wirklich unbewegliches Objekt traf? Wenn ja, was war dieses unverrückbare Objekt? Und wie könnte eine Partei mit 96 Millionen Mitgliedern, 1,6 Millionen Ausschüssen in Privatunternehmen und einer entscheidenden Kontrolle über riesige staatliche Unternehmen nicht wissen, dass ihr ein solches Hindernis im Weg steht? Oder, wenn die Partei wusste, dass es unmöglich sein würde, Null-Covid durchzusetzen, und sicherlich hatten viele Kommentator:innen diese Meinung vor dem Kongress geäußert, warum hat sie sich dennoch auf die denkbar öffentlichste Weise für diese Politik eingesetzt?

Es ist bezeichnend, dass viele westliche Kommentator:innen die Antworten auf diese sehr offensichtlichen Fragen in der Persönlichkeit von Xi Jinping selbst gefunden haben, aber das erklärt wirklich nichts. Zweifellos muss man härter und entschlossener sein als der Durchschnitt, um an die Spitze der KPCh zu gelangen, aber die Erklärung liegt nicht in der Psychologie oder Persönlichkeit von Xi Jinping, sondern in der politischen Pathologie der Partei, die er führt.

Eine solch gigantische Partei, deren Mitgliederzahl größer ist als die Bevölkerung eines jeden EU-Staates und die in den meisten Gemeinden und Unternehmen das Sagen hat, bringt zwangsläufig eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen, Interessengruppen und politischer Fraktionen hervor. Um all das zusammenzuhalten, braucht die Partei als Ganze einen „starken Führer“, quasi einen Bonaparte, dem alle Fraktionen zu huldigen haben. In der Zeit vor und während der eigentlichen Tagung des Parteikongresses wurde es als absolut notwendig erachtet, in keiner Frage den Anschein zu erwecken, einer Fraktion nachzugeben, um nicht als Zeichen der Schwäche gesehen zu werden, das ausgenutzt werden könnte.

Der Charakter einer Partei, ihr grundlegendes Wesen, ist in ihrem Programm zu finden, das als die Gesamtheit ihrer Philosophie, ihrer Prinzipien, ihrer Praxis und ihrer Prioritäten und deren Entwicklung im Laufe der Zeit verstanden wird. Ein Überblick über die Geschichte der Entwicklung der KPCh findet sich in der Zeitschrift Fifth International 22 oder unter https://fifthinternational.org/content/china-centenary-chinese-communist-party, aber kurz gesagt, ist sie eine stalinistische Partei. Nicht in dem Sinne, dass Stalin selbst ihren Charakter bestimmt hätte, sondern in dem programmatischen Sinne, dass sie im Laufe der Zeit die Schlüsselelemente von Stalins Negation des revolutionären Marxismus übernommen hat:

  • in den 1920er Jahren: Klassenkollaboration, gefolgt von ultralinkem Abenteurertum;

  • in den 1930er Jahren die Volksfront und die menschewistische Theorie vom schrittweisen Aufbau des Sozialismus;

  • 1949 die Bildung einer Volksfrontregierung und die Orientierung auf eine langjährige kapitalistische Entwicklung;

  • 1953 die Ablehnung dieser Entwicklung zugunsten einer bürokratischen Planwirtschaft mit Zwangskollektivierung und beschleunigter industrieller Entwicklung, die zum Massenhunger führte;

  • in den 1960er Jahren Fraktionskriege und das Chaos der Kulturrevolution;

  • in den späten 1970er Jahren die Entscheidung, die Marktkräfte zu stimulieren, um die Wirtschaft wiederzubeleben;

  • in den 1980er Jahren die Einladung an ausländisches Kapital, in Sonderwirtschaftszonen zu investieren, und das Massaker an der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dann

  • in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus.

Obwohl die chinesische KP Mitte der 1920er Jahre über eine echte Massenbasis in der Arbeiter:innenklasse verfügte, hatte sie nie ein Programm, das auf der Machtergreifung durch Arbeiter:innenräte beruhte, und bis 1928 war diese Arbeiter:innenmitgliedschaft von den ehemaligen Verbündeten der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang buchstäblich ausgelöscht worden. Diejenigen, die Chiang Kai-sheks (Tschiang Kai-scheks) Weißen Terror überlebten und der Partei treu blieben, flohen in die Berge, wo sie über mehrere verzweifelt schwierige Jahre hinweg einen Organisations- und Militärapparat aufbauten, der von der städtischen Arbeiter:innenklasse völlig abgekoppelt war, aber immer noch KP China hieß. Wie Trotzki über die Apparatschiks sagte, die den ersten Fünfjahresplan umsetzten, bestand ihr grundlegender Fehler darin, dass sie glaubten, sie seien die Revolution. Daraus folgte, dass alles, was notwendig war, um ihren Apparat zu erhalten, legitim war.

Selbst nach all den Irrungen und Wirrungen der chinesischen Geschichte seit 1927 ist dieser Apparat, diese Aneignung von Legitimität der Schlüssel zum Verständnis der heutigen Merkmale, der heutigen Probleme des chinesischen politischen und wirtschaftlichen Systems. In der Tat trugen die Irrungen und Wirrungen zur Konsolidierung des Apparats bei. Jede der großen politischen Strategien der Partei war ein Irrtum und führte in eine Krise. Innerhalb der Partei bildeten sich immer wieder Fraktionen, die andere Lösungen für diese Krisen vorschlugen. In jeder Phase gewann diejenige Fraktion, die die Interessen, ja das Überleben des Apparats am besten zum Ausdruck brachte. Wie Rosa Luxemburg von den Führer:innen der sozialdemokratischen Partei vor 1914 sagte, glaubten die der KPCh zunehmend, dass die wichtigste Tugend, die innerhalb der Mitgliedschaft gelobt und belohnt werden sollte, die des Gehorsams sei. Unabhängig von der konkurrierenden Politik war das Kriterium, nach dem sie beurteilt wurden, das Überleben und vorzugsweise die Expansion des Apparats selbst. Folglich war die soziale Basis der Partei der Apparat selbst, das, was wir in Anlehnung an Trotzki die „bürokratische Kaste“ genannt haben.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Annahme, in „rückständigen Ländern“ müsse es eine Periode oder Stufe der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte geben, bevor von der Macht der Arbeiter:innenklasse und einer sozialistischen Entwicklung die Rede sein könne – die Position der Menschewiki in Russland –, damals weithin als orthodoxe marxistische Position angesehen wurde. Im Jahr 1917 galten Trotzki und Lenin als „Ketzer“, weil sie die Auffassung vertraten, dass die notwendige Entwicklung von einem Arbeiter:innenstaat mit Hilfe sozialistischer Enteignungs- und Planungstechniken durchgeführt werden könne. In China war die von Mao vor 1949 verfolgte Strategie der „Neuen Demokratie“, d. h. einer Volksfrontregierung, im Wesentlichen eine Neuformulierung der menschewistischen Perspektive.

Spätestens 1952 hatten jedoch der Koreakrieg und die Unterstützung der Gegner:innen der KPCh durch die USA und die Kuomintang den utopischen Charakter einer solchen Politik bewiesen. Als der bürokratische Apparat unter der Leitung von Planer:innen aus der Sowjetunion die Kontrolle über die Entwicklung der Wirtschaft übernahm, verfestigte sich der Charakter der KPCh als politischer Ausdruck dieses Apparats, der sich nun enorm ausweitete, noch mehr. Obwohl der Frieden und der systematische Wiederaufbau die wirtschaftliche Stabilität, wenn nicht gar den Wohlstand, wie in den Anfangsjahren der Sowjetunion recht schnell wiederherstellten, führte die Frage, wie es weitergehen sollte, welche strategischen Prioritäten zu verfolgen waren, zu heftigen Kontroversen innerhalb der Bürokratie und damit auch der Partei.

Im Grunde waren diese Auseinandersetzungen Ausdruck der Unmöglichkeit, China als autarke Wirtschaft nach dem Programm des Sozialismus in einem Land zu entwickeln. Als Parteiführer Deng Xiaoping sich 1992 für die Wiederherstellung des Kapitalismus entschied, kehrte er zum ursprünglichen, menschewistischen Programm zurück und behielt nicht nur die bürokratische Diktatur, sondern auch das programmatische Ziel des Sozialismus in einem Land bei, das von Stalin 1924 übernommen, aber ursprünglich von Georg von Vollmar, einem bayerischen Sozialdemokraten, 1894 formuliert worden war.

Die Politik der Restauration brachte eine qualitative Veränderung des Charakters des Staates und der Rolle der Bürokratie und ihrer Partei mit sich. Während die Form des Staates mit seiner nicht rechenschaftspflichtigen Regierung und dem stehenden Heer schon immer bürgerlich gewesen war, waren die Eigentumsverhältnisse, auf denen er beruhte – vergesellschaftetes Eigentum und integrierte Produktionsplanung – die eines Arbeiter:innenstaates. Die Überbrückung dieses Widerspruchs verkörperte sich in der bürokratischen und militärischen Kaste und ihrer Partei, die im Wesentlichen parasitär auf der vergesellschafteten Wirtschaft basierte und scheinbar „über“ der Gesellschaft stand, was Trotzki als „Sowjetbonapartismus“ bezeichnete.

Die Abschaffung der Planung und die Förderung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse, sei es in Form staatlicher kapitalistischer Unternehmen oder in Form von Privateigentum, löste diesen Widerspruch auf: ein bürgerlicher Staatsapparat schützte und förderte nun eine bürgerliche Wirtschaft, behielt aber die politische Kontrolle der Bürokratie und ihrer Partei bei. Nichtsdestotrotz bleibt die bürokratisch-militärische Kaste mit ihren eigenen Kasteninteressen parasitär und muss ihr bonapartistisches Regime aufrechterhalten.

All dies macht deutlich, dass die KPCh zwar den Kapitalismus in China so effektiv restauriert hat, dass sie zu einer imperialistischen Macht geworden ist, aber dennoch keine Partei der Bourgeoisie im Sinne einer Verwurzelung in dieser Klasse geworden ist. Ihre gesamte Politik sorgt jedoch für das Wachstum einer neuen kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht immer mit den Prioritäten der Kaste und ihrer Partei übereinstimmen mögen. Dies erklärt die zunehmend nationalistische, sogar fremdenfeindliche Rhetorik des Regimes. Wie Xi Jinping selbst auf dem Kongress betonte, „hat sich unsere Partei dem Ziel verschrieben, dauerhafte Größe für die chinesische Nation zu erreichen“ (2).  Dies impliziert die Vorstellung, dass jedes Klasseninteresse und jede Partei, die ein Klasseninteresse vertritt, automatisch spalterisch und unpatriotisch sind. Wie wir noch sehen werden, ist dies der Grund, warum sie, selbst während sie den Kapitalismus entwickelt, es für notwendig erachten kann, Kapitalist:innen systematisch zu unterdrücken. Längerfristig ist dies jedoch auch der Grund, warum sich die Bourgeoisie gegen die KPCh wenden kann.

Xi Jinping

Die lange Geschichte der KPCh-internen Fraktionskämpfe, von denen einige äußerst gewalttätig waren, hat sich seit der Restauration des Kapitalismus fortgesetzt. In einer Einparteiendiktatur könnte es nicht anders sein. Politische Unterschiede, die ihren Ursprung in den zwangsläufig unterschiedlichen Erfahrungen nicht nur der verschiedenen Regionen, sondern auch der verschiedenen Klassen haben, können sich innerhalb der einen Partei nur in Form von Fraktionsunterschieden äußern. Es ist bekannt, dass Xi Jinping die Führung der KPCh erst nach einem langwierigen Streit mit den Anhänger:innen der früheren Führung um Jiang Zemin erlangte, der 2011 im 18. Parteitag gipfelte.

In seinem Bericht an den 20. Parteitag listete Xi Jinping die Probleme auf, mit denen sich seine Führung damals auseinandersetzen musste:

„Innerhalb der Partei gab es viele Probleme im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Parteiführung, einschließlich eines Mangels an klarem Verständnis und wirksamen Maßnahmen sowie einer Tendenz zu einer schwachen, hohlen und verwässerten Parteiführung in der Praxis. Einige Parteimitglieder und Funktionär:innen schwankten in ihrer politischen Überzeugung. Trotz wiederholter Warnungen hielten sinnlose Formalitäten, Bürokratismus, Hedonismus und Extravaganz in einigen Orten und Abteilungen an. Das Streben nach Privilegien und Praktiken stellte ein ernstes Problem dar und es wurden einige schockierende Fälle von Korruption aufgedeckt.“ (3)

Als ob das nicht genug wäre, betonte XI Jinping  auch, dass „das traditionelle Entwicklungsmodell uns nicht länger vorwärts bringen kann“ (4).  Die Konfrontation mit und die Überwindung von solch schwerwiegenden Problemen stellt nach Xis eigenen Worten eine „neue Ära“ dar, die sich an seinem eigenen theoretischen Werk „Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Merkmalen für eine neue Ära“ orientiert. Ein Merkmal davon scheint jedoch keineswegs neu zu sein: „Die Führung der Kommunistischen Partei Chinas ist das bestimmende Merkmal des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen und die größte Stärke des Systems des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen, dass die Partei die höchste Kraft der politischen Führung ist und die Aufrechterhaltung der zentralisierten, einheitlichen Führung des Zentralkomitees der Partei das höchste politische Prinzip ist.“ (5)

Formelle Reden können natürlich in der Übersetzung etwas verlorengehen, aber was der Parteivorsitzende hier anspricht, ist real genug. Seine Führung musste sich mit Problemen auseinandersetzen, die sich aus der Tatsache ergaben, dass China zu einer Weltmacht, einer imperialistischen Macht, geworden war, was durch die Fähigkeit des Regimes bewiesen wurde, die Finanzkrise von 2008 – 2010 nicht nur zu überstehen, sondern gestärkt aus ihr hervorzugehen. Diese neue Realität brachte ganz andere Aufgaben und Prioritäten mit sich als die, mit denen die vorherige Führung bei der Restauration des Kapitalismus konfrontiert war. Die Spannungen und Konflikte innerhalb der Partei erklären den zunehmend bonapartistischen Charakter der Führung.

Chinas neuer Status zeigt sich auch in der Entwicklung der Volksbefreiungsarmee (VBA) seit 1979, als sie von ihrem viel kleineren (aber sehr erfahrenen!) vietnamesischen Nachbarn gedemütigt wurde. Heute ist sie reorganisiert, von der industriellen Produktion abgekoppelt, mit technologisch hochentwickelten Waffen ausgestattet und verfügt über Abteilungen für Weltraum- und Cyberkriegsführung. Peking hat nicht nur zum ersten Mal seit dem frühen 15. Jahrhundert eine Flotte in den Indischen Ozean entsandt, sondern auch Streitkräfte als „UN-Friedenstruppen“ im Libanon, im Kongo, im Sudan und sogar in Haiti stationiert. Während Russlands Erfahrung in der Ukraine Peking viel zu denken geben wird, besteht kaum ein Zweifel daran, dass ein zukünftiger Krieg praktisch als selbstverständlich angesehen wird. Dies machte Chinas Staatspräsident auf bedrohliche Weise deutlich, als er in seiner Kongressrede „die Missionen und Aufgaben der KPCh“ umriss, zu denen auch die Notwendigkeit gehörte, „die Ziele für den hundertsten Jahrestag der Volksbefreiungsarmee im Jahr 2027 zu erfüllen“ (6).  Eines der oft genannten Ziele bildet natürlich die Eingliederung Taiwans in die VR China.

