Nahost: Israel droht mit Ausweitung des Krieges in der Region

Erklärung der Liga für die Fünfte Internationale, 14.4.2024, Infomail 1251, 15. April 2024

Am 13. April feuerte der Iran 300 Drohnen und ballistische Raketen auf Israel ab. Die große Mehrheit wurde von Israels hochentwickelten Luftabwehrsystemen, aber auch mit Hilfe der in der Region stationierten amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte sowie Jordaniens und Saudi-Arabiens abgeschossen.

US-Präsident Joe Biden, der Israels sechsmonatigen Völkermord im Gazastreifen weiterhin unterstützt und verteidigt, beeilte sich natürlich zu sagen: „Ich verurteile diese Angriffe auf das Schärfste“. Er fügte hinzu: „Ich habe gerade mit Premierminister Netanjahu gesprochen, um Amerikas eisernes Engagement für die Sicherheit Israels zu bekräftigen.“

Tatsächlich war der iranische Angriff eine Reaktion auf eine weitaus schädlichere Provokation Israels. Am 1. April feuerten israelische Kampfflugzeuge mehrere Raketen ab, die das iranische Konsulat in der syrischen Hauptstadt Damaskus zerstörten und Brigadegeneral Mohammad Reza Zahedi, einen hochrangigen Kommandeur des Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC), einen weiteren iranischen General und 14 andere Personen töteten.

Militäranalyst:innen zufolge wurden die iranischen Angriffe absichtlich so gewählt, dass sie von der israelischen und verbündeten Luft- und Raketenabwehr leicht entschärft werden konnten. Außerdem handelte es sich bei den Zielen offenbar nicht um Bevölkerungszentren, sondern eher um einige abgelegene militärische Ziele auf den Golanhöhen und in der Wüste Negev. Der gesamte Angriff war höchst symbolisch und sollte der „Abschreckung“ vor weiteren israelischen Attacken dienen. In diesem Sinne erklärte auch der Sprecher der iranischen Mission bei den Vereinten Nationen, dass sie die Angelegenheit in Damaskus mit diesem Vergeltungsschlag als „erledigt“ betrachten.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die israelische Regierung dies auch so sieht. Für sie ist die iranische Regierung in eine Falle getappt, die sie mit der Provokation von Damaskus gestellt hatte. Die Netanjahu-Regierung braucht die „Einmischung“ des regionalen Hauptfeindes, um ihre militärische Stärke zu beweisen und den Gazakrieg zu einem Krieg mit allen Kräften in der Region auszuweiten, die den palästinensischen Widerstand unterstützen könnten. Wie ein israelischer Beamter sagte, ist es jetzt an der Zeit, die Fähigkeit des Irans auszulöschen, eine Bedrohung für Israel darzustellen.

Die Umwandlung des Genozids im Gazastreifen in einen regionalen Krieg, vor dem auch die Vereinigten Staaten seit langem gewarnt haben, ist damit einen großen Schritt vorangekommen. Es ist klar, dass dies eine bewusste Provokation des Kriegskabinetts von Netanjahu ist, die nicht nur auf den Iran abzielt, sondern auch darauf, seine amerikanischen und westeuropäischen Verbündeten direkter zu verwickeln.

Es stellt auch ein Mittel dar, um den Problemen zu entgehen, die durch die Großdemonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem entstanden sind, bei denen sein Rücktritt gefordert wurde. Außerdem wurde er durch die Verurteilung des Massakers der Israelischen Sicherheitskräfte IDF an den Mitarbeiter:innen der World Central Kitchen, die am 1. April Hilfsgüter lieferten, durch die internationalen Medien kurzzeitig in Verlegenheit gebracht. Seine Verbündeten können nun zur Propaganda „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ zurückkehren.

Die Gefahr, dass Israel, eine Atommacht mit der modernsten konventionellen Bewaffnung im Nahen Osten, bei einem Angriff auf den Iran, Libanon und Syrien aufs Ganze geht, ist sehr real.

Unterdessen geht der Genozid in Gaza weiter. In den drei Tagen des Eid al-Fitr (das Fest, das normalerweise das Ende des einmonatigen Fastenmonats Ramadan für Muslime markiert; Fest des Fastenbrechens, Zuckerfest) verübten die IDF Massaker an ganzen Familien und töteten über 170 Frauen und Kinder. Zur gleichen Zeit „randalierten“ 72 israelische Siedler:innen unter dem Schutz von IDF-Soldat:innen im besetzten Westjordanland, wie es die BBC nannte. Bei diesen gewalttätigen Ausschreitungen wurden Autos, Häuser und Geschäfte angezündet und ganze Straßenzüge zerstört.

All dies zeigt, dass der zionistische Staat weit davon entfernt ist, eingedämmt oder geschwächt zu werden, und dass er wild entschlossen ist, eine „zweite Nakba“ zu begehen, wie es etliche Minister:innen nennen. Dies könnte die lang erwartete Bodeninvasion in Rafah beinhalten, die Räumung des Gazastreifens von seiner traumatisierten Bevölkerung oder deren Einsperrung in ein noch kleineres Gefangenenlager, und im Westjordanland in die isolierten, überfüllten Stadtgebiete, während faschistische Siedler:innen Dorfbewohner:innen töten und das, was von palästinensischem Ackerland übrig ist, besetzen.

Die weltweite Bewegung gegen den Genozid, die in ihrer Langlebigkeit und Größe bereits beispiellos ist, muss über Proteste hinausgehen. Sie muss unwiderstehlichen Druck auf die Regierungen der westlichen imperialistischen Länder sowie der Monarchien und Militärdiktaturen des Nahen Ostens ausüben, um alle Waffenlieferungen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel zu unterbinden. Direkte Massenaktionen müssen durchgeführt werden, um die falschen Behauptungen zurückzuweisen, dass Antizionismus Antisemitismus sei, eine Tatsache, die durch die wachsende Zahl fortschrittlicher jüdischer Menschen, die Israels Handlungen verurteilen, immer deutlicher wird.

Für die Regierungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands und anderer westlicher Länder ist eines klar: Sie stehen fest hinter dem israelischen Staat. Das macht eine Eskalation des Krieges und einen massiven Angriff auf den Iran, Syrien oder den Libanon zu einer realen Gefahr.

  • Wir stellen uns klar gegen solche zionistischen Offensiven! Wir stellen uns entschieden gegen jede imperialistische Intervention!

  • Für den sofortigen Abzug aller US- und anderer imperialistischer Truppen aus dem Nahen Osten! Wir sind für die Schließung aller imperialistischen Militärbasen!

  • Stoppt die Waffenlieferungen und die finanzielle Unterstützung für Israel! Stoppt alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit dem zionistischen Staat!

  • Beendet den Völkermord! Waffenstillstand jetzt! Abzug der israelischen Truppen! Beendigung der Blockade! Öffnung der Grenzübergänge!

  • Für das Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge! Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina!



Zum Todestag von Jina Mahsa Amini: Ein Jahr, das den Iran veränderte

Martin Suchanek, Infomail 1231, 15. September 2023

Am 16. September 2022 starb die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini an den Folgen der Verletzungen, die ihr die sog. Sittenpolizei bei ihrer Festnahme und in der Haft durch brutale Misshandlung zufügte. Doch sie sollte nicht ein weiteres Opfer eines verbrecherischen, despotischen Regimes bleiben, auf dessen Mord durch die Staatsorgane ein zweiter Tod durch das öffentliche Vergessen folgte. Er blieb nicht ungesühnt und auch nicht folgenlos.

Er entfachte eine Welle der Massenproteste und des Widerstandes, wie sie der Iran seit 2009, der sog. grünen Revolution gegen massiven Wahlbetrug des Regimes, nicht gesehen hatte. Nachdem der Tod Jina Mahsa Aminis bekanntgeworden war, gingen in Teheran und zahlreichen anderen Städten Tausende und Abertausende auf die Straße.

Ausbreitung der Bewegung

In den ersten beiden Monaten breitete sich die Bewegung über das gesamte Land und weite Bevölkerungsschichten aus. In den kurdischen Regionen legte sogar ein befristeter Generalstreik das öffentliche Leben lahm. In zahlreichen Städten bildeten die Universitäten ein Zentrum des Widerstandes, mit dem sich die Masse der Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiter:innenklasse solidarisierte. Von Beginn an standen die Frauen und die Jugend im Zentrum der Bewegung, bildeten ihre treibende Kraft, offenbarten den tief sitzenden Hass gegen das Regime. Millionen schlossen sich den Protesten an – trotzten der massiven Repression durch Polizei, Sondereinheiten und paramilitärische Schergen des Regimes.

Doch trotz extremer Brutalität, tausender Festnahmen, Verhaftungen und der Ermordung zahlreicher Demonstrant:innen auch in den ersten Wochen der Protestbewegung ließen sich die Massen nicht einschüchtern. Die Mullahs befanden sich eindeutig in der Defensive. Zu spät und zögerlich wurde eine Auflösung und „Reform“ der verhassten Sittenpolizei ins Spiel gebracht. Vom Regime inszenierte Gegenkundgebungen zu den Protesten blieben viel kleiner als die Massenaktionen der Opposition, offenbarten, wie gering die soziale Basis, wie verhasst die Mullahdiktatur und die politische und soziale Ordnung, die sie mit allen Mitteln verteidigt, waren und sind.

Die Bewegung erschütterte die herrschende Klasse und deren iranische Spielart des Kapitalismus. Aber sie vermochte trotz eines unglaublichen Heroismus nicht, das Regime zu stürzen. Der Staatsapparat und die Repressionsorgane wurden zwar erschüttert, aber ihr innerer Zusammenhalt und ihre Einsetzbarkeit gegen die Bewegung wurden nicht gebrochen. Das betraf nicht nur die direkten, professionellen inneren Repressionsorgane und paramilitärische Stützen des Regimes, sondern vor allem auch die Armee samt ihren rund 220.000 Wehrpflichtigen.

Die Reaktion schlägt zurück

Dies ermöglichte dem Regime, ab Ende 2022 immer massiver und zielgerichteter gegen die Bewegung vorzugehen. Es ertränkte sie geradezu in Blut und Gewalt. Weit mehr als 500 Demonstrierende wurden im letzten Jahr getötet. Insgesamt sollen rund 20.000 Menschen verhaftet worden sein. Außerdem wurden Dutzende aufgrund ihrer Beteiligung an der Bewegung oder als angebliche Rädelsführer:innen in Schauprozessen und Schnellverfahren zum Tode verurteilt und exekutiert. Insgesamt wurden seit September 2022 rund 500 Hinrichtungen vollstreckt. Die sog. Sittenpolizei verblieb in Amt und Würden.

