Stoppt den Krieg gegen Gaza! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Flugblatt der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1235, 4. November 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und in Syrien. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 9.000 Menschen getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen Gazas – befindet sich auf der Flucht.

Israels Kriegsziele

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (wie Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten des Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. 

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Waffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen sie die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts an, weil sie fürchten, dass ein zu rücksichtsloses Vorgehen die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu brechen.

Gescheiterte Strategie

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Arzach (Bergkarabach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Welche Alternative?

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre sind.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der Unterdrücker:innen anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. Das heißt aber nicht, dass wir allen Aktionen oder ihrer Führung unkritisch gebenüberstehen dürfen oder diese Kritik verschweigen sollen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Aber es greift viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Fatah vertreten letztlich reaktionäre bürgerliche Programme. Die palästinensische Linke vertritt eine Etappentheorie, der zufolge der Kampf um nationale Befreiung und der um eine sozialistische Umwälzung streng voneinander getrennt sind,

Diesem Programm stellen wir jenes der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen unterstützen. Nur auf dieser Basis lässt sich eine wirkliche Einheit palästinensischer und jüdischer Arbeiter:innen herstellen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Auslaufen oder Abflug verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen, und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbunden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder in Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina. Daher müssen wir die Lügen der Herrschenden entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Hamas: nur eine weitere terroristische Organisation?

Jeremy Dewar, Infomail 1235, 1. November 2023

Die Hamas wird von den USA, Kanada, der EU, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Japan und Australien als „terroristische Organisation“ eingestuft. Andere Länder, vor allem Saudi-Arabien, haben ihren militärischen Flügel verboten.

Die rechte Politikerin und britische Innenministerin Suella Braverman erklärte, die Organisation lebe einen „mittelalterlichen Antisemitismus“ und sei „dem Islamischen Staat (ISIS) ebenbürtig“. Dies wird von der Labour-Partei und sogar von einigen Linken, die die Organisation als „faschistisch“ bezeichnen, aufgegriffen.

Vieles soll die Menschen davon abhalten, sich näher mit der Hamas, ihrer Ideologie und Praxis zu befassen. Insbesondere sollen wir pauschal die Botschaft schlucken, dass die Hamas den Gazastreifen diktatorisch regiert und ihre Beziehung zu den Palästinenser:innen im Gazastreifen einseitig und ausbeuterisch ist.

Die Wahrheit ist vielschichtiger und offenbart eine Massenorganisation mit tiefen Wurzeln in der palästinensischen Bevölkerung.

Ursprünge und Ideologie

Die Hamas geht auf eine Initiative des palästinensischen Ablegers der ägyptischen Muslimbruderschaft zurück, der Anfang der 1980er Jahre zu Zwecken der Bildung, der religiösen Unterweisung und sozialen Wohlfahrt gegründet wurde. Sie wurde im Dezember 1987 gegründet, fünf Tage nachdem die erste Intifada gegen die israelische Besatzung ausbrach. Hamas ist ein Akronym für Islamische Widerstandsbewegung, bedeutet aber auf Arabisch „Begeisterung“.

Die israelischen Behörden duldeten ihre Aktivitäten zunächst als konservativ-religiöses Gegengewicht zu den säkularen nationalistischen und „marxistischen“ Befreiungsbewegungen und Guerillaorganisationen. Sie war bei weitem nicht die erste bewaffnete palästinensische Widerstandsorganisation. Die säkulare Fatah unter Jassir Arafat und die marxistisch-leninistische Volksfront für die Befreiung Palästinas unter der Führung von George Habasch waren zwischen dem Krieg von 1967 und der Intifada von 1987 die dominierenden Kräfte in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Anfang der 1980er Jahre entstand eine weitere islamistische Gruppe, der Islamische Dschihad.

Nachdem ihre Kämpfer:innen 1982 aus dem Südlibanon vertrieben worden waren, gab die PLO den Guerillakampf auf, den sie in den 1960er und 1970er Jahren geführt hatte, und ihr Prestige sank. Sie beteiligte sich an den Abkommen von 1992, erkannte schließlich den Staat Israel an und verurteilte den „Terrorismus“ als Preis für die Gründung der neuen Palästinensischen Autonomiebehörde. Schon bald verstrickte sie sich in Korruption und Zusammenarbeit mit der israelischen Unterdrückung im Westjordanland und im Gazastreifen.

Nachdem Arafat sowohl den bewaffneten Kampf als auch das Ziel eines einzigen säkularen Staates aufgegeben hatte, entschied er sich für den Schatten der Macht in einem zersplitterten Staat im Westjordanland, der immer noch unter israelischer Militärkontrolle stand. Damit überließ er der Hamas den militanten Widerstand als politisches Geschenk.

Dies wurde durch die Tatsache begünstigt, dass die israelischen Unterdrücker:innen weiterhin an der Schraube drehten, auch bei der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die jungen Palästinenser:innen verlangten nach einer wirksamen Widerstandsbewegung, die bereit und in der Lage ist, sich mit der Waffe in der Hand gegen die mörderische Unterdrückung der Proteste der Bevölkerung durch die IDF zu wehren.

Die Gründungscharta der Hamas aus dem Jahr 1988 erklärte es zur Pflicht aller Muslim:innen auf der ganzen Welt, den palästinensischen Waqf (heiliges Gebiet) „vom Fluss bis zum Meer“ zu verteidigen und zu befreien. Sie benannte „die Juden/Jüdinnen“ als Feind:innen und erklärte, dass nur eine kleine Anzahl von ihnen bleiben dürfe. Ihr Ziel ist eine islamische Gesellschaft, die religiös und sozial konservativ ist. In dieser Hinsicht stellt ihre Ideologie ein Spiegelbild der zionistischen Hardlinerdoktrin dar.

Somit ist die Ideologie der Hamas eine durch und durch reaktionäre, antisemitische Utopie. Ihre Gründungscharta vertritt alle antisemitischen Verschwörungstheorien, wonach die Juden/Jüdinnen hinter jedem Krieg und jeder Revolution stecken, und führt als Beweis die berüchtigte Fälschung der zaristischen Geheimpolizei, die Protokolle der Weisen von Zion, an. Obwohl sich Sprecher:innen der Hamas davon distanziert haben, wurde es nie aufgehoben und bleibt eine mächtige Waffe in den Händen Israels und seiner Unterstützer:innen.

Denjenigen, die behaupten, die Hamas sei faschistisch und unterscheide sich nicht von ISIS, muss jedoch eine Reihe von Punkten entgegengehalten werden. Erstens ist die Hamas im Gegensatz zu ISIS eine Massenorganisation, die durch ihre Schulen und Universitäten, ihre Krankenhäuser und Wohlfahrtsprogramme und ihre Tausende von Widerstandskämpfer:innen tief in der palästinensischen Gesellschaft verwurzelt ist, insbesondere im Gazastreifen.

ISIS gehört zum takfirischen Zweig des Islamismus, der andere Muslim:innen als Abtrünnige betrachtet, gegen die ein terroristischer Krieg geführt werden kann. Folglich glaubt er daran, den Islam „von oben“ aufzuerlegen, unabhängig von den Wünschen der Bevölkerung. Die Hamas hingegen glaubt an eine Islamisierung „von unten“ und hat bei vielen Gelegenheiten auf die Bedürfnisse und Bestrebungen ihrer Basis reagiert.

In den seltenen Fällen, in denen lokale Hamaskommandeur:innen versucht haben, strenge islamische Bekleidungsvorschriften durchzusetzen, sind diese immer gescheitert und haben fast nie den Segen der Führung erhalten. Vielmehr hat sie ihre Vision als an das historische Kalifat angelehnt beschrieben, in dem christliche und jüdische Gemeinschaften toleriert wurden.

Weder ihr Sozialsystem noch ihre Korruptionsfreiheit sind jedoch der eigentliche Grund für die Unterstützung der Massen. Vielmehr ist es ihr Ruf der „Standhaftigkeit“ bei der Verfolgung der ursprünglichen gemeinsamen Ziele aller palästinensischen Bewegungen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr für alle 1948 und 1967 Vertriebenen und ihre Nachkommen. Dennoch ist ihre Bilanz nicht ganz so kompromisslos, wie es den Anschein haben mag, und der Grund dafür ist ihre Abhängigkeit von verschiedenen Staaten der arabischen und islamischen Welt.

Kompromisse seit Oslo

Natürlich weigerte sich die Hamas, an den Gesprächen teilzunehmen, die zu den Osloer Verträgen führten, weil dies die Anerkennung des Existenzrechts Israels bedeuten würde. Aber schon damals gab es in ihren Reihen und ihrer Führung eine Debatte über die Teilnahme, da die Gespräche von den Palästinenser:innen, die eine Art von Staatlichkeit anstrebten, damals massiv unterstützt wurden. In den folgenden Jahren wurde weiter darüber diskutiert, ob man Israel anerkennen und eine Hudna (Waffenstillstand) auf der Grundlage eines vorübergehenden palästinensischen Staates in den Grenzen von 1948 mit Jerusalem als Hauptstadt, dem Abzug der israelischen Truppen und dem Abbau der Siedlungen vereinbaren sollte.

Obwohl sie sich bei den Präsidentschaftswahlen 2005, die Mahmud Abbas von der Fatah gewann, der Stimme enthielt, kandidierte die Hamas bei den allgemeinen palästinensischen Wahlen 2006 und erlangte eine Mehrheit in der Legislative und die Kontrolle über den Gazastreifen. In ihrem Wahlprogramm verzichtete sie auf die antisemitische Sprache ihrer Charta (ohne sie zu verleugnen) und erklärte den zionistischen Staat Israel und nicht „die Juden/Jüdinnen“ zum Feind. Außerdem erkannte sie ihn faktisch an.

Unmittelbar nach ihrem Wahlsieg stellten die „demokratischen“ imperialistischen Mächte USA und EU die Finanzierung der allgemeinen Palästinensischen Autonomiebehörde ein und leiteten alle Hilfen über das Büro von Abbas weiter. Die Versuche der Hamas, eine Einheitsregierung zu bilden, scheiterten, was zum so genannten Bruderkrieg von 2007 führte, der damit endete, dass die Fatahkräfte aus dem Gazastreifen vertrieben wurden und die Hamas den Streifen beherrschte, den Israel 2005 geräumt hatte, um ihn noch stärker zu blockieren.

Zwei weitere Kriege mit Israel in den Jahren 2008 – 2009 (Operation Gegossenes Blei) und 2014 (Operation Schutzkeil) sowie Einfälle im Jahr 2021 führten zur Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur des Gazastreifens. In der Zwischenzeit haben Israels Blockade und das Verbot der Organisation als „terroristisch“ durch den westlichen Imperialismus versucht, die Hamas zu isolieren und ruinieren. Heute sind nur noch der Iran und Katar bereit, ihre Führung aufzunehmen und ihr Hilfe und diplomatische Dienste zukommen zu lassen.

Schlussfolgerung

Der fundamentalistische rechte Flügel Israels, der unter den Regierungen von Benny Gantz und Benjamin Netanjahu gestärkt wurde, bleibt mit der unerschütterlichen Unterstützung durch die USA, sowohl unter Trump als auch unter Biden, die entscheidende Kraft in Israel-Palästina.

Es stimmt nicht, dass die Hamas darauf nur mit Raketen geantwortet hat. In den Jahren 2018 – 2019 kam es zu Massenprotesten entlang der Grenze zum Gazastreifen; israelische Scharfschütz:innen töteten 190 unbewaffnete Demonstrant:innen und verletzten Tausende. Dann, im Jahr 2020, brach die sogenannte Dritte Intifada mit Massendemonstrationen in den Flüchtlingslagern und wichtigsten Städten des Westjordanlandes aus. Natürlich wurde auch diese von den IDF unterdrückt. Im Jahr 2021 kam es zu einem palästinensischen Generalstreik.

Bewaffnete rechte Siedler:innen mit Unterstützung durch die IDF machten das Jahr 2022 zum blutigsten Jahr im Westjordanland seit Jahren, als sie ihre Kontrolle über das Land brutal ausweiteten. Selbst die völlig friedliche BDS-Kampagne wird in westlichen Ländern verboten, während Kritik an Israel unterdrückt oder als „antisemitisch“ stigmatisiert wird.

Kein Wunder, dass der Ruf nach bewaffnetem Widerstand immer lauter wird. Der Aufschwung der Bewegung Löwengrube im Westjordanland in den letzten zwei Jahren (mit Beteiligung der Hamas) spiegelt diese Realität wider. Und deshalb wird der Widerstand auch dann weitergehen und bewaffnet sein, wenn die Infrastruktur der Hamas im Gazastreifen in diesem Krieg zerstört wird.

Der Ausbruch vom 7. Oktober mag den Plan der USA, Israels und Saudi-Arabiens zur „Normalisierung“ der Beziehungen und zur Wiederherstellung eines größeren Einflusses der USA in der Region gestoppt haben, aber das bleibt ihr Ziel. Die Aktion ermöglichte es rivalisierenden zionistischen Parteiführer:innen auch, ihre Reihen zu schließen und die israelische Bevölkerung zu vereinen, gerade als sich die schwersten Spaltungen in der Geschichte des Staates abzeichneten. Schlimmer noch, sie gab den Zionist:innen Deckung für ihre rachsüchtigen Vergeltungsmaßnahmen und lieferte einen Vorwand, um noch mehr Palästinenser:innen im Westjordanland aus ihren Häusern zu vertreiben, ja sogar die gesamte Bevölkerung zu verjagen, was das erklärte Ziel einiger Mitglieder der Regierung Netanjahu ist.

In den Fehlern der Hamas zeigt sich auch der Fehler im Programm des palästinensischen bürgerlichen Nationalismus, ob säkular oder islamistisch. Auch wenn es die dringenden Bedürfnisse der am meisten unterdrückten Menschen zum Ausdruck bringt, ist es als Strategie auf die Unterstützung durch benachbarte Regime angewiesen, die es dann für ihre eigenen Zwecke manipulieren. Im Grunde hat die Hamas die fatale stalinistische Etappentheorie, die sich für die verschiedenen PLO-Fraktionen als Sackgasse erwies, nicht überwunden. Stattdessen hat sie ihr lediglich einen islamistischen Anstrich verpasst und die „Volksfront“ durch eine reaktionäre klerikale Diktatur ersetzt.

Nichtsdestotrotz müssen alle Sozialist:innen und konsequenten Demokrat:innen den palästinensischen Widerstand gegen die IDF unterstützen, sofern sie sich der zionistischen Besatzung und dem Apartheidstaat widersetzt. Aber wir können weder das soziale und politische Programm der Hamas noch ihre Kampfmethoden unterstützen, weder eine elitäre Guerillastrategie noch Massaker an hilflosen israelischen Zivilist:innen.

Echte Solidarität mit Palästina bedeutet, für eine radikal andere Strategie einzutreten, deren Elemente sich in den drei Intifadas gezeigt haben: Mobilisierungen mit bewaffneter Selbstverteidigung und Appelle an die umliegende und internationale Arbeiter:innenklasse, sich gegen Israel und den Versuch des Westens zu erheben, die Hamas von der Landkarte zu tilgen, womit sie jede Form des Widerstands meinen, wenn nicht gar das palästinensische Volk als Ganzes.

Wir fordern die Aufhebung der Gesetze, die die Hamas als terroristische Organisation etikettieren. Israel ist der eigentliche Massenterrorist, wie wir heute sehen können. Die riesigen weltweiten Demonstrationen zeigen die breite Unterstützung der Bevölkerung für Gaza und die palästinensische Sache. Diese Mobilisierungen müssen zu direkten Aktionen übergehen, die den Waffen- und Handelsverkehr mit Israel blockieren, einschließlich Streiks der Gewerkschaften, um die israelfreundlichen Regierungen und Politiker:innen zu zwingen, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und die Einfuhr von Lebensmitteln, Treibstoff, Unterkünften, medizinischer Ausrüstung und Hilfsgütern zu ermöglichen. Sie müssen die Forderung nach einer dauerhaften Aufhebung der jahrzehntelangen Belagerung des Gazastreifens und dem Abzug nicht nur der IDF, sondern auch der Kriegsschiffe und Flugzeuge der USA und Großbritanniens beinhalten.

Diese unmittelbaren und strategischen Fragen unterstreichen die Notwendigkeit einer internationalen Partei der Arbeiter:innenklasse, die die Kräfte in Palästina, den umliegenden Ländern des Nahen Ostens und innerhalb Israels selbst vereint, egal wie weit entfernt Letzteres im Moment auch erscheinen mag. Bewaffnet mit der Strategie der permanenten Revolution und der Taktik der Massenaktion können Revolutionär:innen damit beginnen, die Führungskrise zu lösen, die so viele Niederlagen und so viel Leid nicht nur in Palästina, sondern in allen umliegenden Ländern verursacht hat.




Ein dringender Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften: Beendet alle Komplizenschaft, stoppt die Bewaffnung Israels!

Aufruf palästinensischer Gewerkschaften, übersetzt nach MENA Solidarity Network, Infomail 1235, 27. Oktober 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir einen Aufruf palästinensische Gewerkschaften aus Gaza, der Westbank und Israel gegen die Angriffe und Bombardements. Der Übersetzung liegt der Text auf der Seite des MENA Solidarity Network zugrunde.

Beendet alle Komplizenschaft, stoppt die Bewaffnung Israels!

Israel hat 1,1 Millionen Palästinenser:innen aufgefordert, die nördliche Hälfte des Gazastreifens zu evakuieren, während sie gleichzeitig einem ständigen Bombardement ausgesetzt sind. Dieses rücksichtslose Vorgehen ist Teil des israelischen Plans, mit unerschütterlicher Unterstützung und aktiver Beteiligung der USA und der Mehrheit der europäischen Staaten beispiellose und abscheuliche Massaker an 2,3 Millionen Palästinenser:innen im Gazastreifen zu verüben und diesen vollständig ethnisch zu säubern. Seit Samstag hat Israel den Gazastreifen wahllos und intensiv bombardiert und die Versorgung mit Treibstoff, Strom, Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten unterbrochen. Israel hat mehr als 2.600 Palästinenser – darunter 724 Kinder – getötet, ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht, ganze Familien ausgelöscht und mehr als 10.000 Menschen verletzt. Einige Völkerrechtsexpert:innen haben begonnen, vor Israels völkermörderischen Handlungen zu warnen.

Andernorts hat Israels rechtsextreme Regierung mehr als 10.000 Gewehre an extremistische Siedler:innen in Palästina und im besetzten Westjordanland verteilt, um deren eskalierende Angriffe und Pogrome gegen Palästinenser:innen zu erleichtern. Israels Handlungen, Massaker und Rhetorik deuten auf seine Absicht hin, die seit langem versprochene zweite Nakba zu verwirklichen, so viele Palästinenser:innen wie möglich zu vertreiben und einen „Neuen Nahen Osten“ zu schaffen, in dem die Palästinenser:innen in ständiger Unterwerfung leben.

Die Reaktion der westlichen Staaten bestand in einer vollständigen und uneingeschränkten Unterstützung des Staates Israel, ohne auch nur flüchtig auf das Völkerrecht zu achten. Dies hat die Straflosigkeit Israels noch verstärkt und ihm einen Freibrief für die uneingeschränkte Durchführung seines völkermörderischen Krieges verschafft. Über die diplomatische Unterstützung hinaus beliefern westliche Staaten Israel mit Rüstungsgütern und sanktionieren die Tätigkeit israelischer Waffenfirmen innerhalb ihrer Grenzen.

Angesichts der Eskalation der israelischen Militäraktion rufen die palästinensischen Gewerkschaften ihre internationalen Partner:innen und alle Menschen mit Gewissen dazu auf, jede Form der Komplizenschaft mit den israelischen Verbrechen zu beenden und vor allem den Waffenhandel mit Israel sowie jegliche Finanzierung und militärische Forschung einzustellen. Die Zeit zum Handeln ist gekommen – das Leben der Palästinenser:innen steht auf dem Spiel.

Diese dringende, völkermörderische Situation kann nur durch einen massiven Anstieg der weltweiten Solidarität mit dem palästinensischen Volk verhindert werden und die israelische Kriegsmaschinerie zum Stillstand bringen. Wir brauchen Sie, um sofortige Maßnahmen zu ergreifen – wo auch immer Sie sich in der Welt befinden –, um die Aufrüstung des israelischen Staates und der an der Infrastruktur der Blockade beteiligten Unternehmen zu verhindern. Wir lassen uns von früheren Mobilisierungen der Gewerkschaften in Italien, Südafrika und den Vereinigten Staaten inspirieren sowie von ähnlichen internationalen Mobilisierungen gegen die italienische Invasion in Äthiopien in den 1930er Jahren, die faschistische Diktatur in Chile in den 1970er Jahren und in anderen Ländern, in denen die weltweite Solidarität das Ausmaß der kolonialen Brutalität begrenzte.

Wir rufen die Gewerkschaften in den betroffenen Branchen auf:

  • Sich zu weigern, für Israel bestimmte Waffen zu bauen;

  • sich zu weigern, Waffen nach Israel zu transportieren;

  • Verabschiedung von Anträgen in ihrer Gewerkschaft in diesem Sinne;

  • Maßnahmen gegen Unternehmen zu ergreifen, die an der Umsetzung der brutalen und illegalen Belagerung Israels beteiligt sind, insbesondere wenn sie Verträge mit Ihrer Institution haben;

  • Druck auf die Regierungen auszuüben, um den gesamten Militärhandel mit Israel und im Falle der USA auch die Finanzierung des Landes zu stoppen.

Wir rufen zu diesem Schritt auf, da wir Versuche sehen, alle Formen der Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu verbieten und zum Schweigen zu bringen. Wir fordern Sie auf, Ihre Stimme zu erheben und angesichts der Ungerechtigkeit aktiv zu werden, wie es die Gewerkschaften in der Vergangenheit getan haben. Wir machen diesen Aufruf in der Überzeugung, dass der Kampf für palästinensische Gerechtigkeit und Befreiung nicht nur ein regionaler und globaler Kampf ist. Er ist ein Hebel für die Befreiung aller enteigneten und ausgebeuteten Menschen in der Welt.

Kontakt: workersinpalestine@gmail.com

Aufrufende Gewerkschaften

Palestinian General Federation of Trade Unions, Gaza.

General Union of Public Service and Trade Workers

General Union of Municipal Workers

General Union of Kindergarten Workers

General Union of Petrochemicals Workers

General Union of Agricultural Workers

Union of Palestinian Women’s Committees

Generation Union of Media and Print Workers

Palestinian General Federation of Trade Unions (PGFTU)

General Union of Palestinian Teachers

General Union of Palestinian Women

General Union of Palestinian Engineers

Palestinian Accountants’ Association

Professional Associations Federation including:

Palestinian Dental Association – Jerusalem center

Palestinian Pharmacists Association – Jerusalem Center

Medical Association – Jerusalem Center

Engineers Association – Jerusalem Center

Agricultural Engineers Association – Jerusalem Center

Veterinarians Syndicate – Jerusalem Branch.

Palestinian Journalists’ Syndicate

Palestinian Bar Association

Palestinian Nursing and Midwifery Association

Union of Kindergartens Workers

Palestinian Postal Services Workers Union

Federation of Unions of Palestinian Universities Professors & Employees

The General Federation of Independent Trade Unions, Palestin

The Palestine New Federation of Trade Unions

Palestinian General Union of Writers

Palestinian Contractors Union

Federation of Health Professionals Syndicates

Palestinian Union of Psychologists and Social Workers




Resolution zum Krieg gegen Gaza

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte International, Infomail 1235, 26. Oktober 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober droht es mit blutiger Rache. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und Syrien. In der Westbank wurden Palästinenser:innen, die sich mit Gaza solidarisieren, umgebracht – bisher über 100. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 6.000 Menschen in Gaza getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen der Gazastreifens – befindet sich auf der Flucht nach Süden. Israel hat tagelang die Versorgung mit Wasser, Medikamenten und Energie unterbrochen. Die begrenzte Zahl LKWs, die den Grenzübergang Rafah passieren dürfen, ist lt. UNO total unangemessen niedrig. Die Bevölkerung Gazas wird faktisch ausgehungert und Krankenhäusern die Stromlieferung verweigert, die für Operationen an einer zunehmenden Zahl von Opfern benötigt wird. Eine humanitäre Katastrophe findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Dabei stehen wir erst am Beginn dessen, was droht. Eine Bodeninvasion der IDF steht bevor. Die israelische Regierung und der Generalstab verkündeten die größte Mobilisierung der Armee in der Geschichte des Landes. 360.000 Reservist:innen wurden einberufen. Ihre Aufgabe: Hamas vernichten, Gaza von „Terrorist:innen“ und allen, die Widerstand leisten, „säubern“. Ganzen Städten und der Infrastruktur droht Zerstörung. Hunderte Panzer und Artilleriefahrzeuge, Zehntausende Soldat:innen machen sich zum Sturm auf Gaza bereit, dessen Norden schon jetzt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Angesichts dieser nationalistischen Mobilisierung treten die Differenzen zwischen Regierung und Opposition im zionistischen Lager zurück. Der Regierung der nationalen Einheit und einem fünfköpfigen Kriegskabinett aus Vertreter:innen von Regierung und Opposition wurden weitgehend unbeschränkte Vollmachten eingeräumt.

Israels Kriegsziele und deren Widersprüche

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben. Diese sollen den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – mit anderen Worten der Mord an Tausenden und Abertausenden. Danach sollen die Bodentruppen folgen und der Süden des Landes „gesäubert“ werden.

Ältere Menschen und Schwerkranke werden nicht in der Lage sein zu gehen.  Die Krankenhausbehörden sagen, dass es unmöglich sein wird, ihre Patient:innen und die Opfer der anhaltenden Bombardierung über die verkraterten und durch Ruinen blockierten Straßen zu transportieren, die immer noch unter Luftangriffen stehen. Die Verdoppelung der Bevölkerungsdichte in einem Gebiet, das ohnehin schon am stärksten überbevölkert ist und in dem es weder Ersatzunterkünfte noch Wasser- oder Treibstoffvorräte gibt, ist zumindest eine kollektive Bestrafung. Wenn sie in vollem Umfang durchgeführt wird, wäre es korrekter, dies als Völkermord zu bezeichnen.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten der Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. Die internationalen Unterstützer:innen Israels, allen voran die USA, Britannien und die führenden EU-Mächte, Deutschland und Frankreich, fürchten zudem, dass eine lange, extrem barbarische Kampagne gegen die Bevölkerung Gazas im gesamten Nahen Osten einen Flächenbrand entfachen könnte. Sie fürchten, dass die reaktionären Verbündeten in den arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfölmonarchien) ihre faktische Tolerierung der israelischen Politik der letzten Jahre nicht mehr aufrechterhalten könnten und der westliche imperialistische Einfluss weiter geschwächt werden würde.

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Extrawaffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen Biden, Scholz und die anderen Staats- und Regierungschef:innen der westlichen Welt die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts ein, weil sie fürchten, dass eine zu rücksichtslose Misshandlung auch die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der ganzen palästinensischen Nation zu brechen. Nur zu gut wissen die Vertreter:innen des zionistischen Regimes und dessen imperialistischen Verbündete, dass Jahrzehnte der Repression, von Bombardements, Militäroperationen diesen nicht zu brechen vermochten, auch wenn sie die Lage der Palästinenser:innen immer mehr verschlechterten, diese immer mehr marginalisierten und die Vertreibung der Bevölkerung seit Gründung des Staates Israel fortsetzen.

Daher drängt extrem rechte Flügel der israelischen Führung auf die Vertreibung der Bevölkerung Gazas, auf die „vollständige Säuberung“, auf Massenexodus – und ist dafür bereit, den Tod Tausender und Abertausender, ja ein Pogrom an der gesamten Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Die Notstandsregierung und die Armeeführung haben sich zumindest teilweise diese Rhetorik zu eigen gemacht. Sie entmenschlichen die Palästinenser:innen rassistisch als „menschliche Tiere“, die wie wilde Tiere behandelt werden müssen. Allen, die nicht flüchten, drohen sie mit „verheerenden humanitären Konsequenzen“. Gaza soll lt. Ihren Aussagen nach der Militäroperation nicht mehr wieder entstehen, wie es einmal war.

Unklar ist jedoch, wie das genau geschehen soll. Eine Bodeninvasion und ein unter Umständen langwieriger Guerillakampf gegen die von Hamas geführten Kämpfer:innen werden die kommenden Tage, Wochen, wenn nicht Monate andauern. Die israelische Regierung hat erklärt, dass sie beabsichtigt, den Gazastreifen vollständig vom übrigen Palästina abzuschneiden. Wie dieser Kampf endet, welche Seite politisch siegt und welche „Ordnung“ in Gaza errichtet, hängt natürlich auch von der Entschlossenheit des Widerstandes wie auch von der Rücksichtslosigkeit des zionistischen Angriffs ab. Geht es nach der israelischen Rechten und großen Teilen des Kabinetts, die sich auf sie stützen, so kann es dort bis zur Massenvernichtung an den Palästinenser:innen gehen. Im Moment gehen die Äußerungen der Notstandsregierung in diese Richtung, aber das darf nicht drüber hinwegtäuschen, dass es keine Einheitlichkeit im zionistischen Lager bezüglich der längerfristigen Kriegsziele und der zukünftigen „Neuordnung“ Gazas gibt.

Daher werden der israelischen Rechten auch Grenzen im Inneren gesetzt. Ein Flügel im zionistischen Lager will einen gewissen Restbestand der „demokratischen“ Herrschaftsform in Israel sichern (und zwar nicht nur gegenüber Netanjahu), sondern auch palästinensische Kräfte wie die Fatah und die PNA (Palästinensische Nationalbehörde) in Zukunft als ihren verlängerten Arm integrieren.

Vor allem aber drängen die internationalen Verbündeten Israels darauf, dass es zu keiner dauerhaften Besetzung Gazas kommt, dessen zukünftige Verwaltung formell von palästinensischen Kräften übernommen werden soll. Diese Bedingungen sind zugleich auch wichtig, um Saudi-Arabien, Ägypten und andere arabische Staaten als Verbündete zu halten und auch für eine etwaige Wiederaufnahme von Gesprächen am Ende der Gazaoperation mit zu gewinnen. Das setzt aber zumindest voraus, eine Scheinlösung der „Palästinafrage“ zu verkaufen, obwohl Israels unerbittlicher Ausbau der Siedlungen dies praktisch unmöglich gemacht hat.

Auswirkungen und Ursachen des Angriffs

Der Angriff der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza hat die Palästinafrage wieder ins Zentrum der Politik im Nahen Osten und auch der internationalen Politik gerückt.

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen. Die Proteste des Iran und seiner Verbündeten waren einkalkuliert vorsichtig. Weder das Regime in Teheran noch die Hisbollah hatten ein Interesse an einer wirklichen militärischen Konfrontation.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach (Arzach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Der Angriff der Hamas war sicherlich durch mehrere Faktoren motiviert und auch Resultat einer Entscheidung des militärischen Flügel gegen den politischen, der in Katar sitzt. Dieser fürchtete die absehbare vernichtende Reaktion Israels. Doch die immer größere Marginalisierung der Palästinenser:innen in der Westbank und in Gaza in den letzten Jahren stellte die Hamas wie den gesamten Widerstand auch vor die prekäre Alternative, entweder immer mehr mit dem Rücken an die Wand gedrückt zu werden oder einen Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza zu wagen, wohl wissend, dass der Zionismus in jedem Fall mit massiven Angriffen reagieren würde. Der Ausbruch war also wesentlich eine Reaktion auf die immer größere Isolierung und den drohenden Wegfall vorgeblicher Verbündeter der Palästinenser:innen wie Saudi-Arabien.

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung aus Gaza und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und Schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre ist.

Die internationale Reaktion

Die internationalen Reaktionen auf den Ausbruch der Hamas und auf den Krieg gegen Gaza könnten nicht unterschiedlicher ausgefallen sein. Während die USA, Britannien, Japan und die EU-Mächte Israel unterstützen, rufen die imperialistischen Rivalen Russland und China ebenso wie die meisten Staaten des globalen Südens zum Waffenstillstand und zu humanitärer Hilfe auf. Natürlich verurteilen auch sie mehr oder weniger offen Hamas und den palästinensischen Widerstand. Sie wollen zum Vorkriegszustand zurückkehren.

Natürlich hat die Politik Moskaus oder Peking nichts mit Solidarität mit Palästina zu tun. Sie verfolgen nur eigene, dem Westen entgegengesetzte imperialistische Interessen und hoffen so, ihre geostrategischen Positionen zu stärken. Die verschiedenen Regionalmächte in der Region lehnen den Angriff Israels offener oder verdeckter ab, rufen zu „Mäßigung“ auf, weil sie damit sowohl eigene Interessen verfolgen, aber auch weil sie eine Destabilisierung in ihren eigenen Ländern und damit ihrer eigenen Herrschaft fürchten. Reaktionäre islamistische Regime wie der Iran oder reaktionäre islamistische Bewegungen inszenieren sich außerdem als einzig konsequente Verbündete der Palästinenser:innen. Dass dabei offen Antisemitismus propagieren, muss ebenso entlarvt werden wie ihr Versuch, von ihrer eigenen Diktatur und der Unterstützung konterrevolutionärer Regime z. B. in Syrien demagogisch abzulenken.

Doch diese vorgeblichen reaktionären „Freund:innen“ oder „Unterstützer:innen“ Palästinas dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass die Sympathie der Massen in den meisten Ländern der Welt dem palästinensischen Volk und seinem Befreiungskampf gilt. Die Masse der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und der Jugend in den halbkolonialen Ländern durchschaut sehr genau, dass die Darstellung des Krieges als eines zwischen israelischer „Demokratie“ gegen „islamistischen Terror“ seine Ursachen und seinen Charakter verschleiert, dass es sich um einen Krieg eines Unterdrückerstaates gegen die Unterdrückten handelt. Genau das wissen auch die palästinensischen und arabischen Migrant:innen in den westlichen Ländern sowie die große Mehrzahl der rassistisch unterdrückten Bevölkerung.

Daher gehen seit Wochen Massen auf die Straße, folgen dem Aufruf zu Großdemonstrationen und globalen Aktionstagen. Die Straßen im globalen Süden füllen sich – und daraus kann und soll eine internationale Massenbewegung der Solidarität mit Palästina werden. Selbst in den westlichen Staaten ist die öffentliche Meinung nicht so eindeutig für Israel ausgerichtet, wie die Regierungen uns gern glauben machen möchten.

In London beteiligten sich 150.000 am 14. Oktober an einer Demonstration in Solidarität mit Palästina und 300.000 am 21. Während in Britannien das Demonstrationsrecht noch anerkannt ist, greifen andere europäische Länder wie Deutschland und, in geringerem Maße Frankreich, zu extremen rassistischen und antidemokratischen Maßnahmen, verbieten Kundgebungen in Solidarität mit Gaza regelmäßig, nehmen hunderte Menschen fest, die sich den Verboten nicht beugen wollen und kriminalisieren alle Organisationen des palästinensischen Widerstandes.

Zur Legitimierung diese Maßnahmen greifen sie auf die Lüge zurück, dass Antizionismus, ja fast jede Israelkritik antisemitisch sei. Selbst der Verweis auf die Ursachen des gegenwärtigen Konflikts gilt schon als „Relativierung“ des „islamistischen Terrors“. Diese Hetze verknüpft sich mit einer dramatischen Zunahme des antimuslimischen Rassismus und soll die Bevölkerung der „demokratischen“ Staaten auf die weitere Aushebelung demokratischer Rechte vorbereiten und darauf einschwören, mit Israel auch dann solidarisch zu bleiben, wenn immer mehr Bilder über die Massaker und Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee öffentlich werden.

Der extreme Kontrast zwischen der Lage in den halbkolonialen und westlichen imperialistischen Ländern zeigt auch, was von der Behauptung zu halten ist, dass die ganze Welt hinter Israel stände. Unter der Welt werden vor allem die Länder Nordamerikas und Europas verstanden, die gerade einmal 12 % der Weltbevölkerung beheimaten – und auch dort ist die öffentliche Meinung vor allem die, die von den auf die imperialistische Staatsräson getrimmten Medien veröffentlicht wird, die sich in der Hand der westlichen Staaten oder der Monopolkonzerne im Medienbereich befinden.

Diese spiegeln vor allem die Interessen der imperialistischen Regierungen und Bourgeoisien wider. Sie können sich aber auch auf die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und der meisten reformistischen Parteien stützen – sei es die SPD in Deutschland, Labour in Britannien oder die schwindsüchtige PS in Frankreich. Auch die Mehrzahl der europäischen Linksparteien solidarisiert sich uneingeschränkt oder verdeckt mit Israel oder nimmt eine „neutrale“ Haltung im Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen ein. Dies verdeutlich einmal mehr den sozialchauvinistischen und proimperialistischen Charakter dieser Parteien und bürokratisierten Gewerkschaftsapparate.

Während sie sich über den „Terror“ der Hamas empören und die Tötung unschuldiger Zivilist:innen anprangern, versichern sie den israelischen Angriffen auf Gaza ihre Unterstützung, denen Tausende unschuldige palästinensische Zivilist:innen zum Opfer gefallen sind und weiter fallen werden. Statt die Seite der Arbeiter:innen und Unterdrückten in Gaza zu ergreifen, statt die palästinensischen und arabischen Migrant:innen gegen Rassismus und Repression zu verteidigen, unterstützen diese Berufsverräter:innen die Unterdrückung.

Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit Palästina ist unmöglich ohne einen entschlossenen Kampf gegen diese chauvinistischen und proimperialistischen Irreführer:innen der Arbeiter:innenklasse. Die notwendige und berechtige Kritik an den Führungen des palästinensischen Befreiungskampfes, an Hamas, Dschihad, aber auch den militanten Kräften der Fatah, der PFLP und der DFLP hat nur dann einen revolutionären und fortschrittlichen Wert, wenn sie auf der Grundlage der Unterstützung des Befreiungskampfes formuliert wird. Ansonsten bleibt sie im gegenwärtigen Krieg bestenfalls nur eine beredte Form der Passivität oder wie bei den reformistischen Führungen eine der Unterstützung der zionistischen und imperialistischen Aggression.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten des/r Unterdrücker:in anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und durch bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei die Hamas nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie Iran, Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labour Zionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Abflug oder Auslaufen verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem Kampf gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbinden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Die Solidarität mit Palästina stellt eine Aufgabe der gesamten globalen Arbeiter:innenklasse dar. Im Krieg gegen Gaza sollten die Lohnabhängigen in allen Ländern auf die Straße gehen, ihre Solidarität zum Ausdruck bringen und jede materielle und militärische Unterstützung Israels durch betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen stoppen.

Dabei kommt der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas jedoch insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisation und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina, die ihren Ursprung in Nahost fand. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass selbst in den Ländern, wo eine proisraelische Stimmungslage vorherrscht, diese nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Leonie Schmidt, ursprünglich veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Die Welt schaut gerade nach Israel und betrauert dabei fast ausschließlich die getöteten israelischen Zivilist:innen, während das Töten palästinensischer als Kampf gegen Terrorismus bemäntelt und damit unsichtbar wird. Doch ebenso unsichtbar bleibt eine weitere humanitäre Katastrophe: In Nordsyrien, in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung Rojava (Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien), fliegt die Türkei nun seit über einer Woche Bombenangriffe, die die Infrastruktur zerstören, Menschen töten und die schwersten dieser Art seit langem sind.

Seit dem 5.10.23 wurden 47 Menschen ermordet, darunter auch neun Zivilist:Innen und zwei Kinder (Stand 11.10.23). So wurden bereits mehrere Krankenhäuser durch die Angriffe zerstört sowie ein Kraftwerk getroffen, außerdem die Wasser- und Energieversorgung, Schulen, Ölfelder, Fabriken, Waren- sowie Geflüchtetenlager und Dörfer. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Infrastruktur massiv angegriffen wird, was nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellt. So ist in großen Teilen Rojavas nach den Angriffen die Stromversorgung eingebrochen. In vielen Fällen sollen die Luftschläge auch Menschen in Fahrzeugen und auf Motorrädern gegolten haben.

Erdogan möchte den Menschen die Lebensgrundlage rauben und er legitimiert es wie Netanjahu mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Am 2. Oktober kam es zu einem Anschlag der PKK in Ankara und nun wird behauptet, einer der Attentäter würde aus Nordsyrien stammen, wenngleich es dafür keine Beweise gibt. Aber die braucht es für Erdogan schließlich auch nicht, da diese Behauptung seiner Ideologie und seinem rassistischen Kampf gegen die Kurd:innen entspricht. Bereits im November 2022 wurde ein Anschlag in Istanbul als Vorwand genutzt, einen zweiwöchigen Luftangriff auf die Region zu fliegen, wo ebenso Infrastruktur getroffen wurde und unter dessen Auswirkungen die Bevölkerung heute noch zu leiden hat. Seit den Angriffen gibt es nur einige Stunden am Tag Strom, Diesel ist rar und teuer geworden und auf eine neue Gasflasche zum Kochen muss man in der Regel eine Woche warten. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung für die Bevölkerung. Drohnenangriffe sind allgegenwärtig. Und damit nicht genug: Innerhalb der Türkei wird das gerade dadurch begleitet, dass Dutzende prokurdische Aktivist:innen inhaftiert und insgesamt ein harter Kampf gegen die fortschrittlichen Bewegungen geführt wird.

Doppelmoral, so weit das Auge reicht

Erdogan sagte in einer gestrigen Ansprache an die Staatengemeinschaft, man solle sich hinsichtlich der Luftschläge gegen Gaza doch zurückhalten, denn es würde nicht den Menschenrechten entsprechen, Infrastruktur zu zerstören. Er prangerte des Weiteren das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft hinsichtlich dieser humanitären Katastrophe in Gaza an. Wenngleich seine Aussagen bezüglich Gazas einen wahren Kern enthalten, so ist das doch am Ende des Tages nichts weiter als dreckige Heuchelei. Scheinbar sind ihm Menschenrechte ziemlich egal, wenn es um den eigenen Dorn im Auge geht: den kurdischen Befreiungskampf.

Auch die USA und Russland nehmen die Angriffe ohne ein Augenzucken hin, denn sie sind es, die den Luftraum in Nordsyrien kontrollieren. Ohne die Zustimmung der Militärs beider wären die türkischen Angriffe nicht möglich. Jedoch gibt es aktuell das unbestätigte Gerücht, die USA hätten eine Drohne des Nato-Bündnispartners Türkei über dem Ort Tell Beydar abgeschossen. Sollten diese Meldungen zutreffen, wäre es das erste Mal, dass US-Militär ein Flugobjekt der Türkei abgeschossen hat.

Ziele der Türkei

Die Türkei verfolgt mit dem Angriff ihr eigenes Ziel, als Regionalmacht an der Neuordnung des Nahen Ostens mitzuwirken, aber auch innenpolitische Ambitionen werden vom Regime in Ankara verfolgt.

Die Türkei steckt seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Besonders die Inflation hat nach wie vor ein sehr hohes Ausmaß und die türkische Währung Lira ist weiterhin schwach. Im August lag die Teuerungsrate bei 58,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, was extrem hoch ist. Diese wird auf Arbeiter:innen und Jugendliche abgewälzt. Der Krieg in Syrien schafft eine äußere Ablenkung von den sozialen Angriffen, aber bedient auch ganz unmittelbar ökonomische Interessen:

Die „TOKI“-Häuser sollen da, wo zerstört wird, von staatlichen Bauunternehmen aufgebaut werden und die Baubranche ankurbeln (TOKI: Toplu Konut İdaresi Başkanlığı; im Jahr 1984 gegründete türkische Wohnungsbaubehörde). Außerdem will Erdogan in diesem Gebiet bis zu 2 Millionen Geflüchtete zwangsweise ansiedeln und das passt wiederum super in den Kram der EU. Siehe die aktuelle GEAS-Gesetzgebung, bei der Menschen aus vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) so schnell wie möglich dorthin abgeschoben werden sollen. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister:innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z. B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Der Kampf um Befreiung ist international

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Gleichzeitig müssen wir auf die Doppelmoral und auf die Ähnlichkeiten der Kämpfe in Gaza und in Nordsyrien hinweisen: one struggle, one fight! Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung!

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!

  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist:innen!

  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Nein zur israelischen Unterdrückung – Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand

Dave Stockton, Infomail 1233, 9. Oktober 2023

Am 7. Oktober um 6.30 Uhr Ortszeit feuerte die im Gazastreifen ansässige palästinensische Hamas ein Sperrfeuer von Raketen auf Israel ab, von denen einige das 80 Kilometer entfernte Tel Aviv erreichten. Zur gleichen Zeit überraschten Hamas-Kämpfer:innen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), durchbrachen die befestigten Linien und griffen die Siedlungen Sderot und Aschkelon an.

Israelischen Medien zufolge eröffneten die Hamas-Kräfte das Feuer auf Zivilist:innen, sowohl in den Straßen der Stadt als auch von Jeeps aus, die auf dem Lande unterwegs waren. Die Times of Israel berichtete von Schießereien rund um den Militärstützpunkt Re’im. Bilder in den sozialen Medien zeigen palästinensische Jugendliche, die um einen zerstörten israelischen Panzer herum feiern.

Ungefähr 700 Israelis wurden getötet und mehr als 2.000 verletzt. Die Hamas behauptet außerdem, Dutzende von Israelis, darunter Soldat:innen, gefangengenommen zu haben, die sie als Geiseln für die Freilassung palästinensischer Gefangener halten will. Innerhalb weniger Stunden flogen jedoch Dutzende von israelischen Kampfjets Angriffe auf militärische und zivile Ziele im Gazastreifen und töteten 200 Palästinenser:innen in einer Operation, die die IDF „Eiserne Schwerter“ nennt. Mindestens 410 Palästinenser:innen sind bisher bei israelischen Vergeltungsangriffen getötet worden.

Unmittelbare Auswirkungen

Die unmittelbaren Auswirkungen des „Ausbruchs“ der Hamas-Kräfte und das Ausmaß des Raketenbeschusses sind angesichts der strengen Belagerung des Gazastreifens und der bisherigen Wirksamkeit des israelischen Überwachungssystems bemerkenswert. Es scheint, dass der Angriff die IDF und den Sicherheitsdienst Schin Bet völlig überrumpelt hat. Zweifellos wird es zu einem massiven Angriff auf Gaza kommen, und Siedler:innen und Regierungstruppen werden wahrscheinlich in verschiedenen Teilen des Westjordanlandes brutale Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, während die Weltöffentlichkeit abgelenkt ist.

Innerhalb von fünf Stunden nach dem Ausbruch des Angriffs verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu in einer Rundfunkansprache: „Bürger:innen Israels, wir befinden uns im Krieg und wir werden gewinnen.“ Und weiter: „Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln.“ Das Verteidigungsministerium mobilisierte am 9. Oktober 300.000 Reservist:innen, die größte Zahl in der Geschichte Israels. Weite Gebiete vom Gazastreifen bis nach Tel Aviv wurden in den Ausnahmezustand versetzt. Alle Treffen und Versammlungen wurden verboten.

Diese Maßnahmen könnten Netanjahu auch aus einer schwierigen innenpolitischen Lage heraushelfen. Das ganze Jahr über und bis weit in den September hinein protestierten wöchentlich Hunderttausende Israelis, darunter auch IDF-Reservist:innen, gegen seinen Versuch, die Befugnis des Obersten Gerichtshofs, ein Veto gegen Regierungsgesetze einzulegen, zu untergraben. Abgesehen von kleinen Kontingenten von Linken blieben diese Demonstrationen jedoch dem zionistischen Staat gegenüber entschlossen loyal, und die Reservist:innen machten deutlich, dass sie im Falle eines Krieges dienen würden.

Netanjahu war auch von der US-Regierung wegen seiner drohenden Verstöße gegen die Demokratie kritisiert worden (natürlich nur gegen israelische Bürger:innen, nicht die Palästinenser:innen). Jetzt beeilte sich Joe Biden, den „Terrorismus“ der Hamas anzuprangern und Israel zu versichern, dass es alle Hilfe bekommen wird, die es braucht. Und „natürlich“ stimmen die westlichen Verbündeten, darunter auch der deutsche Imperialismus, in den Chor der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel ein. Von der AfD über die CDU/CSU bis zur Ampel-Koalition rufen alle nach Unterstützung für den hochgerüsteten zionistischen Staat.

Freiluftgefängnis Gaza

Tatsächlich ist Israel bereits ein hochgerüsteter Staat, der keine zusätzlichen Waffen aus den USA benötigt. Die „westlichen Demokratien“ sind vorsätzlich blind gegenüber der Tatsache, dass Israels Demokratie nicht einmal seinen eigenen palästinensischen Bürger:innen gleiche Rechte einräumt, geschweige denn den rechtlosen Bewohner:innen des Westjordanlandes und des Freiluft-Gefangenenlagers Gaza.

Gaza ist gerade 40 Kilometer lang und zwischen sechs und 14 Kilometer breit. Auf engstem Raum beherbergt es eine Bevölkerung von über 2 Millionen Menschen. Seine Hoch- und Krankenhäuser wurden schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt, vor allem bei den Operationen „Gegossenes Blei“ 2008/09 und „Protective Edge“ im Jahr 2014. Die Bedingungen dort sind wirklich unerträglich.

Eine Reihe brutaler Aktionen der rechtsgerichteten Regierung Netanjahu kommt einer Provokation gleich, die die Behauptung, die Israelis seien Opfer des Terrorismus – eine Behauptung, die nicht nur von der Regierung Netanjahu, sondern auch von Washington, Paris, London und Berlin aufgestellt wird –, als verachtenswerte Unwahrheit erscheinen lässt.

Die Hamas hat in den letzten Tagen auf die Übergriffe israelischer Siedler:innen auf die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem hingewiesen, die mit staatlicher Unterstützung auch an der ethnischen Säuberung Ostjerusalems von seinen palästinensischen Bewohner:innen beteiligt sind. Daher haben sie ihre Gaza-Offensive „Operation al-Aqsa-Flut“ genannt. In diesem Jahr kam es auch zu Angriffen der IDF auf das riesige Flüchtlingslager in Dschenin, bei denen Palästinenser:innen getötet, verletzt und ihre Häuser mit Bulldozern zerstört wurden.

Die intensivsten Angriffe fanden im Januar/Februar und erneut im Juni statt, bei denen Hunderte von Zivilist:innen und die Fedajin des Bataillons „Löwengrube“ getötet wurden. Auch in anderen Städten des Westjordanlands, vor allem in Nablus und Huwara, wurden Zivilist:innen und ihre jungen Verteidiger:innen getötet. Gleichzeitig haben rechtsgerichtete Siedler:innen mit Unterstützung von Regierungsstellen Dorfbewohner:innen von ihrem Land vertrieben.

All dies wird von den westlichen Medien zweifellos vergessen, die den zionistischen Staat stets als „einzige Demokratie“ im Nahen Osten darstellen und Israel praktisch wie einen europäischen oder nordamerikanischen Staat behandeln. Das ist kaum verwunderlich, da es sich um einen Staat handelt, der nur im Rahmen des britischen Mandats entstehen konnte, das die zionistische Besiedlung förderte und der einheimischen palästinensischen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Im Jahr 1948 unternahmen die britischen Truppen nichts, um Israels Eroberung von 78 % des Mandatsgebiets zu stoppen, indem sie mehr als die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung vertrieben: ein Prozess, der sich nun unter Schirmherrschaft der USA durch die Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens wiederholt.

Widerstandswille

Doch trotz 75 Jahren Besatzung, ethnischer Säuberung und wiederholtem Verrat durch die umliegenden arabischen Staaten haben die Palästinenser:innen den zionistischen Staat nie anerkannt oder den Kampf für die Wiederherstellung ihres Staates und die Rückkehr ihrer Flüchtlinge aufgegeben. Wie ineffektiv auch immer die von den Führungen des Widerstands verfolgten Strategien sein mögen, revolutionäre Sozialist:innen in aller Welt haben den Kampf gegen die nationale Unterdrückung stets verteidigt.

Als revolutionäre Marxist:innen haben wir immer den politischen Charakter der Hamas angeprangert, das System, mit dem sie den Gazastreifen beherrscht, ihre Unterstützung der Mullah-Diktatur im Iran oder des Erdogan-Regimes in der Türkei. Ebenso lehnen wir den willkürlichen Angriff auf Zivilist:innen ab und kritisieren die Strategie der Hamas. Aber eine Sache ist der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands gegen den Zionismus, eine andere ist die Unterstützung des zionistischen Staates gegen das palästinensische Volk und sein Recht auf Widerstand. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden.

Die vor 30 Jahren in Oslo propagierte „Zweistaatenlösung“ erweist sich immer mehr als bankrott, nicht weil die palästinensische Führung nicht kompromissbereit wäre, sondern weil die zionistische Bewegung niemals ihr Ziel aufgeben würde und wird, ganz Palästina zu erobern und das Volk seiner Heimat zu berauben. Wir weisen den Vorwurf, der Widerstand gegen einen selbsternannten Siedler- und Kolonialstaat sei eine Form des Antisemitismus, mit Verachtung zurück. Die Förderung des Gedankens, dass es einen „neuen Antisemitismus“ der extremen Linken gibt, lenkt von dem tatsächlichen Antisemitismus ab, der heute in der extremen Rechten in Europa und den USA zu beobachten ist, von denen viele Israel bedingungslos unterstützen.

Ein einziger palästinensischer Staat kann sowohl Menschen palästinensischer als auch israelischer Nationalität umfassen, vorausgesetzt, dass es keine Privilegien für beide gibt. Wenn Palästina zudem ein sozialistischer Staat wird, in dem das Land und die Ressourcen gemeinsam genutzt werden, in dem für die Bedürfnisse der Massen und nicht für den Profit der Wenigen produziert wird, kann dieses historische Unrecht überwunden werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiter:innenklasse beider Nationen, ja der gesamten Region, dies zu erreichen. Dazu gehört ein Kampf gegen die imperialistischen Mächte, die die Region so lange geteilt und ausgebeutet haben, und für eine sozialistische Föderation in der gesamten Region. Bis dahin haben die gesamte Arbeiter:innenklasse und die fortschrittliche Bewegung der Welt die Pflicht, den Kampf der Palästinenser:innen zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.




Staatsstreiche bedrohen Frankreichs Kontrolle über ehemalige afrikanische Kolonien

Dave Stockton, Infomail 1232, 20. September 2023

Am 26. Juli nahm die Präsidentengarde in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, unter Führung des Brigadegenerals Abdourahamane Tchiani den Präsidenten Mohamed Bazoum fest und verschleppte ihn. Gerüchte besagen, dass der Auslöser für diesen Putsch Bazoums Plan zur Ersetzung der Kommandostellen in Präsidentengarde und Armee war.

Der Rest der Armee unterstützte sofort den Staatsstreich, der auf den Straßen auch von Demonstrant:innen begrüßt wurde. Einige der Demonstrationen waren  vom M62-Bündnis politischer und sozialer Bewegungen organisiert, das während der letztjährigen öffentlichen Proteste gegen die gestiegenen Spritpreise gebildet worden war. Die Demonstrant:innen schwenkten nicht nur die Fahnen Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“. Redner:innen forderten den Einsatz der Truppen der russischen Wagnersöldner:innen in Niger wie schon im benachbarten Mali, wo diese 2020 den putschenden Führer:innen halfen, den Rückzug der französischen Streitkräfte aus dem Land zu beschleunigen.

Der Staatsstreich im Niger steht in einer Reihe mit gleichartigen Vorfällen im Südsaharagürtel Afrikas – Guinea, Burkina Faso, Tschad, Sudan und nun, knapp einen Monat nach Niger, Gabun in Äquatorialafrika. Alle außer dem Sudan waren früher französische Kolonien, in denen Frankreich starke Wirtschaftsverbindungen und oft Militärpräsenz unterhielt unter dem Deckmantel der „Bekämpfung des Terrorismus“. Gabun ist wiederum Mitglied des britischen Commonwealth.

Ein antikoloniales Erbe unter rangniederen Offizier:innen in westafrikanischen Streitkräften reicht zurück bis zu Leuten wie Thomas Sankara, der in Burkina Faso von 1983 – 1987 herrschte, und Jerry Rawlings in Ghana. Sie waren beide von panafrikanischen Idealen beseelt und von der kubanischen Revolution beeinflusst. Doch wenig spricht dafür, dass die jetzigen Putschist:innen von diesem Radikalismus angetrieben sind. Sie gehören eher einer anderen Tradition an, dem „Prätorianismus“, d. h. Revolten der privilegierten Präsidentengarde gegen ihre Vorgesetzten.

Heuchelei auf allen Seiten

Gewiss waren die „demokratischen“ Präsidenten, die sie aus dem Weg räumten, oft korrupt und ihre (Wieder-)Wahl mit schweren Makeln behaftet. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Putschist:innen sich als weniger korrupt erweisen werden oder gar demokratischer als die Figuren, die sie ersetzt haben. Die Idee, dass die Wagnergruppe, Putins Russland oder chinesische Investor:innen den Staaten der Region zu größerer Unabhängigkeit verhelfen werden, ist völlig abwegig.

Genauso falsch sind die Behauptungen Frankreichs, der Europäischen Union oder USA, dass sie dagegen die Schöpfer:innen bedeutsamer Demokratie seien und jemals den extrem niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung dieser Länder heben würden. Niger weist einen der niedrigsten sozialen Entwicklungsindizes (HDI) in der Welt auf. 41 % der Einwohner:innen darben in absoluter Armut, nur 11 % haben Zugang zu medizinischer Versorgung und 17 % leben mit Strom.

Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich hat diesen Staatsstreich verurteilt, nicht allein, weil Bazoum ihr Schützling war, sondern weil Niger vorgesehen war als Zentrum für eine neu geordnete französische und US-amerikanische Dominanz in der Region nach den Rückschlägen in Mali und den Nachbarstaaten. Präsident Emmanuel Macron drohte damit, dass „kein Angriff auf Frankreich und seine Interessen geduldet werden wird“. Frankreich ist im Niger noch mit einer Truppenstärke von 1.500 Kräften vertreten, die USA hat 1.100, und sie haben sich geweigert, Brigadier Tchianis Verlangen nach ihrem Rückzug anzuerkennen.

Die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) hat sofortige Sanktionen verhängt, Flugverbotszonen und Grenzschließungen erlassen. Ihr dominierender Staat, Nigeria, hat die Energiezufuhr unmittelbar unterbunden, Grenzen geschlossen und Lebensmitteltransporte blockiert. Die Preise für Hauptnahrungsmittel wie Reis schossen innerhalb von wenigen Tagen der Blockade schlagartig in die Höhe. Ziel ist, die Bevölkerung auszuhungern, um die Wiedereinsetzung von Frankreichs Protegé herbeizuführen.

Die Verteidigungsminister:innen der Ecowas-Länder haben auf ihrer Zusammenkunft in der nigerianischen Hauptstadt Abuja auch eine militärisches Eingreifen angedroht, falls Bazoum nicht ins Amt zurückkehrt. Dieses würde von der nigerianische Armee angeführt, die den Großteil der Ecowas-Truppen stellt. Diese Aussicht wiederum hat Mali, Tschad und Burkina Faso veranlasst, Niger zu Hilfe zu eilen, falls die Ecowas-Verbände einmarschieren. Damit könnte ein Krieg in der gesamten Region entbrennen. Französische Minister:innen haben diesem Vorgehen zugestimmt, doch die Verantwortlichen der US-Administration gehen vorsichtiger zu Werke und scheinen Verbindungen zwischen den Militärregierungen der Region herstellen zu wollen, um russische Fortschritte aufzuhalten.

Ein Krieg in der Region wäre ein Geschenk für die verschiedenen dort operierenden  islamistischen Organisationen. Darunter befinden sich die Jama’a Nusrat ul-Islam wa al-Muslimin (Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime; JNIM), der Islamische Staat der Provinz Westafrika (ISWAP), der Islamische Staat in der Größeren Sahara (ISGS), al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM), Murabitunmiliz (Westafrika), Ansar Dine (Unterstützer des Glaubens), Katiba Macina (Befreiungsfront Macina; MLF)und Boko Haram (Übers. etwa: Verwestlichung ist ein Sakrileg). Sie haben sich bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber regionalen Armeen und deren französischen Ausbilder:innen erwiesen. Diese Gruppen terrorisieren Teile der ansässigen Bevölkerung, erhalten aber auch Unterstützung von anderen Teilen der Einwohner:innen. Die Brutalität der „antiterroristischen“ Einheiten hilft ihnen, arbeits- und perspektivlose Jugendliche zu rekrutieren.

Koloniale Ausbeutung

Der Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht allein die brutale koloniale Erfahrung zugrunde, selbst nicht die wiederholten militärischen Interventionen in den früheren Kolonien, um die „Ordnung zu bewahren“ oder „französische Bürger:innen zu retten“, sondern vielmehr die ökonomische Ausbeutung der reichen natürlichen Ressourcen der Region in Verbindung mit dem Scheitern, eine sichtbare Wirtschaftsentwicklung in Gang zu bringen.

Frankreich unterhält gegenwärtig etwa 30 Firmen oder Niederlassungen in Niger, darunter das Orano-Konsortium, das in der riesigen Tamgak-Mine nach Uran schürft. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Rohstoffe sind seit langem lebenswichtig für Frankreichs Nuklearindustrie, die 68 % des Stroms für das Land erzeugt. Es gibt auch größere Lithiumvorkommen, die immer wertvoller für die schnell wachsende Elektroautoindustrie werden. Doch dennoch oder gerade deswegen rangiert Niger immer noch auf Platz 189 unter 191 Ländern laut HDI der Vereinten Nationen von 2022.