Zu Beginn von Xis dritter Amtszeit wird bei der Betrachtung seiner ersten beiden Regierungsperioden die Interaktion zwischen der bürokratischen Kaste, deren prägende Erfahrungen in einer Planwirtschaft gesammelt wurden, in der Wirtschaftspolitik und -ziele einfach von politischen Prioritäten abgeleitet wurden, und einer aufstrebenden Klasse von Kapitalist:innen deutlich. Die Kapitalist:innen waren zwar für eine gute Ordnung und billige Arbeitskräfte auf die vom Regime durchgesetzten sozialen Kontrollen angewiesen, setzten aber im Kontext der zyklischen Dynamik des Kapitalismus und der bereits bestehenden Dominanz anderer imperialistischer Mächte zunehmend ihre eigenen Prioritäten fest. Zum Zeitpunkt des 20. Kongresses hatten diese Faktoren bereits dazu geführt, dass die Wirtschaftswachstumsraten zum ersten Mal in der Amtszeit von Xi deutlich zurückgingen.

Ein Überblick über die Wirtschaftsleistung Chinas vor und während der ersten Amtszeit von Xi wird den Hintergrund liefern, vor dem spezifischere Themen und Probleme bewertet werden können. Es ist sehr schwierig, chinesische Wirtschaftsdaten zu interpretieren, selbst für einen Vergleich mit anderen großen kapitalistischen Volkswirtschaften, ganz zu schweigen von dem Versuch, sie in marxistische Analysekategorien zu übertragen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass die Statistiken des Staates bei der Festlegung der Politik eine Rolle spielen, und die nachstehende Grafik zeigt eine wichtige Reihe, nämlich die Nettogewinne der Industrie:

Grafik 1 zu Reingewinnen von Industrieunternehmen (7)

Aus diesem Schaubild geht eindeutig hervor, dass nach einem Jahrzehnt und mehr mit ständig steigenden Gewinnen 2011, im Jahr vor Xis Amtsantritt, eine Abschwächung mit kaum einem Anstieg zu verzeichnen war, und die fünf Jahre seiner ersten Amtszeit waren die ersten mit uneinheitlichem Wachstum und sogar einer Phase des Rückgangs. Sie endeten jedoch mit einem Höhepunkt im Jahr 2017.

Eine gewisse Vorstellung von der Beziehung zwischen Investitionen und Profiten, die zumindest einen Eindruck von der „Profitrate“ nach marxistischem Verständnis vermittelt, zeigt ein Vergleich der Schlussfolgerungen vieler verschiedener Analyst:innen (8), die alle versuchen, „konventionelle“ Statistiken als „Stellvertreter“ für die marxistischen Kategorien zu verwenden.

Betrachtet man diese beiden Zahlenreihen zusammen, kann man zum Schluss kommen, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft von etwa 2004 bis zur Krise 2008 von einem recht starken Rückgang der Profitrate begleitet war, dann eine kurzzeitige Erholung durch das Konjunkturprogramm und ein recht allgemeiner Rückgang bis 2015/6 erfolgten. Insbesondere in der ersten Amtszeit von Xi gab es zwar ein Wachstum der Profitmasse, aber auch einen Rückgang der Profitrate, was auf schwierige Zeiten hindeutete.

Politisch musste sich Xi mit zwei oppositionellen Fraktionen auseinandersetzen. Die eine war der Meinung, dass die Partei mit ihrer Förderung des Privatkapitals bereits zu weit gegangen war, und war diejenige, mit der man am leichtesten fertig wurde. Korruptionsvorwürfe waren das Mittel der Wahl gegen Leute wie Bo Xilai, den Parteichef in Chongqing, der die Führung anstrebte, indem er sich den Mantel von Mao Zedong umhängte. Die andere, die im Allgemeinen mit Jiang Zemin in Verbindung gebracht wird, der in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus beaufsichtigt hatte, war sowohl in der Partei als auch im Staatsapparat viel besser verankert. Offensichtlich war sie nicht prinzipiell gegen den Kapitalismus, aber ihr Hauptanliegen scheint der Schutz dieses Apparats gewesen zu sein, den sie durch Xi Jinpings Engagement für ein schnelleres Wachstum durch ein größeres Vertrauen in die „Marktkräfte“, d. h. den privaten Sektor, bedroht sah.

Die Zeitschrift The Economist beschrieb kürzlich die ersten drei oder vier Jahre von Xis Führung als „die Blütezeit der Privatwirtschaft“, in der Technologieunternehmen wie Alibaba und Tencent zu Global Playern aufstiegen und ihre Gründer:innen als die neuen Milliardär:innen gefeiert wurden. Ihr Erfolg in China bestätigte schnell, dass das Kapital international expandieren muss. Im Jahr 2014 brachte Jack Ma Alibaba an die New Yorker Börse (NYSE) und sammelte 25 Mrd. US-Dollar ein – zum damaligen Zeitpunkt der größte Börsengang (Börseneinführung; Initial Public Offering, IPO), der Welt, der den Konzern mit 231 Mrd. US-Dollar bewertete. Seitdem sind weitere 240 chinesische Unternehmen an die Börse gegangen, deren Gesamtwert sich im Dezember 2021 auf 2 Billionen US-Dollar belief. Solche Bewertungen sind Ausdruck der wachsenden Bedeutung des Privatkapitals, d. h. der Bourgeoisie, in China, die eine potenzielle, unzuverlässige alternative Macht im Land darstellt.

Im Inland war die „Blütezeit der Privatwirtschaft“ nicht von Dauer. Im Juni 2015 brach die Börse in Shanghai, an der die Aktienbewertungen im Jahr zuvor um 150 % gestiegen waren, plötzlich um 28 % ein – das entspricht 3,5 Billionen US-Dollar. Die geplatzte Blase war durch eine gezielte Regierungspolitik mit billigen Krediten aufgeblasen worden, die „Kleinanleger:innen“, d. h. einfache Menschen, zum Kauf von Aktien ermutigte. Dies war Ausdruck der Gesamtstrategie von Xi, die Kapitalallokation auf den Markt und weg von den staatlichen Banken zu verlagern. Diese Strategie hat sich auch nicht geändert, trotz aller Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre. In seinem Bericht an den Kongress betonte Xi: „Wir werden darauf hinwirken, dass der Markt die entscheidende Rolle bei der Ressourcenallokation spielt und die Regierung ihre Rolle besser wahrnimmt.“ (9)

Während die Börsenkrise durch ein faktisches Verkaufsverbot schnell unter Kontrolle gebracht wurde, zeigten ihre Folgen einen anderen Aspekt der Kaste-gegen-Klasse-Frage. Für Millionen von Apparatschiks und Parteimitgliedern in Ministerien, Banken und Staatsbetrieben war dies der Beweis dafür, dass man dem „Markt“ tatsächlich zu viele Zugeständnisse gemacht hatte. Es erschien zwar nicht als klug, sich der fortgesetzten marktfreundlichen Politik der Führung offen zu widersetzen, aber das war auch nicht notwendig, um die Stabilität zu gewährleisten. Obwohl Xi weitere Reformen durchführte und beispielsweise ausländischen Banken erlaubte, in ausgewählten Regionen tätig zu werden, herrschte im größten Teil der chinesischen Wirtschaft weiterhin die alte Ordnung.

Einer der wichtigsten dieser „alten Wege“ war die Immobilienentwicklung. Diese hatte seit den 1990er Jahren eine zentrale Rolle gespielt, nach dem Motto: „Wenn du baust, werden sie kommen“. Ursprünglich bedeutete dies in den Sonderwirtschaftszonen, dass, wenn eine lokale Behörde z. B. die Grundlagen für einen Industriepark baute und Grundstücke zu niedrigen Preisen anbot, Unternehmen angelockt wurden, die dann Fabriken errichteten und in der Regel die Produktion von billigen Konsumgütern aus Hongkong verlagerten. Dies würde an sich schon eine Nachfrage nach Arbeitskräften, Lagerräumen, Geschäften, Unterkünften, Transportmöglichkeiten usw. erzeugen.

Aus diesen kleinen Anfängen entwickelte sich ein ganzes Erschließungssystem: Die Kommunalverwaltungen verkauften Grundstücke an Erschließungsunternehmen und erhielten so Einnahmen zur Finanzierung ihrer eigenen Aufgaben. Die Erschließungsunternehmen bauten, was immer die Marktbedingungen als rentabel erscheinen ließen, und die Firmen siedelten sich an, zahlten Miete an die Erschließungsunternehmen und erzielten im Allgemeinen einen guten Gewinn mit ihrer für den Export bestimmten Produktion. Die weitere Expansion brachte den Kommunen mehr Einnahmen. Neue Gebäude kurbelten die Bauindustrie und das Materialangebot an, der Zustrom neuer Arbeitskräfte schuf eine Nachfrage nach Wohnraum usw. Sowohl nach dem finanziellen Schock von 2008/09 als auch nach den Schwierigkeiten an den Börsen im Jahr 2015 bot dieses Entwicklungsmodell eine Grundlage für die Stabilisierung der nationalen Wirtschaft. Ein Aspekt dieses Modells, der Wohnungsbau, wurde im Zusammenhang mit der Verstädterung besonders wichtig, da er etwa 30 Prozent der Einnahmen der lokalen Behörden ausmachte.

Die Bedenken hinsichtlich der Politik sind natürlich nicht verschwunden. Sowohl die Kapitalist:innen als auch die Parteiführer:innen, die bereits über Obamas „Schwenk zum Pazifik“ beunruhigt waren, mussten nun mit Trumps offener Feindseligkeit und seiner Unterstützung für Beschränkungen des chinesischen Exporthandels rechnen. Darüber hinaus waren ausländische Unternehmen inzwischen so gut in China verankert, dass sie ihre eigenen Einschätzungen des Wirtschaftswachstums entwickeln konnten – und diese zeigten durchweg, dass die offiziellen Zahlen übertrieben waren, das BIP wuchs nicht mit bis zu 7 % pro Jahr, sondern eher mit etwa 5 %.

China und die Welt

Die obigen Grafiken liefern den Hintergrund für den heftigen Fraktionsstreit, der vor und auf dem 18. Parteitag 2011 ausgetragen wurde und aus dem Xi Jinping als Sieger hervorging. Chinas Fähigkeit, sich nicht nur von der Krise 2008/9 zu erholen, sondern auch viele andere Länder aus der Rezession zu ziehen, machte deutlich, dass das quantitative Wachstum seit der Restauration des Kapitalismus nun eine qualitative Veränderung des Status des Landes mit sich gebracht hatte: Es war nun eine Weltmacht, eine imperialistische Macht. Das erforderte eine Neuordnung der Beziehungen zum Rest der Welt, insbesondere zur dominierenden Macht, den USA.

Dies ist die materielle Realität, die das größere Durchsetzungsvermögen, ja sogar die Aggressivität erklärt, die auf der Weltbühne an den Tag gelegt und oft der Persönlichkeit Xi Jinpings zugeschrieben wird. Die weitere Entwicklung erforderte nun eine Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielten, diesen neuen Status zu konsolidieren, indem andere Mächte gezwungen wurden, Chinas Prioritäten und Anforderungen zumindest zu berücksichtigen.

Das eigentliche Kernstück von Xis Programm war daher abseits fraktionellen Disputs eine Strategie, die Chinas neuem Status entsprach: die Belt-and-Road-Initiative, BRI (Initiative See- und Straßenwege). Was genau die Führung der KPCh von Marx‘ „Das Kapital“ oder Lenins „Imperialismus“ hält, werden wir wohl nie erfahren, sie wird beides sicherlich studiert haben, aber die Notwendigkeit, Kapital zu exportieren und Macht global zu projizieren, war zu dem Zeitpunkt, als Xi die Macht übernahm, keine theoretische Frage mehr.

Grafik 2: Die Initiative See- und Straßenwege

Schon ein kurzer Blick auf die Karte der BRI-Initiativen macht ihr Ziel deutlich: die langfristige Integration der eurasischen Landmasse und der angrenzenden Regionen Afrikas unter chinesischer „Führung“ oder Kontrolle, wie manche sagen würden.

Das Projekt verbindet den Ausbau der Infrastruktur mit „sozialen Entwicklungen“ wie Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, während die damit verbundene Asiatische Infrastrukturinvestitionsbank, deren größter Anteilseigner mit rund 26 % China ist, zweifellos ein alternatives Finanznetzwerk auf Renminbi-Basis (Yuan; chinesische Währung) bereitstellen soll. Kredit aufnehmende Länder können die Projekte selbst als Sicherheiten für die Ausleihe verwenden. Auf diese Weise wurde der neue Hafen von Hambantota in Sri Lanka zu einem chinesischen Vermögenswert, der für 99 Jahre in Mietkauf  gepachtet wurde, wenn Kredite nicht zurückgezahlt werden konnten.

Die BRI bietet auch einen Absatzmarkt für die Produkte von Chinas Überinvestitionen in die – grob gesagt – „Schwerindustrie“, so dass der Kapitalexport nicht nur Finanzmittel umfasst, sondern auch das, was nach Abschluss der Projekte zu Anlagevermögen wird.

Doch so beeindruckend das Ausmaß der BRI auch sein mag, wie das Beispiel Hambantota zeigt, muss sich Chinas Fähigkeit, den Rest der Welt auszubeuten, erst noch beweisen. Das Hafenprojekt war ein finanzielles Desaster, und dasselbe gilt für mehrere Elemente des China-Pakistan Wirtschaftskorridors (CPEC), der oft als eine der Schlüsselkomponenten der gesamten BRI dargestellt wird. Andere Länder nehmen nicht nur diese Misserfolge zur Kenntnis, sondern auch die Feindseligkeit, die entsteht, wenn deutlich wird, dass die Projekte keine Investitionsmöglichkeiten für lokales Kapital bieten und nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung schaffen, da auch Arbeitskräfte aus China exportiert werden.

Dies zeigt nicht nur die chinesische Unerfahrenheit bei der Planung und dem Bau von Projekten im Ausland, sondern auch, dass es etwas ganz anderes ist, mit den etablierten Imperialist:innen auf globaler Ebene zu konkurrieren, was Bankwesen, Technologie, Planung, Produktspezifikationen und eine Unzahl von Vorschriften einschließt, als die Preise für Konsumgüter zu unterbieten.