Auch wenn die Bewegung zurückgedrängt und das Regime wieder konsolidiert wurde, so wurde bis heute die alte Ordnung nicht vollständig wiederhergestellt. Noch immer gehen Frauen mit offenen Haaren auf die Straße und brechen öffentlich die reaktionären Bekleidungsvorschriften des Regimes – trotz verschärfter Repression und drakonischer Strafen. Auch wenn diese Heldinnen gewissermaßen die Speerspitze der Entschlossenheit darstellen, so ist es nach wie vor gerade in den Städten kein Randphänomen und ihre Taten werden von vielen in der Bevölkerung mehr oder minder offen unterstützt. Dieser Widerstandswille blieb trotz des Rückgangs der Bewegung ungebrochen.

Doch was sind die Ursachen dafür?

Erstens haben sich die Menschen selbst verändert. Das gilt nicht nur für die Protestbewegung seit dem September 2022, die teilweise vorrevolutionäre Züge annahm. Im Grunde stehen das iranische Regime und die wirtschaftliche Elite seit 2019, dem Beginn einer vor allem von der Arbeiter:innenklasse getragenen ökonomischen und regimefeindlichen Bewegung, immer neuen Mobilisierungen gegenüber. Diese wurden von den Lohnabhängigen, von der städtischen und ländlichen Armut, ja selbst von großen Teilen der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums getragen. 2022 spielten die Frauen eine zentrale Rolle, aber auch die Jugend und die unterdrückten Nationen und Nationalitäten. Viele Aktive aus der Bewegung berichten davon, dass das Bewusstsein für verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterdrückung in der Oppositionsbewegung deutlich gestiegen sei.

Hinzu kommt aber auch, dass die Streiks ab dem Jahr 2019 wie auch Massenproteste seit 2022 nicht nur mit Mobilisierungen das Regime erschütterten. Sie führten auch dazu, dass sich eine Schicht von gewerkschaftlich und politisch engagierten Aktivist:innen und Führungskernen bildete, von halblegaler und illegaler Organisation, die einer Bewegung auch in der Repression eine gewisse Kontinuität verleihen können.

Zweitens wurde die Herrschaftsbasis des Regimes dünner. Zweifellos konnten und können sich die Mullahs weiter auf einen aufgeblähten und parasitären Staats- und Repressionsapparat stützen. Sie verfügen auch über ein weitgehendes Monopol über die Medien und mit dem Klerus über einen zusätzlichen zentralen ideologischen Apparat. Sie stützen sich außerdem trotz der ökonomischen Krise nach wie vor auf eine Mehrheit der herrschenden kapitalistischen Klasse, die ihrerseits vom Regime nicht nur begünstigt wird, sondern auf deren parasitäre Sonderinteressen letztlich die Wirtschaftspolitik Teherans ausgerichtet ist.

Doch die Allianz von Bourgeoisie und Theokratie sowie angelagerten Staatsfunktionär:innen und kleinbürgerlichen Schichten, die eng mit dem Staat verbunden sind, verteidigt ihre eigenen Privilegien vor dem Hintergrund einer chronischen Stagnation und Krise, von massiver Inflation, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Massen. Auch wenn Teheran seine internationale Isolierung durch Verbindungen mit China, Russland und das Abkommen mit Saudi-Arabien ein Stück weit durchbrechen kann, so ändert das an der wirtschaftlichen und sozialen Misere wenig. Anders als noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermag das Regime längst nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen durch ökonomische Erfolge und Verbesserungen des Konsumniveaus zu befrieden.

Im Gegenteil. Auch das tägliche, „normale“ Leben wird immer schwieriger, immer unerträglicher. Das schlechte Leben fürchten viele mittlerweile mehr als Repression und Todesgefahr. Daher halten so viele trotz der Brutalität des Regimes an ihrem Widerstand oder jedenfalls an ihrer Sympathie dafür fest. Denn nur dieser verspricht Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben.

Diese chronische Krise, ja Sackgasse, in der das politisch-ökonomische Gesamtsystem des Iran steckt, hat zu einer extremen Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, aller, die nicht über Privilegien, Profite und Klientelismus mit dem Regime verbunden sind. Dessen Herrschaft muss sich mehr und mehr auf Gewalt und Repression stützen. Damit ist auch die nächste Revolte, der nächste gesellschaftliche Ansturm vorprogrammiert. Am Jahrestag der Proteste, die Jina Mahsa Aminis Tod entfacht hat, wird es sicher wieder zu Aktionen und Demonstrationen im ganzen Land kommen. Auch wenn es leider unwahrscheinlich ist, dass diese die Bewegung neu entfachen werden, so sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Massenmobilisierungen 2019 und 2022 nur drei Jahre lagen. Auch wenn wir nicht überoptimistisch sein dürfen und damit rechnen müssen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die Aktivist:innen und die Bewegung von 2022 neu und möglicherweise auch um einen neuen Fokus wieder formiert, so ist eine nachhaltige politische, soziale und ökonomische Konsolidierung des Regimes nahezu ausgeschlossen.

Umso wichtiger ist es, die Lehren daraus zu ziehen, warum die Bewegung 2022 das Regime nicht stürzen und ihre Ziele nicht erreichen konnte. Dies ist unerlässlich, wenn wir uns darauf vorbereiten wollen, bei einem nächsten Ansturm erfolgreich zu sein.

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und die Bildung von Soldat:innenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder musste sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit denen ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des westlichen „demokratischen“ Imperialismus). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung gipfelt, entstehen nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Frauen und die Revolution im Iran

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken.

Über 500 Menschen wurden von den bewaffneten Kräften der Staatsmacht, von Polizei, Geheimdiensten oder den sog. Revolutionswächtern, ermordet. Tausende wurden verletzt, über 20.000 festgenommen. Seit Monaten werden Aktivist:innen der Bewegung und bekannte Oppositionelle nach Schauprozessen öffentlichkeitswirksam hingerichtet, um die Massen einzuschüchtern und die Anhänger:innen des Regimes zu stärken.

Nach Monaten des heroischen Kampfes droht die Bewegung, durch die Konterrevolution der Mullahs zerschlagen zu werden. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, wird dieser „Sieg“ nicht von Dauer sein. Sie können zwar möglicherweise den Protest niederschlagen – die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime, die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Eine Revolution der Frauen

In den letzten Jahrzehnten erschütterten immer wieder Massenproteste den Iran. 2009, bei der sog. grünen Revolution, bildeten vor allem die städtischen Mittelschichten – Intellektuelle, das Kleinbürger:innentum sowie reformorientierte Unternehmerschichten, die ihre Hoffnungen in den damaligen Präsidentschaftskandidaten Chātami setzten – die soziale Basis der Bewegung.

2017 und vor allem 2019 änderte sich die Lage. Die „Unterschichten“, d. h. vor allem die Arbeiter:innenklasse, schwangen sich zur sozialen Trägerin des Kampfes auf. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes waren bei den Massen verflogen. Umso drängender rückten die sozialen Fragen in den Vordergrund.

2022 standen von Beginn an Frauen, Studierende und die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten im Zentrum.

Natürlich wurde dies auch durch den Mord an einer jungen Kurdin, Jina Mahsa Amini, durch die „Sittenpolizei“ befördert. Dass die Protestbewegung vor allem von jungen Frauen und Studentinnen getragen und vorangetrieben, sie mit gewissem Recht als feministische Revolution bezeichnet wurde, verweist auf tiefere gesellschaftliche Ursachen.

Frauen, Arbeit und Bildung

Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft und Unterdrückung ging mit einer widersprüchlichen, teilweise geradezu paradoxen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen, teilweise auch in der Arbeitswelt einher.

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und insbesondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Nach unterschiedlichen Schätzungen leben 35 – 50 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend angesichts von massiver Inflation und ökonomischer Stagnation.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. So liegt der Anteil von Frauen an den Beschäftigten noch immer bei nur 17,26 % (er überstieg in der Islamischen Republik nie 20 %). Auch wenn dies den realen Anteil der Erwerbsarbeit von Frauen nicht reflektiert, weil ein großer Teil der in der Landwirtschaft Beschäftigten (Schätzungen gehen davon aus, dass rund 60 % der Arbeit auf dem Dorf von Frauen erledigt wird) wie auch nicht offiziell registrierte Beschäftigung rausfallen, werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt schon nach amtlichen Zahlen massiv diskriminiert.

Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen (https://de.theglobaleconomy.com/Iran/) mit offiziell 18,96 % im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89 %). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21 %. Mit fast 89 % extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen.

Die Anzahl studierender Frauen ist seit Jahren vielen Mullahs an Dorn im Auge. Unter dem erzkonservativen Einpeitscher Ahmadineschād wurde nicht nur auf propagandistischer und ideologischer Ebene gegen diesen „Auswuchs“ angegangen, sondern wurden auch Männerquoten in verschiedenen, vor allem technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen eingeführt. Der „Erfolg“ war mäßig, da selbst regimetreue, sozial-konservative Väter (einschließlich hoher Kleriker) aller reaktionären Gesinnung zum Trotz ihre Töchter an die Unis schicken und gut ausgebildet haben wollten.

Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nimmt daher viel stärker die Form der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt an.

Für beschäftigte Arbeiterinnen kommt „natürlich“ auch noch Sexismus am Arbeitsplatz hinzu. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist, so dass dieser einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet.

Von der halben Revolution zur ganzen Konterrevolution

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Anders als heute gern von den bürgerlichen Medien vereinfacht dargestellt wird, war die iranische Revolution zu Beginn am Ende der 1970er Jahre keineswegs eine „islamische“.

Im Kampf gegen das Schahregime stellten die Linken, die Arbeiter:innenklasse und auch eine starke Frauenbewegung eine zentrale Kraft dar. Politisch kann die iranische Revolution als Kampf dreier Kräfte betrachtet werden. Erstens das prowestliche despotische Schahregime, das sich auf den Imperialismus, den iranischen Staatsapparat und einen Teil der herrschenden Klasse stützte, zweitens die von liberalen, mehr und mehr aber auch von den lslamist:innen vertretene oppositionelle Bourgeoisie und Mittelklasse.

Schließlich die Arbeiter:innenschaft und bäuerliche Schichten. Sie bildeten nicht nur eine zentrale Kraft beim Sturz des Schah, sondern die Arbeiter:innenklasse errichtete auch Formen der Doppelmacht, vor allem in verstaatlichten Betrieben und auf den Ölfeldern (Schoras = Räte).

Aber die stalinistische Doktrin der iranischen Linken erwies sich selbst als Hindernis für die Revolution. Gemäß ihrer Vorstellung war das Land für eine sozialistische Umwälzung noch nicht reif, vielmehr stünde als nächste Etappe eine antiimperialistische, bürgerliche Revolution an, die die „nationale Bourgeoisie“ zuerst an die Macht bringen müsste. Vor diesem Hintergrund wurden Khomeini und seinen Anhänger:innen als Verkörperung der antimonarchischen, nationalen Revolution betrachtet.

Politisch bedeutete dies, die Interessen der Arbeiter:innenklasse wie aller Unterdrückten – und das hieß vor allem jene der Frauen – denen der „nationalen“ Bourgeoisie und damit den Islamist:innen unterzuordnen.

