Resolution des Palästina-Kongress 2024: Wir klagen an!

Resolution des Palästina Kongress 2024, Berlin, den 14. April 2024, Infomail 1251, 17. April 2024

Vorwort: Der Palästina-Kongress wurde am 12. April von der Berliner Polizei aufgelöst. Dennoch konnten am 14. April die geplanten Beiträge als Live-Stream übertragen und die Resolution-Resolution vorgestellt werden, die vorab mit unterstützenden Organisationen abgesprochen worden war. Wir veröffentlichen das Dokument, das ursprünglich auf https://palaestinakongress.de/ publiziert wurde, und rufen zur Unterzeichnung der Resolution auf. You can sign the resolution here!

Wir klagen an.

Die Palästinenser:innen erleiden einen Völkermord.

Israel vernichtet Gaza und seine Bevölkerung. Mehr als 40‘000 Palästinenser:innen wurden bis Ende März durch das israelische Militär getötet. In Gaza starben seit Oktober 2023 mehr Kinder als in allen weltweiten Konflikten von 2019 bis 2022. Fast alle Bewohner:innen Gazas wurden aus ihren Wohnorten vertrieben. Mehr als eine Million Menschen leiden an schwerem Hunger. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser und Medizin ist unterbrochen. Infrastruktur, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen, Verwaltungsgebäude und Wohnblocks wurden zerbombt.

Die Ermordung Zehntausender und die Vertreibung Hunderttausender konstituieren einen Genozid. Die israelische Kriegsführung zielt auf die Zerstörung der palästinensischen Nation und darauf, deren mit der Nakba 1948 begonnene Vertreibung aus Palästina zu vollenden und zur Flucht nach Ägypten oder in andere Länder zu zwingen.

Die Bundesregierung leistet Beihilfe zum Völkermord.

Deutschland ist der zweitwichtigste Waffenlieferant für den Genozid. Seit Oktober 2023 verzehnfachte der Bundessicherheitsrat bestehend aus Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt, Annalena Baerbock, Boris Pistorius, Christian Lindner, Nancy Faeser, Marco Buschmann, Robert Habeck und Svenja Schulze, sowie seinen Beisitzern Carsten Breuer, Dörte Dinger, Steffen Hebestreit und Günter Sautter die Waffenlieferungen an Israel.

Deutschland leugnet den Genozid. Nach der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes, der Anzeichen für genozidale Bestrebungen seitens des israelischen Staates sah, war es Vizekanzler Robert Habeck, der erklärte, dass der Vorwurf des Völkermordes „jeglicher Grundlage entbehre“. Die Mehrheit der privaten und öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender, als auch deutscher Zeitungen beteiligt sich an einer Desinformationskampagne.

Deutschland unterstützt die genozidale Hungerpolitik der israelischen Regierung. Während sich bereits im Januar 2024 die Hungersnot in Gaza ausbreitete, erklärte die Ministerin für Zusammenarbeit Svenja Schulze, die humanitäre Unterstützung Deutschlands an die Palästinenser:innen und die UNRWA einzustellen. Die westliche „Notversorgung“ durch eine Luftbrücke und auf dem Seeweg fungieren letztlich als humanitäre Flankendeckung für den Krieg.

Die Versammlungsfreiheit, die Organisationsfreiheit, die Freiheit von Presse und Wissenschaft werden eingeschränkt, um Proteste für einen Waffenstillstand zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht durch Verordnungen der Innenminister. Es geschieht auch mit der Unterstützung regionaler und lokaler Politiker:innen, sowie der bereitwilligen Ausführung deutscher Polizist:innen und Verwaltungsbeamt:innen. Dass viele dieser Verordnungen „legal“ sind, zeigt, wie groß der repressive und antidemokratische Spielraum in Deutschland bereits seit Jahrzehnten ist. Heute werden Gesetze in Bundes- und Landesparlamenten debattiert, die fundamentale demokratische Rechte für jede und jeden dauerhaft und tiefgreifend einschränken werden.

Nie Wieder für alle.

Der Genozid in Gaza stellt daher ähnlich wie der Vietnam Krieg eine Zäsur in Deutschland dar. Die Regierung unterstützt schamlos und vor der Weltöffentlichkeit einen Völkermord. Der Lärm der Bombardements in Palästina wird nur durch das Verharmlosen, ja das vielfach dröhnende Schweigen zu den Kriegsverbrechen übertroffen. Deutsche Politiker:innen bemühen eine zynische Neuinterpretation der Geschichte und rechtfertigen im Namen des „Nie Wieder“ ihre Unterstützung eines Genozids.

Wer mit der Tötung von israelischen Zivilist:innen am 07. Oktober die Zerstörung und Ermordung der gesamten palästinensischen Zivilisation in Gaza rechtfertigt, begräbt auch jeden Anspruch auf Menschlichkeit und Demokratie. Die deutsche Regierung versucht diesen Genozid mit dem Recht auf „Selbstverteidigung“ zu rechtfertigen. Gleichzeitig spricht sie allerdings den Palästinenser:innen, die seit 76 Jahren Entrechtung und Vertreibung erleben, jedwedes Recht ab. Diese werden vielmehr rassistisch diffamiert, Protest wird unter den Generalverdacht des „importierten Antisemitismus“ gestellt. Hinter dieser Hetze und Diffamierung steht ähnlich wie zu Zeiten des Vietnam-Kriegs kalte geo-strategische Berechnung, insbesondere des deutschen und US-amerikanischen Imperialismus. In solchen Berechnungen gelten nicht alle Menschenleben gleichviel. Wir stellen uns gegen diese Entmenschlichung und die hinter ihnen stehenden Interessen.

Widerstand ist gerechtfertigt.

Wir, die Teilnehmer:innen des Palästina Kongresses erklären unseren Widerstand gegen diese aggressive und verbrecherische Politik. Wir verpflichten uns, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Vollendung des palästinensischen Genozids und damit eines weiteren Genozids unter deutscher Beihilfe zu verhindern.

Wir erklären, die Namen der Verantwortlichen deutschen Entscheidungsträger:innen nie zu vergessen. Ihre Schuld ist nicht reinzuwaschen. Heute klagen wir sie moralisch an. Doch wir werden nie ruhen, bis sie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Wir wissen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Waffenlieferungen an Israel und die Kriegstreiberei der Regierung ablehnt. Trotz Lügen, Diffamierung und Hetze wird mehr und mehr Menschen bewusst, dass die Politik der deutschen Regierung zum Völkermord und zur Vertreibung von Millionen Menschen führt. Wir wenden uns an diese Menschen, unsere Kolleg:innen, Nachbar:innen, Mitschüler:innen: Erheben wir uns gemeinsam, damit der Genozid gestoppt wird, damit die Menschen Gazas, die Menschen Palästinas leben können. Durchbrecht gemeinsam mit uns das Schweigen und erhebt diese Forderungen. Schließt euch unserer Bewegung gegen Genozid und Krieg an.

Vereinen wir unsere Kräfte mit den Palästinenerser:innen, die für ihre Freiheit kämpfen und mit der internationalen Bewegung gegen den Genozid. Schließen wir uns Millionen von Menschen an, die weltweit auf die Straße gehen, um ihre Regierungen unter Druck zu setzen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Protesten von Arbeiter:innen in Katalonien, Italien, Belgien und Indien, die sich geweigert haben, an Flughäfen und Häfen Kriegsgeräte zu beladen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Aktivist:innen, die in England Blockaden und Besetzungsaktionen gegen die britische und israelische Rüstungsindustrie organisiert haben.

Unser Kampf für die Lebenden, für die Befreiung und Selbstbestimmung Palästinas!

  • Sofortiger Waffenstillstand, sofortiger Rückzug der israelischen Armee · Vollständige Aufarbeitung aller begangener Kriegsverbrechen.

  • Sofortige Aufhebung jeglicher Beschränkungen humanitärer Hilfe nach Gaza und die volle Ausfinanzierung der UNRWA.

  • Sofortige Öffnung aller Grenzübergänge von Rafah bis Allenby. Reißt die Apartheidsmauern ein.

  • Vollständige Reparationen Israels, Deutschlands und weiterer Verbündeter an das palästinensische Volk.

  • Sofortige Einstellung jeglicher militärischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Unterstützung Israels durch den deutschen Staat sowie ein umfassendes Militärembargo.

  • Sofortiger Rückzug der Bundeswehr, der US-Armee und aller NATO-Truppen aus dem Roten Meer und dem Nahen Osten! Nein zu Aufrüstung und Sondervermögen der Bundeswehr für den Krieg!

  • Nein zu der Verwendung der zionistischen IHRA-Definition durch jegliche Institutionen oder staatliche Behörden, nein zur Legitimierung des Genozids im Schulunterricht. Stoppt die Exmatrikulation von Studierenden und Entlassungen von Lohnabhängigen, die sich mit Palästina solidarisieren!

  • Schluss mit der Kriminalisierung und Repressionen der Palästina-Solidaritätsbewegung in Deutschland. Sofortiger Stopp jeder Kriminalisierung palästinensischer Organisationen und Individuen sowie aller Abschiebungen. Öffnung der Grenzen und Aufnahme aller Geflüchteten bei vollem Recht auf Wohnen, Bildung und Arbeit.

  • Durchsetzung des Rückkehrrechts der palästinensischen Geflüchteten sowie Ende des seit über 76 Jahren andauernden zionistischen Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung des gesamten besetzten Palästinas.

Wir rufen dazu auf, diese Forderungen in Vereinen, Parteigliederungen, Gewerkschaften, Betriebsversammlungen, Studierenden- und Schüler:innenvertretungen, in Kollektiven und Clubs einzubringen, zu diskutieren und zu unterstützen.

Denn die Verantwortung liegt bei uns. Zur Verwirklichung dieser Ziele rufen wir zu einer breiten Kampagne von Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen den israelischen Staat in Deutschland auf. Wir fordern die Offenlegung aller Geschäftsbeziehungen und Verträge deutscher Unternehmen mit Israel!

Wir rufen Gewerkschaften, Beschäftigte und die Bevölkerung dazu auf, Waffenlieferungen aus Deutschland zu stoppen. Wir fordern die Gewerkschaften auf, dem Aufruf ihrer palästinensischen Schwesterorganisationen zu folgen und eine international koordinierte Kampagne gegen das Morden zu organisieren. Jegliche Rechtfertigung und Unterstützung des Genozids in jedweder Form sind durch Streiks, Blockaden, Besetzungen oder zivilen Ungehorsam zu stoppen.

Beteiligt euch an der bundesweiten Aktionswoche vom 15.-22. April anlässlich des Tages der palästinensischen Gefangenen. Heute hält der israelische Staat weit über 10’000 palästinensische Menschen, darunter viele Minderjährige, im Verstoß gegen internationales Recht und Kriegsrecht als Geiseln.

Mobilisiert und organisiert gemeinsam mit uns zentrale Großdemonstrationen am 15. und 18. Mai in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und weiteren Städten. Wir rufen euch auf, die europaweite Nakba-Demonstration am 19. Mai in Brüssel zu unterstützen. Lasst uns anlässlich des 76. Jahrestages der Nakba, der Vertreibung des palästinensischen Volkes aus ihren Heimstätten und Dörfern, bundesweit und international koordiniert ein Zeichen gegen Genozid, Vertreibung und Spaltung setzen.

Denn wir, palästinensische und jüdische, deutsche und internationale Stimmen wissen: Frieden kann es nur auf Basis von Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, nur wenn die Unterdrückung der Palästinenser:innen voll und ganz beendet ist. Wir kämpfen für ein Ende des zionistischen Siedlerkolonialismus und seiner Apartheidpolitik vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer, einschließlich des Rückkehrrechts aller palästinensischen Geflüchteten.




Rezession im Superwahljahr: Politisch-Ökonomische Perspektiven 2024

Mo Sedlak, Die Flammende, Politisches Magazin des Arbeiter*innenstandpunkts, Frühjahr 2024, Infomail 1251

Die politischen Zeichen stehen auf Sturm, die Wirtschaft ist in der Flaute.

Die türkis-grüne Regierung hat keine Umfragemehrheit mehr und orientiert sich voneinander weg, hin zu einer schwarz-blauen beziehungsweise einer Ampelkoalition. Die FPÖ könnte klar auf Platz 1 gewählt werden und droht mit einem Regierungsprogramm des radikalen Rassismus und Sexismus, vor allem auch gegen queere Menschen. