Gefangen im Schatten der Unterdrückung: Patriarchale Gewalt an Dalit-Frauen in Indien

Night Ophelia, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Die Situation von Frauen in Indien ist alles andere als homogen. Ihre Realität wird von Faktoren wie gesellschaftlicher Herkunft, Klassen- und Kastenzugehörigkeit, Nationalität und Religion geprägt. Ein kritischer Blick offenbart, dass insbesondere Dalit-Frauen, Angehörige der untersten Kaste, einer besonders unsicheren Lage ausgesetzt sind.

Allgemeines zum Kastenwesen

Das indische Kastensystem ist ein soziales Hierarchiesystem, das die Gesellschaft in verschiedene Gruppen oder Kasten einteilt, basierend auf Beruf und sozialer Stellung. Der Begriffe Kaste selbst stammt ursprünglich aus dem Portugiesischen und überlappt sich nur teilweise mit den indischen Begriffen jati (Gattung, Wurzel) und varna (Farbe), was der Einteilung in vier große Kasten am nächsten kommt: Brahmanen (traditionell intellektuelle Elite, Priester:innen), Kshatriyas (traditionell Krieger:innen, höhere Beamt:innen), Vaishyas (traditionell Händler:innen, Kaufleute, Grundbesitzer:innen, Landwirt:innen) und Shudras (traditionell Handwerker:innen, Pachtbauern/-bäuerinnen, Tagelöhner:innen).

Darunter stehen die Dalits und Adivasi (Indigene). Dazu ist zu sagen, dass die jeweiligen Kasten sich auch noch mal in Subkasten teilen können und das Kastensystem bereits jahrtausende vor der Kolonialisierung zurückreicht. Die Einteilung der Gesellschaft in Kasten entspricht historisch einer Produktionsweise, die selbst auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln, einer relativ statischen Arbeitsteilung unter den Gemeindemitgliedern, die Agrikultur und Manufaktur verbindet, sowie einem zentralisierten Staatsapparat, der Beamte, Heer und allgemeine Infrastruktur zur Verfügung stellt, fußt.

Durch die Kolonisierung seitens der Brit:innen wird das Kastensystem keineswegs abgeschafft, sondern vielmehr für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse umgewandelt, in gewisser Weise noch prägender. Während der Kastenwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft, die von Marx an mehreren Stellen als „asiatische Produktionsweise“ charakterisiert wurde, Ausdruck eine Gesellschaftsformation war, die auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden basierte, so wurde das Kastensystem mit der Kolonisierung, mit der ökonomischen und gewaltsamen Zerstörung der traditionellen Dorfgemeinschaften zu einem Mittel, die privilegierte Rolle der nun mit der kolonialen Herrschaft verbundenen Eliten und das Privateigentum an Grund und Boden (wie an allen andere wichtigen Produktionsmitteln) zu legitimieren.

Vereinfacht gesagt sichert das Kastenwesen die Klassenverhältnisse, erschwert bis verunmöglicht sozialen Aufstieg und verfestigt somit die Spaltung der Gesellschaft wie auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen. Klasse und Kaste sind miteinander verwoben, jedoch nicht als Synonym zu verwenden, da  die kapitalistische Produktionsweise selbst Druck auf das Kastenwesen ausübt und es formt.

Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass in Indien Diskriminierung aufgrund der Kastenherkunft zwar formal verboten ist (Artikel 15 der indischen Verfassung oder bswp. Scheduled Castes and Scheduled Tribes [Prevention of Atrocities] Act). In Wirklichkeit verhindert aber ungleiche Kastenherkunft oft Heiraten und bestimmt generell Bildungschancen, Gesundheitsversorgung sowie rechtlichen Schutz.  Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Situation von Dalit-Frauen, auch als „Unberührbare“ bekannt, näher anschaut. Sie stehen am untersten Ende dieser Hierarchie und wurden historisch marginalisiert und diskriminiert.

Wer sind Dalit-Frauen?

Laut Zensus (Volkszählung) des indischen Staates von 2011 machen Dalits 16,6 % der indischen Bevölkerung aus, also rund 240 Millionen. Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Uttar Pradesh (21 %), Westbengalen (11 %), Bihar (8 %) und Tamil Nadu (früher: Madras; 7 %) konzentriert und machen dort zusammen fast die Hälfte der Dalit-Bevölkerung des Landes aus. Gleichzeitig leben sie auch häufig in ländlichen Regionen und sind deswegen infrastrukturell schlechter angebunden.

Rund die Hälfte der Dalitbevölkerung sind Frauen und auch wenn sich die Diskriminierung auf beide Geschlechter erstreckt, sind diese doppelter Benachteiligung ausgesetzt. Die Verbindung zwischen dem Kastensystem und Patriarchat zeigt sich durch die Kontrolle über die weibliche Sexualität. Das Kastensystem wird durch die Einschränkung der sexuellen Autonomie von Frauen aufrechterhalten. Dies führt zu einem Klima, in dem sexuelle Gewalt und Vergewaltigung als Mittel der Unterdrückung und Machtausübung eingesetzt werden. Diese Gewaltakte dienen nicht nur der physischen, sondern auch der symbolischen Kontrolle, um die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung nimmt zu, da Dalit-Frauen und ihre Gemeinschaften für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen. Doch bevor wir dazu kommen, ein paar Fakten.

Ökonomische Lage

Das Kastenwesen im Kapitalismus hat eine gesellschaftliche Arbeitsteilung manifestiert, die die unterste Kaste als landlos zurücklässt. So arbeitet der Großteil im informellen Sektor und Dalits sowie Adivasi stellen landesweit den größten Anteil an temporären Arbeitsmigrant:innen dar. Obwohl sie nur 25 % der Bevölkerung ausmachen, stellen sie offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 40 % der saisonalen Migrant:innen. Praktisch arbeiten sie in der Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und werden häufig in den gefährlichsten, anstrengendsten und umweltschädlichsten Bereichen der Wirtschaft eingesetzt. Auch Anstellung in Bereichen wie der Abwasserreinigung sind nicht untypisch,  die vor allem für den Status der „Unreinheit“ gesorgt haben, da diese von den oberen Kaste als entwürdigend angesehen wurden. Insbesondere diese Arbeit, die zwar gesetzlich verboten wurde, wird heute mehrheitlich von Frauen verrichtet und sorgt dafür, dass sie weniger verdienen als Männer.

Durch die strukturelle Einstellung in schlechter bezahlte, prekäre Jobs kommt es zu größeren Einkommensunterschieden zwischen den Kasten. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren geringfügig verbessert – an der generellen Ungleichheit ändert das jedoch wenig. Für Frauen kommt noch der Gender Pay Gap hinzu, der dafür sorgt, dass sie im gleichen Beruf weniger verdienen.

Ebenso problematisch ist Schuldknechtschaft, die nicht anderes ist als Zwangsarbeit oder moderne  Sklaverei. So können jüngere Mädchen beispielsweise – um Kosten für die Mitgift zu bezahlen – in Spinnereien angeworben werden. Die Eltern warten oft mehrere Jahre, bevor sie das Geld erhalten, das in der Regel niedriger ist als ursprünglich vereinbart. Aber auch die Vererbung von Schulden über Generationen  ist möglich.

Grundsätzlich dient das Kastenwesen dazu, einen segregierten Arbeitsmarkt zu verfestigen und reproduzieren, auf dem die Dalits einen Kern einer permanent überausgebeuteten Arbeiter:innenschaft darstellen, die strukturell gezwungen ist, in ihrer großen Mehrheit unter den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu leben. Allein schon deshalb bildet das Kastensystem keineswegs einen „Überrest“ der Vergangenheit, sondern vielmehr einen integralen Bestandteil des indischen Kapitalismus.

Bildung

Eine Analyse der ILO auf Basis der Daten der Nationalen Stichprobenerhebung (NSS) deutet darauf hin, dass der Bildungsstand unter Dalits zugenommen hat, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei den oberen Kasten. Während in den zwei Jahrzehnten nach 1983 Dalit-Männer eine Verbesserung von 39 Prozentpunkten (56 Prozentpunkte bei anderer Kastenzugehörigkeit) des Bildungsniveaus nach der Grundschule erreichten, sind es bei Dalit-Frauen nur 21 (38 Prozentpunkte bei Angehörigen der oberen Kaste). Ebenso ist die Abbruchquote innerhalb des Grundschulzeitraums hoch. Laut einer Analyse des IndiaGoverns Research Institute machten Dalits im Zeitraum 2012 – 2014 fast die Hälfte der Grundschulabbrecher:innen in Karnataka (früher: Mysore) aus. Das liegt jedoch nicht nur an der Diskriminierung, die während des Schulalltags passiert. Eine 2014 von ActionAid finanzierte Stichprobenerhebung ergab, dass von den staatlichen Schulen in Madhya Pradesh 88 Prozent Dalit-Kinder diskriminieren: So war es in 79 % der untersuchten Schulen Dalit-Kindern verboten, das Mittagessen anzurühren, und in 35 % befohlen, beim Mittagessen getrennt sitzen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Einkommen der Familien nicht ausreichen, um diese zu ernähren und Kinder somit gezwungen werden, zu arbeiten, was wiederum schlechtere Anstellungsverhältnisse begünstigt.

Gewalt

Während Gewalt gegenüber Frauen ein Klassen (und Kasten) übergreifendes Problem und kastenbasierte Gewalt ebenfalls Alltag sind, wird hier das Ausmaß der gesellschaftlichen Stellung von Dalit Frauen sichtbar. Eine dreijährige Studie über die Erfahrungen von 500 Dalit-Frauen mit Gewalt in vier indischen Bundesstaaten zeigt, dass die Mehrheit mindestens eine der folgenden Erfahrungen gemeldet hat:

  • verbale Gewalt (62,4 %),

  • körperliche Übergriffe (54,8 %),

  • sexuelle Belästigung und Übergriffe (46,8 %),

  • häusliche Gewalt (43,0 %),

Ebenso werden nach Angaben des National Crime Records Bureau jeden Tag mehr als vier Dalit-Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele solcher Verbrechen nicht gemeldet werden aufgrund Angst vor Gewalt und Einschüchterung sowie Tatenlosigkeit der Polizei und Gerichte. Die mangelnde Erfassung solcher Daten ist dabei ein großes Problem. Zwar gibt es lokale Statistiken, die aufzeigen, dass Sexualstraftaten mehr geahndet und verurteilt werden, wenn die Betroffenen höheren Kasten angehören, das Ausmaß lässt sich aber nur vermuten. Gleiches gilt für Zwangsheiraten sowie verbindliche Aussagen, wie viele Frauen als Devadasis (Prostituierte; ursprünglich bezeichnete der Begriff Tempeltänzerinnen; d. Red.) arbeiten müssen. Ein Bericht von Sampark (niederländische Stiftung für Bildungsfragen; d. Red.) aus dem Jahr 2015 an die ILO stellt fest, dass 85 % der befragten Devadasis aus Dalit-Gemeinschaften stammen. Wie viele es jedoch an sich gibt, ist unklar aufgrund der Weigerung mancher Bundesstaaten, zuverlässige Daten zu erfassen.

Widerstand

Der Widerstand gegen das Kastensystem an sich existiert schon lange. So engagierten sich in den 1920er Jahren beispielsweise Dalit-Frauen in Bewegungen gegen Kasten und Unberührbarkeit, in den 1930er Jahren in der Non-Brahman-Bewegung und haben dafür gekämpft, dass die eigenen Forderungen auch in der Frauenbewegung Indiens aufgenommen werden, was seit den 1970er Jahren auch Wirkung zeigt. Während der Widerstand gegen die gesellschaftliche Unterdrückung von Dalits in Indien zunehmend an Bedeutung gewinnt, steigt jedoch auch die Gewalt gegen diese, vor allem durch Unterstützer:innen der BJP und faschistische Kräfte. Nach besonders schockierenden Vorfällen von Gewalt, Femiziden oder Sexualstraftaten finden dabei regelmäßig Protestbewegungen statt wie im Fall von Manisha. Sie wurde am 14. September 2020 von vier Männern vergewaltigt, ihre Zunge durchgeschnitten und Wirbelsäule gebrochen, sodass sie nach 15 Tagen ihren Verletzungen erlag. Solche Taten sind keine Einzelfälle und führen regelmäßig zu Mobilisierungen und Aufschrei, gegen die anhaltende Gewalt und Unterdrückung vorzugehen. Auch am 4. Dezember 2023 gab es in Jantar Mantar einen größeren Protest, bei dem verschiedene Organisation für die Rechte von Dalits auf die Straße gingen. Ihre Forderungen waren mitunter: Schutz der bestehenden Wohlfahrtsprogramme für Dalits, Anerkennung von Dalit-Siedlungen, indem Eigentumsrechte eingeräumt werden. Landlose sollten für Wohngrundstücke identifiziert und der Besitz sollte für ihre Erben gesichert werden. Ferner wurde die sofortige Umsetzung des Gesetzes zur Abschaffung der Schuldknechtschaft (Bonded Labor Abolition System Act, 1976).

Was tun?

Die Realität zeigt: Formale Gleichheit auf dem Papier ist zwar ein wichtiger Schritt, reicht aber lange nicht aus, um diese auch in der Praxis umzusetzen. Dabei muss auch klar sein, dass der Kampf gegen den Chauvinismus, den das Kastensystem mit sich bringt, notwendig ist. Schulungen und Aufklärungskampagnen alleine werden jedoch nichts verändern.

Aufgabe muss sein, das Kastenwesen zu zerschlagen und mit ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die es aufrechterhält. Große Worte, die in der Praxis bedeuten, für ein Sozialversicherungssystem, kollektive Organisation der Reproduktionsarbeit sowie ein Mindesteinkommen, gekoppelt an die Inflation, für alle zu kämpfen. Verbunden werden müssen diese Forderungen mit dem Kampf um ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle, finanziert aus den Profiten der Unternehmen, um für alle freie, kostenlos zugängliche Bildungs-, Gesundheits- und Altenvorsorge zu gewährleisten.

Denn nur wenn die grundlegende Lebensabsicherung für alle gegeben ist, kann die Ungleichheit anfangen zu verschwinden. Dies umzusetzen, ist jedoch einfacher geschrieben als getan. Zum einen kann das Vertrauen, wenn es darum geht, solche Maßnahmen umzusetzen, nicht bei Regierung und Staat liegen. Vielmehr braucht es Komitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die die Umsetzung kontrollieren. Dabei muss durch eine Quotierung sichergestellt werden, dass auch aus den untersten Schichten Repräsentant:innen sicher vertreten sind.

Zum anderen sorgt Indiens Stellung auf dem Weltmarkt für die massive Überausbeutung großer Teile der Bevölkerung. Um die Kosten der Ausweitung der Sozialversicherung und die Abschaffung des informellen Sektors zu tragen, muss man mit der Politik, die die Überausbeutung schützt, brechen. Das heißt: Schluss mit der Politik für die Interessen von Weltbank, Währungsfonds, USA, Japan und EU! Schuss aber auch mit einer Politik, die die indischen Großkapitale und Monopole fördert! Ansonsten wird es nie möglich sein, fundamentale Verbesserung für die Mehrheit der Bevölkerung einzuführen.

Kurzum: Der Kampf für konkrete Reformen muss mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden werden. Um die Umsetzung sicherzustellen, braucht es Selbstverteidigungskomitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich gegen die Angriffe von jenen wehren, die das System der Unterdrückung aufrechterhalten wollen.

Der Kampf für die Verbesserung der Situation von Dalit-Frauen ist darin unmittelbar eingebunden. Er bedeutet, für jene Forderungen zu mobilisieren, aktiv zu kämpfen und den Protest zu nutzen, um seitens der Gewerkschaften für organisierte Kampagnen in Stadtvierteln und Dörfern einzutreten, die über den Chauvinismus, der mit dem Kastensystem einhergeht, sowie Sexismus aufklären.

  • Für regelmäßige statistische Erhebungen über die Auswirkungen des Kastenwesens, Geschlecht, sowie Religion auf Beschäftigung und Lebensqualität – kontrolliert durch Gewerkschaften und Ausschüsse der Dalit!

  • Weg mit dem informellen Sektor! Für die flächendeckende Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Berufen!