Dies und die eng mit ihnen verbundenen Sektoren der Kapitalist:innenklasse, insbesondere die in Teheran ansässigen Handelskapitale (Bazaris), hatten ihrerseits längst die Linke und die Arbeiter:innenklasse als unversöhnlichen Gegnerinnen ausgemacht. Das lag nicht zuletzt auch an deren Stärke. Die Eroberung des Flughafens Teheran durch bewaffnete Guerillaeinheiten, die die Armee vertrieben, und die Errichtung von Arbeiter:innenräten beunruhigten alle kapitalistischen und reaktionären Kräfte. Zu Recht fürchteten sie (wie auch die westlichen Regierungen), dass die Revolution auch die Eigentumsverhältnisse in Fragen stellen könnte.

Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass eine solche, ihrem Wesen nach sozialistische Revolution gesiegt hätte. Aber die Unterordnung der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft unter die herrschende Klasse konnte ihrerseits nur zum Sieg der Konterrevolution führen. Khomeini und die islamistischen Kräfte vernichteten alle Kräfte der Arbeiter:innenbewegung und der demokratischen Opposition – einschließlich vieler, die ihn als „Antiimperialisten“ gepriesen hatten. Tausende und Abertausende wurden gefoltert, liquidiert oder „verschwanden“. Die Arbeiter:innenklasse erlitt eine historische Niederlage. Die halbe, im Kampf um die Demokratie stehengebliebene Revolution endete mit einer ganzen Konterrevolution.

Konterrevolution und Entrechtung

Deren Sieg bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft.

Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, as islamische Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage. Hier einige zentrale Folgen für die Frauen:

  • Frauen sind strengen Kleidervorschriften, die u. a. die Zwangsverschleierung umfassen, unterworfen.

  • Frauen sind vor Gericht den Männern nicht gleichgestellt. Ihre Aussage zählt nur halb so viel wie die eines Mannes. In manchen Fällen sind sie erst gar nicht als Zeuginnen zugelassen.

  • Frauen sind von bestimmten Berufen (Armee, Richterinnen) ausgeschlossen.

  • Frauen benötigten für Arbeit, Reisen und Scheidung das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder.

  • Sie haben faktisch keinen Anspruch auf Sorgerecht.

  • Das Mindestalter für Ehen und die volle Strafmündigkeit wurde bei Mädchen auf neun Jahre heruntergesetzt, Abtreibungen wurden verboten.

  • Männer haben das „Recht“, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau gewaltsam durchzusetzen. Vergewaltigung in der Ehe ist daher legal.

  • Geschlechtertrennung wurde in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens eingeführt, zum Beispiel im Personennahverkehr, beim Sport, in Bildungsinstitutionen und bei der Gesundheitsversorgung.

Die meisten dieser Maßnahmen wurden im Zuge der „kulturellen Revolution“ der Mullahs in den Jahren 1980 – 1983 eingeführt, in einer Art konzertierter Aktion zur Auslöschung aller Errungenschaft der Frauen. Auch wenn einige wenige Gesetze seither etwas gelockert wurden, blieb das System der institutionellen Unterdrückung bis heute intakt und stellt einen Eckpfeiler der klerikalen Diktatur dar.

Diese Form begünstigt Sexismus und Gewalt bis hin zu Femi(ni)ziden in Familien, in der Öffentlichkeit und durch staatliche Repressionsorgane. So sind Folter, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen durch Pasdaran (Iranische Revolutionsgrade), Sittenpolizei und andere Reaktionswächter weit verbreitet. Im Extremfall wurden Vergewaltigungen vor Hinrichtungen sogar durch sog. „Zeitehen“ gegen den Willen der Frauen von Geistlichen legalisiert.

Welche Revolution?

Die Erfahrungen der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen (sowie armen Bauern und Bäuerinnen sowie unterdrückten Nationalitäten) im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nichtmonarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student:innen und Arbeiter:innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen und Mittleren Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden. Und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können.

In einer Situation, in der die Repression immer erdrückender gerät, ist es jedoch schwieriger denn je, eine offene Debatte über Strategien zu führen. Hierbei könnten wohl im Exil Lebende eine wichtige Rolle spielen, doch es bleibt zentral, dass die linken Organisationen vor Ort sich dieser Debatte nicht verschließen. Andernfalls verblasst das Potenzial erneut.

Denn klar ist: Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Von der Verteidigung der Bewegung zur Revolution

Martin Suchanek, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben verbinden seit Monaten Parolen wie „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes. Ihnen ist längst bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Trotz der Repression im Herbst 2022 verbreiteten sich die Proteste wochenlang. Die Aktionen waren auf lokaler, universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet hatten. Aber die Bewegung besaß kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

In den letzten Wochen zeigt sich dieses Problem immer deutlicher. Die Konterrevolution hat die Initiative ergriffen, droht, die Bewegung im Blut zu ersticken.

Um das zu verhindern, braucht sie Kampfformen, die sie vereinheitlichen kann und die das gesamte Land erschüttern können – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Alle Unterdrückten, die Frauen, die Jugend, die nationalen Minderheiten würden darin einen zentralen Platz einnehmen. Die Bewegung würde so auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung geraten.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufrufe an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Übergangsprogramm

Es braucht ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!

  • Volle demokratische Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!

  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!

  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!

  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!

  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!

  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!

  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und alle anderen Unternehmen!Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!

  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assadregimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!

  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!

  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!



Iran-Proteste: „Anfangs emotional – jetzt politisch“

Interview der Liga für die Fünfte Internationale mit Ali Rezaei, einem Iranischen Sozialisten, Infomail 1205, 18. November 2022

LFI: Wir möchten unser Mitgefühl ausdrücken. Wir wissen, dass viele Menschen, und fast alle Sozialist:innen, im Iran einen geliebten Menschen verloren haben oder um einen solchen fürchten. Wie fühlst Du Dich, wenn Du jetzt Tausende von Menschen siehst, die sich auf den Straßen des Irans wehren?

AR: Das iranische Volk kämpft gegen einen barbarischen Klerus, dessen Brutalität die Jugend, die Frauen, die Arbeiter:innen, die Armen, die Liberalen, die Progressiven, die Sozialist:innen und alle, die einen anderen Standpunkt vertreten, mit Blut getränkt hat. In jeder Stadt, ja in jeder Familie, gibt es Beispiele von Menschen, die nicht nur Unterdrückung und Gewalt, sondern auch den Tod erlebt haben. Der Klerus hat das Leben zu einer Qual gemacht.

Dies ist keine gewöhnliche Bewegung, sondern der Hass gegen den Klerus ist explodiert. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat eine Revolution ausgelöst, in der Frauen eine zentrale Position eingenommen haben und Student:innen ebenfalls sehr wichtig sind. Sie haben in den Bewegungen der Vergangenheit immer eine entscheidende Rolle gespielt. Die iranische Gesellschaft hat die Herrschaft des Klerus abgelehnt.

Die Ermordung von Mahsa hat die Angst zerschlagen. Ursprünglich war es emotional, aber jetzt ist es politisch, eine Bedrohung für das Regime, das die Massen seit vier Jahrzehnten unterdrückt hat. Die Bewegung hat das einfache Volk geeint. Es scheint, dass das Ende dieses repressiven Regimes möglich ist. Das treibt den Kampf voran und hat Kurd:innen, Belutsch:innen, Araber:innen sowie die Arbeiter:innen und Armen mit einbezogen.

Die Revolte, die sich an Universitäten und Schulen ausgebreitet hat, ist ermutigend. Früher waren es Aktivist:innen, die hofften, dass diese dunkle Nacht ein Ende haben würde. Jetzt wird diese Stimmung von der gesamten Gesellschaft geteilt, die sich weigert, dieses Scharia-System zu akzeptieren. Unterdrückung und Tyrannei werden nicht länger geduldet, die Menschen kämpfen dagegen und für die Freiheit.

LFI: Mahsa ist ein Symbol für die Brutalität der Sittenpolizei und die Unterdrückung des kurdischen Volkes. Jetzt ist sie auch zu einem Band geworden, das den Widerstand wieder zusammengeführt hat. Wie hat sich der Tod von Mahsa auf Dich ausgewirkt?

AR: Ihr richtiger Name ist nicht Mahsa Amini. Im Iran darf man keine kurdischen Namen verwenden. Ihr richtiger Name ist Jina. Das zeigt, wie stark die nationale Unterdrückung im Iran ist. Die Art und Weise, wie Demonstrant:innen nach der Vergewaltigung eines belutschischen Mädchens getötet wurden, zeigt das wahre Gesicht dieser islamistischen Regierung. Ob unter dem Schah oder dem Klerus, in den Gebieten der unterdrückten Nationen kamen immer extreme Formen der Unterdrückung vor, Rückständigkeit und Armut. Aber es gab auch Widerstand, manchmal bewaffnet. Türk:innen, Kurd:innen, Araber:innen und Belutsch:innen sind in dieser Bewegung vereint, und die Slogans gegen die nationale Unterdrückung und das herrschende Regime vereinen die Bewegung.

Für die iranischen Staatsbürger:innen ist das Regime des Klerus seit Jahrzehnten eine Falle. Im Rahmen dieser Bewegung gegen die Ermordung von Mahsa droht vielen jungen Frauen und Student:innen die Inhaftierung. Viele wurden sogar bereits brutal ermordet. Tod der Diktatur! Sie ist eine Blutsaugerin! Die Fundamente dieses Systems stehen in dem Blut, das diese berüchtigte religiöse Diktatur vergossen hat. Wir alle sind Jina. Die Solidarität mit dieser Revolution gibt uns Hoffnung. Ich appelliere an die Frauen und Arbeiter:innen in aller Welt, diesen Kampf gegen die Unterdrückung, die die schlimmste Dekadenz des kapitalistischen Systems und des Imperialismus hervorgebracht hat, weiterhin zu unterstützen.

LFI: Wir hören Berichte über eine neue Generation junger iranischer Frauen, die sich weder dem Staat noch seiner Ideologie beugen.

AR: Die Haltung des klerikalen Regimes war für Frauen schon vor diesem Mord unerträglich geworden. Die Geschichte der Frauenbewegungen im Iran ist bewundernswert. Es gab bereits ein Gefühl der Macht, aber der Tod von Mahsa verwandelte dies in eine Revolution.

Die Frauen akzeptieren den Hidschab und andere Einschränkungen nicht. Jugendliche und Student:innen, die eine wichtige Rolle spielen, sind für die Mullahs schwer zu kontrollieren. Hass und Wut wachsen. Einer der Hauptgründe dafür ist neben den Einschränkungen und der Unterdrückung die Wirtschaftskrise. Der jungen Generation wurde die Hoffnung genommen, und ihre einzige Möglichkeit ist der Kampf.