Sowohl innenpolitisch als auch global gesehen war die erste Amtszeit von Xi Jinping also bestenfalls ein bedingter Erfolg. China konnte nun zweifellos als wichtiger globaler Akteur gelten. Viele Länder waren nun auf die chinesische Expansion angewiesen, um ihren eigenen Exporthandel aufrechtzuerhalten, aber die etablierten imperialistischen Mächte begannen, den Neuling eher als potenziellen Rivalen denn als nützliche Quelle für billige Waren zu betrachten. Im Inland hatte sich das Wachstum fortgesetzt, wenn auch nicht mit den außergewöhnlichen, manche würden sagen unglaublichen, Raten von bis zu 13 Prozent, die 2010 – 2012 verzeichnet wurden, aber der Versuch, die Investitionen von einem staatlich gelenkten auf ein marktgesteuertes Modell umzustellen, war nicht sehr erfolgreich gewesen.

Diese Angelegenheiten bildeten den Hintergrund für den 19. Parteitag im Jahr 2017, auf dem Xis Streben nach mehr Kontrolle deutlich gemacht wurde. Dies war der Kongress, der seinen Beitrag zur Philosophie und zum Programm der Partei mit dem von Mao Zedong (Mao Tse-tung) gleichsetzte. Eine solche Förderung des Großen Führers ist ein deutlicher Hinweis auf ernsthafte Fraktionsstreitigkeiten, die unterdrückt werden müssen, um das Regime als Ganzes zusammenzuhalten. Dass Xi dennoch auf die innerparteilichen Fraktionen Rücksicht nehmen musste, zeigte sich daran, dass deren Vertreter:innen wie Hu Jintao und Li Keqiang nicht nur im Politbüro, sondern auch im Ständigen Ausschuss, dem eigentlichen Entscheidungsgremium im Land, vertreten waren.

Wie genau sich Xis Pläne entwickelt haben könnten, werden wir natürlich nie erfahren, da die Covid-19-Pandemie gegen Ende des zweiten Jahres seiner zweiten Amtszeit ausbrach. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch bereits die von Deng Xiaoping eingeführte Begrenzung der Amtszeit auf zwei Wahlperioden aufgehoben, die einen reibungslosen Übergang von einem Staatsoberhaupt zum nächsten gewährleisten sollte, und es wurde offen diskutiert, ob er beabsichtigte, Staatsoberhaupt auf Lebenszeit zu werden.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie gab es Anzeichen für eine Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft. Die Exporte gingen 2019 gegenüber dem Vorjahr um 0,5 % zurück, und die offizielle Zahl für das BIP-Wachstum lag bei 6,1 % und nicht bei den angestrebten 6,5 %. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten, die in der Struktur des Regimes und der Wirtschaft begründet sind, müssen wir die Probleme berücksichtigen, die sich aus der Pandemie und der Reaktion darauf auf nationaler und internationaler Ebene ergeben haben. Auch wenn sie nicht durch dieselben Faktoren verursacht wurden, zeigen sie doch die wesentlichen Merkmale des Regimes.

Abgesehen von der Beziehung zwischen Klimawandel, Umweltveränderungen und sozialer Organisation, dem „Metanarrativ“ der Pandemie, reichten die Reaktionen und Maßnahmen des Regimes von einem anfänglichen, typisch bürokratischen Versuch, die Existenz eines Problems zu leugnen, bis hin zu einer einzigartig autoritären, aber recht wirksamen Abriegelung, die die Ausbreitung des Virus stoppte, aber auch einen Großteil der Wirtschaft zum Erliegen brachte.

Danach erholte sich die inländische Produktion schnell und erreichte innerhalb von nur sechs Wochen wieder 80 % der Produktion vor der Pandemie, doch zu diesem Zeitpunkt geriet der internationale Handel in eine Krise, die sich in Form von Lieferengpässen und Transportstörungen bemerkbar machte, was sich wiederum auf die chinesische Wirtschaft auswirkte, die natürlich in hohem Maße auf den Handel angewiesen ist. Das Regime griff auf sein übliches Rezept zur Ankurbelung der Wirtschaft zurück, indem es mehr Kredite für den Bau und die Infrastruktur bereitstellte.

Damit verschärfte es jedoch tief sitzende Probleme in der Wirtschaft, die sich bereits seit mehreren Jahren entwickelt hatten. Diese hängen mit der Rolle des Immobilienwesens zusammen, insbesondere dem Wohnungsbau, und veranschaulichen sehr gut die Funktionsweise des Gesetzes der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung, wie es China betrifft.

Dass sich der Kapitalismus sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen ihnen ungleichmäßig entwickelt, war schon immer ein offensichtliches Merkmal, aber insbesondere Trotzki erweiterte dieses Gesetz mit seiner Feststellung, dass in der imperialistischen Epoche das Vordringen des Kapitals in weniger entwickelte Regionen der Welt nicht einfach zu einer Wiederholung des Entwicklungsprozesses führte, der in den ersten kapitalistischen Gesellschaften stattgefunden hatte. Die sich entwickelnden kapitalistischen Unternehmen und Institutionen mussten sich zwangsläufig an die bestehenden sozialen Strukturen und Klassen anpassen, oder, wie er es ausdrückte: „ … es gibt eine Kombination der einzelnen Schritte, eine Verschmelzung archaischer mit moderneren Formen.“ (10)

Diese Einsicht, die Trotzkis Strategie der Permanenten Revolution untermauerte, lässt sich in der Tat an jedem beliebigen Land demonstrieren. In Großbritannien beispielsweise gibt es noch immer eine Erbmonarchie, ein Relikt des Feudalismus, das sich vor Jahrhunderten mit der aufstrebenden Bourgeoisie arrangiert hat. Im Falle des heutigen China haben wir es jedoch mit einer ganz anderen Kombination von Faktoren zu tun, da sich der Kapitalismus im Kontext eines bereits bestehenden degenerierten Arbeiter:innenstaates entwickelt hat. Vor allem aber hat sich eine kapitalistische Klasse neben einem bereits bestehenden Staatsapparat herausgebildet, der auf den Eigentumsverhältnissen einer bürokratischen Planwirtschaft gründete.

Wir haben bereits festgestellt, wie die wirtschaftlichen Ziele des Staates erreicht werden konnten, indem er durch lokale Planungsentscheidungen Anreize für kapitalistische Investitionen stiftete. Zwanzig Jahre, nachdem diese Zusammenarbeit zwischen dem Staat und dem Privatkapital erstmals das industrielle Wachstum angekurbelt hatte, war sie zu einem festen Bestandteil der gesamten Volkswirtschaft geworden.

Im Rahmen der bürokratischen Planung waren die wirtschaftlichen Ziele im Wesentlichen der praktische Ausdruck der politischen Prioritäten, d. h. der Parteipolitik. Da weder die Arbeitskraft noch die Produkte Waren waren, gab es kein objektives Kriterium für das Wertmaß und die Preise waren in Wirklichkeit nur Buchhaltungsinstrumente zur Überwachung der Produktion und des Austausches innerhalb der geschlossenen Wirtschaft.

Mit der Restauration des Kapitalismus und der Verwandlung der Arbeitskraft in Ware gab es nun eine Grundlage für die Wertberechnung, die jedoch selbst in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften nicht automatisch oder transparent vor sich geht. In China reichte es sicherlich nicht aus, das Verhältnis zwischen politischen Zielen und wirtschaftlichen Entscheidungen sofort zu verändern. Das Ergebnis war im Laufe der Zeit eben eine Praxis, die einige Aspekte der Planung mit anderen Momenten der kapitalistischen Wirtschaft verband.

Im Wesentlichen wird die Wirtschaftspolitik nach wie vor von politischen Zielen bestimmt: Die Ministerien entscheiden, welche Wachstumsrate erforderlich ist, und dieses Ziel wird an die Regional- und Stadtregierungen weitergegeben, die dann die Projekte genehmigen, die diese Wachstumsrate erzeugen sollen. Beispiel Wohnungsbau: Die lokale Regierung bewilligt den Verkauf von Grundstücken (oft aus Enteignung von bäuerlichem Besitz!), lokale Zweigstellen der staatlichen Banken bieten Bauträgern Kredite an, Bauträger bauen die gewünschten Wohnblöcke und verkaufen sie, oft „außerplanmäßig“, d. h., bevor sie tatsächlich gebaut werden. Hauskäufer:innen nehmen Hypotheken auf und beginnen mit der Abzahlung, noch bevor ihr zukünftiges Heim gebaut ist – allerdings in der Gewissheit, dass der Wert ihres zukünftigen Heims ohnehin steigen wird.

Nach dem Verkauf der Wohnungen kann der Bauträger sowohl die erforderlichen Materialien und Arbeitskräfte einkaufen als auch das Darlehen der staatlichen Bank rechtzeitig zurückzahlen. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Die Kommunalverwaltung erfüllt ihre Ziele, die Bank wird mit Zinsen belohnt, der Bauträger macht einen ordentlichen Gewinn, die Hauskäufer:innen ziehen in ihre neuen Wohnungen ein, verschiedene Wirtschaftszweige wie das Baugewerbe, die Haushaltsgeräteindustrie, der Straßenbau usw. haben reichlich Arbeit und die Regierung erreicht ihr politisches Ziel.

Dieser glückliche Ausgang hängt jedoch letztlich davon ab, ob das ursprüngliche Wachstumsziel selbst rational war, und zwar nicht nur für eine bestimmte, sondern für alle Kommunalverwaltungen. Als der Immobiliensektor vollständig etabliert war, machte er etwa 25 Prozent des BIP aus und finanzierte 30 Prozent der Aktivitäten der lokalen Gebietskörperschaften. Vieles hing davon ab, dass diese ursprünglichen Ziele auf genauen Bewertungen und Prognosen des Bedarfs und der Ressourcen beruhten.

Die Wirtschaftspolitik des Regimes ist in hohem Maße dem Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates geschuldet, als die Planung auf dem Ausgleich der materiellen Inputs und Outputs verschiedener Sektoren basierte, um politische Prioritäten zu erreichen. Diese Denkweise, bei der die Wirtschaftspolitik zur Erreichung politischer Ziele eingesetzt wird, prägt auch heute noch die Entscheidungsfindung auf verschiedenen Ebenen des Staatsapparats.

In einer kapitalistischen Wirtschaft ist es unmöglich, das Gesamtwachstum zu planen, weil die Zusammensetzung des Kapitals zwischen und innerhalb der verschiedenen Sektoren so stark variiert. Die Existenz riesiger Industriemonopole sowie kleiner lokaler Dienstleister:innen und alle möglichen Variationen zwischen ihnen sorgen dafür, dass die Wachstumsraten nicht einheitlich sein können. Selbst wenn es möglich wäre, einen ausgewogenen Austausch von Werten in der gesamten Wirtschaft zu berechnen, würde dies die Beobachtung von Marx ignorieren, dass eine Wirtschaft, um im Gleichgewicht zu bleiben, nicht nur eine Wertäquivalenz beim Austausch von Waren zwischen den Sektoren aufweisen muss, sondern dass diese Waren auch die von der Gesellschaft benötigten Gebrauchswerte liefern müssen.

Die Geschichten über unbewohnte Städte mögen übertrieben sein, aber der Zusammenbruch des Immobiliensektors oder die immer noch wachsende Bewegung der Verweigerung der Rückzahlung von Hypothekendarlehen für unbewohnte Wohnungen waren nicht fiktiv. Der Bausektor veranschaulicht somit die Wechselwirkung zwischen dem „planerischen“ Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates und der Dynamik eines restaurierten Kapitalismus.

Nimmt man zu der zwangsläufig unausgewogenen Wirtschaft noch die Folgen der Beteiligung des Privatkapitals an ihr hinzu, wird sofort klar, wie es zu einer Krise im Immobiliensektor kommen konnte. Die Spekulant:innen, die untereinander und mit anderen kapitalistischen Sektoren um Finanzmittel konkurrieren, haben ihre Kosten gesenkt und ihre Umsätze beschleunigt, indem sie die Nachfrage antizipiert haben, immer noch nach der Philosophie „Wenn du es baust, werden sie kommen“. Die lokalen Behörden, die davon ausgingen, dass der Staat immer einspringen würde, um die Bilanzen auszugleichen, förderten die kontinuierliche Expansion des Sektors, unabhängig von der „effektiven Nachfrage“ oder gar dem Gleichgewicht der Wirtschaft. Die Schuldenspirale wurde noch dadurch verstärkt, dass die größten Bauträger Gelder auf den globalen Anleihemärkten aufnahmen und ihr Ansehen in China als Sicherheit für Kredite nutzten.

Die Fähigkeit des Immobiliensektors, eine zentrale Rolle bei den Bemühungen um die Ankurbelung der nationalen Wirtschaft nach dem anfänglichen Stillstand im Frühjahr 2020 zu spielen, war daher wirklich sehr begrenzt. Mitte 2021 war die Zentralregierung so besorgt über das Ausmaß der Verschuldung des Sektors, dass sie strenge Grenzwerte für das Verhältnis von Schulden zu verschiedenen Formen von Vermögenswerten festlegte, die so genannten „drei roten Linien“. Damit geriet ein Element der Entwicklungsstrategie der Kaste, nämlich das Vertrauen auf die Marktkräfte oder auf gierige Kapitalist:innen, wie sie manchmal genannt werden, in Konflikt mit einer anderen Priorität, der politischen Stabilität. Der Effekt war fast unmittelbar: Die Finanzierung der Immobilienentwicklung trocknete aus und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Unfähigkeit der großen Unternehmen, ihre bestehenden Schulden zu bedienen. Im Oktober erklärte der größte Schuldner von allen, Evergrande, dass er nicht in der Lage sei, die Zinsen, geschweige denn das Kapital für internationale Anleihen in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar zurückzuzahlen.

Die Krise von Evergrande warf ein Schlaglicht auf den gesamten Immobiliensektor, deckte die enorme Verschuldung auf und führte zu einem Baustopp in Städten im ganzen Land. Dies ließ sofort Zweifel an den vielen Unternehmen, ja an den vielen Sektoren der gesamten Wirtschaft aufkommen, die von der Immobilien- und Bauträgerbranche abhängig geworden waren. Sie alle sahen sich nicht nur mit einem Rückgang der Nachfrage konfrontiert, sondern auch mit der Nichtbezahlung von Schulden für von ihnen bereits gelieferte Waren.

Darüber hinaus wurde die Finanzierung der Provinz- und Stadtregierungen, die zuvor auf die Einnahmen aus Grundstücksverkäufen angewiesen waren, in Frage gestellt. Diese wirtschaftliche Sackgasse in der heimischen Wirtschaft stand zwangsläufig in Wechselwirkung mit dem Abschwung im internationalen Handel und darüber hinaus mit den Auswirkungen der Sanktionen, die insbesondere von den USA gegen verschiedene chinesische Waren und Unternehmen verhängt wurden.