Der Machtwechsel in Niger ist ein weiterer Schlag für Frankreich, und im weiteren Sinne auch für die USA, Großbritannien und Staaten wie Deutschland und Italien, die französische Truppen in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt und damit zugleich den Hass gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu angefacht haben, denn sie haben weder die versprochene Sicherheit gebracht noch die Armut gelindert. Diese Umstände haben die Infiltration der Wagnergruppe in der Region begünstigt. Die russische Söldnertruppe operiert bereits im benachbarten Mali wie auch in der Zentralafrikanischen Republik, wo sie auch an der Ausbeutung der dortigen Goldminen beteiligt ist. Das Wagner-Kommando befehligte 5.000 Einsatzkräfte in 12 Ländern innerhalb Afrikas. Der Anführer Jewgeni Prigoschin begrüßte noch kurz vor seinem Tod den Putsch im Niger.

Nigers Ex-Präsident Bazoum war ein besonders enger Verbündeter Frankreichs. Deswegen ist sein Sturz ein eminent harter Schlag für Emmanuel Macron. Nach der erzwungenen Auflösung von „antiterroristischen“ Gemeinschaftsoperationen mit fünf Nationen und der demütigenden Vertreibung seiner Truppen aus Mali hatte er das Land als neues Zentrum einer Operation geringeren Ausmaßes ausersehen, die mit Unterstützung von westafrikanischen Militärpartner:innen, ausgebildet von französischen Spezialist:innen vorgehen sollte.

Diese neue Strategie sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, die auf ihrem Höhepunkt 3.500 französische Soldat:innen im Einsatz sah. Frankreich hatte sich in einen neunjährigen militärischen Konflikt mit islamistischen Guerillas verwickelt und auch tausende Truppen in Niger und Burkina Faso stationiert. Ihre Präsenz erzürnte die Bevölkerung vor Ort. Unter wachsenden Streiks und Protesten waren die französischen Einheiten gezwungen, Mali zu verlassen, und ebenso eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen.

Das ganze Staatensystem der Region ist ein halbkolonialer Ersatz für Teile des französischen Imperiums und erlangte Anfang der 1960er Jahre nominelle Unabhängigkeit, genannt Françafrique, d. h. Frankreichs „Hinterhof“. Seine Bestandteile sind in den vergangenen 5 Jahren wie Dominosteine gefallen. Doch Frankreichs Banken und Minenkonzerne beherrschen immer noch die Ökonomien der westafrikanischen Länder. Diese äußerst schwachen Staaten sind trotz wiederholter Anstrengungen nicht in der Lage gewesen, ein gemeinsames Währungssystem unabhängig von der Banque de France aufzubauen. Der CFA-Franc ist weiterhin die gemeinsame Währung für 14 afrikanische Staaten, auch Gabun, und das bedeutet, dass jedes Mitgliedsland die Hälfte seiner Devisenreserven in Paris deponieren muss.

Dieses unverhüllt ausbeuterische halbkoloniale System und die wirtschaftlichen Entbehrungen, die es den Ländern auferlegt, erklärt etwas die anfängliche Begeisterung für den Staatsstreich. Aber die Hinwendung zum russischen oder chinesischen Imperialismus wird der Region keine Lösung für die Unterentwicklung bieten, die Hunderttausend in das Wagnis treibt, die Wüste und das Mittelmeer zu überqueren, um Europa zu erreichen.

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Tötung Prigoschins und des Führungskerns der Wagnergruppe und ihre Ersetzung durch russische Generäle sie weniger wirkungsvoll machen wird als bisher. Auch die neuen Militärregierungen werden nicht widerstandsfähiger sein gegen Korruption und Bestechung durch westliche, russische oder chinesische Regierungen und Unternehmen. Keines dieser rivalisierenden Lager kann diesem Teil Afrikas Entwicklung oder gar Unabhängigkeit bescheren.

Was tun?

Im Verlaufe einer französischen, US- oder Ecowas-Militärintervention sollten Arbeiter:innen und Jugendliche ihre Länder verteidigen, indem sie sich einem bewaffneten Kampf anschließen, und danach streben, an die Spitze einer nationalen Befreiungsbewegung zu gelangen. Doch sollten sie der Militärherrschaft der Putschführer:innen keine politische Gefolgschaft leisten, die sich dem russischen Imperialismus andienen und keine Freund:innen der Arbeiter:innenklasse sind.

Ein solcher Befreiungskampf könnte zur Schaffung von Arbeiter:innenräten führen, die Demokratie, Frauen- Gewerkschafts- und Minderheitenrechte verteidigen und als Organisatoren von Wahlen für  souveräne verfassunggebende Versammlungen mit abrufbaren Delegierten auftreten. Aber freie Wahlen allein werden nicht ausreichen, um die krasse wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zu lösen. Dafür müssen die großen ausländischen Firmen, die die Rohstoffindustrien und Handelsfirmen kontrollieren, unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und in einen Entwicklungsplan aufgenommen werden.

Damit dies eine realistische Perspektive wird, muss die Arbeiter:innenklasse  in Niger und ganz Westafrika revolutionäre Parteien aufbauen, die für das Ziel einer sozialistischen Föderation der gesamten Region kämpfen. Das heißt, Einheit herzustellen über die künstlichen Grenzen der Kolonialzeit hinweg und quer durch die französisch- und englischsprachigen Teilungen. Der Kampf muss aufgenommen werden für die Kontrolle über die gewaltigen natürlichen und industriellen Ressourcen dieser Länder und deren Einplanung in eine massive Hebung des Lebensstandards der Bevölkerungen. Kurzum, eine echte antiimperialistische Revolution muss unausweichlich zu einem Kampf für den Sozialismus auf Grundlage von Arbeiter:innendemokratie in Stadt und Land und bei den einfachen Soldat:innen geraten.

Gerade jetzt brauchen die Arbeiter:innen der afrikanischen Sahelzone die Hilfe und Solidarität der Arbeiter:innenschaft Europas und der USA. In diesen Ländern müssen Sozialist:innen gegen jede Ecowas-Invasion des Niger, gegen jede Beteiligung französischer, EU- oder US-Truppen auftreten und müssen für die Aufhebung aller Sanktionen von dieser Seite eintreten.




Zum Todestag von Jina Mahsa Amini: Ein Jahr, das den Iran veränderte

Martin Suchanek, Infomail 1231, 15. September 2023

Am 16. September 2022 starb die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini an den Folgen der Verletzungen, die ihr die sog. Sittenpolizei bei ihrer Festnahme und in der Haft durch brutale Misshandlung zufügte. Doch sie sollte nicht ein weiteres Opfer eines verbrecherischen, despotischen Regimes bleiben, auf dessen Mord durch die Staatsorgane ein zweiter Tod durch das öffentliche Vergessen folgte. Er blieb nicht ungesühnt und auch nicht folgenlos.

Er entfachte eine Welle der Massenproteste und des Widerstandes, wie sie der Iran seit 2009, der sog. grünen Revolution gegen massiven Wahlbetrug des Regimes, nicht gesehen hatte. Nachdem der Tod Jina Mahsa Aminis bekanntgeworden war, gingen in Teheran und zahlreichen anderen Städten Tausende und Abertausende auf die Straße.

Ausbreitung der Bewegung

In den ersten beiden Monaten breitete sich die Bewegung über das gesamte Land und weite Bevölkerungsschichten aus. In den kurdischen Regionen legte sogar ein befristeter Generalstreik das öffentliche Leben lahm. In zahlreichen Städten bildeten die Universitäten ein Zentrum des Widerstandes, mit dem sich die Masse der Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiter:innenklasse solidarisierte. Von Beginn an standen die Frauen und die Jugend im Zentrum der Bewegung, bildeten ihre treibende Kraft, offenbarten den tief sitzenden Hass gegen das Regime. Millionen schlossen sich den Protesten an – trotzten der massiven Repression durch Polizei, Sondereinheiten und paramilitärische Schergen des Regimes.

Doch trotz extremer Brutalität, tausender Festnahmen, Verhaftungen und der Ermordung zahlreicher Demonstrant:innen auch in den ersten Wochen der Protestbewegung ließen sich die Massen nicht einschüchtern. Die Mullahs befanden sich eindeutig in der Defensive. Zu spät und zögerlich wurde eine Auflösung und „Reform“ der verhassten Sittenpolizei ins Spiel gebracht. Vom Regime inszenierte Gegenkundgebungen zu den Protesten blieben viel kleiner als die Massenaktionen der Opposition, offenbarten, wie gering die soziale Basis, wie verhasst die Mullahdiktatur und die politische und soziale Ordnung, die sie mit allen Mitteln verteidigt, waren und sind.

Die Bewegung erschütterte die herrschende Klasse und deren iranische Spielart des Kapitalismus. Aber sie vermochte trotz eines unglaublichen Heroismus nicht, das Regime zu stürzen. Der Staatsapparat und die Repressionsorgane wurden zwar erschüttert, aber ihr innerer Zusammenhalt und ihre Einsetzbarkeit gegen die Bewegung wurden nicht gebrochen. Das betraf nicht nur die direkten, professionellen inneren Repressionsorgane und paramilitärische Stützen des Regimes, sondern vor allem auch die Armee samt ihren rund 220.000 Wehrpflichtigen.

Die Reaktion schlägt zurück

Dies ermöglichte dem Regime, ab Ende 2022 immer massiver und zielgerichteter gegen die Bewegung vorzugehen. Es ertränkte sie geradezu in Blut und Gewalt. Weit mehr als 500 Demonstrierende wurden im letzten Jahr getötet. Insgesamt sollen rund 20.000 Menschen verhaftet worden sein. Außerdem wurden Dutzende aufgrund ihrer Beteiligung an der Bewegung oder als angebliche Rädelsführer:innen in Schauprozessen und Schnellverfahren zum Tode verurteilt und exekutiert. Insgesamt wurden seit September 2022 rund 500 Hinrichtungen vollstreckt. Die sog. Sittenpolizei verblieb in Amt und Würden.

Auch wenn die Bewegung zurückgedrängt und das Regime wieder konsolidiert wurde, so wurde bis heute die alte Ordnung nicht vollständig wiederhergestellt. Noch immer gehen Frauen mit offenen Haaren auf die Straße und brechen öffentlich die reaktionären Bekleidungsvorschriften des Regimes – trotz verschärfter Repression und drakonischer Strafen. Auch wenn diese Heldinnen gewissermaßen die Speerspitze der Entschlossenheit darstellen, so ist es nach wie vor gerade in den Städten kein Randphänomen und ihre Taten werden von vielen in der Bevölkerung mehr oder minder offen unterstützt. Dieser Widerstandswille blieb trotz des Rückgangs der Bewegung ungebrochen.

Doch was sind die Ursachen dafür?

Erstens haben sich die Menschen selbst verändert. Das gilt nicht nur für die Protestbewegung seit dem September 2022, die teilweise vorrevolutionäre Züge annahm. Im Grunde stehen das iranische Regime und die wirtschaftliche Elite seit 2019, dem Beginn einer vor allem von der Arbeiter:innenklasse getragenen ökonomischen und regimefeindlichen Bewegung, immer neuen Mobilisierungen gegenüber. Diese wurden von den Lohnabhängigen, von der städtischen und ländlichen Armut, ja selbst von großen Teilen der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums getragen. 2022 spielten die Frauen eine zentrale Rolle, aber auch die Jugend und die unterdrückten Nationen und Nationalitäten. Viele Aktive aus der Bewegung berichten davon, dass das Bewusstsein für verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterdrückung in der Oppositionsbewegung deutlich gestiegen sei.

Hinzu kommt aber auch, dass die Streiks ab dem Jahr 2019 wie auch Massenproteste seit 2022 nicht nur mit Mobilisierungen das Regime erschütterten. Sie führten auch dazu, dass sich eine Schicht von gewerkschaftlich und politisch engagierten Aktivist:innen und Führungskernen bildete, von halblegaler und illegaler Organisation, die einer Bewegung auch in der Repression eine gewisse Kontinuität verleihen können.

Zweitens wurde die Herrschaftsbasis des Regimes dünner. Zweifellos konnten und können sich die Mullahs weiter auf einen aufgeblähten und parasitären Staats- und Repressionsapparat stützen. Sie verfügen auch über ein weitgehendes Monopol über die Medien und mit dem Klerus über einen zusätzlichen zentralen ideologischen Apparat. Sie stützen sich außerdem trotz der ökonomischen Krise nach wie vor auf eine Mehrheit der herrschenden kapitalistischen Klasse, die ihrerseits vom Regime nicht nur begünstigt wird, sondern auf deren parasitäre Sonderinteressen letztlich die Wirtschaftspolitik Teherans ausgerichtet ist.