Die Situation ist jetzt ganz anders. Eine große Mehrheit der Bevölkerung will die Mullahs loswerden. Frauen spielen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung, aber jetzt schließen sich alle Schichten der Bewegung an. Selbst religiöse Menschen hassen diese Regierung jetzt, was bedeutet, dass die Wurzeln des klerikalen Regimes hohl geworden sind und seine Basis sehr schwach ist.

LFI: Kannst du uns etwas über die Mentalität dieser neuen Generation erzählen, von der wir alle hoffen, dass sie der Garant für zukünftige Freiheit sein wird?

AR: Junge Menschen machen mehr als 60 Prozent der iranischen Gesellschaft aus. Sie tragen nicht die Last vergangener Niederlagen und stehen in Kontakt mit der modernen Welt, auch wenn es viele Probleme gibt und die Situation sehr kompliziert ist. Inflation und Arbeitslosigkeit haben jedoch alle Schichten der Gesellschaft erfasst. Auch die Mittelschicht ist davon stark betroffen, und deshalb umfasst die Bewegung verschiedene Schichten.

Andererseits ist die Popularität der Mullahs auf einen Tiefpunkt gesunken, und es wird immer schwieriger, diese Jugendlichen zu kontrollieren. Sie sind wütend über die Demütigung, der sie, insbesondere die Frauen, ausgesetzt sind. Die Gesellschaft liegt bereits so sehr im Würgegriff, aber es werden noch mehr Einschränkungen auferlegt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Frauen werden nicht nur gedemütigt, sie werden gewaltsam verhaftet und verschwinden, und auch die Familienmitglieder werden gedemütigt. Das ganze System basiert auf Angst und Unterdrückung, und die Jugend akzeptiert es nicht mehr.

LFI: Wie reagieren die Sittenpolizei und das Regime auf diese junge Generation? Kannst Du uns etwas über die Praktiken der Sittenpolizei und das Leid, das sie verursacht, erzählen?

AR: Der iranische Staat und seine Institutionen waren früher in der Lage, jeden Widerstand mit Gewalt zu unterdrücken. Seit 2009 wurden verschiedene Bewegungen durch die brutale Repression, das Verschwinden-Lassen, die Verhaftungen und die Massaker der Welayat-e-Faqih-Bande (Statthalterschaft des Rechtsgelehrten), der mörderischen sogenannten Wächter:innen der Revolution und anderer niedergeschlagen. Die Unterdrückung der Kurd:innen und Belutsch:innen ist besonders extrem.

Schon vor Covid trug die anhaltende Wirtschaftskrise zu einem starken Anstieg von Armut, Inflation und Arbeitslosigkeit bei. Gegenwärtig leben mehr als 40 Prozent der iranischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Die Ermordung von Jina Mahsa Amini löste den allgemeinen Widerstand aus, aber die Ursachen für diese Revolution waren bereits vorhanden. Die Brutalität des Staates hat nicht abgenommen, aber jetzt ist es nicht mehr der Kampf einer einzelnen Schicht. Auch religiöse Menschen wollen ihn loswerden. Die Mehrheit wird dieses System nicht akzeptieren und will einen Ausweg. Die Tapferkeit der Frauen und Studentinnen ist eine Ohrfeige für das Regime. Trotz der Tatsache, dass Massaker, Verhaftungen und das Verschwinden-Lassen von Personen an der Tagesordnung sind, hält dies die Moral der Bewegung aufrecht. Obwohl die vorherige Generation Angst um ihre Kinder hat, gibt ihr Mut auch den Eltern Hoffnung.

LFI: Wir hören von neuen Netzwerken unter radikalen Student:innen und innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Wie effektiv sind sie und welche Rolle haben sie vor Ort gespielt?

AR: Die Protestbewegung brach spontan aus, aber es existiert eine Koordination, die nicht nur durch Internetaufrufe kommuniziert wird. Es besteht auch eine lokale Koordination. Die Menschen sprechen über die aktuelle Situation bei den Protesten und diskutieren auch die Strategie für Aktionen. Student:innen  an den Universitäten unterhalten Netzwerke, die die Autorität der Mullahs ablehnen. Es gibt Organisationen der Arbeiter:innenklasse, die Proteste und Streiks organisieren. Alle diese Organisationen spielen eine wichtige Rolle, aber das Fehlen einer Führung, die einen landesweiten Wandel erzwingen kann, ist jetzt noch deutlicher zu spüren. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat den Iran geeint, aber es gibt Widersprüche, und wir brauchen eine Strategie, die die Mullahs zurückdrängen und die Revolution weiter voranbringen kann.

LFI: Was bedeutet die Wirtschaftskrise? Wie stehen die Aussichten für die Linke?

AR: Die Wirtschaftskrise hat im Iran Verwüstungen angerichtet, die Preise für die Grundbedürfnisse sind um mehr als 60 Prozent gestiegen. Die Mittelschicht ist ruiniert und die Bedingungen für die Arbeiter:innen sind schrecklich. Berichte über die Korruption der Mullahs stehen auf der Tagesordnung. Fabriken werden geschlossen, in der Ersatzteilproduktion sind 100.000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Die Menschen im Iran haben auch die Nase voll von der Interventionspolitik des Mullah-Regimes in anderen Ländern, die ihr Leben immer weiter von der Welt isoliert. Sie alle beteiligen sich an der Revolution „Frau. Leben. Und Freiheit“. Alle sehen die Lösung der Wirtschaftskrise im Tod der Diktatur. Die Situation ist sehr schwierig, es gibt keine besonders starke Strömung. Begrenzt kommt sogar Unterstützung von Liberalen und Anhänger:innen des ehemaligen Schahs, aber es ist auch Raum geschaffen für sozialistische Ideen. In wirtschaftlicher Hinsicht haben die Sozialist:innen eine Perspektive für das Ende des Mullah-Regimes, die Freiheiten und ein Ende der wirtschaftlichen Unterdrückung bringt.

LFI: Hat die Bewegung auch die industriellen Zentren des Irans erreicht? Schließlich müssen die Inflation und die allgemeine Krise viele Menschen und Familien aus der Arbeiter:innenklasse an den Rand treiben. Welche Forderungen beziehen sich konkret auf die Klassenfrage?

AR: Der Kampf entwickelt sich in der Arbeiter:innenklasse, und sie nimmt an den Protesten teil, aber viele ihrer Anführer:innen wurden verhaftet. Die Arbeiter:innenklasse beteiligt sich in verschiedenen Städten daran, insbesondere die Lehrer:innen sind in dieser Hinsicht sehr aktiv. In Teheran sind die Busfahrer:innen mobilisiert, und die Tankwagenfahrer:innen haben am 19. Oktober in Solidarität mit dem Protest gestreikt. Die Arbeiter:innen der Röhrenwerke, des Stahlkomplexes Neyriz Ghadir, der Mehrschar-Raffinerie, der petrochemischen Gesellschaft und der Raffinerie in Abadan, der petrochemischen Gesellschaft auf der Insel Hengham, der petrochemischen Gesellschaft in Buschehr und des Gaskondensatfeldes in Südparas streiken und protestieren in Solidarität mit den Demonstrant:innen. Die Verhaftung der Anführer:innen hat jedoch zu Schwierigkeiten geführt.

Trotz der Einschränkungen im Internet nehmen die Proteste nicht ab. Die Menschen sind immer noch über verschiedene alternative Quellen miteinander verbunden. Ja, es gibt Schwierigkeiten, aber aufgrund der Widersprüche des Imperialismus eröffnen sich auch Chancen, und viele junge Menschen erstellen Links, die Videos und andere Botschaften verbreiten. Die Regierung greift jedoch immer wieder an. Verschiedene Gewerkschaften haben zum Streik aufgerufen und es kam zu erfolgreichen Arbeitsniederlegungen, aber das generelle Problem dieser Revolution ist immer noch das einer kollektiven Führung. Ein Generalstreik ist wichtig, aber er muss bis zum Ende des Mullah-Regimes andauern. Dies erfordert die Bildung von Fabrik- und Betriebsräten sowie Verteidigungskomitees. Ohne sie ist die staatliche Repression unvermeidlich, und es ist nicht möglich, es mit ihr aufzunehmen.

LFI: Ist es richtig zu sagen, dass alle, die sich an dem derzeitigen Kampf beteiligen, den Sturz des Regimes wollen?

AR: Die Bewegung will mehr als nur Reformen, sie will das Ende des Mullah-Regimes. Es ist ein starker Geist, der die Menschen aktiv hält. Trotz aller Unterdrückung sind die Menschen nicht bereit, sich mit weniger zufriedenzugeben als mit dem Sturz der Regierung. Die Unterdrückung ist jedoch sehr hart. Und die Demonstrant:innen müssen vor den Mörder:innengarden und anderen reaktionären Kräften geschützt werden. Die Demonstrant:innen widersetzen sich diesen Kräften, aber das muss organisiert werden.

Alle wollen das Ende dieser Regierung, aber das Fehlen einer nationalen Führung bedeutet, dass es keine klare Strategie gibt, und das ist eine gefährliche Situation. Wenn die Regierung stürzt, werden die Reformist:innen versuchen, sich als Alternative zu präsentieren, auch wenn sie im Moment wenig Unterstützung genießen. Dann gibt es auch noch die Pahlavi-Anhänger:innen des alten Schah-Regimes. In einer solchen Situation kann es auch zu einer gewissen Unterstützung durch die Bevölkerung kommen, aber das ist nicht die Alternative, für die die Menschen kämpfen. Unserer Meinung nach ist die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung wichtig, die die Arbeiter:innen durch die Bildung von Räten demokratisch vereinen kann, und Wahlen unter deren Kontrolle sind unerlässlich. Das sozialistische Programm ist die einzige Lösung, die der Barbarei der Mullahs ein Ende setzen und auch eine breitere Demokratie bringen kann. Es wendet sich gegen das kapitalistische System und den Imperialismus, was bedeutet, dass die Ressourcen des Irans genutzt werden können, um das Leben des Volkes zu verbessern, anstatt den Interessen der herrschenden Klasse untergeordnet zu werden.

LFI: Was sind die führenden politischen Kräfte in der Oppositionsbewegung? Welche Klasse führt die Bewegung an? Welche Rolle spielt die Arbeiter:innenklasse als politische Kraft?

AR: Dies begann als eine „spontane“ Bewegung. Schon vor der Ermordung von Jina Mahsa Amini waren alle Zutaten vorhanden, aus denen diese Bewegung entstanden ist. Sie umfasst Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, und verschiedene Vereinigungen unterstützen sie. Sie ist auch in den kurdischen und belutschischen Gebieten zu finden und zieht die verwüstete Mittelschicht an. Das Einzige, was sie eint, ist die Opposition gegen die Regierung.

Der Einfluss der Jugend in dieser Bewegung ist sehr groß und vor allem die Studentinnen sind sehr aktiv, trotz aller Unterdrückung, Gewalt und Mordes. Die Liberalen hoffen auf Demokratie. Sie wollen sich wieder mit der Welt verbinden, stehen der Regionalpolitik des Staates kritisch gegenüber und wollen ein freies Leben führen. Ein Leben in Ketten ist für sie nicht akzeptabel. Die reformistische Führung ist nicht dominant, aber viele derjenigen, die Hoffnungen in den Reformismus setzen, sind aktiv.