Die Situation wurde durch das Eintreffen von Varianten des Covidvirus aus dem Ausland noch verschärft, da andere Regierungen außerhalb Asiens keine „Null-Covid“-Strategie verfolgt hatten. Die Entscheidung Pekings, die gleichen „Null-Covid“-Großquarantänemaßnahmen, die „Abriegelungen“, durchzuführen, wie sie nach dem ersten Ausbruch in Wuhan angewandt wurden, hatte nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern rief auch im eigenen Land Proteste und Widerstand in einem Ausmaß hervor, das selbst die von der Partei kontrollierten Medien nicht verbergen konnten.

Es war diese Kombination aus systemischen Widersprüchen und den konjunkturellen Auswirkungen der Pandemie, die zu dem dramatischen Wachstumsrückgang im letzten Jahr führte: Berichten zufolge im Quartal April – Juni auf 0,4 % pro Jahr.

Alles in allem wurde Xis Gesamtstrategie angesichts des bevorstehenden 20. Parteitags im Oktober 2022 in Frage gestellt, was den Widerstand innerhalb der Partei anheizen könnte, insbesondere seitens der „Jungen Kommunistischen Liga“, die mit den Anhänger:innen von Jiang Zemin, Li Keqiang und Hu Jintao identifiziert wurde. Xi reagierte auf diese Bedrohung mit einem offensichtlichen Linksruck, einer stärkeren Betonung der staatlichen Kontrolle und einer Politik zur Erreichung des „gemeinsamen Wohlstands“.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der den Eindruck verstärkte, dass die KPCh eine feindseligere Haltung gegenüber einer Kapitalist:innenklasse einnimmt, die zu selbstbewusst und unabhängig geworden ist, war eine Welle von Maßnahmen gegen einige der bekanntesten kapitalistischen Geschäftsleute. Dies begann im November 2020, als Jack Ma, den wir bereits kennengelernt haben, als er sein „Plattformunternehmen“ Alibaba an die New Yorker Börse brachte, daran gehindert wurde, den Finanzzweig seines Unternehmens, ANT, an die Hongkonger Börse zu bringen, angeblich auf ausdrücklichen Befehl von Xi selbst. Kommentator:innen sahen darin eine Bestrafung für die Notierung in New York, die in Peking als „unpatriotisch“ gilt. Aber es geschah auch kurz, nachdem Ma die staatlichen Kontrollen der Investitionsentscheidungen von Unternehmen kritisiert hatte.

Dies markierte den Beginn einer Kampagne gegen mehrere große chinesische Technologieunternehmen, darunter „Pony Mas“ (Ma Huatengs) Tencent, eines der reichsten Unternehmen nicht nur in China, sondern der ganzen Welt, und Didi Chuxing, ursprünglich ein Mietwagenunternehmen, das in die Bereiche Fahrzeugvermietung, Lieferungen und andere verbrauchernahe Apps expandierte. Die ganze Episode wurde anschließend als Teil der Strategie des „gemeinsamen Wohlstands“ der chinesischen KP dargestellt. Im Vorfeld des 20. Parteitags schien dies ein Zeichen für eine „antikapitalistische“ Politik zu sein. Es gibt jedoch viele sehr reiche Kapitalist:innen in China, Berichten zufolge 400 US-Dollar-Milliardär:innen, und die große Mehrheit von ihnen geriet nicht ins Visier. Der reichste von ihnen, Zhong Shanshan, Vorsitzender von Nongfu Spring, einem Getränkeunternehmen, das laut Forbes 62,3 Milliarden US-Dollar wert ist, hat offenbar nichts zu befürchten. (11)

Die weniger radikale, aber realistischere Erklärung für die Parteipolitik liegt in dem gemeinsamen Merkmal der Unternehmen, die ins Visier genommen wurden: der Kontrolle über riesige Mengen an Verbraucher:innendaten und Kapital. Diejenigen, die versuchen, den kapitalistischen Charakter Chinas zu leugnen, weisen oft darauf hin, dass viele der größten Unternehmen und Banken in China in „Staatsbesitz“ sind. Dies hat dazu geführt, dass sich einige der dynamischsten und innovativsten Privatkapitalist:innen auf die neuen Branchen und Technologien gestürzt haben, um ihr Geld zu verdienen. Ein Großteil ihres Erfolgs hängt mit der Verarbeitung riesiger Datenmengen über die Verbraucher:innen zusammen.

Wie ihre Gegenspieler:innen im Westen sind die „Plattform“-Unternehmen in der Lage, Informationen wie Kaufgewohnheiten, Kreditwürdigkeit, Freizeitaktivitäten, E-Mail-Verbindungen, Internetnutzung, Vorlieben und Abneigungen in sozialen Medien, Beschäftigungsdaten, kurzum alles über ihre Hunderte von Millionen Kund:innen zu integrieren. So können sie gezielt Werbung schalten, Finanzdienstleistungen maßschneidern und gute und schlechte Kreditrisiken erkennen.

Die Datenauswertung in diesem Umfang bringt sie jedoch in das Gebiet des staatlichen Überwachungssystems und könnte sogar einige Aspekte dieses Systems gefährden. Darüber hinaus können die von diesen Unternehmen kontrollierten Kapitalmengen und ihre Aktivitäten auf den Weltmärkten die finanziellen und wirtschaftlichen Prioritäten des Staates in Frage stellen. Ein Beispiel hierfür sind die an der New Yorker Börse notierten Unternehmen. Börsennotierte Unternehmen sind verpflichtet, ihre Bücher nach den Standards der NYSE prüfen zu lassen. Dies würde jedoch höchstwahrscheinlich Informationen über die chinesische Binnenwirtschaft und das tatsächliche Ausmaß des staatlichen Einflusses offenbaren, die Peking den US-Behörden nicht bekanntgeben möchte. Im Grunde ist dies also ein Aspekt des Kampfes zwischen bürokratischer Kaste und Kapitalist:innenklasse.

Die Art und Weise, wie diese sehr realen Interessenkonflikte gelöst wurden, ist sehr aufschlussreich. Am 16. Januar 2023 wurde berichtet, dass Guo Shuqing, der Vorsitzende der Regulierungskommission für das Bank- und Versicherungswesen, sagte, dass die Kommission ihre Arbeit praktisch abgeschlossen habe, während die Bemühungen zur „Bereinigung der Finanzgeschäfte von 14 Plattformunternehmen“ weitergingen. (12)  Die Internet-Regulierungsbehörde ist nun dazu übergegangen, kleine Kapitalbeteiligungen an vielen der größten Unternehmen zu erkaufen, und setzt Regierungsbeamt:innen als Vorstandsmitglieder ein, um deren Geschäftstätigkeit zu überwachen. Mit anderen Worten: Diese gigantischen kapitalistischen Unternehmen werden weiterhin im Geschäft bleiben, aber der Staat wird Zugang zu den Entscheidungsprozessen erhalten.

Am selben Tag erhielt Didi Chuxing die Erlaubnis, neue Kund:innen zu werben, und ist damit wieder im Geschäft, nachdem es im letzten Juli eine Strafe von 1,18 Mrd. US-Dollar bezahlt hatte. Am 18. Januar 2023 stieg der Börsenwert von Tencent und Alibaba um 350 Mrd. US-Dollar gegenüber dem Tiefstand vom Oktober 2022.

Was die Bauträger anbelangt, so stellte die Regierung Ende Dezember 16 Unterstützungsmaßnahmen für den Immobiliensektor vor. Danach sagten die staatlichen Banken dem Sektor den Gegenwert von etwa 256 Mrd. US-Dollar an potenziellen Krediten zu, allerdings nur für bestimmte Bauträger. (13) Damit haben die Finanzbehörden festgestellt, welche Unternehmen potenziell lebensfähig sind und welche keine Zukunft haben. Es wird erwartet, dass die umfangreichen Mittel für Fusionen und Übernahmen sowie für den Aufkauf von Vermögenswerten der in Konkurs gegangenen Unternehmen verwendet werden. Das Verfahren ähnelt stark dem, das in den USA zur Bewältigung der Finanzkrise von 2008 – 2009 angewandt wurde: Rationalisierung des Sektors und Übertragung der Schulden auf den Staat. Auch hier führten die angeblich antikapitalistischen Prioritäten der Kaste in Wirklichkeit zu einem Deal mit den größten Kapitalist:innen.

Auf internationaler Ebene war die Gefahr eines Ausschlusses chinesischer Unternehmen von der NYSE das potenziell größte Hindernis für die wirtschaftliche Stabilität. Die Wurzel des Problems lag darin, dass Chinas Wertpapiergesetz von 2019 Prüfungsunterlagen als Staatsgeheimnis einstuft, so dass sie das Land nicht verlassen und von den US-Behörden nicht eingesehen werden können. Der Holding Foreign Companies Accountable Act (HCFAA) der Vereinigten Staaten, der im Dezember 2020 verabschiedet wurde, schreibt jedoch vor, dass in den USA notierte ausländische Unternehmen die Vorschriften des Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB) (Aufsichtsbehörde über die Firmenbilanzen) für die Prüfung von Abschlüssen einhalten müssen, andernfalls droht ihnen nach drei aufeinanderfolgenden Jahren der Nichteinhaltung die Streichung von der Liste.

Die Pattsituation wurde im August 2022 beendet, als Peking zustimmte, den PCAOB-Inspektor:innen in Hongkong Zugang zu den erforderlichen Unterlagen zu gewähren – um das Gesicht zu wahren, durften die Unterlagen China nicht verlassen. Im Dezember bestätigte die PCAOB-Vorsitzende Erica Williams, dass die Inspektionen abgeschlossen seien. Das bedeutet nicht, dass sie die Prüfungsberichte vollständig akzeptiert haben, sondern nur, dass sie vollen Zugang zu ihnen hatten.

Aussichten

Nachdem Xi Jinping seine eigene Position gesichert und die führenden Parteigremien von parteiinternen Gegner:innen gesäubert hatte, musste er sich nun allgemeineren politischen Anliegen zuwenden. Die neue Parteiführung musste von den unechten „repräsentativen“ Institutionen des Nationalen Volkskongresses und der Nationalen Konsultativkonferenz des Volkes auf der so genannten „Doppeltagung“ im März in neue Regierungspositionen und Minister:innen umgesetzt werden. Das war eine rein formale Überlegung. Wichtiger sind die neuen politischen Prioritäten, die sich nicht nur aus dem politischen Manövrieren für den Kongress ergeben, sondern auch aus dem chaotischen Ende des „Null-Covid“ und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im In- und Ausland.

Die bereits unternommenen Schritte in Bezug auf den Immobiliensektor, die Hightechunternehmen und die Börsennotierungen an der NYSE deuten darauf hin, dass Xi wieder auf Wachstum im Privatsektor setzen wird, allerdings mit einer stärkeren Kontrolle durch die Partei. Die Abkehr von der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie und die vorgeschlagenen Treffen mit Antony Blinken und später mit Joe Biden selbst deuten auf eine Neubewertung der Außenpolitik hin. Die Choreographie dafür wurde durch die bizarre Saga des „Spionageballons“ unterbrochen, aber die Kombination aus globalen Wirtschaftstrends und den Auswirkungen des Ukrainekriegs lässt vermuten, dass der Tanz im Laufe der Zeit wieder aufgenommen werden wird.

Im Inland haben viele Kommentator:innen eine Rückkehr zu höheren Wachstumsraten vorausgesagt, die auf einen steilen Anstieg der Verbraucher:innenausgaben zurückzuführen ist. Han Wenxiu, ein führender Beamter der einflussreichen Zentralen Kommission für Finanz- und Wirtschaftsangelegenheiten, sagte im Dezember 2022, dass das erste Quartal 2023 noch von den Störungen nach der Schließung betroffen sein, aber für das zweite Quartal mit einer beschleunigten wirtschaftlichen Verbesserung gerechnet werde.

Die Ankurbelung dieser Ausgaben war auch ein Thema auf der zentralen Wirtschaftskonferenz Mitte Dezember 2022 . Die Konferenz findet jährlich statt, aber dieses Treffen wurde als besonders wichtig angesehen, weil es direkt nach dem Kongress erfolgte und daher als eine Absichtserklärung für Xi Jinpings neue Regierung angesehen werden konnte.

Grundlage für diesen Optimismus ist das riesige Reservoir an erzwungenen Ersparnissen, das die breite Bevölkerung aufgrund der Lockdowns besitzt. Diese werden seit Anfang 2020 auf 4,8 Billionen US-Dollar geschätzt (14). Das ist mehr als das britische Bruttoinlandsprodukt und würde, wenn es ausgegeben würde, eindeutig einen beträchtlichen Anreiz darstellen. Das ist jedoch ein großes „Wenn“, denn die Lebenserfahrung der riesigen chinesischen Arbeiter:innenklasse zeigt, dass Sparen eine hohe Priorität hat, um sich gegen Krankheit und die Realität einer alternden Bevölkerung zu schützen, die weitgehend nicht durch staatliche Sozialausgaben abgesichert ist.

Welche offensichtlichen Zugeständnisse an das Privatkapital und den „Markt“ die neue Führungsriege von Xi Jinping auch immer machen mag, ob im Inland oder im Ausland, ihr Ziel wird es sein, eine schwer angeschlagene Wirtschaft wieder zu stabilisieren und damit ihr eigenes Regime zu stärken. Ihr Programm, eine kapitalistische Wirtschaft unter ihrer eigenen rigiden politischen Kontrolle zu entwickeln, die von ihren eigenen politischen Prioritäten geleitet wird, bleibt utopisch. Sie verfügt zwar über ein außerordentliches Maß an Kontrolle und Überwachung, aber die Entwicklung des Kapitalismus selbst wird sich als stärker erweisen.

Nachdem wir die Aufmerksamkeit auf das „kombinierte“ Element des chinesischen Kapitalismus, das Erbe des degenerierten Arbeiterstaates, gelenkt haben, müssen wir auch den „ungleichen“ Charakter aller Kapitalismen berücksichtigen. Es ist zwangsläufig so, dass sich verschiedene Kapitalblöcke unterschiedlich schnell entwickeln. Unterschiede im Umfang der Anlageinvestitionen, im Verhältnis zwischen diesen und den Investitionen in die Arbeitskraft, in der Umschlagdauer der verschiedenen Wirtschaftssektoren, in der Proportionalität oder dem Mangel an Proportionalität zwischen den verschiedenen Sektoren und Unternehmen und in den Auswirkungen der globalen Märkte und Investitionsentscheidungen sind nur einige der Faktoren, die eine ungleiche Entwicklung gewährleisten.