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Weg mit dem Gender Pay Gap, Einführung eines Mindestlohns sowie Mindesteinkommen, das automatisch an die Preissteigerung angepasst wird!

  • Schluss mit Chauvinismus: Zerschlagung des Kastensystems, Kampf dem Hinduchauvisismus und Sexismus, für Aufklärungskampagnen seitens der Gewerkschaften in den Wohnvierteln und Dörfern!

  • Kampf gegen die Reproduktion des Kastensystems in der Linken und den Gewerkschaften, Recht auf gesonderte Treffen von Dalit und Frauen!

  • Kein Vertrauen in die Polizei: Für demokratisch gewählte sowie organisierte  Selbstverteidigungskomitees sowie Meldestellen für Diskriminierung von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!

  • Nein zur Doppelbelastung: Für die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle!

Ein solches Programm, das wir hier nur knapp skizzieren können, ist unvereinbar nicht nur mit der Herrschaft der hinduchauvinistischen BJP, sondern mit dem indischen Kapitalismus selbst. Es muss daher im Rahmen eines Programms der permanenten Revolution mit dem Kampf um die Enteignung des indischen und imperialistischen Großkapitals und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Dazu braucht es den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Indien und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte stützt.




Indien: Hindu-Extremismus provoziert ethnische Säuberung in Manipur

Bernie McAdam, Infomail 1231, 19. September 2023

Als im Juli ein Video auftauchte, das zwei Frauen zeigte, die von einem Mob im indischen Bundesstaat Manipur nackt vorgeführt wurden, warf es ein Schlaglicht auf die Verbrechen von Modis Indien.

Das Hindutva-Regime (Hindutva ist eine extreme Form des Hindu-Chauvinismus) von Premierminister Nahendra Modi hat zu einer alarmierenden Zunahme von Übergriffen auf ethnische Minderheiten, Muslime, Christ:innen und Frauen geführt. Auf den Überfall vom 4. Mai reagierte Modi erst im Juli. Als dann der Angriff auf zwei christliche Kuki-Frauen durch eine Bande von Meitei-Hindu-Männern international bekannt wurde, sah er sich mit Verspätung gezwungen, eine Verurteilung auszusprechen, „da dies Indien Schande bereitet hat“.

Manipur

Der nordöstliche Bundesstaat Manipur wird von Modis Partei, der BJP, regiert, und die Regierung des Bundesstaates unterstützt zweifellos eine Kampagne zur ethnischen Säuberung des Kuki-Volkes mit fadenscheinigen Argumenten über die Notwendigkeit des Schutzes der Wälder, „illegale“ Migration und Mohnanbau. Dies hat dazu geführt, dass rund 60.000 Menschen vertrieben und über 7.000 Häuser niedergebrannt wurden. Mehr als 100 Menschen starben und Hunderte von Dörfern und Kirchen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Wie bei ähnlichen Konflikten üblich, sind es die Frauen, die die Hauptlast der Gewalt tragen.

Die Aktivitäten der Regierung des Bundesstaates unter Biren Singh bedrohen mehrere ethnische Gruppierungen und haben zu wütenden Protesten geführt. Insbesondere die Anordnung, 38 Dörfer in einem geschützten Waldgebiet zu räumen, hat Widerstand ausgelöst. Die Siedlungen wurden als illegal und ihre Bewohner als „Eindringlinge“ bezeichnet. Proteste gegen diese Räumungsaktionen wurden von der Polizei angegriffen.

Das Volk der Kuki war auch das Ziel von Meitei-Milizen, die offenbar mindestens fünf Waffenlager geplündert haben, wobei die Polizei zweifellos ein Auge zugedrückt hat. 

Unmittelbarer Auslöser der aktuellen Gewalt war die Anordnung des Obersten Gerichtshofs von Manipur an die Regierung des Bundesstaates, der indischen Unionsregierung die Aufnahme der Meitei-Gemeinschaft in die Liste der „Scheduled Tribes“ zu empfehlen. Die Meitei sind die vorherrschende ethnische Gemeinschaft in Manipur, und dieser neue Status wird ihre ohnehin schon mächtige Position stärken und ihnen Vorteile in den Bereichen Bildung und Arbeit verschaffen, aber auch Landrechte gewähren, um sich in Kuki-Gebieten „niederzulassen“ – oder besser gesagt, um Kuki zu vertreiben.

Angesichts dieser Unterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass das Volk der Kuki zunehmend die vollständige Trennung vom Staat Manipur fordert. Es gibt eine lange Geschichte von Kuki-Aufständen in Manipur und auch Konflikte mit den Nagas, die ihren eigenen Aufstand und Forderungen nach Selbstbestimmung hatten. Sozialist:innen und Kommunist:innen sollten natürlich Forderungen nach Selbstverteidigung und Selbstbestimmung unterstützen, wo Unterdrückung herrscht. Ein erfolgreicher Kampf zum Sturz von Modi und der BJP wird jedoch eine Offensive der gesamten indischen Arbeiter:innenklasse erfordern.

Die verschiedenen Kräfte der Opposition in der indischen Gesellschaft erfordern einen vereinten Kampf aller indischen Arbeiter:innen und Bäuer:innen, um die Modi-Regierung und das von ihr verteidigte kapitalistische System zu stürzen. Nur ein Kampf zur Abschaffung des Kapitalismus, der für die chronische Armut, die kommunale Gewalt und die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten verantwortlich ist, kann den gesamten indischen Subkontinent grundlegend verändern. Nur ein Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die das Kapital enteignet und die sich auf Räte stützt, kann die Grundlagen für eine menschwürdigen, sozialistischen Zukunft frei von Ausbeutung und Unterdrückung legen.




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Indien: Sieg der Bäuerinnen und Bauern gegen Modi-Regierung

Javiad Imran, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nach einem Jahr mutigen Kampfes haben die indischen Bauern und Bäuerinnen Indiens „starken Mann“ Narendra Modi gedemütigt. Modi musste der Nation verkünden, dass er beabsichtigt, die neoliberalen Agrargesetze aufzuheben.

Hunderttausende haben gestreikt und Blockaden errichtet, um die Regierung und die großen AgrarkapitalistInnen, denen sie dient, zum Rückzug zu zwingen, und haben ihre Aktionen trotz des schlechten Wetters und der Verwüstungen durch Covid-19 fortgesetzt. Selbst unter diesen Umständen wurden sie von der Polizei der Regierung weiterhin brutal gefoltert und verhaftet. Mehr als 700 Bauern und Bäuerinnen erlitten ihr Martyrium.

Trotz aller Repressionen und Gewalt ist es der Modi-Regierung nicht nur nicht gelungen, die Aktionen der Kleinbauern und -bäuerinnen zu stoppen, sondern auch ihre Politik des „Teile und Herrsche“ ist gescheitert. Außerdem scheiterte auch das Vorhaben der Regierung, die Führung der Bauern und Bäuerinnen durch eine Reihe von Verhandlungen zu spalten, die sich letztlich als erfolglos erwiesen. Auch Modis verlogene Propaganda, die das Gesetz als Fortschritt für die wirtschaftliche Entwicklung und eine gerechtere Gesellschaft darstellte, misslang.

Gemeinsamer Kampf

Stattdessen hat die bäuerliche Bewegung, unterstützt von den LandarbeiterInnen, gezeigt, dass ein gemeinsamer Kampf siegen kann. Sie wurde von Gewerkschaften, StudentInnen- und Frauenorganisationen aus dem ganzen Land mitgetragen. Viele Proteste wurden in Solidarität mit dem Sit-in der Bauern und Bäuerinnen abgehalten, an denen sich ArbeiterInnen, StudentInnen und Frauen beteiligten. Unter diesen Umständen geriet die Bauern- und Bäuerinnenbewegung zu einem Leuchtturm der Hoffnung nicht nur für die Bauern und Bäuerinnen in ganz Indien, sondern auch für die Muslima/e, die von den hinduchauvinistischen Regierungen der Bundesstaaten und von Delhi verfolgt wurden.

Am 22. Januar, dem indischen Tag der Republik, marschierten Millionen von Bauern und Bäuerinnen durch Delhi und besetzten das historische Rote Fort aus der Zeit der Mogulreiche. Danach breitete sich die bäuerliche Bewegung auf Uttar Pradesh und andere Teile des Landes aus. Versuche, sie zu zerschlagen, scheiterten. Daraufhin gingen auch in anderen Bundesstaaten zahlreiche Bauern und Bäuerinnen auf die Straße, und auch StudentInnen und ArbeiterInnen schlossen sich an und bekundeten ihre Solidarität mit diesem Kampf.

In seiner Ansprache an die Nation am Freitag, den 19. November, kündigte Modi an: „Heute bin ich gekommen, um Ihnen, dem ganzen Land, mitzuteilen, dass wir beschlossen haben, alle drei Landwirtschaftsgesetze zurückzuziehen. In der Ende des Monats beginnenden Parlamentssitzung werden wir den verfassungsrechtlichen Prozess zur Aufhebung dieser drei Landwirtschaftsgesetze abschließen.“

Zu den umstrittenen Gesetzen gehörte die Abschaffung des Mindestpreises zur Stützung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dem Gesetz zufolge sollten Verkauf und Preisgestaltung vom Markt bestimmt werden, so dass größere privatkapitalistische Agrarbetriebe und der Unternehmenssektor die Preise festlegen konnten. Die kleinen und mittleren LandwirtInnen waren sich darüber im Klaren, dass dies zu einem regelrechten wirtschaftlichen Massaker führen würde, mit Hortungen und anderen Taktiken der Modi-BefürworterInnen unter den Geschäftsleuten. In ähnlicher Weise forderten die LandwirtInnen die Rücknahme des Gesetzes, das die kostenlose Stromversorgung für Kleinbauern und -bäuerinnen beendete. Außerdem wollen sie, dass für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse faire Preise gesetzlich garantiert werden sollten. Solange diese Forderungen nicht erfüllt seien, würden sie ihren Sitzstreik fortsetzen. Dies zeigt das Bewusstsein der bäuerlichen Bewegung, das sie im Laufe des Kampfes gewonnen hat.

Obwohl die gegen die Bauern und Bäuerinnen gerichteten Gesetze angeblich im Namen der Abschaffung feudaler Verhältnisse auf dem Lande eingeführt wurden, haben sie in Wirklichkeit die Rolle der ZwischenhändlerInnen gestärkt, indem sie den Handel zwischen den Bundesstaaten zuließen und die Vorratshaltung lockerten. MilliardärInnen wie Mukesh Ambani und Gautam Adani, die laut Bloomberg-Index zu den reichsten Männern Asiens gehören, unterstützten Modis „Reformen“ eifrig, da sie eine erhebliche Steigerung der Gewinne aus der Landwirtschaft bedeuteten. Infolge dieser „Reformen“ sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen und die Lebenshaltungskosten für die ArbeiterInnen gestiegen. Die Lage der Armen in den Städten und auf dem Lande, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, wurde noch verschlimmert.

Wie weiter?

Die Ankündigung der Aufhebung war natürlich ein Grund zum Feiern, wurde aber auch mit Vorsicht genossen, da Modis Regierung die DemonstrantInnen oft betrogen hat, sobald sich ihre Mobilisierungen auflösten. Die Bauern und Bäuerinnen weigerten sich daher, Modis Aufforderung zur Beendigung der Blockaden nachzukommen. Sie erklärten, dass sie ihren Sitzstreik an der Stadtgrenze von Delhi fortsetzen würden, bis der Gesetzentwurf zur Aufhebung dieser Gesetze von der Lok Sabha (1. Kammer des indischen Parlaments) verabschiedet worden sei und andere Forderungen zur Sicherung der Einkommen der LandwirtInnen erfüllt worden seien.

Die Wahlen in Uttar Pradesh, Punjab (Pandschab) und anderen Bundesstaaten stellen den unmittelbaren Grund dafür dar, dass die Regierung Modi die Gesetze zurückgenommen hat. In diesen Bundesstaaten ist der Hass auf die Regierung Modi groß, weil die Änderungen schwerwiegende Auswirkungen auf die ArbeiterInnen und die Armen in Stadt und Land mit sich führen. Modi und seine Partei waren der Meinung, dass in dieser Atmosphäre des Zorns und Hasses große Wahlverluste zu erwarten wären.

Aus all dem wird deutlich, wie tief die bäuerliche Bewegung auch andere Schichten der Gesellschaft berührt hat. Dieser Sieg zeigt, dass weitere Kämpfe gegen die repressive Modi-Regierung möglich sind und gewonnen werden können.

Die Bauern und Bäuerinnen müssen nun gewarnt werden, dass die Modi-Regierung, selbst wenn sie diese Gesetze durch die Lok Sabha aufhebt, versuchen wird, sie in einem anderen Gewand wieder einzuführen, denn Indiens größter Gewinn für indische und ausländische MilliardärInnen ist die Landwirtschaft. Die Entwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft und eines Teils der KapitalistInnen, die sich auf diesen Sektor stützen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Strategie zur Entwicklung des indischen Kapitalismus und seiner Rolle in der Welt.

Nicht nur Modi blickt auf die bevorstehenden Wahlen. Die Kongresspartei und die reformistischen kommunistischen Parteien wollen nun den Erfolg der LandwirtInnen nutzen, um Sitze zu gewinnen. Letztere glauben, dass Modis Bharatiya Janata Partei (BJP; Indische Volkspartei) durch ein Wahlbündnis mit der Kongress-Partei besiegt werden kann. Diese Strategie ist aus zwei Gründen falsch. Erstens würde ein Wahlbündnis mit der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie nur eine politische Unterordnung unter die alternative Partei der KapitalistInnen bedeuten. Zweitens müssen die Wahlen als ein Mittel zur unabhängigen Mobilisierung der ArbeiterInnen und LandwirtInnen, der Frauen, der Jugend, der MuslimInnen und aller national und sozial unterdrückten Sektoren gegen die Herrschaft der BJP gesehen werden.

Der erfolgreiche Kampf der Bauern und Bäuerinnen, angeführt vom Allindischen Kisan Sangharsh Koordinationskomitee (AIKSCC), hat deutlich gemacht, dass nur eine kämpferische antineoliberale Bewegung, die in den unterdrückten Teilen der Gesellschaft verwurzelt ist und mit den ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und Armen in den Städten und auf dem Land verbunden ist, Modis höchst reaktionäre Regierung besiegen kann.

Nach der Niederschlagung der Unruhen in Delhi und der Bewegung gegen das Nationale BürgerInnenregister (NRC) und das StaatsbürgerInnenschaftsänderungsgesetz (CAA) im Jahr 2019 sowie der Inhaftierung von Anti-Hindutva-AktivistInnen hat sich die Bewegung der BäuerInnen zu einer starken Alternative zur Modi-Regierung entwickelt. Ihr Sieg ist ein großer Schritt nach vorn, aber es ist notwendig, sich mit den ArbeiterInnen, MuslimInnen und der Dalit-Bewegung (Angehörige der untersten Kasten) zusammenzuschließen, die zusammen mit anderen Forderungen der Bauern und Bäuerinnen den Kampf gegen die Modi-Regierung in Bezug auf das CCA, das Arbeitsgesetz, Kaschmir und andere Themen fortsetzen und ein alternatives Programm zu ihr anbieten.

Der Kampf gegen die Regierung und ihre neoliberale Politik muss sich über die vom indischen Kapitalismus gesetzten Grenzen hinaus auf alle grundlegenden Verbesserungen bei Löhnen, Bildung und Gesundheitsdiensten ausweiten, ganz zu schweigen von den Rechten der Frauen und der national, religiös und rassistisch Unterdrückten. Es ist klar, dass Modis Regierung besiegt werden kann, aber dafür braucht die ArbeiterInnenklasse eine politische Partei mit einem Programm, das die heutigen Auseinandersetzungen in einen Kampf gegen den Kapitalismus verwandeln kann.




Indien und Pakistan beweisen: ein globaler Plan gegen Covid-19 ist notwendig!