Es gibt Platz für die Linke und sie ist auch aktiv. Die Gewerkschaften beteiligen sich an den Protesten. Zwar wird gestreikt, doch müssen diese Maßnahmen zu einem landesweiten Streik und dem Sturz der Regierung ausgebaut werden. Es muss eine sozialistische Alternativbewegung geben, denn dieses System hält keine Lösung für die Menschen im Iran parat. Die Möglichkeit der Vorherrschaft der Konterrevolution ist unter diesen Umständen nicht völlig auszuschließen.

LFI: Wie können die Frauen der Arbeiter:innenklasse und die Arbeiter:innenklasse als Ganzes nicht nur in den Vordergrund der Straßenkämpfe treten, sondern die Führung im Kampf für die Nachfolge des Regimes übernehmen? Wie können sie die Vorkämpfer:innen für eine sozialistische Republik werden? Gibt es Kräfte, die versuchen, die beginnende demokratische Revolution dauerhaft zu machen?

AR: Trotz aller Repression und Gewalt sind die Mullahs immer noch nicht in der Lage, die Revolution zu kontrollieren. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass diese Situation nicht ewig andauern kann. Jetzt ist ein unbefristeter Generalstreik notwendig, der deutlich macht, dass die wirkliche Macht in der Gesellschaft bei der Arbeiter:innenklasse liegt und sie das System stoppen kann. Die Linke hat wenig politischen Einfluss auf die Bewegung, aber es gibt viele Möglichkeiten für sie in dieser Revolution. Wenn sie nur der bestehenden Bewegung hinterherlaufen würde, könnte das Ergebnis ins Leere laufen, denn selbst wenn das Regime der Mullahs stürzt, könnte die Macht an jene Kräfte (reformistische, prowestliche, Pahlavi) übergehen, die nichts für die Arbeiter:innen und die Armen des Irans tun werden und auch nicht die vollen Freiheiten für die Frauen und die Demokratie bringen würden.

Wir brauchen eine klare sozialistische Alternative, die eine verfassunggebende Versammlung fordert und eine Arbeiter:innenregierung anstrebt, deren Programm das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung anerkennt. Nur das kann diese Bewegung zum Erfolg führen. Es braucht eine revolutionäre Kraft im Iran, die für die Strategie der Permanenten Revolution kämpft und glaubt, dass das Ende des Mullah-Regimes und der Kampf für demokratische Freiheiten im Iran mit der Befreiung vom Imperialismus und dem Ende des Kapitalismus verbunden ist. Eine solche Kraft befindet sich in einem frühen Stadium, aber sie hat die Möglichkeit, ihr Programm zu präsentieren.

LFI: Was wären die ersten Dinge, die Sozialist:innen umsetzen würden, wenn sie nach dem Sturz des Mullah-Regimes das Sagen hätten?

AR: Die Abschaffung des Hidschabs und aller anderen Gesetze gegen Frauen, vollständige demokratische Freiheiten, das Recht auf Selbstbestimmung für unterdrückte Nationen, die vollständige Trennung des Staates von der Religion und die vollständige Beendigung der Hilfe für religiöse Institutionen, die Beendigung der regionalen Intervention und die Einführung einer Planwirtschaft, so dass das Ziel der Wirtschaft nicht darin besteht, Profite für die Bürokratie und die kapitalistische Klasse zu erwirtschaften, sondern alle Ressourcen für die Verbesserung des Lebens der Arbeiter:innen und armen Menschen zu verwenden. Dies ist im bestehenden Staat unmöglich, daher ist die Abschaffung des bestehenden Staates und die Errichtung eines Arbeiter:innenstaates, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird, notwendig.




Die iranische Revolution hat begonnen – wie kann sie siegen?

Martin Suchanek, Neue Internationale, November 2022

Die iranische Revolution steht an einem entscheidenden Punkt. Seit Wochen gehen Tausende, ja insgesamt wohl Millionen auf die Straße. In den kurdischen Regionen legten Generalstreiks das öffentliche Leben lahm. Die Universitäten bilden einen Hort des Widerstandes. Und seit Wochen breiten sich auch Streiks im Land aus.

Die Massen zeigen seit Wochen, dass sie nicht mehr leben wollen wie bisher. Ihre Kraft, ihr Heroismus, ihr Widerstand, an dessen Spitze bis heute vor allem junge Frauen stehen, konnte vom Regime bisher nicht gebrochen werden – trotz massiver Repression, trotz hunderter Toter, trotz Tausender Verletzter, Festgenommener und trotz inszenierter regierungstreuer Aufmärsche.

Doch die Bewegung steht auch an einem entscheidenden Punkt. Sie konnte zwar das islamistische Regime erschüttert. Brechen konnte sie es bisher jedoch nicht. Die Mullahs verfügen nach wie vor über einen zentralisierten Staats- und Repressionsapparat. Sie kontrollieren nach wie vor die Reichtümer des Landes, die Medien, die öffentlichen Institutionen, vor allem Hunderttausende in den Polizeikräften, Armeeeinheiten, Geheimdiensten und Milizen wie die Pasdaran und die Basidsch-e Mostaz’afin, die zu jedem Verbrechen bereit sind, um die Massenbewegung in Blut zu ertränken. Unverhohlen drohen die Führer der Reaktion wie der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, mit Worten wie: „Die Demonstranten sollten die Geduld des Systems nicht überstrapazieren.“ Was damit gemeint ist, zeigen Bilder aus Mahabad, wo Kräfte des Regimes am 28. Oktober in die Menge schossen.

Bislang hat die Bewegung trotz der Brutalität des Regimes standgehalten, ja sie hat sich über Wochen ausgeweitet und verbreitet. Doch wir nähern uns täglich einem Punkt, an dem das Regime versuchen wird, die Offensive wieder zu erlangen. Für die Bewegung stellt sich daher die Überlebensfrage: Wie kann die Massenbewegung zu einer organisierte Kraft werden, die selbst den Apparat der Mullahs brechen und zerschlagen kann? Wie kann die Revolution siegen?

Der Funke, der das Pulverfass entzündete

Der Mord an der 22jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini war jener berühmte Funke, der das Pulverfass explodieren ließ. Drei Tage nach der Festnahme durch die sog. Sittenpolizei wegen angeblichen Verstößen gegen die reaktionäre Kleiderordnung verstarb die junge Frau.

Ihr Schicksal war kein Einzelfall. Willkür, Misshandlung und Erniedrigung von Frauen, von nationalen Minderheiten, Unterdrückung der Jugend und die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse gehören zum Sittenbild einer „rechtschaffenen“ Theokratie, deren inszenierte moralische Autorität regelmäßig in Barbarei umschlägt. Dieses Regime fordert jährlich Tausende und Abertausende Opfer, deren Schicksal, deren Namen, deren Angehörige und Freund:innen unter dem Druck von Repression und Unterdrückung in der Anonymität verschwinden. Die Herrschaft des islamistischen Regimes umfasst alle Ebenen des Staates, durchdringt über sämtliche religiösen und andere reaktionäre Institutionen die Gesellschaft und ist eng mit der wirtschaftlichen Elite verflochten.

Doch dieser allmächtige staatliche, klerikale und wirtschaftliche Apparat, dieser Moloch,  der die gesamte iranische Gesellschaft zu ersticken droht, hat seit dem 16. September den Nimbus seiner Allmacht verloren. Die seit Jahren und Jahrzehnten angehäuften Widersprüche der iranischen Gesellschaft treten seither offen zutage.

Heroismus

Täglich riskieren tausende Frauen im ganzen Land ihre Leben, bilden die Speerspitze der Bewegung. Sie legen öffentlich den Schleicher ab, lassen sich ihr Haar schneiden, riskieren ihr eigenes Leben, um ein zukünftiges zu erkämpfen. Dieser Heroismus, diese Entschlossenheit verweisen aber auch auf die Tiefe der gegenwärtigen Bewegung. Sie treffen einen ideologischen und materiellen Kern der islamistischen Diktatur, die geschlechtsspezifische Unterdrückung. Zweitens zeigen sie aber auch, dass die große Mehrheit der iranischen Frauen und der gesamten Bevölkerung nicht mehr bereit ist, weiter so zu leben wie bisher. Viele fürchten ein Leben in Unfreiheit, partriarchaler und klerikaler Unterdrückung mehr als den Tod.

Dieser Heroismus bezeugt sehr viel mehr als Mut, Opferbereitschaft, Kampfeswille und Unbeugsamkeit Einzelner. Dass er zum Massenphänomen wurde, dass er breite Schichten ergriff, verdeutlich das revolutionäre Potential der Massen.

Ausweitung seit September

In den letzten Wochen hat sich die Bewegung gegen das Regime ausgeweitet. In den kurdischen Gebieten hat der Kampf teilweise die Form von lokalen Aufständen angenommen. In Sine (Sanandadsch, Sanandaj) wurden Anfang Oktober Sicherheitskräfte aus Teilen der Stadt zurückgedrängt. Das Regime versuchte, die Bewegung mit brutaler Repression, Einsatz von Kriegsgerät durch die Polizei und willkürlichen Morden niederzuschlagen und die kurdische Bewegung zu einer verfrühten bewaffneten Konfrontation zu provozieren.

Ein entscheidender Grund dafür, dass das Regime bisher die Bewegung nicht brechen konnte, liegt darin, dass sie alle Schichten der Gesellschaft, Frauen, Studierende, die unterdrückten Nationalitäten, vor allem aber auch die Arbeiter:innenklasse ergriffen hat. Deren soziale Lage hat sich über Jahre besonders dramatisch verschlechtert. Seit gut einem Jahrzehnt liegt die offizielle Inflationsrate bei 10 – 20 %. 11,3 Prozent sind offiziell als arbeitslos registriert. Frauen, Jugendliche, aber auch Menschen mit Hochschulabschluss und nationale Minderheiten sind davon besonders stark betroffen.

Schon im Frühjahr und Sommer 2022 fanden im Iran wichtige illegale oder halblegale Streiks der Arbeiter:innen gegen Preissteigerungen, schlechte Arbeitsbedingungen und für die Auszahlung ausstehender Löhne statt. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Arbeiter:innenklasse im September rasch hinter die Protestbewegung stellte.

Seither weiteten sich die Streiks und Aktionen rasch aus. Seit dem 10. Oktober ergriffen sie auch die Ölindustrie. So streiken die Arbeitenden der Öl- und Gaswerke in Asaluyeh und Kangan, im South-Pars-Gasfeld, in Buschehr im Süden Irans. Am 19. Oktober befanden sich Beschäftigte von Asalouyeh Petrochemical, Bandar Abbas Petrochemical, Abadan Petrochemical, Bushehr Petrochemical, South Pars Petrochemical, Haft Tappeh Sugar Cane Company, Neyriz Ghadir Steel in Fars im Ausstand.

Der Versuch, auf die Opposition mit eigenen, regierungstreuen, islamistischen Massenkundgebungen zu antworten, erwies sich im September als politisches Eigentor. Die inszenierten Aktionen blieben zahlenmäßig weit hinter der Protestbewegung zurück. Offenkundig können die Mullahs die alte Ordnung bisher nicht einfach wieder herstellen, weder durch massive Repression noch durch inszenierte Zurschaustellung ihrer eigenen Anhänger:innen.

Auch wenn das Regime erschüttert ist, so wird es nicht freiwillig oder aufgrund von Straßenprotesten und unkoordinierten Besetzungen und Streiks weichen. Im Gegenteil: Es sammelt seine Kräfte, reorganisiert sie und verfügt über einen zentralisierten Apparat, der zwar in der Defensive, aber intakt geblieben ist. Es monopolisiert weiter die Medien und öffentliche Propaganda, verfügt über ein Monopol der bewaffneten Kräfte und ist eng mit der herrschenden Kapitalist:innenklasse verbunden.

Die Bewegung wiederum kann nicht ewig auf diesem Stand verharren. Sie muss vielmehr einen entscheidenden Schritt vorwärts gehen, wenn sie die vorrevolutionäre Krise in eine echte Revolution umwandeln, das Regime stürzen will.

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben haben längst Parolen wie „Jin Jiyan Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes verbunden. Ihnen ist längst schon bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Auch anderen Schichten der Unterdrückten ist bewusst, dass sie zur Zeit an einem Scheideweg, vor einer klaren Alternative stehen: Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Diese Frage ist untrennbar verknüpft mit der, welche gesellschaftliche Kraft der Revolution ihren Weg weisen, sie zum Sieg führen und die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen erfüllen kann.

Die gegenwärtige Bewegung erscheint zwar als spontane, doch ihre Aktionen sind auf lokaler, auf universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet haben. In den kurdischen Gebieten existiert auch ein Koordinierungsausschuss von bislang natürlich illegalen Parteien. Doch die Bewegung hat kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

Und eine solche Koordinierung und Zentralisierung kann aus einzelnen lokalen Aktionen, Streiks, Demonstrationen nicht entstehen. Es braucht vielmehr eine die Bewegung zusammenfassende Kampfform, die das gesamte Land erschüttern kann – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Entscheidend ist aber, dass diese auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufruf an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Schon in der iranischen Revolution bestand ein Kernproblem darin, dass die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten die Hauptlast des Kampfes gegen den Schah trugen, aber ihre Interessen jenen des Bündnisses mit anderen Klassen gegen den Thron untergeordnet wurden. Damals führten vor allem die Stalinist:innen die Arbeiter:innenklasse und Frauen dazu, ihre eigenen Befreiungsinteressen, Klassenforderungen zurückzustellen zugunsten eines Bündnisses mit vermeintlich „antiimperialistischen“ Kräften und dem „nationalen“ Flügel der Bourgeoisie. Diese Politik führte dazu, dass die Frauen auf ihre emanzipatorischen Ziele verzichten sollten, damit die Mullahs für ein Bündnis gegen den Schah und den US-Imperialismus gewonnen werden konnten. Diese Politik führte dazu, dass zugunsten einer sog. „demokratischen Etappe“ der Revolution die Arbeiter:innenklasse die Enteignung des Kapitals und den Kampf für eine sozialistische Umwälzung zurückstellen sollte. Diese Politik führte nicht zur „demokratischen“ Etappe, sondern zur islamistischen Diktatur, zur Entrechtung der Frauen und der Arbeiter:innenklasse.

Dieser Fehler darf heute nicht in anderer Form wiederholt werden. So wie die Beschränkung der iranischen Revolution auf eine bürgerlich-demokratische Etappe damals der Konterrevolution zum Sieg verhalf, so dürfen die Lohnabhängigen, die Frauen, die Jugend, die unterdrückten Nationalitäten heute keine Hoffnung in ein Bündnis mit der monarchistischen oder demokratisch-imperialistischen bürgerlichen Opposition hegen.

Programm

Es braucht vielmehr ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuer:innenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!

  • Volle demokratischen Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!

  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!

  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie die Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!

  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!

  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!

  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!

  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und Unternehmen! Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuer:innen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!

  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assad-Regimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!

  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Buern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!

  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!

Revolutionäre Arbeiter:innenpartei

Ein solches Programm wird nicht einfach spontan aus dem Kampf entstehen. Es braucht bewusste, revolutionäre Kräfte, die es weiter ausarbeiten, dafür unter den Arbeiter:innen, Studierenden, den Frauen, den nationalen Minderheiten eintreten und Kräfte sammeln. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen sich alle jene revolutionären und klassenkämpferischen Kräfte, die diese Perspektive teilen, jetzt organisieren, eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei schaffen, eine Partei, die legale und illegale Arbeit geschickt verbinden muss. Die Zeit drängt in jedem Fall. Die nächsten Tage und Wochen können für Jahre entscheidend sein.

Keine Frage, es wird überaus schwer, in dieser kurzen Zeitspanne eine Partei der Revolution zu schaffen, eine Kraft, die wirklich unter den Massen verankert ist, und diese Arbeiter:innenklasse im Bündnis mit den Unterdrückten zum Sieg führen kann. Allein, es gibt dazu auch keine Alternative.




Krise, Kapitalismus und Herrschaft der Mullahs

Martin Suchanek, Neue Internationale 269, November 2022

Die Tiefe der aktuellen Bewegung im Iran wird erst richtig verständlich, wenn wir die sozialen und ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre und die Verbindung des Regimes zum Kapitalismus betrachten.

Stagnation

Seit Jahren befinden sich die iranische Wirtschaft und Gesellschaft in einer tiefen ökonomischen und sozialen Krise. Die Entwicklung des BIP (Bruttoinlandsprodukts) gleicht dabei einer Fieberkurve. Auf den Einbruch 2012 (-3,75 %) und 2013 (-1,53 %) folgte 2014 ein Plus von 4,99 %. Im Folgejahr 2015 schrumpfte das BIP jedoch wieder (-1,43 %). 2016 schoss es um 8,82 % in die Höhe, doch schon 2017 ging das Wachstum wieder auf 2,76 % zurück. Es folgten 2018 (-1,84 %) und 2019 (- 3,07 %) Jahre der Rezession. 2020 und 2021 wuchs das BIP zwar wieder (+3,3 % und +4,72 %).

Diese Zickzackkurve verdeutlicht schon, wie fragil die kapitalistische Entwicklung im Land geworden ist, bildet sich doch seit Jahren kein „normaler“, über mehrere Jahre gehender Konjunkturzyklus heraus. Faktisch stagniert die Ökonomie des Landes seit etwa einem Jahrzehnt, insbesondere wenn wir das BIP ins Verhältnis zur Bevölkerung setzen, die von 76,04 Millionen Menschen im Jahr 2012 auf 84,98 Millionen im Jahr 2021 zunahm.

Soziale Lage

Besonders dramatisch gestaltet sich zudem die Lage der Lohnabhängigen. Seit 2012 sank das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von rund 8.000 US-Dollar auf etwas über 2.000 (2020). Die Hauptgründe für den realen Verlust an Kaufkraft und damit verbundene Entwertung der Einkommen und Vermögen der Massen liegen in der dauerhaft hohen Inflationsrate (10 – 20 % pro Jahr), dem Kursverfall der Währung sowie der hohen Arbeitslosigkeit, prekärer und Unterbeschäftigung. Die Arbeitslosenrate beträgt heute offiziell 11,13 %, wobei sie für Frauen, Jugendliche, Menschen mit Hochschulabschluss und nationale Minderheiten etwa doppelt so hoch liegt wie im Durchschnitt.

Doch auch für die beschäftigten Arbeiter:innen waren die letzten zehn Jahre ein soziales Desaster. Lt. Massarrat sank der reale Mindestlohn von 400 US-Dollar/Monat im Jahr 2010 auf 100 – 130 im Jahr 2018 – und das trotz vieler, erbittert geführter Arbeitskämpfe, die teilweise auch zu kurzfristigen Lohnerhöhen führten. Allein, die Inflation frisst diese rasch wieder auf, sie lag 2021 bei über 40 % und zur Zeit bei über 30 %. Unter der Pandemie verschlechterte sich darüber hinaus die allgemeine Lage. Heute lebt rund die Hälfe der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

All dies erklärt aber auch, warum die Bewegung so rasch und massiv an den Universitäten und in den Betrieben Fuß fassen, sich ausweiten und verankern konnte.

Jugend und Frauen

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und besondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppt sich nach anfänglichen Industrialisierungs- und ökonomischen Erfolgen in den 1980er und 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13 verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innenklasse bildet mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Staat und Bourgeoisie

Nach der konterrevolutionären Machtübernahme und Niederlage der iranischen Revolution 1979 setzte das Regime auf eine staatskapitalistische Industrialisierung, finanziert durch das Ölgeschäft und ein Bündnis mit der Handelsbourgeoisie, vor allem den sog. „Bazaris“ (einer traditionell religiös-konservativ eingestellten Schicht von Großhändler:innen, die am Bazar von Teheran ihren Geschäftssitz hat und sich unter dem Schah benachteiligt fühlte).

Bewerkstelligt werden sollte diese durch Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas sowie durch westliche Investitionen. Diese Politik zeitigte auch einige begrenzte Erfolge, was sich auch im Wachstum der Arbeiter:innenklasse ausdrückte.

Die Öleinnahmen wurden unter den Mullahs ebenso wie unter dem Schah zum größten Teil jedoch nicht in die Entwicklung einer umfassenden, nationalen Wirtschaft und Industrie investiert, sondern der größere Teil floss entweder in die Taschen einer Bürokratenkaste und der eng mit dem Regime verbunden religiösen und repressiven Institutionen. Dabei entstand auch eine neue Schicht von Unternehmer:innen, indem beispielsweise Offizier:innen, hohe Beamt:innen, führende Kommandeur:innen der Milizen und andere Funktionsträger:innen bei Privatisierungen begünstigt wurden, deren Geschäftsmodell im Wesentlich aus staatlichen Aufträgen bestand, also aus einer Umverteilung der Öleinnahmen. Dies war für sie zugleich profitabler und sicherer als industrielle Neuinvestitionen.

Das traf erst recht für die schon etablierten kapitalistischen Großhändler:innen zu, von denen selbst viele historisch aus dem Großgrundbesitz auf dem Land hervorgegangen waren. Das Geschäftsmodell der großen Handelskapitale bestand einerseits im Import von Waren für jene Schichten, die aus den Öleinnahmen alimentiert wurden (und damit eben heimische Produkte ersetzen) sowie in Anlagen von Immobilien und auf Finanzmärkten. Der Grund dafür ist kein Geheimnis. Diese Sphären versprachen einfach raschere und höhere Gewinne als der industrielle Sektor. Die Öleinnahmen des iranischen Staates fungierten als Garantinnen für diese Geschäfte.

Dieses Problem, dass die Einnahmen aus dem Rohstoffreichtum nicht organisch in den Aufbau der heimischen Wirtschaft fließen, ist natürlich kein speziell iranisches. Es ist vielmehr typisch für halbkoloniale Länder, deren Einnahmen wesentlich aus dem Verkauf von Rohstoffen oder Einnahmen in Form der Grundrente stammen. Länder wie der Iran sind trotz Sanktionen und diplomatischer Isolierung natürlich weiter vom Weltmarkt abhängig. Das zeigt sich auch darin, dass die iranische Wirtschaft seit 2012/13 auch wegen des gesunkenen Rohstoffpreises für Öl und Gas in weitere Schwierigkeiten geriet. Darüber hinaus führten die von den USA forcierten und auch bei ihren westlichen Verbündeten durchgesetzten Sanktionen zu einem Rückgang an Investitionen ausländischen Kapitals, das auch durch andere Staaten wie China nicht aufgewogen werden konnte.

Weltmarkt und nationales Kapital

Die Abhängigkeit vom Weltmarkt geht aber auch mit einer bestimmten Ausrichtung des nationalen Kapitals einher. Nicht nur das wichtigste Wirtschaftsgut ist auf den Weltmarkt ausgerichtet, auch die Investitionsrichtung der bedeutendsten Kapitalgruppen wird davon bestimmt. Dass das „nationale“ Kapital im Iran seine Gelder lieber in spekulative Geschäfte und in Im- und Export von Waren anlegt, folgt der simplen Logik jedes Einzelkapitals – dort zu investieren, wo die größte Rendite bei geringstem Risiko zu erwarten ist.

Dies erklärt auch, warum die iranische Bourgeoisie wieder willens noch fähig ist, das Land selbst zu entwickeln, sondern wesentlich parasitäre Züge annimmt. Erst recht trifft dies auf die aus dem Regime hervorgegangenen, „neuen“ Unternehmer:innen zu. Hinzu kommt, dass das islamistische Regime auch noch eine ganze Heerschar von Repressionskräften, Militär, paramilitärische Einheiten wie die Pasdaran, Staatsbeamt:innen, religiöse Würdenträger – allesamt ökonomisch unproduktive Gesellschaftsschichten – alimentieren muss.

Anders als in den Petromonarchien am Golf ist die iranische Bevölkerung jedoch viel zu groß, um in ihrer Gesamtheit aus den Öleinnahmen alimentiert werden zu können. Da die Privatbourgeoisie ihr Kapital lieber in Handel und Finanzen statt in der Industrie anlegte, versuchten der Schah wie auch das islamistische Regime, über einige Zeit eine staatskapitalistische Industrialisierung zu forcieren. Doch diese scheiterte nicht nur an der Abhängigkeit vom Weltmarkt (Öl- und Rohstoffpreise), sondern auch daran, dass zuerst die Handels- und Finanzbourgeoisie und eigenen zahlreichen Günstlinge bedient werden mussten.

Der „Rest“ war zu gering und unsicher, um eine ökonomische Modernisierung zu leisten. So blieb vieles Stückwerk, auf halbem Weg stecken. Die neoliberale Wende des Regimes nach 2010 und die Sanktionen des Westens verschärften das Problem. Die Industrie und angelagerte Wirtschaftsteile litten an fehlenden Ersatzteilen, überalterten Maschinen, fehlenden Märkten, mangelnder Auslastung und ganz besonders an Kapital für Neu- oder Ersatzinvestitionen.

Die Arbeiter:innenklasse muss den niedergehenden Betrieb irgendwie am Laufen halten und erlebt zugleich täglich, dass sich der islamistische Kapitalismus nicht nur im Niedergang befindet, sondern auch die Lohnabhängigen mit in den Abgrund zu reißen droht.

Für die beschäftigten Arbeiter:innen verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen, Unfälle werden zur Regel. Viele verdienen aufgrund von Inflation und Produktionsausfällen immer weniger, andere warten monatelang auf ihre Löhne.

Es ist kein Wunder, dass sich die Lohnabhängigen v. a. außerhalb strategischer staatlicher Betriebe, wo noch höhere Löhne bezahlt werden, in den letzten Jahren immer mehr vom Regime entfremdeten. Vor allem aber 2019 bildeten sie die zentrale soziale Kraft in der Massenbewegung gegen das Regime, erhoben sie ökonomische Forderungen in Verbindung mit solchen nach dem Sturz der Mullahherrschaft.

Unter der Diktatur des Schahs und jener der Islamist:innen erwies sich die iranische Bourgeoisie als unfähig und unwillig, das Land zu entwickeln. Dazu wird sie auch in Zukunft nicht in der Lage sein, als fortschrittliche Kraft hat sie längst ausgespielt. Umso dringenden ist es, dass die Jugend, kämpfenden Frauen, unterdrückten Nationalitäten, vor allem aber die Arbeiter:innenklasse selbst erkennen, dass die kommende iranische Revolution nur dann die Probleme des Landes lösen kann, wenn sie zu einer sozialistischen wird.




Frau, Leben, Freiheit: Tod der Diktatur

Revolutionary Socialist Movement – Pakistan, Infomail 1202, 19. Oktober 2022

Wir betrauern den Tod von Jina Mahsa Amini. Mahsa war eine junge Kurdin, die im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei starb. Sie war nicht die erste, viele Frauen vor ihr starben im Stillen. Aber dieses Mal ist es anders. Mahsas Familie hat ihre Stimme erhoben. Wir kennen ihren Namen, wir sagen ihren Namen. Und viele Iraner:innen, junge und alte, schließen sich dieser Stimme an. Seit einem Monat erschüttern die Proteste den Iran. Die Menschen haben aufgehört, eine Entschuldigung zu fordern. Sie fordern den Sturz der fundamentalistischen Diktatur. „Frauen, Leben, Freiheit“ und „Nieder mit den Mullahs“ sind die Slogans, die von Tabriz bis Zahedan und in der iranischen Hauptstadt Teheran widerhallen. Selbst in den Städten, die früher als Bastionen der Kleriker und ihrer reaktionären Garde galten, fordern die Menschen den Sturz des Regimes.

Euer Leid ist unser Leid. Mahsa und die vielen Hunderte, die das Regime seither ermordet hat, sind für uns wie Schwestern und Brüder. Wir kennen euren Schmerz. Denn wir wissen, wie es ist, um unsere pakistanischen Schwestern zu trauern, die für Ehre, für Religion und für die Macht- und Profitgier einer patriarchalischen herrschenden Klasse getötet wurden. Wir wissen, wie es sich anfühlt, Angst zu haben, allein durch die Straßen zu gehen. Auch wir fühlen den Schmerz, in der Öffentlichkeit die Hand eines geliebten Menschen nicht halten zu dürfen. Viele weibliche pakistanische Arbeiterinnen und Angestellte werden Opfer von Missbrauch, Belästigung und Ausbeutung durch ihre Chefs. Auch wir wissen um den Griff des kapitalistischen Patriarchats, das uns erstickt.

Euer Aufstand ist unser Aufstand. Er ist eine Inspiration für uns. Viele pakistanische Mädchen und Jungen werden sich sicherlich von dem Mut jener iranischen Mädchen inspirieren lassen, die es wagen, sich in der Öffentlichkeit die Haare zu schneiden. Denn sie wissen, wie es sich anfühlt, einer Entscheidung beraubt zu werden. Das Patriarchat und seine fundamentalistischen Stoßtruppen verlangen von den Frauen nicht aus Gründen der Frömmigkeit oder Bescheidenheit, ein Kopftuch zu tragen. Sie tun dies, um uns klein zu machen, um Kontrolle über unseren Geist und Körper auszuüben. Eine freie Frau kann wählen, was sie trägt. Sie kann entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen will oder nicht. Das schmälert nicht ihren Glauben, sondern gibt ihrem Glauben eine echte Bedeutung.

Wir werden versuchen, den Weg zu gehen, den ihr uns gezeigt haben. Aber wir möchten ihn gemeinsam mit euch gehen. Viel zu lange hat die Konkurrenz unserer Herrscher, ihr Sektierertum und ihr Nationalismus, einen Keil zwischen die Frauen, die Jugend, die ausgebeutete Arbeiter:innenklasse und die armen Bauern unserer Länder getrieben.

Wenn wir die Freiheit erringen und verteidigen wollen, können wir das am besten gemeinsam tun. Lasst uns von unseren jeweiligen Bewegungen lernen, von den Erfahrungen unserer Frauenbewegungen, von unseren Kämpfen um den Aufbau von Gewerkschaften und unseren Bemühungen um die Bildung revolutionärer Studentengruppen.

Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, mit euch zusammenzuarbeiten, oder wenn es Wege gibt, wie wir euren aktuellen Kampf unterstützen können, lasst es uns wissen, und wir werden unser Bestes tun, um euch zu unterstützen.




زن، زندگی، آزادی  مرگ بر دیکتاتوری

زن، زندگی، آزادی
 مرگ بر دیکتاتوری

 ما در غم درگذشت جینا مهسا امینی سوگوار هستیم.  مهسا، زن جوان کردی بود که در بازداشت گشت ارشاد ایران جان باخت. اما او اولین نفر نبود، بسیاری از زنان قبل از او در سکوت کشته شدند.  اما این بار فرق می‌کند. خانواده مهسا صدایشان را بلند کردند و درباره مرگ او حرف زدند. ما حالا اسمش را می‌دانیم و اسم او را صدا می‌زنیم.  در این میان ایرانیان زیادی اعم از پیر و جوان به این صدا پیوسته‌اند‌

  یک ماه است که ایران شاهد اعتراضات ضد حکومتی است. مردم ایران حالا به معذرت‌خواهی دولت قانع نیستند. مردم ایران با شعار زن، زندگی، آزادی و مرگ بر آخوندها خواهان سقوط دیکتاتوری اصول‌گرا هستند مردم از تبریز تا زاهدان و در پایتخت و حتا در شهرهایی که قبلا سنگر روحانیت سیاسی و گارد ارتجاعی رژیم ایران تصور می‌شدند حالا خواهان سقوط رژیم هستند

  غم شما غم ماست.  مهسا و صدها انسانی که رژیم ایران در جریان سرکوب اعتراضات مردمی تاکنون به قتل رسانده است، مانند خواهران و برادران ما هستند ما اندوه و خشم شما را می‌فهمیم چون می‌دانیم سوگ برای خواهران پاکستانی‌مان که به خاطر مسائلی چون ناموس، مذهب، قدرت و سود طبقه حاکم مردسالار کشته شده‌اند، یعنی چه   ما می‌دانیم که تنها راه رفتن در خیابان‌ها چه احساس ترسناکی دارد. ما می‌فهمیم اجتناب از گرفتن دست کسی که دوستش داریم در مکان‌های عمومی به خاطر عواقب مجازات، یعنی چه بسیاری از کارگران و کارمندان زن پاکستانی قربانی سوء استفاده، آزار و اذیت و استثمار روسای خود می‌شوند ‌ما به خوبی می‌دانیم که این چنگال پدرسالاری سرمایه‌داری است که ما را خفه می‌کند