Entsprechend dieser Ungleichheit werden auch die Prioritäten und Pläne derjenigen, die die verschiedenen Kapitalblöcke kontrollieren, unterschiedlich sein und möglicherweise nicht nur untereinander, sondern auch mit denen der herrschenden Kaste in Konflikt geraten. Angesichts des Grades der personellen Durchdringung zwischen der Kapitalist:innenklasse und der bürokratischen Kaste werden sich diese Unterschiede auf den Regimeapparat übertragen. Dies wird sich zunehmend in der Bildung von Fraktionen ausdrücken, de facto oder de jure. Ihre Existenz wird eine ständige Tendenz zu einer strengeren internen Disziplinierung innerhalb der Kaste durch den Mechanismus, der alles zusammenhält, die Partei, erfordern.

Zur Veranschaulichung dieses Prozesses genügt es, die Auswirkungen der Krise im Immobiliensektor zu betrachten. Sowohl die Kapitalist:Innen selbst als auch die Bürokrat:innen, die mit ihnen zu tun haben, wissen, dass es die Parteipolitik und die Parteifunktionär:innen waren, die sein übermäßiges Wachstum und schließlich Bankrott gefördert haben. Buchstäblich Tausende von Kapitalist:innen und Manager:innen in allen damit verbundenen Branchen wissen das auch. Die Aushöhlung der Autorität und Legitimität der Partei ist praktisch garantiert, und deshalb werden Unzufriedenheit und der Druck auf Veränderungen wachsen. Und das sind nur die Spannungen zwischen der Bourgeoisie und der bürokratischen Kaste. Millionen und Abermillionen von Arbeiter:innen wissen auch, wo die Schuld für ihre unfertigen Häuser, den Verlust ihrer Arbeit, ihre Hypotheken und ihren sinkenden Lebensstandard liegt.

Weder verärgerte Geschäftsleute noch wütende Arbeiter:innen sind an sich eine große Bedrohung für die KP China und ihr Regime. Die Anwesenheit von Parteimitgliedern in praktisch allen Gemeinden und an den meisten Arbeitsplätzen sowie die durch die pandemischen Abriegelungen erheblich verbesserten Überwachungsmöglichkeiten sind mächtige Instrumente zur Unterdrückung der Opposition. Dennoch macht das schiere Ausmaß der Parteikontrolle angesichts der unvermeidlichen Reibungen des wirtschaftlichen Wandels und der Auswirkungen globaler Ereignisse die Partei zur offensichtlichen Zielscheibe von Unzufriedenheit, und das schafft ein Umfeld, in dem unter den richtigen Bedingungen die Feindseligkeit gegenüber dem Regime wachsen kann.

Die Geschwindigkeit, mit der die vom „Mann auf der Brücke“ kurz vor dem Parteitag vorgetragenen Slogans über die sozialen Medien aufgegriffen wurden, macht deutlich, wie weit verbreitet diese Unzufriedenheit bereits ist. Sie lauteten: „Wir wollen keine Diktator:innen, wir wollen Wahlen“, „Rettet China mit einer Person, einer Stimme, um den/die Präsident:in zu wählen“ und „Streikt in der Schule und am Arbeitsplatz, setzt den Diktator und Landesverräter Xi Jinping ab!“

Es sollte niemanden überraschen, dass demokratische Forderungen sofort auf große Resonanz stoßen, wann immer sie erhoben werden können. Die Gefahr für Sozialist:innen besteht darin, dass sie zwar an sich fortschrittliche und daher unterstützenswerte Forderungen sind, ihre Herkunft aus der bürgerlich-demokratischen Bewegung aber bedeutet, dass sie auch von bürgerlichen Gegner:innen der bürokratischen Diktatur unterstützt werden können. Das hat sich sowohl beim Zusammenbruch der Sowjetunion als auch bei den verschiedenen „Farbenrevolutionen“ in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts sehr deutlich gezeigt.

Die Aufgabe der Sozialist:innen besteht darin, solche populären und unterstützenswerten Forderungen mit einer Strategie zu verbinden, die nicht nur das Regime stürzen kann, sondern dabei auch Organisationen der Arbeiter:innenklasse aufbaut, die sicherstellen können, dass ein Sieg in diesem Kampf nicht einfach die Tür für eine Machtergreifung durch kapitalistische Kräfte mit einem Programm für eine effizientere Ausbeutung sowohl im Inland als auch in Übersee öffnet. Mit anderen Worten: Der revolutionäre Sturz der bürokratischen Kaste in China wird die Strategie und Taktik der Permanenten Revolution erfordern.

Aus den Erfahrungen der demokratischen Bewegungen des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts können wir die Hauptmerkmale dieser Strategie erkennen. Das zentrale Ziel, das alle anderen Elemente der Strategie miteinander verbindet, ist der Aufbau unabhängiger, demokratisch rechenschaftspflichtiger Organisationen der Arbeiter:innenklasse wie Betriebsräte, Gewerkschaften, Gemeindeorganisationen, Frauenorganisationen, Jugendorganisationen und andere Organisationen unterdrückter Schichten wie Immigrant:innen und LGBTQ+. Sobald es zu einem bestimmten Zeitpunkt praktisch möglich ist, müssen diese Organisationen die Grundlage sein, von der aus abrufbare Delegierte in Organisationen auf höherer Ebene, auf Stadt-, Landes- oder Bundesebene, entsandt werden. Die genauen Formen und Organisationsstrukturen, die die Klassenorganisation am besten voranbringen, können nicht vorhergesagt werden, aber aus den Erfahrungen der Protestbewegungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten häufig entstanden sind, können Lehren gezogen werden.

Politisch gesehen besteht die größte Gefahr für jede Arbeiter:innenbewegung in der Unterordnung unter bürgerliche Kräfte, die ihre eigenen Gründe haben, sich der Bürokratie entgegenzustellen. Die Erfahrungen mit den farbigen Revolutionen in Osteuropa unterstreichen diese Gefahr sehr deutlich. Unabhängig davon, ob diese vom Ausland unterstützt werden oder nicht, müssen die Organisationen der Arbeiter:innenklasse eine vollständige Unabhängigkeit von ihnen gewährleisten.

Das Vorhandensein von proletarischen Organisationen ist zwar eine Voraussetzung für einen fortschreitenden Sturz der Bürokratie, doch reicht dies nicht aus. Wie die Welt zu oft gesehen hat, z. B. beim Arabischen Frühling oder der griechischen Finanzkrise, stehen und fallen diese Organisationen mit ihren politischen Führungen. Um das tragische Schicksal dieser großen Massenbewegungen zu vermeiden, müssen revolutionäre Marxist:innen in jeder Phase der Entwicklung eingreifen. Dazu müssen die Revolutionär:innen selbst organisiert werden, das heißt, sie müssen eine Partei aufbauen, die auf der Strategie der Permanenten Revolution basiert, auf die chinesischen Verhältnisse angewandt.

Daraus folgt, dass die erste Aufgabe der Revolutionär:innen hier und jetzt darin besteht, diese Strategie zu entwickeln, ein Programm für den revolutionären Sturz der Bürokratie und die Bildung eines Arbeiter:innenstaates auf der Grundlage demokratisch verantwortlicher Arbeiter:innenräte auszuarbeiten. Den Kern einer solchen Partei werden diejenigen bilden, die bereits erkannt haben, dass dies ihre Hauptziele sind, und die sich der Entwicklung der Mittel zur Erreichung dieser Ziele widmen. Dies wird sowohl Studium als auch praktisches Engagement erfordern, um die Führer:innen der chinesischen Arbeiter:innenschaft und der unterdrückten Schichten Chinas für dieses Programm zu gewinnen. An diese Genossinnen und Genossen ist dieser Artikel gerichtet.

Endnoten

(1) https://english.news.cn/20221025/8eb6f5239f984f01a2bc45b5b5db0c51/c.html

(2) ibid

(3) ibid

(4) ibid

(5) ibid

(6) ibid

(7) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability/

(8) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability

(9) op.cit.

(10) L D Trotsky, History of the Russian Revolution, Haymarket 2008, p. 5

(11) https://www.forbes.com/profile/zhong-shanshan/?sh=40cb72c849ae

(12) Financial Times, London, January 16, 2023

(13) Financial Times, London, December 28, 2022

(14) Financial Times, London, January 10, 2023




Zehntausende bei LQM-Bewegung für Arbeiter:innenrechte – Vorwärts zu einer Arbeiter:innenpartei in Pakistan!

Khaliq Ahmad, Infomail 1228, 24. Juli 2023

Die pakistanische Regierung hat die gesamte Last auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen in Stadt und Land abgewälzt, um das Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF) wiederzubeleben. Die Verbraucher:innenpreisinflation in Pakistan hat derzeit den höchsten Stand in der Geschichte erreicht. Nach offiziellen Angaben stieg sie im März auf 35,4 %, was vor allem auf die in die Höhe geschnellten Kosten für Lebensmittel, Strom, Getränke und Transport zurückzuführen ist.

Die Lohnerhöhungen im jüngsten Haushalt liegen unter dem aktuellen Inflationsniveau,

Die Unternehmen in der Privatwirtschaft weigern sich sogar, diese zu erhöhen, und die Arbeiter:innen müssen jedes Jahr einen organisierten Kampf führen, um wenigstens ihre Verluste auszugleichen. Das jüngste IWF-Abkommen im Wert von 3 Milliarden US-Dollar wird die Situation für die Lohnabhängingen, die Bäuer:innen und die Armen noch verschlimmern, da es Kürzungen der Subventionen für grundlegende Konsumgüter, weitere Privatisierungen und Senkungen der öffentlichen Ausgaben fordert.

Kampagne

Als Reaktion auf diese Situation startete die LQM (Labour Qaumi Movement) Anfang Juni eine Kampagne für höhere Löhne und zu den Problemen am Arbeitsplatz. Vor der Konferenz für Rechte der arbeitenden Bevölkerung am 18. Juni fanden zehn Kundgebungen und zahlreiche Versammlungen unter freiem Himmel in den Arbeiter:innenvierteln und an Arbeitsplätzen statt.

Im Rahmen dieser Kampagne sprach die LQM Zehntausende von Arbeiter:innen an und organisierte sie, darunter eine große Zahl von Heimarbeiter:innen. Auf den Kundgebungen und an den Straßenecken sprachen sie über die Probleme, vor denen Millionen stehen. Sie luden sie ein, sich der LQM anzuschließen, um gemeinsam gegen Inflation, Kürzungen und das IWF-Paket zu kämpfen und zu erklären, warum nicht nur Gewerkschaften und lokale Aktionskomitees braucht, sondern auch eine eigene Partei der Arbeiter:innenklasse. Eine Partei, die sich in die täglichen Kämpfe einmischt, die Wahlen nutzt, um die unabhängige Stimme der Lohnabhängigen zu erheben, und die ihre gesamte Tätigkeit mit dem Kampf gegen das System verbindet. Die Haltung der Arbeiter:Innen gegenüber dem Aufbau der LQM und ihrer 2022 gestarteten Initiative zum Aufbau einer Partei der Arbeiter:innenklasse ist sehr positiv.

Diese Kampagne ist insofern von Bedeutung, als sie sich nicht nur auf eine für Lohnerhöhungen beschränkt, sondern auch die Fragen der Politik und der Partei der Arbeiter:innenklasse in den Vordergrund rückt, mit denen sie  seit Jahrzehnten konfrontiert ist. In Ermangelung einer nennenswerten politischen Organisation, die unter den Lohnabhängigen verwurzelt ist, waren die Klasse und ihre potenziellen Verbündeten – Kleinbäuer:innen, städtische und ländliche Arme, Student:innen und Unterdrückte – den verschiedenen Parteien der herrschenden Klasse oder des Kleinbürger:innentums politisch untergeordnet. Diese politische Schwäche wird in Zeiten der Krise und intensiver Klassenkämpfe besonders deutlich.

Die LQM hat mit dem Aufbau einer solchen Partei begonnen und kämpft auf der Grundlage eines Programms mit Forderungen der Arbeiter:innenklasse. Sie wehrt sich gegen die gegenwärtige Wirtschaftskrise, in der die Regierung im Rahmen des IWF-Programms der Arbeiter:innenklasse und den Armen in Stadt und Land alle Lasten aufgebürdet hat. Die unterdrückten Nationen, die Frauen und die Studierenden sind hiervon besonders betroffen. Und gleichzeitig wächst der obszöne Reichtum der pakistanischen herrschenden Klasse.

Nach Angaben der Behörde für nationale menschliche Entwicklung schüttet die Regierung jährlich 17,4 Milliarden US-Dollar an die Elite aus. Darunter fallen nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich Boni und Einkommen für hochrangige Beamt:innen. Dazu gehören auch Vergünstigungen und Subventionen für die landbesitzende Elite. Exporthändler:innen und Industrielle erhalten ebenfalls mehr Unterstützung im Namen der nationalen Wirtschaft. Gleichzeitig setzt die Regierung die Masse der Bevölkerung unter Druck und belastet es, für das es schwierig geworden ist, zwei Mahlzeiten am Tag zu bekommen.

Konferenz

Tausende von Arbeiter:innen aus ganz Faisalabad nahmen an der Konferenz vom 18. Juni unter der Schirmherrschaft der LQM teil und hissten mit großen Märschen und Kundgebungen rote Fahnen. Auch eine große Zahl von proletarischen Frauen beteiligte sich an dieser Konferenz. Neben den Lohnabhängigen aus Faisalabad kamen auch Vertreter:innen verschiedener Gewerkschaften, linker Organisationen und Studierendenorganisationen aus dem ganzen Land.

Auf der Konferenz für Rechte der Arbeiter:innen sagten die Redner:innen, es sei klar, dass die Ursache für die bestehende Krise und die Probleme die Prioritäten der herrschenden Klasse seien. Sie benutzen ihren Staat für ihr kapitalistisches System und bieten keine Lösung für die Arbeiter:innen und die Armen. Unter diesen Umständen ist die LQM die einzige Partei, die aus der Arbeiter:innenklasse besteht, die in ihr und bei den Armen verwurzelt ist. Sie sind das Rückgrat des Kampfes, um dieses auf Ausbeutung und Zwang basierende System zu beenden. Aber sie müssen vernetzt, organisiert und politisch geeint werden, um den Kampf der Arbeiter:innenklasse anzuführen.

Der Kampf der LQM, so erklärten die Redner:innen, richtet sich gegen das kapitalistische System, und ihr wichtigstes Kampfziel ist die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innenklasse. Deshalb ist die LQM mit keiner kapitalistischen Partei verbunden, organisatorisch und politisch unabhängig und eine Partei des Klassenkampfes. Und der Redner fuhr fort: „Wir hegen keine Hoffnung in dieses Parlament. Der Zweck der Teilnahme an der Wahl wird sein, den Arbeiter:innenkampf zu verstärken, Themen aus der Arbeitswelt ins Parlament zu bringen und den Kampf außerhalb des Parlaments damit zu verbinden und für die Macht der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen“. Die LQM unterscheidet sich auch deshalb von anderen Parteien, weil sie sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und die Mehrheit ihrer Führung aus Arbeiter:innen besteht. Sie sind stolz darauf, dass dies ihre Partei ist – also schließt euch ihr an und organisiert einen gemeinsamen Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung dieses Systems!