Doch die Allianz von Bourgeoisie und Theokratie sowie angelagerten Staatsfunktionär:innen und kleinbürgerlichen Schichten, die eng mit dem Staat verbunden sind, verteidigt ihre eigenen Privilegien vor dem Hintergrund einer chronischen Stagnation und Krise, von massiver Inflation, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Massen. Auch wenn Teheran seine internationale Isolierung durch Verbindungen mit China, Russland und das Abkommen mit Saudi-Arabien ein Stück weit durchbrechen kann, so ändert das an der wirtschaftlichen und sozialen Misere wenig. Anders als noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermag das Regime längst nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen durch ökonomische Erfolge und Verbesserungen des Konsumniveaus zu befrieden.

Im Gegenteil. Auch das tägliche, „normale“ Leben wird immer schwieriger, immer unerträglicher. Das schlechte Leben fürchten viele mittlerweile mehr als Repression und Todesgefahr. Daher halten so viele trotz der Brutalität des Regimes an ihrem Widerstand oder jedenfalls an ihrer Sympathie dafür fest. Denn nur dieser verspricht Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben.

Diese chronische Krise, ja Sackgasse, in der das politisch-ökonomische Gesamtsystem des Iran steckt, hat zu einer extremen Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, aller, die nicht über Privilegien, Profite und Klientelismus mit dem Regime verbunden sind. Dessen Herrschaft muss sich mehr und mehr auf Gewalt und Repression stützen. Damit ist auch die nächste Revolte, der nächste gesellschaftliche Ansturm vorprogrammiert. Am Jahrestag der Proteste, die Jina Mahsa Aminis Tod entfacht hat, wird es sicher wieder zu Aktionen und Demonstrationen im ganzen Land kommen. Auch wenn es leider unwahrscheinlich ist, dass diese die Bewegung neu entfachen werden, so sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Massenmobilisierungen 2019 und 2022 nur drei Jahre lagen. Auch wenn wir nicht überoptimistisch sein dürfen und damit rechnen müssen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die Aktivist:innen und die Bewegung von 2022 neu und möglicherweise auch um einen neuen Fokus wieder formiert, so ist eine nachhaltige politische, soziale und ökonomische Konsolidierung des Regimes nahezu ausgeschlossen.

Umso wichtiger ist es, die Lehren daraus zu ziehen, warum die Bewegung 2022 das Regime nicht stürzen und ihre Ziele nicht erreichen konnte. Dies ist unerlässlich, wenn wir uns darauf vorbereiten wollen, bei einem nächsten Ansturm erfolgreich zu sein.

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und die Bildung von Soldat:innenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder musste sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit denen ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des westlichen „demokratischen“ Imperialismus). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung gipfelt, entstehen nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Niger: Putsch legt akute Krise offen

Dave Stockton, Infomail 1229, 8. August 2023

Am 26. Juli verhaftete in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, die Präsidentengarde unter der Führung von Brigadegeneral Abdourahamane (Omar) Tchiani Präsident Mohamed Bazoum und setzte ihn ab. Nach kurzem Zögern folgte der Rest der Armee diesem Beispiel.

Staatsstreich

Den Staatsstreich begrüßten zahlreiche Demonstrant:innen, von denen viele von der M62-Allianz (M62: Heilige Union zur Wahrung der Souveränität und der Würde des Volkes) politischer und sozialer Bewegungen organisiert wurden, die sich während der Straßenproteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise im vergangenen Jahr gebildet hatte. Sie schwenkten nicht nur die Flagge Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“ Die Redner:innen forderten, dass die Wagner-Truppen nach Niger kommen sollten, wie sie es in Mali getan haben. Auslöser für den Putsch waren offenbar die Pläne von Präsident Bazoum, die Chefs der Präsidentengarde und der Armee auszutauschen.

Unter den jungen Offizieren der westafrikanischen Streitkräfte gibt es eine Tradition der antikolonialen Politik, die auf Persönlichkeiten wie Thomas Sankara, der Burkina Faso von 1983 – 1987 regierte, oder Jerry Rawlings in Ghana zurückgeht. Sie waren beide von panafrikanistischen Idealen motiviert und von der kubanischen Revolution beeinflusst.

Es ist unwahrscheinlich, dass die heutigen Putschisten durch eine solche Radikalität motiviert sind. Die Vorstellung, dass die Hinwendung zu Wagner oder Putins Russland den Staaten der Region zu Unabhängigkeit oder Entwicklung verhilft, ist in der Tat eine völlige Illusion. Aber das ist auch die Vorstellung, dass Frankreich oder die EU/USA für Demokratie stehen. Sie sind gegen den Putsch, weil Bazoum ihr Mann war.

Kein Wunder also, dass seine größte Hoffnung auf Wiederherstellung seiner Präsidentschaft aus dem Ausland kommt. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hat den Staatsstreich sofort verurteilt und jegliche Hilfe für Niger eingestellt. Ein erhebliches wirtschaftliches Druckmittel, da 40 Prozent des nigrischen Staatshaushalts aus ausländischer Hilfe stammen. Emmanuel Macron drohte, dass „jeder Angriff auf Frankreich und seine Interessen nicht geduldet wird“. Seine Verurteilung wurde von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten unterstützt.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verhängte Sanktionen, darunter eine Flugverbotszone und Grenzschließungen, und ihr dominierender Staat Nigeria, der 70 Prozent der nigrischen Elektrizität liefert, unterbrach die Stromversorgung, so dass das Land in nächtliche Dunkelheit fiel.

Die Verteidigungsminister der ECOWAS, die in der nigerianischen Hauptstadt Abuja zusammentrafen, drohten mit einer militärischen Intervention, falls Bazoum nicht bis zum 6. August an die Macht zurückkehren würde. Die Frist ist bereits verstrichen, aber bisher gibt es keine Anzeichen für einen Angriff. Als Reaktion auf die Drohungen haben Nigers Nachbarstaaten Mali, Tschad und Burkina Faso jedoch versprochen, dem Land im Falle einer Invasion zu Hilfe zu kommen, wodurch ein umfassender regionaler Krieg droht.

Imperialistische Interessen

Frankreich ist mit 1.500 Soldat:innen in Niger vertreten, die USA mit 1.100. Angeblich sollen sie die nigrischen Streitkräfte ausbilden und bewaffnen, um islamistische Rebellen zu bekämpfen. Brigadier Tchiani hat alle Militärabkommen mit Frankreich aufgekündigt.

Der Grund für die Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht nur in seiner brutalen kolonialen Vergangenheit und auch nicht in den wiederholten militärischen Interventionen in den ehemaligen Kolonien zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder zur Rettung französischer Zivilist:innen, sondern in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region und dem Versagen, eine ernsthafte wirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen.

Frankreich hat derzeit rund 30 Unternehmen oder Tochtergesellschaften in Niger, darunter das Konglomerat Orano, das die riesige Uranmine im Tamgakgebirgsmassiv betreibt. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Produktion ist seit langem für die französische Atomindustrie, die 68 Prozent des Stroms des Landes produziert, von großer Bedeutung. Das Land verfügt auch über große Lithiumvorkommen, die aufgrund der schnell wachsenden Elektrofahrzeugindustrie immer wertvoller werden.

Trotz oder gerade wegen dieses immensen natürlichen Reichtums und derjenigen, die ihn ausbeuten, rangiert Niger im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen für 2022 immer noch auf Platz 189 von 191 Ländern. 40 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut.

Ein Wegfall von Niger wäre ein schwerer Schlag für Frankreich und die USA, Großbritannien und Länder wie Deutschland und Italien, die die französischen Streitkräfte in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt haben. Seit den US-geführten Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen hat sich das Zentrum der islamistischen Guerillabewegungen in die Regionen rund um die Sahara verlagert.

Die Anwesenheit der imperialistischen Truppen hat die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu entfacht, zum einen, weil die versprochene Sicherheit ausblieb, zum anderen, weil französische Unternehmen die Region weiter ausbeuten, wo die Armut zunimmt und der Klimawandel (z. B. Ausweitung der Wüste) die Spannungen zwischen der bäuerlichen und der nomadischen Bevölkerung verschärft hat.

Imperialistische Konkurrenz

Diese Bedingungen haben das Vordringen Russlands in die Region begünstigt, und zwar in Form der russischen Söldnergruppe Wagner, die bereits im benachbarten Mali und in der Zentralafrikanischen Republik operiert, wo sie auch die Goldminen des Landes ausbeutet. Vor dem Ukrainekrieg verfügte Wagner über schätzungsweise 5.000 Operationskräfte in Afrika. Bemerkenswert ist auch, dass der Anführer der Organisation, Jewgeni Prigoschin, den Staatsstreich in Niger sofort begrüßte, während Putin vorsichtig vor einer Militärintervention der ECOWAS warnte.

Niger ist ein besonders schwerer Schlag für Macron. Nachdem er gezwungen war, die gemeinsamen „Antiterror“-Operationen mit den fünf Sahel-Staaten aufzugeben, und nachdem er seine Truppen auf demütigende Weise aus Mali zurückziehen musste, hatte er das Land zum Zentrum einer niedrigschwelligeren Operation bestimmt, die sich auf westafrikanische militärische Vertreter:innen mit französischen „Ausbilder:innen“ stützen sollte. Diese sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, an der bis zu 3.500 französische Soldat:innen beteiligt waren. Der stark profranzösische Bazoum sollte der gehorsame Erfüllungsgehilfe dieser Politik sein.

Das gesamte Staatensystem, das früher als „Françafrique“, Frankreichs „Hinterhof“, bezeichnet wurde, ist in den letzten Jahren zusammengebrochen. Frankreichs Banken und Rohstoffkonzerne dominieren jedoch nach wie vor die Wirtschaft dieser Länder. Die westafrikanischen Staaten haben es trotz wiederholter Versuche nicht geschafft, ein gemeinsames, von der französischen Zentralbank unabhängiges Währungssystem zu schaffen. Der CFA-Franc ist nach wie vor die gemeinsame Währung der 14 afrikanischen Länder und dieses System erfordert, dass jedes Land die Hälfte seiner Reserven in Paris hält.

Die Staatsstreiche in Niger und in den umliegenden Staaten sind ein Resultat des halbkolonialen Systems in seiner unverhüllten und ausbeuterischen Form. Aber die Hinwendung zum russischen (oder chinesischen) Imperialismus ist keine Lösung für die Überausbeutung und Plünderung der Region, die Hunderttausende dazu bringt, die Überquerung der Sahara und des Mittelmeers zu riskieren, um Europa zu erreichen. Auch die Militärregime werden sich nicht als resistent gegen Korruption oder Anstiftung dazu durch westliche oder russische Imperialist:innen erweisen.

Die Jugend und die Arbeiter:innenklassen dieser Länder müssen sich über die künstlichen kolonialen Grenzen, über die frankophonen und anglophonen staatlichen Trennlinien hinweg zusammenschließen und dafür kämpfen, die Kontrolle über die enormen Ressourcen dieser Länder zu übernehmen und sie so zu nutzen, dass der Lebensstandard der Bevölkerung massiv angehoben wird. Kurz gesagt, eine wirklich antiimperialistische Revolution muss auch eine sozialistische werden, aber eine, die auf der Demokratie und Herrschaft der Arbeiter:innen in den Städten und auf dem Lande, auf Räten der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und der einfachen Soldat:innen und nicht auf ihrem Offizierskorps beruht.




Israel: Netanjahus Gesetz spaltet zionistisches Lager

Dave Stockton, Infomail 1229, 31. Juli 2023

Am 24. Juli gelang es Israels Premierminister Benjamin Netanjahu schließlich, seinen Gesetzentwurf durch die Knesset zu bringen, der die Befugnis des Obersten Gerichtshofs des Landes vereitelt, vom Parlament verabschiedete Gesetze aufzuheben, weil sie „unangemessen“ sind (d. h., weil sie „die Rechte anderer Bürger:innen verletzen“). Israel hat (wie Großbritannien!) kein einziges Verfassungsdokument, das einschränkt, was das Parlament erlassen kann, sondern nur eine Reihe von Grundgesetzen, die von der Knesset mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden. Und dieser Gesetzentwurf ist nur die erste Tranche. Ein weiterer wurde bereits ausgearbeitet, der der Regierung weitreichende Befugnisse bei der Ernennung von Richter:innen einräumen soll.

Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von riesigen Massendemonstrationen in Jerusalem, Tel Aviv(-Jaffa) und anderen Zentren begleitet, an denen sich schätzungsweise 600.000 Menschen beteiligten. Netanjahus Likud-Partei und die ihr nahestehenden rechtsextremen religiösen und siedlerorientierten Parteien sehen sich seit acht Monaten mit massiven Protesten und einem eintägigen Generalstreik im März konfrontiert, zu dem der Gewerkschaftsbund Histadrut aufgerufen hatte. Nun sieht sich Netanjahu mit einem weiteren angedrohten Streik und der Weigerung von etwa 10.000 Reservist:innen konfrontiert, sich zum Dienst in der Armee zu melden.