Minerwa Tahir, Infomail 1150, 24. Mai 2021

Während sich die zweite Welle der Virusausbreitung von Covid-19 für Indien in großem Ausmaß als tödlich erweist, scheint sich die Situation in Pakistan, wenn auch in kleinerem Ausmaß, zu verschlimmern. Beide Staaten haben ihr Bestes getan, um einen landesweiten Lockdown gegen den Rat von GesundheitsexpertInnen zu verhindern. Infolgedessen werden täglich Tausende weitere Menschen infiziert, und was hier geschieht, wiederholt sich in halbkolonialen Ländern auf der ganzen Welt.

Indien

Gemeldete Zahlen zeigen über 25 Millionen Fälle in Indien, mit mehr als 280.000 Toten. ExpertInnen sagen, dass die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher liegt. Selbst mit den veröffentlichten Werten steht Indien nach den USA mit der zweithöchsten Zahl an Fällen in der Welt da. Berichten zufolge sind einige Krematorien im Bundesstaat Gujarat so überlastet, dass die Metallstrukturen der Öfen schmelzen oder brechen. Der Grund? Sie sind rund um die Uhr in Betrieb, weil die Leichen inmitten der Pandemie bergeweise anfallen.

Viele Menschen kämpfen sogar darum, die Mittel zu finden, um ihre Angehörigen einzuäschern. Hunderte von Leichen wurden im Ganges treibend oder im Sand seines Ufers begraben gefunden. Dies ist besonders besorgniserregend. Obwohl einige Hindu-Gemeinschaften die Leichen von Kindern, unverheirateten Mädchen oder solchen, die an ansteckenden Krankheiten gestorben sind, im Fluss treiben lassen, gibt es eine steigende Zahl von armen Hindus, die sich angesichts der rasant steigenden Zahl von Todesfällen einfach keine Einäscherung leisten können. Deshalb wickeln sie den Leichnam in weißen Musselin und schicken ihn in die Gewässer des Ganges. Dadurch kann der Fluss potenziell vergiftet werden.

Engpässe bei Sauerstoff und Krankenhausbetten sind an der Tagesordnung. Diejenigen aus den besitzenden Klassen können es sich leisten, extra zu zahlen, um an die knappen Sauerstoffflaschen und Medikamente zu kommen. Ein stets unzureichendes Gesundheitssystem bedeutet jedoch, dass es nur eine begrenzte Anzahl an Krankenhäusern gibt. Man kann so viel Geld haben, wie man will, aber was nützt das, wenn keine Gesundheitseinrichtungen vorhanden sind? In der Zwischenzeit wird die große Mehrheit der ArbeiterInnenklasse und der unteren Schichten einfach im Stich gelassen und muss zusehen, wie ihre Angehörigen sterben. Natürlich wurde und wird der Ernst der Lage von der Regierung heruntergespielt.

Bisher sind nur etwa 26 Millionen Menschen in Indien vollständig geimpft worden, bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden, während etwa 124 Millionen eine erste Dosis erhalten haben. Indien hat zwar Millionen weiterer Dosen bestellt, aber das Land ist noch weit von dem entfernt, was es braucht. Es hat den weltweit größten Impfstoffhersteller, das Serum Institute of India (Seruminstitut Indiens), doch nur 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben die erste Dosis erhalten und nur 2 Prozent sind vollständig geimpft. Nachdem mehr als 66 Millionen Dosen gespendet oder als Export verkauft wurden, wurde erst im März dieses Jahres die Gier der Unternehmen mit einem Exportstopp für Impfstoffe vorübergehend eingedämmt. Dennoch gehörte das Serum-Institut zu den 418 indischen Unternehmen, die 2019–2020 einen Umsatz von umgerechnet mehr als 55 Milliarden Euro meldeten. Es war auch das Unternehmen, das den höchsten Nettogewinn für jede Rupie Umsatz erwirtschaftete.

Pakistan

Auch die Situation in Pakistan ist besorgniserregend. Die offizielle Zahl der Todesfälle liegt bei 19.617, während die Gesamtzahl der Fälle 880.362 beträgt. Die veröffentlichte Statistik wies in der ersten Märzwoche 16.000 Schwererkrankungen aus und stieg allein im April auf mehr als 140.000 an, dazu kommen über 3.000 Todesfälle. Laut BBC zeigen offizielle Daten, dass die Bettenbelegung in den Intensivstationen der großen öffentlichen und privaten Krankenhäuser in Lahore am 28. April bereits bei über 93 Prozent lag, während in einigen Großstädten der größten und am schlimmsten betroffenen Provinz Punjab die Auslastung von Beatmungsgeräten und Betten mit Sauerstoff über 80 Prozent betrug. Sollte die Zahl der Infektionen steigen, wird nicht nur die Bettenknappheit ein Problem sein. Das Land verbraucht bereits 90 Prozent seines Sauerstoffvorrats, wobei mehr als 80 Prozent auf die Gesundheitsversorgung entfallen.

Die Ober- und Mittelschicht hat inzwischen begonnen, ihre Kontakte zu nutzen, um nicht nur private Krankenhäuser, sondern auch staatliche Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen, wenn erstere ausgelastet sind. Auf diese Weise werden die ArbeiterInnenklasse und die Armen weiter von der Behandlung ausgeschlossen. Darüber hinaus gibt es Berichte, dass die Regierung absichtlich weniger Tests durchführt und Menschen trotz eindeutiger Symptome nicht untersucht, um den Ernst der Lage herunterzuspielen. Dies bedeutet, dass die verarmten Massen weiterhin an dem Virus sterben werden, die Ursache ihres Todes aber nicht offiziell anerkannt wird.

Nach Angaben des Sonderassistenten des Premierministers für Gesundheit hat Pakistan seit dem 2. Februar etwas mehr als zwei Millionen Impfdosen ausgegeben. Das sind gerade einmal 0,95 Dosen pro hundert Menschen. Dies ist offensichtlich unzureichend. Indien, das sein Impfprogramm im Januar begonnen hat, hat mehr als 144 Millionen Dosen appliziert, was ungefähr 10,5 Dosen pro hundert Menschen entspricht.

Pakistan, mit einer Bevölkerung von über 220 Millionen Menschen, hat bisher nur 18 Millionen Dosen gesichert, von denen es nur etwas mehr als fünf Millionen erhalten hat. Nach den vom Duke Global Health Innovation Centre zusammengestellten Daten benötigt das Land mindestens 86 Millionen Dosen. Die Economist Intelligence Unit (Forschungs- und Analyseunternehmen der Zeitschrift The Economist) sagt in ihrem Bericht, dass Pakistan erst Anfang 2023 eine flächendeckende Impfung, also 60–70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, erreichen wird.

Halbkoloniale Länder und Pandemie

Die Situation in halbkolonialen Ländern wie Indien und Pakistan stellt eine Gefahr nicht nur für die beiden Länder, sondern für die ganze Welt dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Land neue Varianten entstehen, steigt mit wachsender Zahl der Covid-Fälle. Jede einzelne Infektion gibt dem Virus die Chance, sich weiterzuentwickeln. Eine große Sorge ist, dass Mutationen entstehen könnten, die Impfstoffe unwirksam machen. In diesem Szenario sind die Abriegelung nicht lebensnotwendiger Industrien, soziale Distanzierung und Impfungen der einzige Weg.

Während Länder wie Indien und Pakistan keine Chance haben, eine effektive Impfung ihrer riesigen Bevölkerung aus eigener Kraft zu gewährleisten, sind ihre Regierungen auch nicht an einer Schließung der nicht lebensnotwendigen Industrie interessiert. Der indische ÄrztInnenverband sagte Anfang des Monats, dass eine „vollständige, gut geplante und im Voraus angekündigter nationaler Lockdown“ für 10 bis 15 Tage dem überlasteten Gesundheitssystem des Landes Zeit geben würde, „sich zu erholen und sowohl das Material als auch die Arbeitskräfte wieder zu ergänzen“, die es braucht.

In ähnlicher Weise haben auch GesundheitsexpertInnen in Pakistan die Bedeutung eines Shutdowns betont. Beide Regierungen bestehen darauf, dass eine solcher die letzte Option wäre. Premierminister Imran Khan würde gerne warten, bis die Umstände „die gleichen wie in Indien“ werden. Angesichts von mehr als 280.000 toten InderInnen fragt man sich, wann die Zeit für die von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführte Regierung reif wäre, die sogenannte letzte Option umzusetzen.

Zynismus, Überausbeutung und Repression

Beide Premierminister, Khan und Modi, benutzen zynisch das Leiden der einfachen werktätigen Massen als Vorwand, um Aussperrungen zu verhindern. Es ist sicherlich wahr, dass die ArbeiterInnenklasse, insbesondere ihre schwächsten Schichten, schwer leidet, da sie keine Mittel hat, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen oder für Miete und andere Ausgaben aufzukommen. Aber beide Staaten übernehmen keinerlei Verantwortung, wenn es darum geht, in solch schwierigen Zeiten für die Bedürfnisse der Massen zu sorgen. Sie wenden alles auf, um der KapitalistInnenklasse Hilfspakete zu geben, aber sie haben nichts für die Massen übrig.

Der Grund für den Widerstand gegen den Shutdown der nicht lebensnotwendigen Industrie ist einfach die Wahrung der Interessen des Kapitals. Während Ereignisse wie die Kumbh Mela (größtes hinduistisches Fest) sicherlich zu dem enormen Anstieg der Fallzahlen beigetragen haben, werden jeden Tag ArbeiterInnen in beengte AusbeuterInnenbetriebe gezwungen, um Profit für die KapitalistInnenklasse zu machen. Wir finden kaum JournalistInnen, der über diese täglichen Superinfektion sprechen.

In Indien und Pakistan ist ein massives Durchgreifen gegen demokratische Freiheiten im Namen von Maßnahmen gegen das Virus im Gange. Beide Staaten haben ihre militärischen Kräfte noch weiter ermächtigt, um Einschränkungen durchzusetzen. Dies geschieht nicht aus tatsächlicher Sorge um das Leben der Menschen, sondern um im Falle eines Aufstandes, der aufgrund der kriminellen Nachlässigkeit der Regierungen ausbricht, diesen im Keim zu ersticken. Die BJP-geführte Regierung hat im vergangenen Jahr bereits zwei Generalstreiks gegen ihre neoliberale, arbeiterInnen- und bäuerInnenfeindliche Politik erlebt.

Unterdessen läuft die chauvinistische Rhetorik gegen Pakistan seitens der BJP weiter. Der pakistanische Premierminister bot Indien am 25. April angesichts der Covidkrise Unterstützung an. Edhi, eine bekannte Wohltätigkeitsorganisation in Pakistan, erklärte sich ebenfalls bereit, angesichts der steigenden Covid-19-Fälle im Land medizinische Hilfe zu schicken. Modis hindunationalistische BJP-Regierung lehnte diese Angebote mit der Begründung ab, dass sie keine Hilfe von der „feindlichen Nation“ annehmen werde.

Höchstwahrscheinlich hat die pakistanische Regierung mit einer solchen Reaktion gerechnet und deshalb das Angebot gemacht. Realistisch betrachtet verfügt Pakistan nicht über die Mittel, sich um die Gesundheitsversorgung der eigenen Bevölkerung zu kümmern, geschweige denn einer so großen Population wie der Indiens zu helfen. Dennoch sind solche Manöver für die indische und pakistanische herrschende Klasse nützlich, da sie helfen, den nationalistischen Hass und Chauvinismus auf beiden Seiten am Leben zu erhalten.

Kerala

Schließlich hat das Beispiel des indischen Bundesstaats Kerala veranschaulicht, was auch unter dem Kapitalismus getan werden könnte, um die Auswirkungen der Pandemie zu mildern. Dort hat die reformistische Regierung der Linken Demokratischen Front, einer von der Communist Party of India – Marxist (CPI-M) dominierten Koalition, einen kommunalen Gesundheitsdienst eingerichtet und Regierungsbefugnisse genutzt, um die Reaktion auf die Pandemie zu unterstützen. Das Ergebnis: Während der größte Teil Indiens in Notstand geriet, herrschte in dem Bundesstaat kein Mangel an Sauerstoff, weil im Oktober letzten Jahres entsprechende Maßnahmen ergriffen wurden.

Außerdem beschaffte sie rechtzeitig ausreichende Vorräte an Remdesivir und Tocilizumab und anderen Medikamenten. Diese können die Infektion zwar nicht verhindern, aber die Sterblichkeitsrate durch das Virus drastisch senken. Als die Pandemie fortschritt, wurden diese Arzneimittel später zu exorbitanten Preisen auf dem Schwarzmarkt in der Hauptstadt und anderen Städten verkauft. Letzte Woche gab Kerala 100.000 unbenutzte Fläschchen mit Remdesivir an das Verteilerzentrum zurück, um sie an andere bedürftige Bundesstaaten auszuliefern.

Obwohl Kerala sicher kein kommunistisch regierter Staat ist, hat seine Strategie einen bedeutenden Einfluss auf die Eindämmung der Ausbreitung des Virus gehabt. Sie steht nicht nur in scharfem Kontrast zur Politik der Zentralregierung, sondern ist auch ein Hinweis darauf, was nötig ist, um mit einer so großen Krise umzugehen. Es müssen alle Ressourcen der Gesellschaft mobilisiert werden, unabhängig von Patenten, Profiten oder Eigentumsrechten. Wir brauchen eine Regierung, die wirklich die Interessen der Massen vertritt, ihnen gegenüber direkt rechenschaftspflichtig ist und die effiziente Verteilung der Ressourcen planen kann.

Wir brauchen zwar eine Koordination auf Landes- und Provinzebene, aber es bedarf einer zentralen Planung nicht nur für einzelne Länder, sondern auch zwischen ihnen. Die Notlage der Massen in der halbkolonialen Welt, wenn es um Impfstoffe geht, in Verbindung mit dem Horten und Überangebot von Impfstoffen in den imperialistischen Ländern, unterstreicht die Notwendigkeit einer demokratischen Planung auf globaler Ebene.

Forderungen

Einige Forderungen, die wir in diesem Szenario vorbringen sollten, sind:

  • Die imperialistischen Länder müssen von den ArbeiterInnenbewegungen gezwungen werden, die Verantwortung für die Bezahlung von Massenimpfungen und Behandlungen in halbkolonialen Ländern wie Indien und Pakistan zu übernehmen! Großbritannien und Australien haben sich beide dreimal mehr Impfstoffe gesichert, als ihre gesamte Bevölkerung benötigt. Das Horten von Impfstoffen muss sofort aufhören.
  • Streichung aller Schulden der halbkolonialen Länder! Die Regierungen Pakistans und Indiens müssen sich weigern, Schulden an alle imperialistischen Länder, an lokale und internationale Unternehmen und Banken sowie an internationale Finanzinstitutionen zurückzuzahlen. Die in den Haushalten eingestellten Mittel für den Schuldendienst müssen für die sofortige und kostenlose Versorgung mit Impfstoffen, Medikamenten, Sauerstoff und Betten sowie Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal verwendet werden.
  • Die ArbeiterInnenorganisationen und -bewegungen in den imperialistischen Ländern müssen Proteste rund um das Thema Schuldenerlass organisieren und es politisieren! Mit Verschuldung sind fast alle Halbkolonien konfrontiert, also müssen wir transnationale Bewegungen aufbauen, um die Schulden zu streichen. Internationale Solidarität ist der Weg nach vorn.
  • Große Hotels, Privatschulen und Luxusanlagen müssen in kostenlose und öffentliche Quarantäneeinrichtungen umgewandelt werden! Einrichtungen, die sich weigern, müssen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.
  • Schließung von nicht lebensnotwendigen Industrien ! Alle Unternehmen müssen die ArbeiterInnen bei vollem Lohn nach Hause schicken. Unternehmen, die sich weigern, müssen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.
  • Bereitstellung von kostenloser Schutzausrüstung, häufigen Tests und Rotationspläne für alle ArbeiterInnen in notwendigen Bereichen!
  • Öffnung der Geschäftsunterlagen aller Unternehmen, um ihre tatsächliche Bilanz einzusehen! Es muss eine progressive Besteuerung der Reichen eingeführt werden, um das Leben der einfachen Massen zu retten, indem nicht nur eine kostenlose Gesundheitsversorgung, sondern auch kostenlose Lebensmittel bereitgestellt werden.
  • Kostenlose Versorgung mit Strom, Gas und Wasser für alle!
  • Verweigerung der Mietzahlung, bis die Pandemie vorbei ist! Wir müssen MieterInnengewerkschaften aufbauen, was in Verbindung mit dem Mietboykott zur Notwendigkeit der Verstaatlichung des Wohnungssektors führen sollte. Wir fordern vom Staat die Einführung einer Gesetzgebung, die die Zwangsräumung von Menschen, die ihre Mieten während der Pandemie nicht zahlen können, unter Strafe stellt.
  • Alle Bildungseinrichtungen sind sofort zu schließen! Das Lehrpersonal soll mit einer angemessenen Ausbildung ausgestattet werden, um kostenlos Online-Unterricht zu erteilen! Allen SchülerInnen und LehrerInnen sind kostenloses Internet und kostenlose Geräte zum Online-Lernen durch öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen!
  • Erhöhung der Haushalte für Gesundheit und Bildung auf jeweils 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch Kürzung des Militärbudgets!
  • Recht auf Versammlung für Proteste und Demos! Die ArbeiterInnenklasse muss sich durch Sicherheitsmaßnahmen schützen. Wir können nur für unsere Zukunft kämpfen, wenn wir leben. Deshalb sind soziale Distanzierung, Masken und Händewaschen notwendige Maßnahmen.
  • Der Staat muss allen Bedürftigen ein Mindestmaß an Lebensmittelrationen (oder Geld dafür) zur Verfügung stellen!
  • Öffentliche Kontrolle und Transparenz über alle auf Covid-bezogenen Wohltätigkeitsorganisationen und Spendenaktionen!
  • Patentrechte für Impfstoffe und Arneimittel müssen sofort abgeschafft werden!
  • Entschädigungslose Enteignung aller große Pharmafirmen wie des Seruminstituts Indiens. Es darf ihnen nicht mehr erlaubt werden, vom Elend der Menschheit zu profitieren. Macht die Technologie und das Know-how für die Impfstoffproduktion zugänglich, um die Produktion weltweit zu maximieren! Die große Pharmaindustrie muss unter ArbeiterInnenkontrolle zwangsweise verstaatlicht werden.