Forderungen

Auf der Arbeitsrechtskonferenz wurde angekündigt, den Kampf um die folgenden Forderungen auf nationaler Ebene zu organisieren und alle anderen Gewerkschaften und Arbeiter:innenorganisationen aufzurufen, sich dem gemeinsamen Ringen gegen Preiserhöhungen, das IWF-Paket und für die Grundbedürfnisse der Arbeiter:innenklasse anzuschließen.

  • Senkung der Preise für Strom, Gas und Benzin. Mehl, Fett, Hülsenfrüchte, Gemüse und Obst sollten billig gemacht und Preiskontrollausschüsse eingerichtet werden.

  • Der Entwicklungshaushalt sollte durch Besteuerung der Reichen und Kapitalist:innen erhöht werden, damit die grundlegende Infrastruktur aufgebaut werden kann.

  • Die Gehälter sollten im Verhältnis zur Inflation erhöht werden.

  • Das Akkord- und Vertragssystem sollte abgeschafft werden. Das Tagelohnvertragssystem sollte beseitigt und die Arbeiter:innen regulär eingestellt werden.

  • Arbeiter:innen sollten ohne Unterschied des Geschlechts den gleichen Lohn und die gleiche wirtschaftliche und soziale Sicherheit erhalten.

  • Die Umsetzung des Mindestlohns sollte sichergestellt werden.

  • Jede/r Arbeiter:in sollte bei der Sozialversicherung und der Altersrentenanstalt gemeldet sein.

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung und Behandlung sollten bereitgestellt werden.

  • Arbeit und Wohnung sollten garantiert, Arbeitslosengeld sollte allen Arbeitslosen gewährt werden.

  • Es sollten Sozialwohnungen gebaut werden, in denen alle grundlegenden Einrichtungen vorhanden sind.

  • Die gewerkschaftliche Organisierung ist das Recht der Arbeiter:innen und alle diesbezüglichen Beschränkungen sollten aufgehoben werden, die Studierendengewerkschaft wieder operieren dürfen.

  • Es sollten Agrarreformen durchgeführt und den Bauern und Bäuerinnen billiges Saatgut, Dünger, Strom und Wasser zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Recht der unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, ihr Recht auf ihre Ressourcen sollten anerkannt werden.

  • Die Schulden sollten gestrichen werden.

Solche Forderungen können nur durch einen Massenkampf der gesamten Arbeiter:innenbewegung, durch Massenstreiks, Besetzungen und Massenkundgebungen durchgesetzt werden. Und das kann nicht nur durch Absprachen zwischen den Führer:innen der Organisationen entstehen, sondern muss von unten durch Massenkundgebungen, wie wir sie in Faisalabad gesehen haben, durch die Wahl von Aktionskomitees an den Arbeitsplätzen, in den Arbeiter:innenbezirken oder auf dem Lande erfolgen, die sich zu einer nationalen Kampfkoordination zusammenschließen. Eine solche Massenbewegung muss demokratisch, aber auch effektiv sein und sich auf einen Aktionsplan für die Bewegung einigen. Und sie muss auch Organe der Selbstverteidigung schaffen, um sich gegen Provokationen zu schützen.

Sollte sich eine solche Bewegung etablieren und Forderungen durchsetzen, wäre das natürlich nicht das Ende des Kampfes. Die herrschende Klasse und ihr Staat würden nach allen Mitteln suchen, um selbst kleine Erfolge anzugreifen. Der Kampf muss also dauerhaft sein und zu einem revolutionären Ringen um die Macht führen, für die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innen- und Kleinbäuerinnen auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten und einer Miliz – einer Regierung, die nicht nur dem Diktat des IWF und der neoliberalen Politik ein Ende setzen würde, sondern auch dem kapitalistischen System, indem sie einen demokratischen Plan aufstellt. Und eine solche Regierung darf sich nicht auf Pakistan beschränken, sie kann und muss zu einem Sammelpunkt für die Ausbreitung der Revolution auf die gesamte Region werden und zu einer Föderation von Arbeiter:innenstaaten führen.




Pakistan: Reaktionäre Rechte gegen Rechte von trans Personen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 22. Mai 2023

In einer bahnbrechenden Niederlage für die Rechte sexuell unterdrückter Menschen hat das religiöse Gericht Pakistans am 19. Mai entschieden, dass trans Personen ihr Geschlecht nicht auf eigenen Wunsch ändern können. Dies ist eine Umkehrung der partiellen Errungenschaften, die für den Schutz von trans Personen in Pakistan durch das Gesetz zum Schutz der Rechte von trans Personen im Transgender Persons Act 2018 erzielt wurden, da das Gericht auch bestimmte Klauseln des Gesetzes als schariawidrig (mit den Gesetzen des Islam unvereinbar) erklärt hat.

Dies geschieht zu einer Zeit, in der die demokratischen Rechte in Pakistan generell angegriffen werden, da Hunderte von Anhänger:innen der Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit; PTI) wegen des Angriffs auf Militäreinrichtungen am 9. Mai als „Terrorist:innen“ bezeichnet werden. Sie werden nach dem Armeegesetz und dem Gesetz über Amtsgeheimnisse vor Gericht gestellt, was bedeutet, dass sie vor Militärgerichten und nicht vor zivilen angeklagt werden.

Pakistan ist eine islamische Republik, und das Scharia-Bundesgericht ist ein Verfassungsorgan, das befugt ist, zu prüfen und festzustellen, ob die Gesetze des Landes mit der Scharia vereinbar sind. Dieses Gremium wurde während der Militärdiktatur von General Zia-ul-Haq eingerichtet. Haqs Name ist für die drakonischen Verordnungen in die Geschichte eingegangen. Sein Regime schränkte massiv demokratische Rechte sowie Frauenrechte ein und erließ die Hudood-Verordnungen zur Islamisierung des Rechts. Nun wird sein Erbe von der reaktionären Rechten, sowohl der religiösen als auch der liberalen, in Pakistan genutzt, um die Rechte einer extrem unterdrückten Gemeinschaft zu beschneiden.

Das bestehende Gesetz war nicht besonders fortschrittlich, aber dennoch ein Schritt nach vorn, und als Sozialist:innen sind wir verpflichtet, selbst die minimalen Errungenschaften zu verteidigen, die es bot. Zum Beispiel gewährte das Gesetz trans Frauen oder trans Männern nicht das Recht, sich als Frauen oder Männer zu identifizieren, aber es gewährte ihnen das Recht, sich selbst als ein drittes Geschlecht „X“ zu identifizieren, im Gegensatz zu dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. So konnte sich beispielsweise eine Person, der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, als Frau in der Kategorie X identifizieren, die in Pakistan das dritte Geschlecht symbolisiert. Dies galt für Ausweisdokumente. Die X-Klassifizierung wurde auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2009 speziell für die trans Gemeinschaft geschaffen. Das Gesetz verbot auch die Diskriminierung von trans Personen in Bildungseinrichtungen, bei der Beschäftigung, im Handel, im Gesundheitswesen usw. Es verbot auch die Belästigung von trans Personen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses auf der Grundlage „ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität und/oder ihres Geschlechtsausdrucks“. Die Regierung wurde verpflichtet, Schutzzentren und sichere Unterkünfte einzurichten sowie medizinische Einrichtungen, psychologische Betreuung, Beratung und Erwachsenenbildung bereitzustellen.

Die Gesetzesänderungen im Detail

Das Religionsgericht hat zwar nur eine Klausel und einen Unterabsatz des Gesetzes für nichtig erklärt, doch wird dies Auswirkungen auf jeden Aspekt des Lebens von trans Personen zeitigen. Die für nichtig erklärte Klausel 2(f) definiert „Geschlechtsidentität“ als „das innerste und individuelle Selbstverständnis einer Person als männlich, weiblich oder eine Mischung aus beidem oder keinem von beiden; das kann dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen oder nicht“. Dies ist eine entscheidende Klausel des Gesetzes, die es trans Personen ermöglicht, sich in ihren Ausweispapieren als trans Mann der trans Frau auszuweisen, anstatt als Mann im Falle von trans Frauen oder als Frau im Falle von trans Männern.

Der andere für nichtig erklärte Unterabsatz, 2(n)(iii), definierte eine trans Person als „einen Transgendermann, eine Transgenderfrau, eine Khawaja Sira oder eine Person, deren Geschlechtsidentität und/oder Geschlechtsausdruck von den sozialen Normen und kulturellen Erwartungen abweicht, die auf dem Geschlecht beruhen, das ihr zum Zeitpunkt ihrer Geburt zugewiesen wurde“. Dies bedeutet, dass die Definition einer trans Person nun auf den Unterabschnitt 2(n)(i) (der sie als „Intersex (Khunsa) mit einer Mischung aus männlichen und weiblichen Genitalmerkmalen oder angeborener Uneindeutigkeit“ definiert) und 2(n)(ii) (der sie als „Eunuch, dem bei der Geburt ein männliches Geschlecht zugewiesen wurde, der sich aber einer Genitalbeschneidung oder Kastration unterzogen hat“ definiert) beschränkt wurde. Dies bedeutet, dass Menschen, die keine kastrierten oder uneindeutigen Genitalien aufweisen, sich nicht mehr als trans einstufen können. Untersuchungen haben gezeigt, wie schwerwiegend die Auswirkungen sein können, wenn Menschen in ein Geschlecht gezwungen werden, mit dem sie sich nicht identifizieren, wobei Selbstmord die extremste Reaktion auf ein unerfülltes und unehrliches Leben darstellt.

Wer steht hinter dem Angriff?

Diese Umkehrung der minimalen Errungenschaften des bestehenden Gesetzes erfolgt auf Betreiben einer seltsamen Kombination aus Klerus und liberaler Intelligenz. Auf der einen Seite steht die klerikale Rechte, vertreten durch den bekannten frauenfeindlichen Heuchler Orya Maqbool Jan, Senator Mushtaq Ahmad Khan von der reaktionären rechtsgerichteten Organisation Jamaat-e-Islami (Dsachama’at-e-Islami) (Islamische Gemeinschaft; im Folgenden als JI bezeichnet) und einige andere von der ebenso, wenn nicht noch reaktionäreren Organisation Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan-Fazl (Vereinigung Islamischer Gelehrter; im Folgenden als JUI-F bezeichnet). Natürlich musste auch die Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf auf den Zug der Reaktion aufspringen.

Ihre Führer:innen schlossen sich dieser bösartigen, hasserfüllten Kampagne in den gesetzgebenden Versammlungen an, was angesichts des frauenfeindlichen Hasses, den der Parteivorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan in seinem Herzen trägt, nur natürlich ist. Auf der anderen Seite stehen die Bigotten der oberen und mittleren Intelligenz, vertreten durch die verachtenswerte Luxusmode-Besitzerin Maria B. Es hätte ihr gut angestanden, weiterhin ihre Selfie-Videos mit der Kamera an der Decke zu drehen, in denen es um Themen geht, die Frauen ihrer Klasse betreffen, z. B. wie man Hausangestellte quält. Leider weitete sie ihren Wirkungskreis aus und tat ihr Bestes, um eine pakistanische Möchtegernkopie von J.K. Rowling, der Autorin der Harry Potter-Romane, abzugeben, mit einer Prise modernen liberalen islamischen Jargons, um es einer pakistanischen Mittelschicht-Unterstützer:innenbasis schmackhaft zu machen.

Gemeinsam ist diesen beiden Seiten der reaktionären Medaille die Befürchtung, dass das bestehende Gesetz es Homosexuellen erlauben würde, die Person zu heiraten, die sie lieben, und dass trans Personen geschlechtsangleichende Behandlungen erhalten könnten und Männer zu Frauen und Frauen zu Männern würden. Es ist bizarr, sich vorzustellen, dass in einem so sexistischen Land wie Pakistan ein Mann seine Rechte als Mann im Erbrecht aufgeben und nur vortäuschen wolle, eine trans Frau werden will. Was würde er davon haben? Trotz aller Antidiskriminierungsgesetze sind die meisten trans Frauen in Pakistan auf drei Tätigkeiten zum Erwerb ihres Lebensunterhaltes beschränkt: Tanzen, Betteln und Sexarbeit. Alle drei sind rechtlich ungeschützt und bieten Männern die Möglichkeit, diese trans Frauen zu belästigen, zu vergewaltigen und, wann immer es ihnen passt, auch zu töten, wenn sie ihr Ego nur ein wenig verletzen. Aber trans Frauen sind gezwungen, diese Berufe zu wählen, um sich zu ernähren und am Leben zu bleiben. Die wirkliche Angst rührt von der Aussicht her, dass eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeschrieben wurde, ihr Geschlecht in das von „X“ männlich ändern könnte.

Konservative Parteien wie die JI und die JUI-F bestehen aus Elementen, die historisch gesehen protofaschistische Tendenzen aufweisen. Sie sind auch für ihre extrem patriarchalischen und regressiven Ansichten über Frauen bekannt. Die JI spielte eine zentrale Rolle bei der Einführung drakonischer Gesetze durch den Militärdiktator Zia-ul-Haq. Die JUI-F, deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman noch vor kurzem ein Held der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans war, als die Regierungskoalition des Pakistan Democracy Movement in Opposition zu Imran Khan ins Leben gerufen wurde, ist dafür bekannt, dass sie die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe beschmiert.

Bürgerliche Familie

Die Verfechter:innen der Angriffe auf trans Rechte sind allesamt Vertreter:innen der bürgerlichen Ideologie. Die wahren Ängste liegen in der Bedrohung der bürgerlichen Familie und der dominanten Stellung des Mannes im bürgerlichen Familiensystem, die die bloße Existenz von trans Menschen darstellt. Die Argumente unterscheiden sich nicht von denen der republikanischen und evangelikalen Konservativen in den USA oder der AfD in Deutschland. Im Mittelpunkt stehen Fragen im Zusammenhang mit Kindern, sexuellem Ausdruck, Bedrohungen für Religion und Familienform und vor allem die Vererbung von Eigentum. Wenn eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, später in der Kategorie X männlich wird, hat sie Anspruch auf den gleichen Anteil am Erbe wie ihre Brüder. Gemäß der Scharia erhalten Frauen nur die Hälfte des Erbteils ihrer Brüder. Dies stellt eine direkte Bedrohung für das angeblich „natürliche“ Recht „natürlicher“ Männer auf einen doppelten Anteil am Erbe dar. Wie Mushtaq Ahmad Khan letztes Jahr sagte, stellt die Möglichkeit, die eigene Geschlechtsidentität zu wählen, eine „Gefahr für das Familien- und Erbschaftssystem“ dar.