Staatskrise

Jair Lapid, der die Opposition in der Knesset anführt und Vorsitzender der säkularen Partei der bürgerlichen Mitte Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft) ist, erklärte, er werde den Obersten Gerichtshof auffordern, das Gesetz aufzuheben, da die Abstimmung „eine Übernahme der Macht über die israelische Mehrheit durch eine extreme Minderheit“ bedeute. Der rechtsextreme Minister für die Nationale Sicherheit Israels, Itamar Ben-Gvir, entgegnete, der Oberste Gerichtshof habe kein Recht, ein Grundgesetz zu streichen, und wenn er dies täte, käme dies einem Staatsstreich gleich. Sicherlich steht der zionistische Staat vor einer noch nie dagewesenen Krise, die eine große Kluft in der gesamten Gesellschaft widerspiegelt. Dies wird auch Israels Unterstützer:innen in den USA und der EU in eine heikle Lage bringen.

Warum hat sich die Likud-Koalition auf dieses noch nie dagewesene Abenteuer eingelassen? Sicherlich ist es für Netanjahu persönlich wichtig, die Befugnisse der Gerichte zu untergraben, da er mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, die er abwehren möchte. Aber für seine rechten Koalitionspartner:innen ist es noch wichtiger, die Justiz zu zähmen. Sie hoffen, auf diese Weise jede Zurückhaltung der Gerichte bei der weiteren Beschlagnahmung palästinensischen Landes und der Ausweitung illegaler Siedlungen im Westjordanland zu unterbinden. Die israelische Bewegung Peace Now (Frieden jetzt) stellt fest, dass die Regierung allein seit Januar den Bau von 12.855 Siedler:innenwohnungen genehmigt hat.

Bereits 61 % des Westjordanlandes stehen unter direkter israelischer militärischer und ziviler Kontrolle, und die palästinensischen Städte und Dörfer sind in ein Archipel unzusammenhängender Gebiete aufgeteilt, die von festungsartigen Siedlungen schwer bewaffneter rechter Zionist:innen überragt werden. Dies macht einen palästinensischen Staat seit langem undurchführbar und die „Zweistaatenlösung“ der Osloer Abkommen zu einem zynischen Witz.

Die Siedler:innen und die extremen religiösen Parteien streben offen danach, die Zerstörung der palästinensischen Nation durch ethnische Säuberung so weit wie möglich zu vollenden. Dies als Apartheid zu bezeichnen, ist eigentlich eine Untertreibung. Und der Versuch, ein ganzes Volk zu vertreiben, ist ganz sicher ein rassistisches Projekt. Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der zusammen mit seinem Verbündeten Bezalel Smotrich das Bündnis „Jüdische Macht“ leitet, ist ein Anführer der rechtsextremen Siedler:innen im besetzten Westjordanland und hat an Demonstrationen teilgenommen, bei denen hauptsächlich „Tod den Araber:innen“ skandiert wurde.

Spaltung des zionistischen Blocks

Doch der Versuch der derzeitigen Regierung, jedes rechtliche Hindernis für dieses Projekt zu beseitigen, hat den zionistischen Block gespalten und die Einheit der israelischen Bevölkerung bedroht. Seit etwa einem Jahr ist die Mehrheit der jüdischen Bürger:innen des Landes aufgewacht und hat erkannt, dass Netanjahu und Ben-Gvir ihre eigenen demokratischen Rechte – oder besser gesagt Privilegien – bedrohen, da sie sich nicht gleichermaßen auf die Palästinenser:innen erstrecken. Dies hat zu den größten und am längsten andauernden Straßenprotesten in der Geschichte des Staates geführt. Für die meisten Bürger:innen Israels, die an einen europäischen und nordamerikanischen Lebensstandard und bürgerliche und soziale Freiheiten gewöhnt sind, ist die Aussicht auf Gesetze, die von religiösen Fanatiker:innen diktiert werden, kaum verlockend.

Tatsächlich zeigen Meinungsumfragen seit Februar, dass über 60 Prozent der Israelis das neue Gesetz ablehnen. In der Tat sieht ein großer Teil der 7 Millionen jüdischen Bürger:innen Israels den Obersten Gerichtshof als ihren letzten Schutz vor einer Koalitionsregierung, in der religiöse Parteien eine offen erklärte Agenda verfolgen, die die Bürger:innenrechte von säkularen Juden und Jüdinnen, Frauen und LGBTIA+-Personen verletzen und die Unterstützung des Landes durch westeuropäische und nordamerikanische Regierungen, eine wichtige wirtschaftliche Stütze des Siedler:innenstaates, entfremden würde.

Leider scheint es, dass nur wenige in den Reihen der Massenproteste gegen Netanjahus Gesetze die Wahrheit gegenüber den Palästinenser:innen erfassen oder anerkennen, dass diese Gesetze auch darauf abzielen, die vollständige Enteignung der ursprünglichen Bewohner:innen des Landes zu vollenden. Die palästinensischen Israelis, die ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, waren bei den Protesten weitgehend abwesend, obwohl sie zu den am stärksten Betroffenen der rechtsextremen Regierungen mit ihren juristischen „Reformen“ gehören wird.

Antizionistische Demonstrant:innen

Nichtsdestotrotz marschierten bei den meisten Demonstrationen Blöcke von mutigen Besatzungsgegner:innen, darunter auch jüdische Antizionist:innen. Sie trugen Transparente mit der Aufschrift: „Es gibt keine Demokratie mit Apartheid“ und „Eine Nation, die eine andere Nation besetzt, wird niemals frei sein“. Die Weigerung der nationalen Organisator:innen, bei den Demos in Tel Aviv palästinensische Flaggen auf der Bühne zu zeigen, verdeutlicht jedoch die Grenzen ihrer Vorstellung von Demokratie oder davon, wer wirklich ein:e Bürger:in Israels ist.

Dann gibt es die absoluten Wälder von Isreal-Fahnen und das Singen der Nationalhymne, die von „der 2000 Jahre alten Sehnsucht der jüdischen Seele, eine freie Nation in unserem eigenen Land zu sein, dem Land von Zion und Jerusalem“ spricht. Kurzum, es handelt sich um überwältigend zionistische Märsche, deren Organisator:innen keinen Zusammenhang zwischen der Verteidigung ihrer eigenen demokratischen Rechte und dem Fehlen dieser Rechte bei 20 % ihrer Mitbürger:innen sehen.

Siedlungsbau und Vertreibung

Das andere zentrale Anliegen der Regierung ist eine massive Beschleunigung des Siedlungsbaus im Westjordanland. Ben-Gvir ist ein Anführer rechtsextremer Siedler:innen und hat an Demonstrationen in Jerusalem teilgenommen, bei denen vor allem „Tod den Araber:innen!“ skandiert wurde.

Aber die sieben Millionen Palästinenser:innen, die unter zionistischer Herrschaft leben, haben auch wenig Grund, hoffnungsvoll auf den Obersten Gerichtshof zu blicken. Im Jahr 2018 verabschiedete die Knesset ein weiteres „Grundgesetz“, das Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definiert. Seine Fürredner:innen machten klar, dass „nationale Rechte in Israel ausschließlich dem jüdischen Volk zustehen“. Gegen das Gesetz wurde Berufung eingelegt und nach langen Verzögerungen legte der Oberste Gerichtshof keinen Einspruch gegen diese unverschämt rassistische und antidemokratische Definition der Staatsbürger:innenschaft ein. Im Juli 2021 entschied er, dass das Gesetz verfassungsgemäß sei und den demokratischen Charakter des Staates nicht in Frage stellen würde.

Unter dieser Regierung führte Israel kürzlich einen zweitägigen Angriff auf das dicht besiedelte Flüchtlingslager außerhalb von Dschenin, in dem 14.000 Palästinenser:innen leben. Dabei kam es zu heftigen Kämpfen mit militanten Palästinenser:innen und zur vorsätzlichen und weitreichenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur, einschließlich Wasser- und Abwassersystemen, Telekommunikation, Strom und Gesundheitseinrichtungen. Mindestens 13 Palästinenser:innen wurden getötet und 100 verletzt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung des Lagers war gezwungen zu fliehen. Es ist mit weiteren derartigen Gräueltaten zu rechnen.

Imperialistische Freunde

Joe Biden, wie alle US-Präsidenten seit Truman „ein überzeugter Freund Israels“, hat sich dennoch kritisch zu den neuen Gesetzen geäußert. Er und die große Mehrheit der Demokratischen Partei lehnen Netanjahus Justizreform ab, weil sie befürchten, dass sie zusammen mit der zunehmenden Vorherrschaft extremer fundamentalistischer Kräfte den Mythos zerstören wird, dass Israel „die einzige Demokratie im Nahen Osten“ ist, und seine Nützlichkeit als regionaler Spalter und Disziplinierer der arabischen und muslimischen Staaten der Region gefährdet.

Trotz der derzeitigen Unruhen hat der US-Kongress mit überwältigender Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in der erklärt wird, dass Israel „kein rassistischer oder Apartheidstaat“ ist. Die endgültige Abstimmung fiel mit 412 zu 9 Stimmen aus. Und das, obwohl Netanjahu mit seiner üblichen Offenheit erklärt hat: „Israel ist kein Staat für alle seine Bürger:innen … gemäß dem Nationalstaatsgesetz, das wir verabschiedet haben, ist Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes – und nur dessen.“ Wie die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem (Ebenbild) unmissverständlich erklärt hat, handelt es sich um ein einzigartiges „Regime der jüdischen Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer: Das ist Apartheid.“

Trotz einer koordinierten Kampagne der israelischen Botschaften und der langjährigen Freund:innen Israels an der Spitze beider Parteien des politischen Establishments in den USA ergab eine Umfrage unter amerikanischen Juden und Jüdinnen aus dem Jahr 2021, dass 25 % der Befragten Israel nun als Apartheidstaat ansehen, und bei den unter 40-Jährigen stieg der Anteil auf 38 %.

Kein Wunder, dass die Freund:innen Israels besorgt sind, dass Netanjahu und seine Verbündeten den Anspruch des Staates, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, auf fatale Weise entlarven, und das zu einer Zeit, in der Biden versucht, sein neues Kalter-Krieg-Lager der Demokratie aufzubauen, um dem der Autokratie gegenüberzutreten. Dies ist umso mehr ein Grund, warum die Freund:innen der Palästinenser:innen in der ganzen Welt den Kampf für die Isolierung des rassistischen Siedlerstaates verstärken und gleichzeitig die mutigen Israelis unterstützen müssen, deren Verteidigung der demokratischen Rechte sich auch auf die der Palästinenser:innen erstreckt.

Dennoch stehen die Palästinenser:innen vor einem Dilemma. Die israelische Repression hat soziale Massenbewegungen und Mobilisierung immer schwieriger gemacht und junge Aktivist:innen zu individuellen Angriffen auf Siedler:innen oder israelische Zivilist:innen getrieben, die mit brutalen Repressalien beantwortet werden. Und die derzeitige Regierung würde auf das erste Anzeichen einer bewaffneten Intifada mit ziemlicher Sicherheit mit einem militärischen Angriff reagieren, um die Flüchtlingslager zu räumen und noch mehr Gebiete zu erobern.

Aber die Massenmobilisierung gegen Netanjahu bietet palästinensischen und antizionistischen Organisationen die Möglichkeit, gegen ihn und seine rassistischen Minister:innen zu mobilisieren, aber auch mit ihren eigenen demokratischen Slogans für gleiche Rechte und für ein Ende des Diebstahls palästinensischen Landes und palästinensischer Häuser, und zwar unter dem Motto „Getrennt marschieren, aber gemeinsam streiken“. In den Städten und Dörfern des Westjordanlandes, des Gazastreifens und in Jerusalem könnte sich eine Bewegung entwickeln, die nicht nur zum Sturz Netanjahus und zu einer historischen Krise des zionistischen Staates führen, sondern auch Israels „demokratische“ westliche Unterstützer:innen in die Enge treiben würde.

Dies stellt die Sozialist:innen in den westlichen imperialistischen Staaten und die Antiimperialist:innen in der halbkolonialen Welt vor die noch größere Aufgabe, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die fortgesetzte Unterstützung ihrer Regierungen für Israel zu bekämpfen. Dies wiederum wird die Unterstützung der israelischen Bevölkerung für die fortgesetzte Unterdrückung weiter spalten und kann den palästinensischen Massen den Weg zu einer Massenintifada öffnen. Das wird eine revolutionäre Wirkung auf die gesamte Region zeitigen.