Indien: Einheit von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen kann Modis neoliberalen Anschlag aufhalten

Bernie McAdam, Infomail 1137, 3. Februar 2021

Indische Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen führen einen massiven Kampf zur Aufhebung von drei Agrargesetzen, die im September vom Parlament verabschiedet wurden und die ländliche Wirtschaft deregulieren und weiter privatisieren. In diesem Kampf haben sie die Unterstützung der indischen ArbeiterInnenklasse, die im November erneut ihren eigenen geschichtlichen Rekord für den größten eintägigen Generalstreik brach.

Über 300.000 Bauern und Bäuerinnen und ihre UnterstützerInnen campierten an den Grenzen von Neu-Delhi. Sie leisten Widerstand gegen die bauern-/bäuerinnenfeindlichen Gesetze von Premierminister Narendra Modi. Am 26. Januar stieß ein Marsch mit Tausenden von Traktoren an der Spitze in Delhi mit der Polizei zusammen, als die DemonstrantInnen die Absperrungen um das historische Rote Fort (Festungs- und Palastanlage aus der Epoche des Mogulreiches, erbaut 1639–1648; d. Red.) durchbrachen. Modi hat versucht, die „Gewalt“ zu skandalisieren, um die enorme öffentliche Unterstützung zu schwächen, die die Protestbewegung insbesondere seitens der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse genießt.

Zur Zeit der Grünen Revolution in den 1950er und 1960eår Jahren führte die Regierung der Kongresspartei einen garantierten „Mindeststützungspreis“ oder MSP ein, vor allem für Reis und Weizen, die über von den Bundesstaaten betriebene Agrarmärkte, sogenannte Mandis, verkauft wurden. Modi sieht in diesem System ein Hindernis für die vollständige Kapitalisierung der Landwirtschaft und die Vertreibung der „überschüssigen“ Bevölkerung vom Lande. Es wurden bereits Sonderwirtschaftszonen geschaffen, indem der Staat Land für die industrielle Entwicklung an sich gerissen hat. Aber sie beinhalten auch Luxuswohnungen für die wachsende Mittelschicht des Landes mit Golfplätzen und Privatgärten, wo einst Dörfer standen.

Modis Regime und die Hindutva-Ideologie

Dieser jüngste Kampf gegen Modis hindu-chauvinistische Regierung findet vor dem Hintergrund einer zerstörten Wirtschaft und einer brutalen und schlecht geführten Reaktion auf die Pandemie statt. Während der anfänglichen Abriegelung im März 2020 waren Zehntausende von WanderarbeiterInnen gezwungen, Hunderte von Kilometern zu ihren Heimatdörfern zu laufen, da jeglicher Transport gestoppt wurde. Die Arbeitslosigkeit schoss auf 24 % empor! Die Zahl der Covid-Infektions- und der Todesfälle ist in die Höhe geschnellt, obwohl viele ungezählt bleiben, da mehrere indische Bundesstaaten entgegen dem Rat der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Verdachtsfälle nicht in die endgültige Zählung einbeziehen.

Als Modis Regime 2014 gewählt wurde, wurde sein Sieg mit nur 30 % der Stimmen, aber einem Erdrutschsieg an Sitzen dank des undemokratischen Mehrheitswahlrechts gesichert. Das Großkapital gab Modi seinen Segen, weil es glaubte, dass er eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt anführen könnte, um mit den Leistungen Chinas zu konkurrieren und zum zweiten wirtschaftlichen Kraftzentrum Asiens zu werden.

Modis Hintergrund ist die Rashtriya Swayamsevak Sangh, (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS), eine paramilitärische rechtsgerichtete hindu-nationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager hat. Sie entstand in den 1920er Jahren als eine antibritische, aber streng hinduistische und anti-muslimische Gruppe. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute eine Mitgliederzahl von 5 bis 6 Millionen haben. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hindu-Organisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP ihre politische Vertreterin ist.

Die RSS basiert auf einer Ideologie der religiösen Vorherrschaft, Hindutva, die das zweitbevölkerungsreichste Land der Erde mit einer Bevölkerung von 1,36 Mrd. Menschen in einen verheerenden kommunalistischen Konflikt zu stürzen droht. Sie kämpft für einen Hindu Rashtra (Hindu-Staatswesen) in einem Land mit 200 Mio. MuslimInnen und 30 Mio. Christen und verurteilt diese zu einem Status zweiter Klasse, ebenso wie sie für eine verstärkte Unterdrückung von Dalits, der indigenen Bevölkerung des Subkontinents, von Frauen und sexuellen Minderheiten eintritt. Als Modi Ministerpräsident von Gujarat war, wurde er weithin beschuldigt, die antimuslimischen Unruhen von 2002 geschürt zu haben, bei denen über 1.000 MuslimInnen ermordet wurden. Selbst US-Präsident Bush (jun.) verweigerte ihm daraufhin die Einreise in die Vereinigten Staaten. Doch Obama machte dies bald wieder rückgängig, nachdem Modi 2014 Premierminister wurde.

Hindutva verkörpert das geänderte BürgerInnenschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act, CAA), das 2019 verabschiedet wurde. Dieses erlaubt es MigrantInnen jeder anderen Religion als dem Islam, indische StaatsbürgerInnen zu werden. In Kombination mit dem Nationalen BürgerInnenregister könnte es die gesamte Grundlage der indischen StaatsbürgerInnenschaft verändern und möglicherweise Millionen von MuslimInnen entrechten. Der Bundesstaat Assam mit seiner großen Einwanderungsbevölkerung hat die Übung bereits hinter sich. Er ist einer der ärmsten Staaten, in dem viele BürgerInnen keine Ausweispapiere haben und von Inhaftierung und „Staatenlosigkeit“ bedroht sind. Schon jetzt sind viele Menschen, die in Assam geboren wurden, von der Registrierung ausgeschlossen worden.

Die Reaktion auf diesen Angriff waren weit verbreitete Proteste in ganz Indien aus allen Schichten, insbesondere an den Universitäten. Dies wurde mit Polizeibrutalität und Todesfällen von DemonstrantInnen beantwortet. Im selben Jahr entzog Modi dem muslimischen Staat Jammu und Kashmir die begrenzte Autonomie, die er hatte. Die indische Armee verstärkte ihre Besatzung, und der Ausnahmezustand wurde ausgerufen. Proteste wurden brutal niedergeschlagen. In jüngster Zeit haben acht Bundesstaaten Anti-Konversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindu-Frauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden.

Es ist wichtig, die wirklichen Elemente des Faschismus innerhalb der Sangh-Parivar-Bewegung und der BJP zu erkennen. Es ist klar, dass die RSS auf eine lange Geschichte der Organisation von Pogromen gegen MuslimInnen zurückblickt, sie ist eine paramilitärische Organisation und verfügt über eine Massenbasis von „kulturellen“ und sportlichen Organisationen. Sie ist auch eng mit staatlichen Kräften verbunden. Bei den letztjährigen Unruhen in Delhi handelte es sich überwiegend um Angriffe auf muslimische Gebiete durch Hindu-Mobs, wobei es viele Berichte über die Beteiligung der Polizei gab. Die meisten der 53 Toten waren Muslime, und der Auslöser scheint ein BJP-Führer gewesen zu sein, der die Polizei aufforderte, die Straßen zu räumen, nachdem ein Sitzstreik von Frauen gegen das CAA stattgefunden hatte.

Modis wirtschaftliche Strategie

Während dies charakteristisch für Modis Hindutva-Politik ist, war sein strategisches Ziel immer, den indischen Kapitalismus entlang von Linien zu rationalisieren, die für das Großkapital akzeptabel sind. Der Druck für Veränderungen entlang dieser Linien beschleunigte sich nach der globalen Krise 2008, was zu massiven Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse und die Bauern-/Bäuerinnenschaft führte. Dazu gehören vor allem die zahlreichen neuen Arbeitsgesetze, die darauf abzielen, große globale Produktionsunternehmen nach Indien zu locken, insbesondere solche, die China meiden wollen.

Es wurden gesetzliche Bestimmungen zu Löhnen, Arbeitsschutz, Arbeitsbeziehungen und sozialer Sicherheit erarbeitet, die 44 bestehende Gesetze umfassen. Ein Beispiel ist ein neues Arbeitsgesetz, das die sofortige Entlassung von bis zu 300 Arbeitskräften ohne weitere Erklärung und ohne Zustimmung der Behörden erlaubt. Zuvor war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen festgelegt. Die Gesetze beschneiden die Rechte der ArbeiterInnen, verlängern den Arbeitstag, öffnen den Weg für weitere Privatisierungen und geben den Bossen mehr Freiheiten im Streben nach Profiten.

Neben diesen arbeiterInnenfeindlichen Gesetzen hat Modi seine Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung ausgeweitet, indem er die Bauern und Bäuerinnen ins Visier nahm. Die LandwirtInnen fordern die Aufhebung von drei Gesetzen, die im vergangenen September verabschiedet wurden. Die Gesetze erlauben es Konzernen, Ernten ohne Gebühren oder Steuern zu Marktpreisen aufzukaufen und damit den von der Regierung festgelegten Mindeststützungspreis zu beenden. Dies würde dazu führen, dass Konzerne Rohstoffe in unbegrenzten Mengen horten und dadurch die Preise manipulieren können.

Ähnlich fordern die LandwirtInnen die Rücknahme des Stromänderungsgesetzes. Damit wird die Versorgung der Bauern und Bäuerinnen mit kostenlosem Strom gestoppt. Sie fordern auch die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien (114.000 Euro) für LandwirtInnen vorsieht, die keine Alternative zu der traditionellen Art haben, ihre Felder mit Feuer zu roden. Diese Reformen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Historische Generalstreiks

Die Antwort zahlreicher regionaler und gewerkschaftlicher Organisationen auf diese neuen drakonischen Gesetze war der Aufruf zu einem Generalstreik am 26. November 2020, der zum größten aller Zeiten geriet. Über 250 Millionen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen schlossen sich dem eintägigen Streik an und legten die Wirtschaft lahm. Es war der zweite Generalstreik in diesem Jahr. ArbeiterInnen des öffentlichen und privaten Sektors schlossen sich zusammen mit vielen bäuerlichen Gewerkschaften und StudentInnen, während im ganzen Land Demonstrationen und Kundgebungen stattfanden.

Über 250 bäuerliche Organisationen, die im Allindischen Bauern-/Bäuerinnen-Kampfkoordinationskomitee zusammengeschlossen sind, unterstützten den Generalstreik, und die Gewerkschaften halfen bei der Mobilisierung der Bauern/Bäuerinnen „Chalo Delhi“ (Geh nach Delhi!) am 26. und 27. November. Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen, die in 31 Gewerkschaften organisiert sind, schlossen sich diesem Marsch an, gestärkt durch Studierende und TransportarbeiterInnen.

Anfang Dezember blockierten zwischen 150 und 300 Tausend die Hauptstadt Delhi, mit Unterstützung von Kongress- und Kommunistischen Parteien. Polizei und paramilitärische Kräfte haben den Marsch wiederholt angegriffen, mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern.

Viele der LandwirtInnen kommen aus dem Punjab (Pandschab) und Haryana, aber es gab Proteste und Unterstützung von Bauern und Bäuerinnen aus dem ganzen riesigen Land, auch aus dem westlichen Teil Uttar Pradeshs, aus Kerala und Tamil Nadu. Zwei Monate später kommen die Bauern und Bäuerinnen und ihre Familien immer noch an. An den verschiedenen Grenzen Delhis wurden Lager mit Langars (Gemeinschaftsküchen) eingerichtet. Über 50 Todesfälle sind zu beklagen, aufgrund von Erkältung, Herzinfarkten und sogar Selbstmorden.

Trotz der Versuche der Regierung, die DemonstrantInnen als „TerroristInnen“, MaoistInnen oder SeparatistInnen abzustempeln, hat die Bewegung ein erstaunliches Maß an Solidarität zwischen den Gemeinschaften und Kasten gezeigt. Sie begann mit Sikh-Bauern/-Bäuerinnen und -ArbeiterInnen, mobilisierte aber bald Hindus und MuslimInnen in ganz Indien. Die Hauptlosung des Marsches laute „Kisan Mazdoor Ekta Zindabad“, es lebe die Einheit von Bauern/Bäuerinnen und ArbeiterInnen, was auch die Solidarität zwischen den Jats, einer Gemeinschaft, die in Pandschab 25 Prozent der Bevölkerung ausmacht, aber den größten Teil des Landes besitzt, und den Dalits (zur Kaste der Unberührbaren zählend), die 32 Prozent der Bevölkerung Pandschabs stellen, aber nur 2,3 Prozent des urbaren Bodens besitzen und meist LandarbeiterInnen sind, zum Ausdruck bringt. In der Vergangenheit gab es scharfe Kämpfe zwischen Jats und Dalits um den Zugang zu kommunalem Land.

Am 26. Januar 2021 fuhr ein riesiger Marsch, darunter Tausende von Traktoren und Motorrädern, am Tag der Republik in Delhi ein und durchbrach die Polizeisperren, wobei einige in das berühmte Rote Fort eindrangen. Die DemonstrantInnen kehrten in die Camps zurück, aber die Presse startete eine hysterische Kampagne, in der die Bauern und Bäuerinnen für die Gewalt verantwortlich gemacht wurden. Dies bereitet den Boden für einen staatlichen Angriff auf die Camps.

Nach dem Traktorenmarsch befahl die Landesregierung den DemonstrantInnen, das Lager in Ghazipur (Stadt im Osten Uttar Pradeshs) zu räumen und schickte die Bereitschaftspolizei. Nach einem Patt zog sich die Polizei zurück. Im Singhu-Lager (Dorf in Haryana nahe Delhi) griffen 200 Männer der Hindu Sena (Hindu-Armee), einer rechtsextremen Hindu-ChauvinistInnengruppe, die Bauern und Bäuerinnen mit vermuteter Duldung der Polizei an, wurden aber von den Lagernden zurückgeschlagen.

Offensichtlich nähert sich der Kampf einer kritischen Phase. Die Regierung hat die Verhandlungen endlos in die Länge gezogen, in der Hoffnung, dass sich Demoralisierung und Müdigkeit einstellen. Gerade jetzt ist es notwendig, dass die ArbeiterInnenklasse und ihre Gewerkschaften eine Führung in dieser Krise anbieten; eine, die über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgeht. Es muss einen gemeinsamen und dauerhaften Widerstand gegen die landwirtInnen- und arbeiterInnenfeindlichen Gesetze geben, kombiniert mit einem Kampf gegen niedrige Löhne und die Auswirkungen der Pandemie.

Die Gewerkschaften müssen einen unbefristeten politischen Generalstreik organisieren, der die Wirtschaft lahmlegen kann, bis Modi einlenkt. Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen sollten Aktionsräte am Arbeitsplatz und in den Dörfern/Bezirken einrichten, die einen solchen Streik demokratisch organisieren und leiten können. Demokratische Gremien wie diese können aus den riesigen Reserven der Wut auf Modi und die großkapitalistischen und multinationalen LandräuberInnen schöpfen. Sie können zu einem Sammelpunkt gegen alle Formen der Unterdrückung werden, einschließlich der durch Kaste und Nation. Sie können eine Barriere gegen all jene sein, die kommunalistischen Hass schüren.

Angesichts der staatlichen Repression und der hindu-chauvinistischen Angriffe ist es unerlässlich, dass eine angemessene Selbstverteidigung auf interkommunaler Basis organisiert wird. Wenn dies geschieht, kann die Bewegung die bedingungslose Rücknahme von Modis Gesetzen und auch seiner arbeiterInnenfeindlichen Maßnahmen erzwingen. Sie könnte dann in die Offensive gehen und sich selbst aufmachen, um Modi zu stürzen und den Weg für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnen-Regierung zu öffnen, die Indiens Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungssektor auf demokratisch geplanter Basis entwickeln kann.




Indien: Marsch der Bauern und Bäuerinnen entfacht neue Massenbewegung gegen Modi

Imran Javlad, Infomail 1132, 22. Dezember

Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen aus ganz Indien starteten am 25. November auf Initiative des allindischen Sangharsh-Kisan-Koordinationskomitees, das aus 300 bäuerlichen Organisationen besteht, den Delhi-Chalo-(Lasst uns nach Delhi gehen)-Marsch. Der Marsch wurde von LandarbeiterInnen, TransportarbeiterInnen und wichtigen Sektoren der ArbeiterInnenklasse unterstützt.

Hunderttausende haben sich ihm angeschlossen, mit dem Ziel, Delhi zu einer Massenkundgebung zu erreichen und die Aufhebung der neuen Gesetze zu fordern, die Kleinbauern und -bäuerinnen, LandarbeiterInnen und die Masse der Landbevölkerung zugunsten der GroßkapitalistInnen weiter verarmen lassen werden. Polizei und paramilitärische Kräfte griffen die DemonstrantInnen wiederholt mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern an und verletzten mehrere von ihnen.

Dies hat ihre Entschlossenheit nicht gebrochen. Zwischen dem 28. November und dem 3. Dezember blockierten schätzungsweise 150 bis 300 Tausend Bauern und Bäuerinnen Delhi im Rahmen des Delhi Chalo. Sie riefen für den 8. Dezember zu einem Stillstand in Indien auf. Elf Oppositionsparteien, darunter die Kongresspartei und die Kommunistische Partei, schlossen sich diesem Aufruf an.

Der bäuerliche Streik wird von ArbeiterInnenorganisationen, Studierenden und Frauen aus dem ganzen Land unterstützt, und es wurden Proteste in Solidarität mit dem Sitzstreik der Landbevölkerung organisiert. Bei vielen Gelegenheiten wurde die Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, mit Slogans für Freiheit und Revolution den Kampf fortzusetzen, bis die Forderungen angenommen sind. Auch TransportarbeiterInnen haben sich dem Sitzstreik angeschlossen, so dass weitere Straßen in Richtung Delhi gesperrt werden.

Die Modi-Regierung hat nicht nur versagt, diesen Marsch zu stoppen, sondern ihre gesamte Verteilungs- und Regierungspolitik ist gescheitert und entlarvt worden. Die Gespräche von Landwirtschaftsminister Narendra Singh Tomar mit den Bauern/Bäuerinnen waren bisher erfolglos, trotz der ständigen Regierungspropaganda in den Medien, die behauptet, die neuen Gesetze würden die Entwicklung und das Wohlergehen der Gesellschaft fördern.

Ziele

Der Delhi-Chalo-Marsch und der Sitzstreik der Bauern und Bäuerinnen richten sich gegen die Einführung neoliberaler Gesetze durch die indische Regierung im Namen von Reformen, die sie der Gnade der Agrar- und FinanzkapitalistInnen ausliefern werden. Die Bauern und Bäuerinnen fordern die Abschaffung von drei umstrittenen Gesetzesvorlagen, die den Mindeststützungspreis abschaffen würden. Dieser Preis, der von der Regierung festgelegt wird, sichert einen Mindestpreis für die heimischen Agrarprodukte. Nach dem neuen Gesetz wird der Verkauf und die Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten den Marktkräften unterliegen und den Preisen, die das Privatkapital und der Unternehmenssektor zu zahlen bereit sind. Dies wird wahrscheinlich zu einem wirtschaftlichen Massaker an kleinen LandwirtInnen durch Horten von Produktion und andere Mittel führen.

In ähnlicher Weise fordern die Bauern und Bäuerinnen die Rücknahme der Änderungen des Gesetzes über die Stromversorgung. Diese sollen die Versorgung der Bauern mit kostenlosem Strom stoppen. Die dritte Forderung der LandwirtInnen ist die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien für diejenigen vorsieht, die ihre Felder flämmen.

LandwirtInnen in Pandschab (Punjab), Haryana, Rajasthan, Uttar Pradesh und anderen Bundessstaaten wehren sich seit Monaten gegen die Gesetze. Neben den Streiks in Pandschab dagegen wurde auch der Bahnverkehr im Rahmen der Bahnstopp-Strategie ausgesetzt.

Obwohl die bauernfeindlichen Gesetze vorgeblich im Namen der Abschaffung der feudaler Verhältnisse eingeführt werden, stärken sie in Wirklichkeit die Rolle der Großkonzerne, die in der Lage sein werden, die Preise zu manipulieren, indem sie Vorräte anlegen und Lieferungen zwischen verschiedenen Bundesstaaten transferieren. Sie haben GroßkapitalistInnen wie Mukesh Ambani, Besitzer des Petrochemieriesen Reliance Industries, und Gautam Adani, Chef der Adani-Gruppe, die die Regierungspartei BJP finanziert haben, die Möglichkeit gegeben, von diesen Reformen in der Landwirtschaft zu profitieren. Diese Umstrukturierungen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Inflation

Der VerbraucherInnenpreisindex für Lebensmittel stieg im Oktober um 11,07 Prozent, während die Einzelhandelsinflation mit 7,61 Prozent den höchsten Stand der letzten sechs Jahre erreichte. Beides verdeutlicht die steigende Belastung für LandwirtInnen und ArbeiterInnen im ganzen Land. Gleichzeitig bot dies den großen KapitaleignerInnen und HändlerInnen die Möglichkeit, künstliche Engpässe auf dem Markt zu schaffen, was die Lebensmittelpreise und damit ihre Gewinnspannen vervielfachte. Da die Modi-Regierung das öffentliche Verteilungssystem zerstört hat, um die Menschen daran zu hindern, Getreidenahrungsmittel zu vergünstigten Preisen zu kaufen, ist die Mehrheit der Bevölkerung auf den offenen Markt für Getreide und Gemüse angewiesen.

All dies muss vor dem Hintergrund einer dramatischen Rezession in Indien gesehen werden. Im ersten Quartal des Finanzjahres (April – Juni) sank das Bruttoinlandsprodukt um 23,9 Prozent. Am 27. November veröffentlichte das Nationale Statistikamt seinen BIP-Bericht für das zweite Vierteljahr des laufenden Fiskaljahres (Juli – September), der einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,5 Prozent ausweist. Dies ist eine Schrumpfung von historischem Ausmaß. Damit hat sich gleichzeitig die soziale Spaltung der Gesellschaft verschärft. Es gibt einen starken Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite enorme Investitionen. Laut Internationalem Währungsfonds sind die Profite Indiens aufgrund von Regierungspaketen und einer arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Politik gestiegen.

Der eintägige Generalstreik am 26. November, der nach Angaben der Gewerkschaften eine historische Zahl von 250 Millionen ArbeiterInnen, Bauern, Bäuerinnen und Armen zusammenbrachte, und der Delhi-Chalo-Marsch haben die Wut der ArbeiterInnenklasse und die Einheit der Kleinbauern und -bäuerinnen, ArbeiterInnen und StudentInnen gezeigt. Der indische Streik vom 8. Dezember reichte jedoch nicht aus, um die Forderungen der ArbeiterInnen und kleinen LandwirtInnen durchzusetzen. Die Verhandlungen am 9. Dezember brachten keine Ergebnisse, und die Massenprotestwelle setzt sich mit weiteren Sitzstreiks und Straßenblockaden fort, an denen sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen, bis zum 14. Dezember beteiligten.

Die beeindruckenden Streiks der ArbeiterInnenklasse in Indien in den letzten Jahren sind auch ein deutlicher Beweis dafür, dass die Krise und Massenmobilisierungen die Modi-Regierung und ihre kapitalistische Agenda erschüttern können. Privatisierungen, arbeiterInnen- und bauernfeindliche Gesetze, die Steigerung der Profite und die Senkung der Löhne, Aufweichung des gesetzlichen Schutzes und Einschränkungen der Bedingungen der ArbeiterInnenklasse sind allesamt Teil eines größeren kapitalistischen Angriffs.

Regierung

Der Generalstreik vom 26. November sowie die wachsende Bewegung von LandwirtInnen, KleinerzeugerInnen und LandarbeiterInnen und die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und bäuerlichen Organisationen deuten auf die Entwicklung einer Kraft hin, die nicht nur ihre Gesetze, sondern auch die hindu-chauvinistische Modi-Regierung und ihre Agenda aus den Angeln heben könnte.

Um eine solche Bewegung zustande zu bringen, müssen die Gewerkschaften über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgehen. Es bedarf eines permanenten Widerstands gegen die arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Gesetze und unbefristeter Streiks in Städten und Dörfern für Mindestlöhne und -gehälter sowie eines Massenaufstands der Bauern und Bäuerinnen gegen das Agrarkapital.

Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen kämpfen mit Mut gegen Modis Angriffswelle. Sie sollten zur Bildung von Kampfkomitees am Arbeitsplatz, auf Bezirksebene, in der Nachbarschaft und in den Dörfern aufrufen, die ArbeiterInnen, kleine und mittlere LandwirtInnen und landlose Bauern und Bäuerinnen einschließen. Sie müssen sich zugleich gegen jede Diskriminierung auf Grundlage von Religion, Nationalität, Kaste und Geschlecht wenden. Es müssen Selbstverteidigungseinheiten gebildet werden, um die Bewegung gegen staatliche Repression und Angriffe reaktionärer Hindu-ExtremistInnen zu verteidigen.

Ein politischer Generalstreik und ein bäuerlicher Aufstand, die das Land dauerhaft lähmen, würden unweigerlich die Machtfrage aufwerfen und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit entstehen lassen, von einem defensiven Kampf zu einem offensiven überzugehen. Das erfordert allerdings, über den gewerkschaftlichen Kampf hinauszugehen.

Die Verbindung dieses Kampfes mit dem Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung, der Gegenwehr gegen die BJP-Regierung mit dem Kampf gegen den Kapitalismus weist auf die Notwendigkeit einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse hin, deren Programm auf Übergangsforderungen beruht. Eine solche Partei wird in der Lage sein, die Landbevölkerung zu gewinnen, wenn sie die Forderungen der Bauern und Bäuerinnen aufgreift und für die Kontrolle des Landes durch diejenigen kämpft, die es bearbeiten, die Bauern, Bäuerinnen und die LandarbeiterInnen. Ein solcher gemeinsamer Kampf würde den Weg für eine permanente Revolution in Indien öffnen, die in dem Ringen um eine ArbeiterInnen- und BäuerInnen-Regierung gipfelt, die die Herrschaft der Räte errichtet, das ausländische und indische Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt. Nur das würde es ermöglichen, den Austausch zwischen Stadt und Land zum Nutzen sowohl der bäuerlichen wie auch der städtischen Bevölkerung zu organisieren.

Zurzeit gibt es in Indien keine politische Kraft, die ein solches Programm auf nationaler Ebene vertritt. Die Kongresspartei ist, obwohl sie momentan behauptet, die Bauern, Bäuerinnen und Gewerkschaften zu unterstützen, selbst eine kapitalistische Partei, die viele der neoliberalen Angriffe, die Premierminister Modi derzeit versucht, zu ihrem logischen Ende zu bringen, begonnen hat. Die kommunistischen Parteien, die aus der stalinistischen stammen, haben in der Tat den Kampf für die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus schon lange aufgegeben, und auch die radikale Linke ist verwirrt und zersplittert. Wir müssen die Notwendigkeit einer Partei in den Mittelpunkt des Kampfes stellen, die eine revolutionäre Regierungslösung für die aktuelle politische Krise präsentieren kann.




Solidarität mit dem Generalstreik der indischen Gewerkschaften!

Martin Suchanek, Infomail 1127, 26. November 2020

Seit dem Morgen des 26. November erfasst ein weiterer Generalstreik Indien. Die Gewerkschaften rechnen mit bis zu 250 Millionen TeilnehmerInnen. Begleitet wird die Arbeitsniederlegung außerdem von Massenaktionen von Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen gegen neue drakonische Gesetze, die Farm Laws, die die Arbeit auf dem Land (de)regulieren sollen.

Zur Vorbereitung und Durchführung des Generalstreik haben sich zahlreiche landesweite Verbände und regionale Organisationen in der  Joint Platform of Central Trade Unions (CTUs; Vereinigte Plattform der Gewerkschaftszentralen) zusammengeschlossen.

Diese besteht aus folgenden Verbänden Indian National Trade Union Congress (INTUC), All India Trade Union Congress (AITUC), Hind Mazdoor Sabha (HMS), Centre of Indian Trade Unions (CITU), All India United Trade Union Centre (AIUTUC), Trade Union Coordination Centre (TUCC), Self-Employed Women’s Association (SEWA), All India Central Council of Trade Unions (AICCTU), Labour Progressive Federation (LPF) und United Trade Union Congress (UTUC). Politisch repräsentieren sie das volle Spektrum von der bürgerlich-nationalistischen Kongresspartei nahestehenden Verbänden über die den kommunistischen Parteien verbundenen bis hin zu unabhängigen, teilweise radikaleren klassenkämpferischen Organisationen. Wenig überraschend fehlt mit Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der „gewerkschaftliche“ Arm der regierenden, hinduchauvinistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), die sich faktisch wieder einmal als gelber Verband von StreikbrecherInnen betätigt.

Historischer Angriff

Der Generalstreik am 26. November richtete sich – wie schon jene der letzten Jahre, die mehr als 100 Millionen Lohnabhängige mobilisieren konnten – gegen einen fundamentalen Angriff durch die KapitalistInnenklasse und die Modi-Regierung. Die Regierung brachte seit 2019 vier neue Arbeitsgesetze in die Look Sabha (Parlament) ein, die 44 bisher gültige ersetzen sollen. Im Grunde sollen damit die Überreste der Beziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit, wie sie nach der Unabhängigkeit Indiens etabliert wurden, endgültig beiseitegeschoben werden. Dieser Prozess begann zwar mit der neoliberalen Wende der Kongress-Partei und der Öffnung der indischen Wirtschaft nach 1980, beschleunigte sich jedoch seit dem Ausbruch der globalen Krise 2007 und der Regierungsübernahme der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata Party (BJP) 2014. Das ist auch der Grund, warum sich entscheidende Fraktionen des Großkapitals vom Kongress, der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie, abwandten und, ähnlich den imperialistischen Großunternehmen, in der BJP die verlässliche Sachwalterin ihrer Interessen sehen.