Die Familienform im kapitalistischen Patriarchat ist die obligatorische Norm für die gesellschaftliche Existenz und gewährleistet zwei Hauptziele: erstens, dass sichergestellt wird, dass das Privateigentum in der Familie verbleibt, und zweitens, dass der Staat von den Kosten der Reproduktionsarbeit, wie Kinderbetreuung, Kochen, Waschen, Putzen, entlastet werden kann, die in die Grenzen des Familienhauses verlagert werden können, wo all diese Arbeit kostenlos, vor allem von Frauen, geleistet wird. Die Familienform wird als die natürliche und neutrale Form der sozialen Existenz dargestellt, als ob es nie eine Abweichung von ihr gegeben hätte. In Wirklichkeit ist die heutige Familienform selbst ein historisches Produkt. Diese natürliche Erscheinung der bürgerlichen Familienform wird durch die Institutionen der Religion, der Schule, des Arbeitsplatzes, der Medien usw. aufrechterhalten.

Die geschlechtsspezifischen Rollen, die die kapitalistische Familienform uns als Männern und Frauen auferlegt hat, ergeben sich aus den Bedürfnissen des Kapitals. Diese Rollen sind in Wirklichkeit nur für die herrschenden und mittleren Klassen repräsentativ, in denen es sich die Frau leisten kann, sich nur um das Haus zu kümmern. Für die große Mehrheit der arbeitenden Massen tragen Frauen die Doppelbelastung, sowohl außerhalb des Hauses zu arbeiten als auch die Reproduktionsarbeit kostenlos im Haus zu erledigen. Selbst wenn trans Personen ein anderes binäres Geschlecht annehmen, um sich zu identifizieren, und alle damit verbundenen geschlechtsspezifischen Rollen erfüllen, stören sie den Mythos der Natürlichkeit dieser Rollen. Somit verkörpert ihre bloße Existenz eine Bedrohung für das natürliche Erscheinungsbild der bürgerlichen Familienform.

Die gegenwärtigen Ängste in Pakistan in Bezug auf die Übertragung von Privateigentum und die Bedrohung, die das Gesetz anscheinend für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes ineinandergreifen, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu gewährleisten. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne das Familiensystem einfach nicht weitergehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Trans Menschen sieht vor, dass eine Person, die sich als trans Mann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine trans Frau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional manipulieren, damit sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich die Ängste vorstellen, die das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“.

Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich. Während diese meist unbegründet sind, sind die Bedrohungen für das Leben und die Sicherheit von trans Menschen gefährlich real. Im Jahr 2021 wurden Berichten zufolge mindestens 20 trans Personen in Pakistan getötet. Das pakistanische Religionsgericht hat am 19. Mai 2023 trans Personen das Recht abgesprochen, so zu sein, wie sie sind. Dies ist ein fundamentaler Angriff auf ihr Selbstverständnis. Das Blut der jungen Menschen, die in den kommenden Tagen Selbstmord begehen, wird an den Händen von Mushtaq Ahmad Khan kleben und ebenso an den luxuriösen Dupatta-Schals und Kronleuchtern der JK Rowling-Imitation, die in Pakistan ihren Tee schlürft.

Kampf für die Rechte von trans Personen

Als Sozialist:innen und Arbeiter:innen sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass dies nicht nur einen Angriff auf die Rechte von trans Menschen ausmacht. Es ist in der Tat ein Angriff auf uns alle. Der heutige Tag ist ein schwarzer Tag und eine große Niederlage für die arbeitenden Massen und unterdrückten Menschen in Pakistan. Das Gericht, das benutzt wurde, um diesen Angriff auf unsere demokratischen Rechte zu inszenieren, trägt das Erbe des Militärdiktators Zia-ul-Haq. Heute haben sie es auf unsere transsexuellen Brüder und Schwestern abgesehen. Morgen werden sie es auf alle Frauen abgesehen haben und uns den Hidschab-Schleier aufzwingen, wie im benachbarten Iran im Namen des Islam. Warum sollte man überhaupt in den Iran gehen? Noch vor einigen Jahrzehnten hat Zia-ul-Haq den Hidschab für Staatsbedienstete vorgeschrieben.

Deshalb appelliert die Liga für die Fünfte Internationale an alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Gewerkschaften, Feminist:innen und fortschrittlichen Menschen in Pakistan, gegen diese dogmatischen Kräfte zu kämpfen. Wir werden es selbst tun müssen, denn die Bourgeoisie wird es eindeutig nicht tun. Mushtaq Khan versuchte 2021, seine hässliche Agenda voranzutreiben, hatte aber keinen Erfolg, da sich Shireen Mazari damals gegen ihn stellte. Die derzeitige Gegenreaktion gegen trans Personen hat es dem herrschenden Regime ermöglicht, mit Hilfe der Medien, der Intelligenz und der Geistlichen Angst in den Köpfen der Massen zu schüren, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den Angriffen auf demokratische Rechte, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Die Jamaat-e-Islami-Partei hat diese Rolle lange gespielt, um das schwächelnde kapitalistische System zu verteidigen. Da die JI nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft an die Macht zu kommen, ist dies in der heutigen Zeit ihre einzige Aufgabe, um sich ihren Anteil am Kuchen zu sichern. Auch wenn ihre soziale Basis überschaubar ist, so kann doch nicht übersehen werden, dass sie sich hauptsächlich aus der Schicht der Kleinunternehmer:innen und Händler:innen, d. h. dem Kleinbürgertum, zusammensetzt. Diese Schichten können mobilisiert werden und wurden in der Vergangenheit auch mobilisiert, um die Arbeiter:innen und ihre Organisationen physisch zu bekämpfen und zu zerschlagen. Deshalb dürfen wir ihnen keinen Erfolg gönnen und müssen uns mit aller Kraft gegen diese patriarchalischen Angriffe der reaktionären Kräfte wehren. Unsere Brüder und Schwestern im Kampf im benachbarten Iran sollten uns dabei ein Vorbild liefern!

  • Fort mit der Aufhebung der Selbstidentifizierungsklauseln im Gesetz zum Schutz von trans Personen jetzt! Freiheit für alle, sich als ihr wahres Ich zu identifizieren!

  • Gleicher Mindestlohn für alle Männer, Frauen und trans Personen!

  • Staatlich finanzierte Schutzräume für trans Menschen, die von trans Personen aus der Arbeiter:innenklasse selbst verwaltet werden!

  • Nein zu jeglicher Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Orientierung, Religion, Rasse!

  • Recht auf gewerkschaftliche Organisierung für alle Berufe!

Wir rufen auch Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen auf, Transphobie und andere derartige Missstände innerhalb unserer Bewegung zu bekämpfen. Das bedeutet, dass wir Gewerkschaften aufbauen müssen, in denen auch trans Personen vertreten sind, und dass wir auf ihre spezifischen Probleme eingehen müssen, indem wir ihnen und Frauen das Recht einräumen, sich ohne männliche Anwesenheit zu treffen (Caucus), um ihre Probleme offen und ohne Angst oder Behinderung zu diskutieren und die Entscheidungen und Vorschläge dann in die Gewerkschaften einzubringen. Wir müssen unsere Gewerkschaften stärken und demokratisieren, um unsere Forderungen durch Arbeitsniederlegungen wirksam durchzusetzen. Schließlich müssen wir eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufbauen, die nicht nur für unsere grundlegenden demokratischen Forderungen kämpft, sondern auch für die Macht, diese Forderungen durchzusetzen.




Pakistan: Auf dem Weg in eine Verfassungskrise?

Minerwa Tahir, Infomail 1222, 12. Mai 2023

Die Verhaftung und anschließende Freilassung von Imran Khan, dem ehemaligen Premierminister und Vorsitzenden der Partei Pakistan Tehreek Insaf (PTI), verdeutlicht die tiefe Spaltung der herrschenden Klasse und der staatlichen Institutionen des Landes. Khan, der seit Monaten mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, wurde nicht von der Polizei, sondern von den paramilitärischen Punjab Rangers festgenommen.

In vielen Städten brachen sofort Proteste aus. In Peshawar wurden acht Menschen getötet und mehr als 2.000 weitere verhaftet. Andere Parteiführer:innen wie Asad Umar, Shah Mehmood Qureshi, Fawad Chaudhry, Jamshed Iqbal Cheema, Falaknaz Chitrali, Musarrat Jamshed Cheema und Maleeka Bokhari wurden ebenfalls in Gewahrsam genommen. Ungewöhnlich ist, dass Demonstrant:innen in vielen Bezirken Einrichtungen der Armee angriffen.

Worum geht es?

Bewaffnete Kräfte wurden in Punjab, Khyber Pakhtunkhwa, Belutschistan und Islamabad eingesetzt. In Sindh erließen die Behörden eine Anordnung nach Section 144, die bis auf Weiteres alle Versammlungen von mehr als vier Personen sowie alle Proteste, Demonstrationen, Kundgebungen und Sitzstreiks in der Provinz verbietet. Die Medienabteilung der Armee (ISPR) gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie davor warnte, dass jeder weitere Angriff auf die Armee, die Strafverfolgungsbehörden, militärische oder staatliche Einrichtungen und Besitztümer schwere Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würde.

Seit seiner Absetzung als Premierminister im vergangenen Jahr durch ein Misstrauensvotum des Parlaments, das nach weit verbreiteter Ansicht von der Armee inszeniert worden war, hat Khan das Land bereist und sich im Vorfeld der bevorstehenden Wahlen eine starke Unterstützung in der Bevölkerung erworben. Obwohl er offiziell wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde, liegt es auf der Hand, dass der Grund dafür politischer Natur war. Sowohl die Regierung von Shehbaz Sharif als auch zumindest Teile des Militärs und des Staatsapparats wollen ihn als potenziellen Herausforderer ihrer Herrschaft vollständig beseitigen.

Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs, ihn freizulassen, weil seine Verhaftung an sich rechtswidrig war, wird wahrscheinlich nicht das letzte Kapitel in dieser Geschichte bleiben. Tatsächlich bedeutete dies nicht einmal, dass Khan seine Freiheit wiedererlangte, da das Gericht ihn aufforderte, „zu seiner eigenen Sicherheit“ in dem Gebäude zu bleiben, das als vorläufiger Gerichtssaal diente. Eine erneute Verhaftung unter Anwendung korrekter rechtlicher Verfahren ist nach wie vor möglich, und selbst ein hartes Durchgreifen gegen die PTI als Ganzes und ein Verbot der Partei sind nicht ausgeschlossen. Premierminister Sharif hat die Proteste der Partei bereits als terroristische Akte gebrandmarkt. Das Ziel seiner Gegner:innen ist nach wie vor, Khan als Kandidaten auszuschalten, und eine Verurteilung wegen eines der Korruptionsvorwürfe würde dies sicherstellen.

Selbst dann könnten die Krise der pakistanischen Gesellschaft, die verzweifelte Lage der Millionen Menschen, die bei den Überschwemmungen des letzten Jahres alles verloren haben, die Auswirkungen der Auflagen des Internationalen Währungsfonds für die finanzielle Unterstützung sowie die Wut der Anhänger:innen Khans die sehr fragilen demokratischen Institutionen des Landes erschüttern. Die derzeitige Regierung der Pakistan Muslim League (Nawaz), die nach der Absetzung Khans eingesetzt wurde, stellte immer nur eine Übergangslösung dar. Zweifellos existieren in der Armee bereits Elemente, die in einem Militärputsch den einzigen Weg zur „Wiederherstellung der Ordnung“ sehen.

Wenn Khan seine Freiheit wiedererlangt, wird er natürlich wieder in den Wahlkampf ziehen und seine Anhänger:innen angesichts der unrechtmäßigen Art und Weise seiner Verhaftung aufstacheln. Die PTI stützt sich weitgehend auf die „Mittelschicht“, hat aber, was für eine populistische Partei nicht überrascht, auch an die verarmten Massen appelliert. Die aktuellen Umstände werden diese Wendung noch verstärken, da Khan die mangelnde Unterstützung für Obdach- und Arbeitslose anprangert und die Verbrechen der Reichen und die Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte angreift. Dies ist jedoch alles Demagogie. Seine Differenzen mit anderen Fraktionen der herrschenden Klasse und des Staatsapparats haben eher mit der Außenpolitik Pakistans zu tun, die sich an China und Russland anlehnen oder zu den USA und „dem Westen“ zurückkehren soll.

Krise

Angesichts einer sich entwickelnden Verfassungskrise muss man feststellen, dass die Arbeiter:innenklasse Pakistans schlecht darauf vorbereitet ist, ihre Interessen und Rechte zu verteidigen. Obwohl Imran Khan keine politische Unterstützung gewährt werden sollte, gab es allen Grund, gegen das barbarische Verhalten der Sicherheitskräfte, die ihn verhaftet haben, zu protestieren.

Darüber hinaus sind sich alle Fraktionen der herrschenden Klasse einig, dass die brutalen Bedingungen des IWF-Abkommens umgesetzt werden müssen und allen Versuchen, die Löhne gegen die Inflation und die Arbeitsplätze gegen Kürzungen und Privatisierungen zu verteidigen, widerstanden werden muss.

In dieser Situation ist es umso notwendiger, dass die Kräfte der pakistanischen Linken, die Frauenbewegung und die Bewegungen der nationalen Minderheiten mobilisieren und eine aktive Alternative bieten. Wir rufen die Labour-Qaumi-Bewegung (LQM), andere Gewerkschaften, linke, feministische, Jugend- und andere fortschrittliche Organisationen sowie die unterdrückten Nationalitäten und anderer sozialer Gruppen auf, sich gegen die zunehmende autoritäre Herrschaft und die steigende Inflation zusammenzuschließen. Die wichtigsten Themen und Forderungen sollten sein:

  • Ein Mindestlohn, der für ein besseres Leben der Lohnabhängigen ausreicht. Die Löhne sollten an die Preisinflation für lebenswichtige Güter gekoppelt werden. Für jeden Anstieg der Inflationsrate um ein Prozent sollten die Löhne um ein Prozent steigen.

  • Alle privatisierten Konzerne sollten unter Arbeiter:innenkontrolle wieder verstaatlicht werden.

  • Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollte die Arbeitszeit ohne Lohneinbußen verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

  • Aufstockung der Bildungs- und Gesundheitsbudgets durch Einführung einer Vermögenssteuer für Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft.

  • Abschaffung aller Privilegien und Steuervergünstigungen für Großgrundbesitz und Kapital.

  • Massive Subventionen sollten in der Landwirtschaft eingeführt werden. Außerdem sollte das Land den Großgrundbesitzer:innen weggenommen und den Bäuer:innen und Landarbeiter:nnen übergeben werden.

  • Die Mittel für Entwicklungsprojekte sollten massiv aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse und die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

  • Verstaatlichung der Stromerzeugungsunternehmen unter demokratischer Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse.

  • Ablehnung des IWF-Programms. Weigerung, die Schulden der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu bezahlen.