  قیام الهام‌بخش شما قیام ماست. بسیاری از دختران پاکستانی و پسران پاکستانی مطمئنا از شجاعت دختران ایرانی که با جرئت موهای خود را در مقابل انظار عمومی کوتاه می‌کنند، الهام خواهند گرفت چون می‌دانند محرومیت از تصمیم‌گیری چه حسی دارد دلیل این که سیستم مردسالاری و نیروهای افراطی آن می‌خواهد به زور حجاب بر سر ما کند به دلیل تقوا و حیا نیست بلکه آنان می‌خواهند بر ذهن و بدن زنان کنترل داشته باشند. در نهایت این زن است که تصمیم می‌گیرد روسری داشته باشد یا خیر. عاملیت دادن به زنان برای انتخاب پوشش نی تنها از باور نمی‌کاهد بلکه به انتخاب آگاهانه زن معنای واقعی می‌بخشد
 
  ما سعی خواهیم کرد مسیری را که شما در آن پیشگام بوده‌اید دنبال کنیم و باهم بتوانیم برای انجام آن همکاری کنیم

از زمان بسیار دوری، رقابت بین دولت‌مردان ما و فرقه گرایی و ناسیونالیسم باعث شد بین زنان، جوانان، طبقه کارگر استثمار شده و دهقانان فقیر کشورهای ما شکاف ایجاد شود

 حالا برای به دست آوردن آزادی و حفظ آن ما می‌توانیم با هم متحد شده و از تجربیات جنبش‌های زنان و از مبارزات خود برای ایجاد اتحادیه‌های کارگری و تلاش‌هایمان برای تشکیل حلقه‌های دانشجویی انقلابی درس بگیریم

اگر پیشنهاد همکاری ما را می‌پذیرید و فکر می‌کنید راه‌هایی وجود دارد تا ما از مبارزات شما حمایت کنیم به ما اطلاع بدهید. ما تمام تلاش خود را برای انجام این همکاری به کار خواهیم گرفت

Revolutionary Socialist Movement – Pakistan






Zan Zendegi Azadi Frauen! Leben! Freiheit!

Resa Ludivien, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Was will Frau mehr?

Freiheit mich zu kleiden, wie ich will

Freiheit zu glauben, was ich will

Freiheit zu sein, wer ich will

Die Freiheit in Sicherheit zu sein.

Eine Frau ist tot. Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini wurde nur 22 Jahre alt. Die „Sittenpolizei“ verhaftete sie zunächst, weil sie angeblich die falsche Kleidung trug. Im Iran müssen Frauen ihren Kopf bedecken und bis zur Hüfte eine Art Mantel tragen, der Konturen und Arme bedeckt. Jina starb in Polizeigewahrsam, nachdem sie ins Koma gefallen war, ermordet durch die Polizei. Vermutlich war es ein Schädelbruch, so heißt es in Oppositionskreisen. Die Polizei kontert mit einem Video, das zeigen soll, wie Jina von selbst fiel.

Proteste und Repression

Doch im Grunde ist das nebensächlich. Die Menschen sind nicht mehr bereit, dem zu glauben und der Idee zu folgen, es sei gerechtfertigt, ein junges Mädchen zu verhaften, weil es in den Augen des Staates falsch gekleidet war. Die Bestürzung ist groß, denn es hätte so viele andere ebenso treffen können. Diese Wut, Trauer und Angst tragen Frauen und Männer auf die Straße. Ihre Rufe richten sich gegen die Diktatur. Bisher sind in zahlreichen Städten Proteste bekannt geworden – und es werden trotz der brutalen Repression mehr. Als deren und der Solidarität Zeichen nahmen Frauen, nicht nur im Iran, ihre Kopfbedeckung ab und schnitten sich die Haare kürzer. Bereits zwischen 2017 – 2019 gab es Proteste gegen die Kleiderordnung im Iran, die in erster Linie Frauen einschränkt.

Die Reaktion des Staates darauf: aggressiv, brutal, despotisch. Auf Videos sind im Netz Wasserwerfer und bewaffnete Polizeitrupps zu sehen, die auch bereit sind, auf Menschen zu schießen. 36 Menschen sollen bis um 23. September bei Protesten bereits getötet worden sein. Die Regierung hingegen versucht, schnell wieder zum „business as usual“ überzugehen, mobilisiert reaktionäre regimetreue Demos und hetzt gegen die Demonstrant:innen. Präsident Raisi reist zur UN-Versammlung und hat als einzige Antwort auf den Mord zu sagen, dass man diesen aufklären würde. Die Massenproteste denunziert er als Werk von „Chaot:innen“. Unverhohlen drohen auch Militär und Geheimdienst den „Feinden“ und „illegalen Versammlungen“.

Krise und Unterdrückung

Längst geht nicht nur um den Mord an Jina Amini. Es geht bei den Protesten um so vieles mehr. Die wirtschaftliche Lage im Land ist verheerend. Neben den seit Jahren anhaltenden Sanktionen, die sich bspw. auch in der Coronapandemie und der Impfstoffbeschaffung auswirkten, trifft die Menschen seit Jahren eine massive Inflation. Sie wird für dieses Jahr nach offiziellen Angaben auf mindestens 50 % geschätzt. Auch wenn das Regime nach Protesten von Arbeiter:innen und Rentner:innen im Sommer diesen Jahres Löhne und Renten erhöhte, so ist das wenig mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein nach Jahren des Einkommensverlustes – und nachdem alle wissen, dass die Preissteigerungen jede Erhöhung rasch wieder auffressen. Ähnlich wie jetzt die demonstrierenden Frauen und solidarische Männer denunziert werden, wurden im Juni diesen Jahres Demonstrant:innen, die für höhere Einkommen auf die Straße gingen, als „ausländische Feind:innen“ gebrandmarkt.

Zusätzlich kommt der Wunsch vieler Iraner:innen nach mehr Freiheiten, der sich in Protesten junger Menschen immer wieder zeigt. In Jinas Fall kommt noch dazu, dass Kurd:innen national unterdrückt und jene aus anderen Ländern zumeist nur geduldet werden. Einher geht diese Duldung oft mit Schikane und noch schnellerer Gewaltausübung des Staates.

Herrschaft der Ajatollahs = finsterste Frauenunterdrückung

Seit der Iranischen Revolution 1979, die sich schnell zu einer Konterrevolution entwickelt hatte, regieren die erzkonservativen islamischen Ajatollahs. Der Sturz des Schah bedeutete auch, dass die USA einen zentralen politischen Vasallen in der Region verloren und das Nachfolgeregime auf ihre erbitterte Feindschaft, aber auch die seitens Regionalmächten wie dem Irak (unter Saddam Hussein), Saudi-Arabien und Israel traf. Diese Konfrontation nutzt das islamistische Regime bis heute, um seine Diktatur als eine Art „alternativen Entwicklungsweg“ jenseits imperialistischer Kontrolle zu präsentieren. Die „Kritik“ am imperialistischen System wurde zur Kritik am „Westen“ oder gar der „Moderne“ mit mehr Gleichberechtigung verkürzt.

Natürlich entstand die Unterdrückung der Frau allein aus einer Religion noch erst durch die Mullahs. Die systematische Unterdrückung stützt sich vielmehr auf Jahrtausende einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, die die bürgerliche Herrschaftsform übernimmt und ins Kapitalverhältnis integriert, umformt und zugleich reproduziert. Es macht daher unerlässlich, nicht nur gleiche demokratische Rechte zu erkämpfen, sondern auch die Produktionsverhältnisse zu ändern, um eine endgültige Gleichheit der Frauen in der Fabrik, Familie und Gesellschaft zu erzielen.

Massenproteste Millionen mutiger Frauen und solidarischer Männer stellen einen ersten Schritt dar, um dieses System ins Wanken zu bringen, die Kleiderordnung und die Regierung in Frage zu stellen. Sie werfen zugleich die Frage nach einer weiteren Perspektive auf, wie der Ruf nach dem Sturz des Mullahregimes bei den Aktionen zeigt, wenn wütende Protestierende staatliche Institutionen und Gebäude stürmen und sich Straßenschlachten mit den Repressionskräften liefern.

Kampfperspektiven

In den letzten Jahren hat es immer wieder Proteste und auch Streiks der Arbeiter:innenklasse gegeben. Der Kampf für die Rechte der Frauen könnte zum Funken werden, der die Flamme eines neues Aufstandes entzündet und diese Bewegungen zusammenführt.

Um den Widerstand gegen die reaktionäre Kleiderordnung und die Unterdrückung der Frauen mit jenem gegen die Preissteigerungen und Verelendung der Arbeiter:innenklasse und der Masse des Volkes zu verbinden und zum Erfolg zu führen, müssen die Proteste aber auch in den Betrieben und Büros Wurzeln schlagen. Ein Massenstreik im Land könnte eine Kraft entfalten, die das Mullahregime nicht nur erschüttern, sondern auch stürzen kann, eine Kraft, die den Apparat der „Sittenpolizei“ und sämtlicher Repressionskräfte zerbricht. Ein solcher Streik und massive Proteste müssten durch Streik- und Aktionskomitees koordiniert und durch Selbstverteidigungsorgane geschützt werden. Zugleich könnten diese die Basis für Machtorgane einer neuen Gesellschaft abgeben, die mit dem Mullah-Regime aufräumt und sich nicht vor den Karren westlicher, imperialistischer Kräfte spannen lässt, sondern mit dem iranischen Kapitalismus selbst Schluss macht, das Kapital enteignet und die sozialen und ökonomischen Probleme durch einen Notfallplan angeht, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird.

Natürlich kann dieser Kampf in einem Land allein nicht zu einer anderen, sozialistischen Gesellschaft führen. Aber die Bewegung im Iran könnte einen wichtigen Schritt in diese Richtung setzen. Daher braucht sie die Solidarität der gesamten internationalen Arbeiter:innen-, Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung und der gesamten Linken!

  • Für volle Gleichberechtigung der Frau, Abschaffung aller religiösen Zwangsgesetze! Trennung von Staat und Religion!
  • Verbindung mit dem Kampf gegen Inflation und Armut! Aufbau von Aktionskomitees und Selbstverteidigungsorganen!
  • Nieder mit der islamischen Diktatur im Iran! Nieder mit dem Imperialismus!
  • Keine Einmischung des westlichen Imperialismus! Schluss mit den Sanktionen, denn sie schaden vor allem der Bevölkerung!
  • Solidarität mit den kämpfenden Frauen und Arbeiter:innen im Iran!