Die Ideologie des Hindutva, nach der Indien ausschließlich den Hindus gehöre und in der religiöse Minderheiten wie Muslime, Indigene, die „unteren“ Kasten, Frauen und sexuelle Minderheiten BürgerInnen zweiter Klasse sein sollen, bildet den Kitt, um große Teile der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums und rückständige ArbeiterInnen vor den Karren des Kapitals zu spannen. Die „größte Demokratie der Welt“ bildet die Fassade für die zunehmend autoritäre, bonapartistische Herrschaftsform des Regimes Modi, das sich dabei auf extrem reaktionäre und auf faschistische Massenorganisationen stützen kann. In den letzten Jahren forcierte sie die Angriffe auf demokratische Rechte und ging brutal gegen  Proteste vor, die sich gegen die nationalistische „Reform“ der Melde- und Staatsbürgerschaft richteten. Vielerorts, wie in Delhi provozierten Parteiführer der BJP Pogrome gegen Muslime und Protestierende. Indien annektierte Kaschmir und beendete dessen formal autonomen Status endgültig. Die „Reform“ der Arbeitsgesetze stellt ein, wenn nicht das klassenpolitische Kernstück der Politik der Modi-Regierung dar. Hier nur einige zentrale Aspekte:

  • Das neue Arbeitsgesetz erlaubt die fristlose Entlassung ohne weitere Angabe von Gründen und ohne Zustimmung der Behörden von bis zu 300 Beschäftigten. Bisher war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen festgelegt. Dies schafft wichtige Beschränkungen der Unternehmenswillkür in Klein- und Mittelbetrieben ab, die in den letzten Jahren ebenfalls zunahm.
  • Das Fabrikgesetz von 1948 galt bislang für alle Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten, sofern sie mit Elektrizität versorgt wurden, und für alle mit mehr als 20, die diese nicht haben. Jetzt werden diese Zahlen verdoppelt, auf 20 bzw. 40 Beschäftigte.
  • Diese Methode durchzieht zahlreiche andere Bestimmungen der neuen Arbeitsgesetze. Die Mindestzahl an regulär Beschäftigten, ab denen sie überhaupt erst gelten, wurde deutlich erhöht, oft auf das Doppelte oder Dreifache der ursprünglichen Zahl. Dies betrifft insbesondere Mindeststandards für Arbeitssicherheit.
  • Erhöht wurde außerdem die Quote für LeiharbeiterInnen unter den Beschäftigten.

All diese Maßnahmen zielen auf die Ausweitung der UnternehmerInnenfreiheit. Die weitgehende Entrechtung, die schon heute die Lage eines großen Teils der indischen ArbeiterInnenklasse prägt, der in verschiedene Formen der Kontraktarbeit (wie  Tagelöhnerei, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, …) gezwungen wird, soll weiter ausgedehnt werden. Auch bisher „regulär“ Beschäftigte sollen von ihr erfasst werden.

Zugleich werfen diese Maßnahmen auch ein bezeichnendes Licht auf das Geschäftsmodell des indischen Kapitalismus. Die vom Weltmarkt und den internationalen Finanzmärkten abhängige halbkoloniale Ökonomie kann die Profitabilität der wachsenden kleineren Kapitale nur sichern, wenn diese weiter die Arbeitskräfte extrem ausbeuten, also unter ihren Reproduktionskosten kaufen und verwerten können. Ansonsten sind sie nicht in der Lage, sich auf dem Markt zu halten, die Vorgaben von Konkurrenzbedingungen, die das multinationale Großkapital aus den imperialistischen Ländern diktiert, zu erfüllen. Zugleich begünstigt diese Form der Überausbeutung auch die indischen Großkonzerne, die ihrerseits um größere Anteile am Weltmarkt ringen.

Diese Ausweitung selbst erschwert schon die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Organisierung massiv, die durch neue legale Einschränkungen zusätzlich eingeschränkt werden sollen.

Ergänzt werden die Angriffe auf die Arbeitsgesetze auch durch drastische Verschlechterungen für die Landbevölkerung, also für die ärmsten Schichten der Bauern und Bäuerinnen sowie für LandarbeiterInnen. Das ist auch der Grund, warum das All India Kisan Sangharsh Coordination Committee (AIKSCC) den Generalstreik unterstützt und mit Aktionstagen am 26. und 27. November verbindet.

Über die Forderung nach Abschaffung der gesamten reaktionären Reformen des Arbeitsgesetzes hinaus verlangen die Gewerkschaften außerdem eine monatliche staatliche Unterstützung von 7.500 Rupien (rund 85 Euro) für alle Familien, die keine Einkommenssteuer zahlen müssen, sowie 10 Kilogramm kostenloser Lebensmittel für alle Bedürftigen. Diese und ähnliche Forderungen verdeutlichen, dass die Corona-Pandemie und die kapitalistische Krise Millionen ArbeiterInnen und  Bauern/Bäuerinnen in Not und Elend stürzen, sie gegen Armut, Hunger und Tod ankämpfen müssen.

Internationale Solidarität und Perspektive

Der Generalstreik der indischen Gewerkschaften erfordert unsere Solidarität – und zwar weltweit.

Zugleich macht er aber – gerade vor dem Hintergrund etlicher Massenstreiks der letzten Jahre – deutlich, dass die ArbeiterInnenbewegung und alle Bewegungen von Unterdrückten gegen das Hindutva-Regime eine Strategie brauchen, die über beeindruckende, aber auch nur auf einen Tag beschränkte Aktionen hinausgeht. Die Regierung Modi wird sich davon nicht stoppen lassen. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Wie die letzten Monate verdeutlicht haben, wird sie auch die Pandemie und die Krise zu nutzen versuchen, weitere Angriffe durchzuziehen.

Es geht daher darum, dem permanenten Angriff einen permanenten Widerstandskampf entgegenzusetzen – auf den eintägigen Generalstreik einen unbefristeten gegen die Arbeitsgesetze und für ein Mindesteinkommen und Mindestlohn für alle in Stadt und Land vorzubereiten und durchzuführen.

Die Koordinierung der Gewerkschaften und BäuerInnenorganisationen muss sich einer solchen Aufgabe stellen und zur Bildung von Aktionskomitees in den Betrieben, den Stadtteilen, in den Gemeinden und auf dem Land aufrufen, also Kampforgane bilden, die alle Schichten der Lohnabhängigen und der Klein- und MittelbäuerInnen einschließen, unabhängig von Religion, Nationalität, Kaste, Geschlecht oder sexueller Orientierung.

Angesichts der staatlichen Repression und der reaktionären hinduchauvinistischen Verbände müsste ein solcher Streik auch Selbstverteidigungsstrukturen aufbauen.

Ein politischer Generalstreik, der das Land dauerhaft lahmlegt, würde unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und somit auch die Möglichkeit und die Notwendigkeit, vom Abwehrkampf zur Offensive überzugehen. Diese erfordert freilich mehr als nur gewerkschaftlichen Widerstand. Sie erfordert die Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen alle Formen der Unterdrückung, die Verbindung des Kampfes gegen die BJP-Regierung mit dem gegen den Kapitalismus, den Aufbau einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen stützt und die für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung kämpft, die eine Räteherrschaft errichtet, das Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Zur Zeit existiert keine politische Kraft in Indien, die ein solches Programm vertritt. Die verschiedenen kommunistischen Parteien haben sich vom revolutionären Sturz des Kapitalismus faktisch schon lange verabschiedet, die radikale Linke ist zersplittert und oft desorientiert. Die politische Krise zu überwinden, erfordert daher nicht nur die Unterstützung der Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse und sozialen Bewegungen. Alle, die nach einer sozialistischen und internationalistischen Antwort suchen, stehen auch vor der Aufgabe, in Diskussion um die programmatischen Grundlagen einer revolutionären Partei zu treten und deren Aufbau in Angriff zu nehmen.




Indien: Pandemie, Krise und Kampf der ArbeiterInnenklasse

Irfan Khan, Infomail 1112, 29. Juli 2020

In Indien waren bis Ende Juli fast anderthalb Millionen Menschen mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert. Am 26.7. wurden 1.435.435 Infektionen offiziell registriert. 32.771 sind in den letzten Monaten gestorben. Angesichts des enormen Anstiegs der Fälle in den letzten Wochen dürfte das ganze Land eher am Anfang als am Ende der Katastrophe stehen. Offizielle Zahlen besagen, dass täglich 40.000 oder mehr Menschen von dem Virus betroffen sind, aber es ist allgemein bekannt, dass dies eine Unterschätzung ist.

Das indische Wissenschaftsinstitut rechnet damit, dass der Höhepunkt der Infektionen erst im September erreicht wird, und dies ist sein Szenario für die beste Annahme. Im schlimmsten Fall werden bis März 2021 bis zu 61 Millionen Infizierte geschätzt.

Von Anfang an waren die Regierung Modi und ihre Politik eher Teil des Problems als der Lösung. Ende März, als es nur 564 Fälle von Covid-19 gab, setzte sie ganz Indien unter Arrest. Obwohl der Premierminister nach wie vor behauptet, dass ihre Bemühungen zur Bekämpfung der Pandemie wirksam sind, ist Indien heute in Wirklichkeit das am drittmeisten infizierte Land der Welt. Dies wird eine gesundheitliche Katastrophe nicht nur für Indien, sondern auch für die Welt bedeuten. Bis jetzt war die Regierung nicht in der Lage, die Pandemie unter Kontrolle zu halten oder eine Lösung für sie anzubieten.

Von der Abriegelung zur Freigabe der Wirtschaft

Die Regierungspartei BJP und ihre sozialen Medien haben Modi für die angebliche Eindämmung der Ausbreitung der Pandemie mit einer rechtzeitigen Abriegelung gepriesen, aber ihre Umsetzung gehörte zu den brutalsten und unmenschlichsten der Welt. Millionen von WanderarbeiterInnen wurden von der Arbeit ausgeschlossen, ohne jegliches Einkommen oder auch nur ein Transportmittel zurück in die Dörfer oder Städte, aus denen sie ursprünglich kamen. Millionen waren gezwungen, Hunderte von Kilometern weit zu marschieren, um ihre Dörfer zu erreichen, wobei sie ihre Habseligkeiten oder sogar ihre Kinder mit sich trugen. Hunderttausende von ArbeiterInnen versammelten sich an Bahnhöfen in Delhi und anderen Städten, um nach Hause zu gelangen, und waren so gezwungen, die Ansteckungsgefahr zu ignorieren. Hunderttausende beschlossen, zurückzugehen, um sich nicht in überfüllten Bussen anzustecken.

Ein Ergebnis war ein unvorhergesehenes Überangebot an billigen Wohnungen oder Zimmern in großen Zentren. Indische Zeitungen berichteten, dass in 30 Großstädten des Landes 1,28 Millionen Wohnungen unverkauft blieben. Im Prinzip hätte die Regierung diese für die Bereitstellung von Unterkünften für Arme und Menschen ohne Einkommen verwenden können. Sie hätte sie beschlagnahmen oder den/die EigentümerIn zwingen können, sie zu öffnen. Dasselbe gilt für Hotels, Clubs und klösterliche Meditationszentren, um zumindest einen Teil des Elends und sogar den Tod dieser ArbeiterInnen zu vermeiden.

Die Abriegelung durch die Modi-Regierung führte zu einer humanitären Krise in diesem Land mit 1,3 Milliarden Menschen. Die Krise, die mit dem Massenauszug der WanderarbeiterInnen begann, legte die Klassen- und Kastenspaltung der indischen Gesellschaft offen. Die Gleichgültigkeit des Modi-Regimes gegenüber den Schwierigkeiten der armen Bevölkerung unterstrich seinen arbeiterInnenfeindlichen Charakter. Die WanderarbeiterInnen sahen sich nicht nur Straßen- und Eisenbahnunfällen, sondern auch Hunger und sogar Hungertod ausgesetzt, während sie Hunderte von Kilometern von den Städten entfernt unterwegs waren. Darüber hinaus sahen sie sich häufig Repressionen durch den Staatsapparat ausgesetzt, darunter Polizeiknüppeleinsätzen und chemischer Vernebelung. Dies zeigt das wahre Gesicht des neuen und strahlenden Indiens.

Diese Abriegelung trug keinen planmäßigen, sondern einen chaotischen Charakter, und die ArbeiterInnenklasse und die Armen haben die Konsequenzen zu tragen gehabt. Die indische Regierung zwang der Bevölkerung einfach die Maßnahmen anderer Länder auf, ohne die eigenen Realitäten hier zu berücksichtigen. Jetzt hat sie große Teile der Wirtschaft wieder geöffnet und eine imaginäre Herdenimmunität angestrebt. Diese Freigabe stellt die Wirtschaft, genauer gesagt die Profite des indischen und imperialistischen Kapitals, vor das Leben der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft und der Armen. Durch die Öffnung der Wirtschaft zwingt die Regierung Dutzende Millionen von NiedriglohnarbeiterInnen, an unsichere Arbeitsplätze zurückzukehren.

Letztendlich wird die alleinige Verantwortung für die Verhinderung der Ausbreitung von Covid-19 dem/r Einzelnen zugewiesen. Auch wenn es in einigen Bundesstaaten Beschränkungen gibt, so ermutigen sie doch alle zur Wiedereröffnung von Industrien und Betrieben, und in Wirklichkeit werden keine Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt. Die Öffnung der Wirtschaft bedeutet jedoch keinen Nutzen für die Millionen von arbeitslosen InderInnen, sondern nur die Rettung des Eigentums und die Sicherung künftiger Profite für die Superreichen. Zum Beispiel für Mukesh D. Ambani, Vorstandsvorsitzender von Reliance Industries Ltd. (RIL), der jetzt so wohlhabend ist, dass er Warren Buffett und Elon Musk sowie die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page hinter sich gelassen hat. Laut Bloombergs Verzeichnis der MilliardärInnen ist er heute der sechstreichste Mann der Welt.

Ambanis Nettovermögen beträgt jetzt 72,4 Milliarden US-Dollar. Es ist klar, warum sein Reichtum seit Jahren zunimmt, obwohl die meisten InderInnen mit Armut und wirtschaftlicher Katastrophe konfrontiert sind. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Modi und seine Regierung alle Ressourcen und Gelder in den Dienst Ambanis und anderer KapitalistInnen gestellt haben.

Der sprunghafte Anstieg der Gewinne einiger Unternehmen in der schlimmsten Wirtschaftslage gibt auch dem Modi-Regime eine gewisse Hoffnung. Es zielt darauf ab, Großunternehmen und Investitionen aus den USA, Japan und der Europäischen Union anzuziehen. Modi betont, dass die indische Wirtschaft in der Lage sein wird, das Blatt zu wenden. Dieser unbegründete Optimismus wird von seinen eingefleischten AnhängerInnen und der KapitalistInnenklasse gut aufgenommen.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise

In Wirklichkeit befindet sich die indische Wirtschaft derzeit in einer düsteren Lage. Es ist nicht nur die Covid-19-Pandemie oder die Abriegelung, die die Situation verschlimmert haben, sondern es ist vielmehr die globale Wirtschaftskrise des Kapitalismus, die die indische Ökonomie in ihre eigene schreckliche Krise getrieben hat.

Auch wenn die Regierung nicht akzeptiert, dass die Abriegelung ihre Ziele verfehlt hat, stand die Wirtschaft bereits vor dem 19. November und der Pandemie vor einem ernsten Problem, das nur die Realität der ökonomischen Situation Indiens offenbarte.

Der Internationale Währungsfond (IWF) schätzt, dass die indische Wirtschaft im Jahr 2020 um 4,5 Prozent schrumpfen wird. Es gibt sogar noch schlechtere Prognosen, die behaupten, dass sie sogar um 10 Prozent abnehmen kann. Die Arbeitslosigkeit in städtischen und ländlichen Gebieten wird nach Berichten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vom Juni 2020 auf etwa 25 Prozent geschätzt.

Die Regierung Modi hingegen nutzte die Abriegelung als Gelegenheit, um Gesetze gegen die ArbeiterInnenklasse umzusetzen. Sie legte einen Gesetzentwurf vor, mit dem 44 Arbeitsschutzgesetze auf vier reduziert wurden. Die Regierung von Gujarat hat den Arbeitstag auf 12 Stunden verlängert. Von der BJP geführte Regierungen in verschiedenen Bundesstaaten setzten Arbeitsgesetze wie das Gewerkschaftsgesetz, das Gesetz über Arbeitskonflikte und andere aus.