Der Kampf für solche Forderungen erfordert Organisation. Wo es Gewerkschaften gibt, sollten sie diese Forderungen aufstellen, aber wo dies nicht der Fall ist, muss die Priorität auf dem Aufbau demokratischer Betriebsorganisationen liegen, in erster Linie, um den Ausbeuter:innen entgegenzutreten, aber auch als Schritt zum Aufbau dauerhafter Industriegewerkschaften. In den proletarischen Bezirken sollten sich Sozialist:innen für die Bildung lokaler Räte einsetzen, die sich aus Delegiert:innen dieser betrieblichen Organisationen und Gewerkschaften zusammensetzen, um die Organisation zu verbreiten, Solidarität zu organisieren und eine Politik zu formulieren, die der Entwicklung der Ereignisse entspricht.

Sollte das Oberkommando der Armee beschließen, die gegenwärtige politische Krise durch einen Militärputsch selbst zu lösen, wie es das in der Vergangenheit getan hat, sollten Sozialist:innen zu einem Generalstreik aufrufen, für den von den bestehenden Gewerkschaften und betrieblichen Organisationen mobilisiert wird. Anders als die Massendemonstrationen der letzten Tage beinhaltet ein Generalstreik das Potenzial, das Land zum Stillstand zu bringen und die Frage aufzuwerfen, wer regieren soll, das Volk oder die Militärspitze?

Auch ohne Putsch ist es immer wahrscheinlicher, dass sich das Land auf eine Verfassungskrise zubewegt, die die gleiche Frage aufwirft. Unsere Antwort darauf sollte der Ruf nach einer verfassunggebenden Versammlung sein, einem demokratischen Forum, in dem genau das entschieden werden soll: Wer soll regieren? Eine solche Versammlung kann ihren Zweck nicht erfüllen, wenn sie von den bestehenden Eliten und ihren Parteien kontrolliert und einberufen wird. Ihre Wahl und Einberufung muss von Komitees der Arbeiter:innen, Bäuer:innen sowie Armen kontrolliert werden.

In einer verfassunggebenden Versammlung werden Sozialist:innen nicht nur das volle demokratische Programm gleicher Rechte für alle Bürger:innen und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts nationaler Minderheiten fordern, sondern auch die zentralen Forderungen der Arbeiter:innenklasse, die notwendig sind, um mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen: die Enteignung des Großkapitals, die Vergesellschaftung des Bodens und der natürlichen Ressourcen, die Beschlagnahmung des imperialistischen Vermögens, die Ablehnung von Schulden bei imperialistischen Institutionen und die Einführung von Planung.

Ein solches Programm kann nur durch Massenkämpfe verwirklicht werden, an deren Ende eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung steht, eine Regierung, die sich auf ihre eigenen Organisationen stützt, um die derzeitige katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen. Alle, die sich einer solchen Strategie verschreiben, sollten sich zu einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse zusammenschließen.




Revolutionäre Grüße der Labour Qaumi Movement zum Ersten Mai

Labour Qaumi Movement, Infomail 1222, 3. Mai 2023

Lal Salam (rote Grüße), Genoss:innen!

Die Labour Qaumi Movement Pakistan beglückwünscht die Genossinnen und Genossen zur Organisierung des klassenkämpferischen Blocks am 1. Mai. Die globale kapitalistische Krise, die Umweltkatastrophe und der Krieg in der Ukraine haben den Lebensstandard der Arbeiter:innen auf der ganzen Welt zerstört. Inflation, Arbeitslosigkeit und extreme Armut sind für die Arbeiter.innenklasse zur Normalität geworden.

Dies ist auf das kapitalistische System und seine interne Logik der Profitmaximierung zurückzuführen, die von den Arbeiter:innen und den Armen bezahlt werden, nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Europa und Amerika. Aber wir sind nicht bereit, diese Situation zu akzeptieren und kämpfen dagegen. In einer solchen Lage ist es sehr wichtig, von Seiten der revolutionären Sozialist:innen einzugreifen und sich zu organisieren, damit dieser Kampf in einen gegen das kapitalistische System umgewandelt werden kann.

In Pakistan haben die Umweltzerstörung und die kapitalistische Krise das Leben der Arbeiter:innenklasse elendig gemacht. Millionen von Menschen sind aufgrund von Überschwemmungen obdachlos und es ist für sie schwierig geworden, sich zwei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Aufgrund der Wirtschaftskrise gibt es Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut, die durch die Kapitalist:innen und ihre Profitgier verursacht wird. Unter diesen Umständen üben der IWF und die imperialistischen Länder immer mehr Druck auf die Regierung aus, das Haushaltsdefizit zu reduzieren und die Kredite zu bezahlen, die die Inflation anheizen, die derzeit den höchsten Stand in der Geschichte erreicht hat.

Wir lehnen das IWF-Programm ab und setzen uns für ein „Nein zu den Schulden“ ein und appellieren an die Genoss:innen in Berlin und die Arbeiter:innenbewegung, Druck auf die herrschende Klasse in Deutschland auszuüben, um die Schulden zu streichen. Diese Bewegung muss in Europa und Amerika etabliert werden, damit wir eine koordinierte Bewegung aufbauen können.

An diesem 1. Mai bringen wir unsere Solidarität mit den Genossinnen und Genossen des klassenkämpferischen Blocks und der Arbeiter:innenklasse in Berlin zum Ausdruck. Unsere Botschaft zum 1. Mai ist die gleiche für die Arbeiter:innen auf der ganzen Welt: Wir brauchen einen organisierten Kampf gegen den globalen Kapitalismus. Wenn die Angriffe gestoppt werden sollen, brauchen wir einen systematischen Kampf gegen das kapitalistische Weltsystem, eine neue Weltpartei der Arbeiter:innenklasse, eine neue Internationale.

Revolutionäre Grüße

Labour Qaumi Movement, Pakistan




Pakistan: Todesfälle an den Zentren zur Armenspeisung

Revolutionary Socialist Movement Pakistan, Infomail 1219, 3. April 2023

In der letzten Woche sind 12 Menschen, drei Kinder und neun Frauen, gestorben, als sie in einem Wohltätigkeitszentrum für den Fastenmonat Ramadan in Karatschi für Mehl anstanden. Hunderte von Frauen und Kindern hatten sich vor dem Zentrum versammelt, das von einer Textilfärberei eingerichtet worden war, in der Hoffnung, wenigstens einen Sack Mehl zu bekommen, während die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen. Als die Menschenmenge immer größer wurde, ging die Polizei mit Schlagstöcken gegen sie vor.

Ähnliche Szenen spielten sich im Quaid-e-Azam-Stadion (Mirpur-Cricketstadion in Azad Kaschmir) ab, wo 45 Frauen verletzt wurden und eine alte Frau bei einer Massenpanik nach einem weiteren Schlagstockeinsatz der Polizei und Schlägen zu Tode kam. Die vom Fasten bereits dehydrierte und geschwächte Menge hatte mehrere Stunden in der prallen Sonne ausgeharrt, nachdem die für die Identifizierung der Empfänger :innen verwendete Handy-App ausgefallen war.

Aus vielen anderen Städten des Landes wurden Tote und Verletzte gemeldet, was die Nahrungsmittelkrise, mit der Millionen Menschen konfrontiert sind, verdeutlicht.

Lebensmittelknappheit

Weizen ist das Grundnahrungsmittel in Pakistan. Der Premierminister kündigte ein Ramadan-Paket an, das den von der Inflation betroffenen Armen kostenloses Mehl zur Verfügung stellt. Die Regierung von Punjab stellte 64 Milliarden Rupien bereit, um 15,8 Millionen Haushalte, die von Armut betroffen sind, mit je drei 10-kg-Säcken zu versorgen. Die Regierung von Khyber Pakhtunkhwa kündigte die gleiche Regelung für 5,8 Millionen Haushalte an, die im Benazir Income Support Programme (Einkommensunterstützungsprogramm BISP) registriert sind, und stellte 19,7 Milliarden Rupien bereit.

Die Regierung von Belutschistan kündigte an, sie werde 0,5 Millionen 20-kg-Säcke verteilen, als ob die Menschen in der ohnehin schon verarmten Provinz weniger Lebensmittel bräuchten als die in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa! In der Zwischenzeit hat die Regierung von Sindh angekündigt, dass sie 7,8 Millionen Familien, die beim BISP registriert sind, 2.000 Rupien zur Verfügung stellen wird, um Mehl zu kaufen.

Die dreißigjährige Asma Ahmed, deren Großmutter und Nichte unter den Toten in Karatschi waren, sagte gegenüber AFP: „Wir kommen jedes Jahr in die Fabrik, um die Zakat (Abgabe gegen den Hunger) abzugeben. Sie begannen jedoch, die Frauen mit Knüppeln zu schlagen und sie zu schubsen. Überall herrschte Chaos. Warum haben sie uns gerufen, wenn sie nicht damit umgehen können?“

Der Vorfall ereignete sich am Freitag, dem 31. März. Der Freitag ist der „heilige Tag“ im Islam, und normalerweise geben die Menschen an diesem Tag ihre jährlichen Almosen in Form von Zakat an die Armen, weil sie glauben, dass dies an einem Freitag im Ramadan mehr Segen bringt. Schon vor der Pandemie und den Überschwemmungen im Jahr 2022 war es üblich, dass die Armen freitags im Ramadan an die Türen der Wohlhabenden klopften oder zu karitativen Einrichtungen strömten, um Almosen zu sammeln.

Verschärfung der Lage

Jetzt hat sich das Elend für die arme, arbeitende Bevölkerung für Tausende von Menschen verdoppelt und verdreifacht, die während der Covidpandemie und den verheerenden Überschwemmungen im Jahr 2022 entlassen wurden. Die durch den Klimawandel verursachten Überschwemmungen haben einen Großteil der Ernte vernichtet, aber das ist nur einer der Gründe für die exorbitant hohen Lebensmittelpreise. Hinzu kommen die Auswirkungen der Mehrwertsteuer, die auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds (IWF) erhöht wurde.

Der IWF vergibt Kredite an Pakistan nur unter ganz bestimmten Bedingungen, von denen die meisten direkt die Armen treffen, wie z. B. die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Kürzung der Subventionen für Strom, Gas und Benzin, die Privatisierung der Industrie und die Einführung eines marktgerechten Wechselkurses für die Rupie gegenüber dem US-Dollar.

Letztes Jahr lag die Inflation im März bei 12,72 Prozent. In diesem Jahr hat  sie bereits 35,37 Prozent erreicht. Dies ist die höchste Inflationsrate, die das Land in den letzten sechs Jahrzehnten verzeichnet hat. Bei verderblichen Lebensmitteln beträgt die Inflation im Jahresvergleich 51,81 Prozent, bei nicht verderblichen Waren liegt sie bei 46,44 Prozent.

Im Bericht des Finanzministeriums heißt es eindeutig: „Es wird erwartet, dass die Inflation auf einem hohen Niveau bleibt, was auf die Marktspannungen zurückzuführen ist, die durch die relative Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage bei wichtigen Gütern, die Abwertung des Wechselkurses und die jüngste Anpassung der administrierten Preise für Benzin und Diesel nach oben verursacht werden. Aufgrund der verlängerten Auswirkungen der Überschwemmungen sind die Produktionsverluste, insbesondere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Kulturen, noch nicht vollständig aufgeholt worden. Infolgedessen ist ein Mangel an lebenswichtigen Gütern entstanden und hält an. Die Inflation könnte durch den Zweitrundeneffekt weiter ansteigen.“

Außerdem geht der Bericht davon aus, dass die Weizenproduktion durch verspätete Regenfälle und anschließende Hitzewellen im April und Mai beeinträchtigt werden könnte. Alles in allem macht die Übersicht des Ministeriums überdeutlich, dass Armut, Elend und Hunger in den kommenden Wochen und Monaten weiter bestehen und sich sogar noch verschärfen werden.

Was tun?

In dieser Situation zeigen Philanthropie und Wohltätigkeit ihr wahres Gesicht: Staatliche und nichtstaatliche Akteur:innen kombinieren ein Minimum an Hilfslieferungen mit einem Maximum an Fototerminen. Sie versammeln große Menschenmengen, damit sie ihren Spender:innen Fotos von ihnen zeigen können, um mehr Geld in ihre eigenen Taschen zu bekommen.

Selbst wenn all dieses Geld den Armen zugutekäme, wäre es immer noch unzureichend. Solche einmaligen kostenlosen Mehllieferungen, die ohnehin mit dem Risiko von Schlägen und Todesfällen verbunden sind, werden nicht ewig reichen. Was sollen die Menschen unterhalb der Armutsgrenze essen, wenn die 30 Kilo Mehl aufgebraucht sind?

Die Misswirtschaft in den Verteilungszentren hat gezeigt, dass die herrschenden Klassen gleichgültig und unfähig sind, die Krise zu bewältigen. Wir rufen die Arbeiter:innen auf, Lebensmittelausschüsse zu bilden, um den Verteilungsprozess zu kontrollieren. Die Unfähigkeit der herrschenden Klassen, die anhaltend dramatischen Zustände zu meistern, zeigt sowohl die realen Gefahren als auch die Aussichten auf eine wirkliche soziale Umgestaltung. Rosa Luxemburgs Vorhersage „Sozialismus oder Barbarei“ ist heute zutreffender als je zuvor. Die herrschenden Klassen in Pakistan bewegen sich in eine Richtung, in der sie nicht mehr in der Lage sein werden, so zu regieren, wie sie es bisher getan haben. Es ist höchste Zeit, den subjektiven Faktor vorzubereiten, um diese objektiven Bedingungen zu ergänzen.

Dies ist umso wichtiger, als sich sonst reaktionäre Kräfte wie die Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaftspartei) wieder durchsetzen werden. Wenn die Geschichte uns etwas gezeigt hat, dann, dass solche Parteien die Feind:innen der Arbeiter:innenschaft, der Frauen und der Minderheiten sind. Deshalb müssen sich die Arbeiter:innen, die Armen auf dem Land und in der Stadt, die Bauern und Bäuerinnen sowie die unterdrückten Teile der Gesellschaft jetzt zusammenschließen, um gemeinsam gegen die derzeitige Wirtschaftskrise zu kämpfen. Unsere Frauen haben etwas Besseres verdient! Wir verdienen es nicht, für eine Handvoll Mehl zu sterben!

Wir rufen alle linken Parteien und Organisationen sowie die Gewerkschaften und Frauenorganisationen auf, sich für eine entschlossene Strategie gegen die Wirtschaftskrise zusammenzuschließen. Keine NGO oder Wohltätigkeitsorganisation wird diese Krise lösen. Nur eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innenklasse mit einem echten Aktionsprogramm, das die Kämpfe für freie Lebensmittel und gegen Inflation und IWF mit dem Kampf für eine Revolution der Arbeiter:innenklasse in Pakistan verbindet, kann dies tun!

Vorwärts zu einer sozialistischen Revolution in Pakistan und ganz Südasien!