Gemeinsame Aktion

Ein gemeinsamer Aktionsausschuss der Zentralen Gewerkschaften, CTU, kam zusammen, um landesweite Proteste gegen drakonische Änderungen der Arbeitsgesetze, die Privatisierung von Regierungsabteilungen und Unternehmen des öffentlichen Sektors und für die Rechte der nicht organisierten Beschäftigten dieses Bereichs zu organisieren. Mitglieder des Indischen Nationalen Gewerkschaftskongresses, INTUC, des Allindischen Gewerkschaftskongresses, AITUC, von Hindu Mazdoor Sabha, HMS, Zentrum der Indischen Gewerkschaften, CITU, der Selbstständigen Frauenvereinigung, SEWA u. a. nahmen an einem landesweiten Protesttag am 3. Juli 2020 im ganzen Land teil, an allen Arbeitsplätzen und in allen Zentren als einen vereinten Kampf gegen Nicht-Kooperation und als Zeichen der Missachtung arbeiterInnen-, bauern/bäuerInnen- und volksfeindlicher sowie antinationaler Politik der Regierung. Die Aktionen wurden Berichten zufolge an fast einhunderttausend Orten in allen Staaten organisiert, in den Firmen, in Büros, auf Straßen und Wegen.

In einer Erklärung der CTU hieß es, dass sie durch die Proteste

„ … ihre Ablehnung der Desinvestition und Großprivatisierung von Unternehmen des öffentlichen Sektors, des Eintritts ausländischer Direktinvestitionen in Kernsektoren bis zu 100 Prozent – indische Eisenbahnen, Verteidigung, Hafen und Docks, Kohle, Fluggesellschaft Air India, Banken, Versicherungen einschließlich der Privatisierung von Raumfahrtwissenschaft und Atomenergie usw. bekräftigten. Banken des öffentlichen Sektors, Versicherungen und andere Finanzsektoren werden ebenfalls für eine groß angelegte Privatisierung ins Visier genommen. Schritte zugunsten von Unternehmen indischer und ausländischer HerstellerInnen, die natürliche Ressourcen und Geschäfte des Landes usurpieren und dabei den Slogan von ,Aatma-Nirbhar Bharat‘ (selbstständiges Indien) in den Mund nehmen, werden schamlos durchgesetzt. Die Entscheidung, die Teuerungszulagen (Dearness Allowance, DA) und damit die Löhne von 480.000 MitarbeiterInnen der Zentralregierung und Dearness Relief (DR) und damit die Auszahlungen an 680.000 RentnerInnen  einzufrieren, die sich auch auf die MitarbeiterInnen der Landesregierung auswirkt, wird trotz des vehementen Widerstands von Regierungsangestellten und CTUs nicht zurückgenommen. Ebenso wenig wurde die Forderung nach einem Bargeldtransfer von 7.500 Rupien an alle Personen, die keine Einkommenssteuer zahlen, akzeptiert.“

Die ArbeiterInnenklasse und die Armen beginnen, ihren Zorn gegen die prokapitalistische und privatisierende Politik der Regierung Modi in Aktionen umzusetzen. Die Arbeitslosenquote hatte im April 27 Prozent erreicht. Die mittleren und kleinen Unternehmen selbst berichteten, dass 30 bis 35 Prozent der Einheiten möglicherweise nicht in der Lage sind, ihre Tätigkeit aufzunehmen. Die indische Arbeitsorganisation sagte, dass mehr als 400 Millionen Menschen in tiefere Armut gedrängt und dass Unterernährung zunehmen und Hungertodesfälle zur täglichen Realität werden würden.

Anstatt sich auf die dringenden Bedürfnisse dieser Millionen von ArbeiterInnen zu konzentrieren, greift die Regierung jede Opposition an und verhaftet während dieser Pandemie Studenten- und GewerkschaftsaktivistInnen. StudentInnenführer, die in diesem Jahr die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz organisiert haben, werden nun landesweit verhaftet und angeklagt.

Die arbeiterInnenfeindliche Politik des Modi-Regimes, sein Versagen bei der Abriegelung und seine prokapitalistische Politik bedeuten, dass die riesige indische ArbeiterInnenklasse keine andere Wahl hat, als sich zu vereinen und gegen ihn und die herrschende Klasse, die er vertritt, zu kämpfen. Wir haben Anfang dieses Jahres, vor Covid-19, einen Generalstreik erlebt, an dem mehr als 200 Millionen ArbeiterInnen teilnahmen. Die KohlearbeiterInnen, die  bereits dreitägig die Arbeit niedergelegt hatten, schlossen sich dem Streik vom 3. Juli an, und auch viele andere Beschäftigte des öffentlichen Sektors bereiten sich auf einen Streik vor.

Die Bauern und Bäuerinnen verurteilen auch die neue Gesetzgebung im Agrarsektor. Es ist klar, dass große Kämpfe bevorstehen. In dieser Situation braucht die indische ArbeiterInnenklasse eine eigene, mit einem sozialistischen Programm ausgestattete Partei, die gegen die drakonischen Gesetze und für den Sturz der Regierung Modi kämpft, aber diese Bewegung kann ihre Ziele nur erreichen, wenn sie den Kapitalismus stürzt und für den Sozialismus kämpft.

Wie soll es weitergehen?

Die Gewerkschaften haben einen weiteren nationalen Aktionstag für den 9. August und eine Solidaritätsaktion zum Tag des Kohlestreiks am 18. August angekündigt. Diese können zu einem Brennpunkt gemeinsamer Aktionen, Demonstrationen von Stärke und Entschlossenheit geraten. Aber sie müssen in einen umfassenden Kampf der ArbeiterInnenklasse zur Gewährleistung von Gesundheitsversorgung, Sicherheit, Arbeitsplätzen und Einkommen eingebunden werden. Um die Ausbreitung der Pandemie zu bekämpfen, müssen der Gesundheitssektor und alle Ressourcen verstaatlicht und nach einem Plan neu organisiert werden, der von den Beschäftigten des Gesundheitswesens, den ÄrztInnen und Gewerkschaften sowie den Organisationen der Bauern und Bäuerinnen, der ländlichen und städtischen Armen kontrolliert wird.

Die ArbeiterInnenklasse muss sich jeder Abschaffung von Arbeitsgesetzen und Sicherheitsvorschriften widersetzen. Stattdessen müssen ein Mindestlohn, Arbeitslosen- und Sozialleistungen für die Armen und Renten eingeführt werden. Diese müssen ausreichen, um die Kosten für Nahrung, Medizin, Transport, Unterkunft … für alle arbeitenden Menschen zu decken, und die Höhe sollte von den Gewerkschaften und VertreterInnen der beschäftigten und arbeitslosen Lohnabhängigen festgelegt werden. Diese müssen durch Besteuerung oder, wo nötig, durch Beschlagnahme des Einkommens und Vermögens der Reichen finanziert werden.

Alle großen Industrien, das Handels- und Finanzkapital, seien sie indisch oder ausländisch, die mit Schließungen, Entlassungen oder der Abschaffung von Arbeitsgesetzen drohen, müssen entschädigungslos enteignet werden. Die ArbeiterInnenklasse muss die Kontrolle über diese Industrien übernehmen, einschließlich der Entscheidung, welche Branchen während der Pandemie gestoppt werden und welche expandieren oder unter ihrer Kontrolle weiterlaufen sollen.

All diese Maßnahmen können nur durch einen entschlossenen, allumfassenden Klassenkampf gegen die herrschende Klasse, die Modi-Regierung, ihren repressiven Staatsapparat und reaktionäre hinduistisch-nationalistische oder sogar faschistische Bewegungen erreicht werden. Um einen solchen Kampf erfolgreich zu führen, bedarf es eines umfassenden Generalstreiks, Massendemonstrationen, Besetzungen von Unternehmen, Fabriken und Land. Dabei kommt den Gewerkschaften eine Schlüsselrolle zu, aber dazu ist es erforderlich, dass sie über begrenzte tägliche Aktionen hinausgehen.

Es wird von entscheidender Bedeutung sein, dass in den Betrieben, Gemeinden, Städten und Dörfern Aktionskomitees zur demokratischen Kontrolle und Führung des Streiks und seiner Verteidigung von Massenversammlungen gewählt werden und diesen gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Angesichts des zunehmend diktatorischen Charakters des Modi-Regimes, seiner Streitkräfte und der hindu-nationalistischen Bewegung werden die Streiks und die Gemeinden durch Selbstverteidigungsorganisationen geschützt werden müssen.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Massenbewegung, ein Generalstreik, der in der kommenden Zeit herbeigeführt werden könnte, die Frage der Macht aufwerfen wird: eine Frage, die die ArbeiterInnenklasse nicht nur mit Entschlossenheit, sondern auch mit Klarheit beantworten muss, indem sie für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung auf der Grundlage von ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenräten kämpft. Die Aktionskomitees, die geschaffen werden, um die Bewegung zu organisieren, könnten sich zu solchen Räten entwickeln, wie sich die Bewegung und die Kämpfe entwickeln, so wie sich die Selbstverteidigungsorgane zu einer Miliz der ArbeiterInnen-, Bauern-/Bäuerinnenschaft und Armen entfalten könnten, die zusammen mit den SoldatInnenräten in der Armee den repressiven Staatsapparat der indischen Bourgeoisie auflösen und ersetzen könnten.

Vor allem aber würde eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung entschiedene Maßnahmen ergreifen, um ein Sofortprogramm zur Absicherung der Gesundheit, zur Beseitigung der Armut und zur Reorganisation der indischen Wirtschaft im Interesse der Vielen, nicht der Wenigen, umzusetzen. Kurz gesagt, sie würde das gesamte Großkapital unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse verstaatlichen, die KapitalistInnenklasse enteignen und einen demokratischen Plan einführen und damit nicht nur den Weg für eine sozialistische Umgestaltung Indiens, sondern auch für die Ausbreitung der Revolution auf ganz Südasien und darüber hinaus ebnen.




Indien: Der Weg, der selten beschritten wird, oder derselbe alte ausgetretene Pfad

Gastbeitrag von Mira Ghalib (Delhi) zur Bewegung gegen das Citizenship (Amendment) Act (CAA; StaatsbürgerInnenschaftsergänzungsgesetz) und das National Register of Citizens (NRC; nationales Melderegister), Infomail 1095, 14. März 2020

Vor mehr als drei Monaten, am 11. Dezember, verabschiedete das indische Parlament das Ergänzungsgesetz zum StaatsbürgerInnenrecht, das Hindus, Sikhs, BuddhistInnen, Jain, ParsInnen und ChristInnen aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan die Möglichkeit gibt, eine StaatsbürgerInnenschaft in Indien zu beantragen. Der Gesetzentwurf wurde am 12. Dezember vom indischen Präsidenten unterzeichnet und sofort in ein Gesetz umgewandelt. Das Gesetz trat am 10. Januar diesen Jahres in Kraft und löste in der indischen Öffentlichkeit bereits vor seinem Inkrafttreten Kontroversen aus. Große, meist friedliche Demonstrationen an den Universitäten und auf öffentlichen Plätzen wurden von den Polizeibehörden gewaltsam unterdrückt, die den Befehlen der indischen Zentralregierung, die von der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) gebildet wird, gehorsam Folge leisteten.

StaatsbürgerInnengesetz

Die Konstruktion
von illegalen MigrantInnen ist für die indische Rechtsvorstellung nicht neu.
Das CAA ist nur eine weitere Verfassungsänderung des Gesetzes von 1955, das
bereits fünf Mal geändert wurde. Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, sich
mit den rechtlichen Verstrickungen eines politischen Konzepts wie der
StaatsbürgerInnenschaft zu befassen. Es gibt bereits reichhaltige Literatur
dazu. Was von bedeutendem Nutzen ist und den Kontext dieses Artikels liefert,
ist die Implikation dieser konstruierten Illegalität mit der Religion. Eine
aufmerksame Lektüre des neuen CAA zeigt, dass es sorgfältig entworfen wurde, um
einen bestimmten Teil der Menschen, nämlich die MuslimInnen, auszuschließen.

Die Einfärbung des Migrations- und Flüchtlingsstatus’ von Menschen in ausgrenzenden Mustern von Religion und kulturellen Überzeugungen ist jüngeren Datums. Dies bedeutet im Wesentlichen, dass die regierende BJP zwar effektiv daran gearbeitet hat, die Vision ihrer Mutterorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation) von Indien als „Hindu Rashtra“ (1) (Hindu-Nation) zu verwirklichen, dass sie sich jedoch den rechtlichen Anforderungen der indischen Verfassung (2) anpassen und darüber hinaus ein positives Gesicht im internationalen Rampenlicht behalten musste. Als das CAA verabschiedet wurde, um einer exklusiven Kategorie von verfolgten Minderheiten vorgeblich die Beantragung der indischen StaatsbürgerInnenschaft zu ermöglichen, wurde die explizite Agenda der Regierungspartei, eine Hindu-Nation durch legale Mittel zu schaffen, deutlicher. Das Gesetz an sich, wie seine UnterstützerInnen befürworten, bietet Menschen, die in Indien Zuflucht suchen, eine StaatsbürgerInnenschaft an, die in den internationalen Menschenrechtsprinzipien anerkannt ist.

Wenn man jedoch
bedenkt, dass Indien die Rechte der Asylsuchenden auf seinem Boden nie
anerkannt hat und weiterhin nicht die Flüchtlingsstatuskonvention von 1951 und
das Flüchtlingsstatusprotokoll von 1967 unterzeichnet hat, ist das plötzliche
Interesse der Regierungspartei, eine bestimmte Kategorie von Menschen im Land
aufzunehmen, mit Skepsis erfüllt.

Seit 1981
erlaubt Indien dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR),
Staatsangehörigen aus anderen Ländern Asyl zu gewähren. Während die indische
Regierung die beiden größten Flüchtlingsgruppen in Indien, nämlich die aus Sri
Lanka und die TibeterInnen, direkt unterstützt, obliegt dem UNHCR der Rest der
Flüchtlinge und Asylsuchenden aus Afghanistan und Myanmar. Es ist jedoch
unklar, wie die indische Regierung und das UNHCR ihre Aufgaben koordinieren und
auf welche spezifische Art und Weise die Flüchtlinge und Asylsuchenden vom
UNHCR verwaltet werden. Während das UNHCR die Asylsuchenden registriert und
ihnen Flüchtlingskarten aushändigt, stellt die indische Regierung andererseits
Langzeit-/Bleibevisa aus, mit denen Zugang zu grundlegenden Rechten und
Möglichkeiten erhalten werden kann.

Mehrere Studien haben gezeigt, dass Asylsuchende und vom UNHCR anerkannte Flüchtlinge in Indien weiterhin unter erbärmlichen Bedingungen überleben, u. a. weil sie keinen Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten in der formellen Wirtschaft bekommen. Stattdessen haben sie Zugang zu den vom UNHCR ermöglichten Mindesteinrichtungen wie dem staatlichen Gesundheitssystem, den staatlichen Schulen und dem nationalen Rechtssystem. Während der Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung und zum öffentlichen Bildungswesen in Indien aufgrund der schlechten Infrastruktur erschwert wird, scheint die Inanspruchnahme der Justiz in Indien schwierig zu sein.

Melderegister

Eine
Interpretation des CAA muss daher im Hinblick auf das National Register of
Citizens (NRC) erfolgen. Dieses ist ein staatliches Register für indische
BürgerInnen, das den InderInnen die Last des Nachweises ihrer
StaatsbürgerInnenschaft durch eine begrenzte Liste von Dokumenten auferlegt. Es
gibt weniger Klarheit darüber, um welche Dokumente es sich dabei handelt und
welche Informationen darüber erforderlich sind, wie und wo diese Dokumente
einzureichen sind. Noch weniger ist über die rechtlichen Maßnahmen bekannt, die
es Menschen in ganz Indien ermöglichen, die Ergebnisse der NRC-Handhabung
anzufechten, falls sie als staatenlos eingestuft werden. Das endgültige und
aktualisierte StaatbürgerInnenregister in Assam, einem Bundesstaat in der
nordöstlichen Region Indiens, wurde im August 2019 veröffentlicht und schloss
1,9 Millionen Menschen von 19 Millionen EinwohnerInnen aus. Einige der
Ausgeschlossenen sind bengalische Hindus, eine potenzielle
StammwählerInnenschaft für die BJP. Das Schicksal dieser Menschen ist nach wie
vor unbekannt, da einerseits die Regierung der BJP unter wachsendem Druck
steht, diese Liste abzulehnen, und andererseits die einheimische Bevölkerung
von Assam darauf drängt, dass das Register trotz ihres religiösen Hintergrunds
die Besiedlung ihres Landes durch EinwanderInnen ablehnt.

Der Kampf der
Einheimischen gegen die EinwanderInnen, die in den 1960er Jahren vor allem aus
Ostpakistan (dem heutigen Bangladesch) kamen, hat zu gewalttätigen Angriffen
gegen die MigrantInnen und später zur staatlichen Sanktionierung der
Abschiebezentren im Staat geführt. Am 28. November 2019 waren in Assam sechs
Gefangenenlager in Betrieb, in denen etwa 1.000 Häftlinge, darunter meist
bangladeschischer Herkunft, untergebracht sind (The Hindu, 1.1.2020). Die
Regierung der BJP unter Premierminister Narendra Modi hat seit ihrem Wahlsieg
2014 konsequente Anstrengungen unternommen, um in ganz Indien Haftlager
einzurichten, indem sie große Flächen für den Bau von Gebäuden genehmigt hat.
Darüber hinaus haben die Prozesse an den AusländerInnengerichten an Fahrt gewonnen,
die über den Status der aus dem NRC ausgeschlossenen Personen in Bezug auf
illegale Einwanderung entscheiden und sie bis zu ihrer Abschiebung in
Gewahrsamseinrichtungen schicken können. Zusammen mit dem NRC wird das CAA die
Einbürgerung bestimmter Personen zulassen, aber die indischen MuslimInnen
ausschließen und sie unsicher und staatenlos machen. Die beunruhigende
Möglichkeit ihrer Inhaftierung in den Gefangenenlagern sollte nicht ignoriert
werden.

Und deshalb
protestiert die Bevölkerung

Inquilab
Zindabad (Es lebe die Revolution)-Gesänge sind an den verschiedenen
Protestorten in Indien häufig zu hören. Kochend vor Angst, aber auch mit Mut,
mit Frustration, aber auch mit Hoffnung, mit Wut, aber auch mit Solidarität
sind die Menschen in Indien auf die Straße gegangen, um ihren Dissens gegen die
gegenwärtige Regierung zum Ausdruck zu bringen. Einer der wichtigsten Räume,
die als Plattform für die Menschen entstehen sollen, ist Shaheen Bagh, ein
Viertel in Süddelhi. Shaheen Bagh liegt in der Nähe der Jamia-Millia-Islamia-Universität,
an der im Dezember erstmals StudentInnen von der Polizei in Delhi angegriffen
wurden, weil sie gegen die Gesetzgebung zur StaatsbürgerInnenschaft und
Registrierung protestierten. Shaheen Bagh verkörpert eine politische Dynamik,
die hauptsächlich von Frauen ausgeht. Diese Frauen sind viele, sie sind alt und
jung, und sie sind wütend und unverwüstlich. Während des größten Teils des
bissig kalten Winters in Delhi haben diese Frauen und Männer ausgeharrt, um
ihren Widerstand gegen die menschenfeindlichen Taktiken des von der BJP
geführten indischen Bundesstaates unter Beweis zu stellen. Und sie wurden
bedroht und beschossen.

Seit dem 15.
Dezember, als der Sitzstreik in Shaheen Bagh begann, wurden die
DemonstrantInnen sowohl verbal von den BJP-AnhängerInnen beschimpft, von der
Polizei bedroht und von der Teilnahme an den Protesten ausgeschlossen. Da dies
sowohl die Alten als auch die Jungen nicht davon abhielt, sich den Protesten
anzuschließen, kehrten die amtierenden Regierungen sowohl in der Hauptstadt wie
ihre Verbündeten auf regionalstaatlicher Ebene dazu zurück, bestimmte Reden und
bestimmte Protestierende mit verfassungsmäßigen Mitteln als aufrührerisch zu
belasten. Während die BJP ihre eigenen Parlamentsmitglieder ignoriert hat, die
öffentlich Hassreden gehalten und dazu aufgerufen haben, die „Antinationalen“
zu erschießen (ein Begriff, der von der herrschenden Regierung kategorisch
gegen diejenigen verwendet wird, die sich ihrer Politik widersetzen), wurden
gegen politische AktivistInnen wie Sharjeel Imam, Akhil Gogoi und andere durch
die Anwendung drakonischer Gesetze aus der Kolonialzeit schnelle rechtliche
Schritte eingeleitet. Darüber hinaus haben die Print- und Fernsehmedien in
Indien unter einem Sperrfeuer von Anweisungen des BJP-Büros eine Offensive
gegen die DemonstrantInnen gestartet und kämpfen ständig für die Zersplitterung
der Bewegung. Die wachsende Offensive hat die Bewegung jedoch nicht
aufgehalten, aber die Bedingungen für Straffreiheit bei der Aufstachelung zur
Gewalt gegen die „Anti-NationalistInnen“ geschaffen. Deshalb kann man die
Unverfrorenheit sehen, mit der Mitglieder der Sangh Parivar (einer großen
Gruppe hinduistischer nationalistischer Organisationen in Indien) wiederholt
das Feuer auf die unbewaffneten und gewaltlosen DemonstrantInnen in Shaheen
Bagh eröffnet haben, zuerst glücklicherweise ohne Opfer.

Shaheen Baghs
Einzigartigkeit innerhalb des gegenwärtigen politischen Klimas in Indien ergibt
sich aus seiner vielfältigen Beteiligung. In Shaheen Bagh waren verschiedene
politische Anliegen repräsentiert oder einbezogen – die von Transgender-Personen
Indiens, der Kämpfe der Dalit (Angehörige der untersten Kaste, der „Unberührbaren“),
der indigenen Völker gegen die Vertreibung, der Bewegung zum Klima- und
Ressourcenschutzes, von Minderheitenrechten, von Rechten der Frauen und anderer.
Vor allem aber sind es die muslimischen Frauen aus den unteren Schichten, die
den gewaltlosen Widerstand in Shaheen Bagh aufrechterhalten und eine
Alternative in die politische Vorstellung der Menschen eingebracht haben. Ein
solcher Widerstand hat ähnliche Kämpfe im übrigen Indien hervorgebarcht, durch
das, was liebevoll als Shaheen Bagh von Kalkutta (Kolkata) oder von Mumbai und
anderswo bezeichnet wird. Es scheint, als sei es Shaheen Bagh gelungen, die
Parameter einer Bewegung zu umreißen, die für verschiedene politische
Interessen konstitutiv ist. Das bedeutet auch, dass innerhalb der Bewegung
Differenzen ausgebrochen sind, die zumeist mit der seit langem bestehenden
Kaschmir-Frage zusammenhängen. Fälle, in denen indigene Kaschmiris bei
Protesten nicht zu Wort kommen durften, sowie Verbote, bei den Demonstrationen
„Freies Kaschmir“-Transparente und -Plakate zu tragen, sind gut dokumentiert,
haben aber in den gegenwärtigen politischen Kämpfen weniger Gewicht erhalten.
Dies könnte das wiederherstellen, was einige als Enteignung bereits
marginalisierter Stimmen durch Oberschicht-Hindus oder andere Savarnas
(Angehörige der Hindukasten), die den linken Flügel von politischen und auch
zivilgesellschaftlichen Organisationen dominieren, bezeichnet haben.

Politische Dynamik über die Rhetorik gegen CAA  und NRC hinaus?

Die
Ressentiments gegenüber der regierenden BJP können jenseits ihrer
sektiererischen Politik verortet werden. Ein wirtschaftlicher Abschwung mit
geringer Produktivität, industrieller Stagnation zusammen mit einer hohen
Arbeitslosenquote und sinkenden Nahrungsmittelproduktion können in der
gegenwärtigen Bewegung als Faktoren gelten. Im Geschäftsjahr 2018 lag die
indische Arbeitslosenquote bei 6,1 % (Periodische Arbeitskräfteerhebung
des Nationalen Statistikamtes; NSSO), und das Niveau der Ungleichheit stieg
kontinuierlich. Der sogenannte Ungleichheitsindex Gini von 0,65 Mitte der
1990er Jahre bewegte sich auf ein extremes Niveau von 0,74 in den 2000er Jahren
(laut zehnjährlicher gesamtindischer Schulden- und Investment-Statistik des
NSSO). Darüber hinaus zeigt der Chancel- und Piketty-Bericht 2017 mit dem Titel
„Indische Einkommensungleichheit, 1922-2015: Vom britischen Raj zum
Milliardär-Raj“, dass es seit Mitte der 1980er Jahre einen Umschwung von einer
früheren Vorreform-Periode zu einem neoliberalen Regime mit einem stetigen
Anstieg des Einkommens der oberen 10 Prozent der Reichen gegeben hat. (Raj:
Indien, in engerem Sinne Bezeichnung für das britische Kolonialreich Indien)

Hinzu kommt die
zunehmende Privatisierung in öffentlichen Sektoren wie Telekommunikation,
Luftfahrt, Verteidigung, Eisenbahn und anderen. Die BJP versucht auch,
ausländische Direktinvestitionen in der Kohlebergbauindustrie durch die
Änderung des Minen- und Mineral-Gesetzes für Entwicklung und Regulierung von
1957 und des Kohlebergbaugesetzes (besondere Bestimmungen) 2015 zu ermöglichen.
Dieses sowie die dreisten Versuche der Regierung, die Arbeitsgesetze durch ihre
Kodifizierung einzuschränken und die Zusammenarbeit mit den zentralen
Gewerkschaften durch die Untergrabung dreigliedriger Treffen wie der Indischen
Arbeitskonferenz (die nach 2015 nicht mehr stattfanden) zu unterbinden, sind außerdem
zu nennen.

Es sollte die
LeserInnen daher nicht überraschen, dass der größte Generalstreik in Indien am
8. Januar diesen Jahres mit über 250 Millionen TeilnehmerInnen bereits im
vergangenen Jahr von den zentralen Gewerkschaften als Aufruf zur
„Herausforderung der arbeiterInnen-, volks- und nationalfeindlichen Politik der
Modi-Regierung“ (Pressemitteilung vom 30. September 2019, Parliament Street,
National Open Mass Convention of Workers) erklärt wurde. Der Aufruf zum Streik
erfolgte einige Monate vor der Verabschiedung des CAA im Parlament. Sowohl
Bauern und Bäuerinnen als auch ArbeiterInnen aus Sektoren wie dem Bankwesen,
der Eisenbahn, dem Versicherungswesen, dem Teeanbau, der Rüstungsproduktion,
dem Kohlebergbau und anderen marschierten zusammen mit
UniversitätsstudentInnen, ProfessorInnen und Mitgliedern der Mittelklassen in
den Streik, um ihre Verachtung gegen die korporativ-kommunale Verbindung zum
Ausdruck zu bringen.

Prabhat Patnaik
bemerkt in seinem Artikel über die „Landkarte eines gescheiterten Staates“,
dass Modis „hartgesottener Neoliberalismus“ (Neoliberalismus ohne menschliches
Gesicht im Gegensatz zur neoliberalen Politik der früheren Vereinigten
Progressiven Allianz) durch den Hindutva-Nationalismus ergänzt wird. Damit
meint der Autor im Wesentlichen, dass eine Allianz zwischen beiden die
Verbreitung des „kommunalistischen Faschismus“ (der sich ideologisch auf
ethnisch-religiöse Gemeinschaften bezieht) ermöglicht. Das erlaubt der
BJP-Regierung die Unterstützung der Bevölkerung, die von nationalistischer
Leidenschaft geprägt ist, für sich zu gewinnen und gleichzeitig von der
anhaltenden Wirtschaftskrise abzulenken und mundtot zu machen. Es gibt viele
Gründe, die für Patnaiks Analyse sprechen, insbesondere weil sie ermöglicht, um
die Verflechtung des Hindutva-Nationalismus mit der neoliberalen Variante in
Indien zu verstehen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob unsere Vorstellungskraft
für Alternativen von einem einheitlichen Kampf profitieren oder uns auf einen
bereits beschrittenen Weg führen wird.

Die Frage des
Faschismus in Indien ist nicht ohne Kontroversen. Während der indische
Historiker und Ökonom Ramachandra Guha immer wieder davor warnt, den Begriff
Faschismus auf die rechten Bewegungen anzuwenden, merken andere wie der
Historiker Benjamin Zachariah an, dass die ideologischen Verbindungen der Sangh
Parivar zum italienischen Faschismus und zum deutschen Nazismus Raum zum
Nachdenken über ihre Versuche lassen, Indien in einen autoritären Hindu-Staat
zu verwandeln (Chakrabartty, 2020). Zachariah macht einen wichtigen Punkt, der
den Unterschied zwischen einer fast faschistischen Organisation, die nach Macht
strebt, und einer Organisation, die den Staat bereits erobert hat, berührt.

Die Kontrolle
über die Justiz, die Exekutive einschließlich der Polizei, bestimmte Teile der
Streitkräfte sowie die Verwaltung mit einer Mehrheit im Parlament sind
deutliche Anzeichen für die Eroberung des Staates durch die Sangh Parivar.
Hinzu kommt ein offener Angriff auf die Gewerkschaften sowie die
Zivilgesellschaft (durch die Umsetzung des Gesetzes über ausländische Beiträge
[Regulierung]). Die jüngsten staatlich sanktionierten Pogrome gegen arme und
ArbeiterInnenklasse-MuslimInnen in Delhi und Uttar Pradesh sind ein Beleg für
die zunehmende Anwendung und Finanzierung politischer Gewalt durch die Sangh
zur Förderung ihrer Agenda. Selbst die alternative Aam-Aadmi-Partei (Partei der
einfachen Leute) in Delhi unter Arvind Kejriwal, die zuvor wie eine Erholung
von der BJP aussah, hat kläglich versagt, die Angriffe einzudämmen und die
MuslimInnen der Minderheit in Delhi zu schützen.

Es ist daher von
größter Dringlichkeit, dass wir die Zeichen des Faschismus innerhalb der
regierenden BJP und der Organisation Sangh Parivar erkennen und einen
gemeinsamen Kampf gegen diese Unterdrückung aufbauen. Das würde bedeuten, dass
die ArbeiterInnenorganisationen, die Organisationen der Dalit, die
Frauenbewegung und alle anderen unter dem vereinten Widerstand gegen die
indische Variante des religiös-nationalistischen und kapitalistischen Systems
zusammenkommen müssen. Zu Beginn scheint dies keine leichte Aufgabe zu sein,
wenn man die Zersplitterung der linken Gruppen und die von Savarnas dominierte
Führung der kommunistischen Parteien Indiens bedenkt, die seit langem die
SprecherInnen der unterdrückten Gemeinschaften sind. Ein kollektiver Kampf in
Indien wird diese daher gegen alle Formen struktureller Unterdrückung auf
Befehl eines Brahmanen-Patriarchats vereinen müssen, wenn wir die indische
faschistische Bewegung ausmerzen wollen.

Endnoten

(1) Aus der
Missionserklärung von der RSS-Webseite zitiert: http://rss.org./Encyc/2012/10/22/rss-vision-and-mission.html

(2) Am
wichtigsten sind § 14 und § 15, die gebieten, dass der indische Staat
„BürgerInnen nicht aus Gründen von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht,
Geburtsort oder einen davon“ diskriminieren darf. https://www.constitutionofindia.net/constitution_of_india/15/articles/Article%2015

Quellen

Patnaik,
Prabhat: Road Map to a Failed State. Zugriff 5.2.2020.

https://frontline.thehindu.com/cover-story/road-map-to-a-failed-state/article8700545.ece

Sen,
Sumant/Singaravelu, Naresh: „Data | Where are Detention centres in India?“ The
Hindu, 1.1.2020. https://www.thehindu.com/data/data-whre-are-detention-centres-in-india/article30451564.ece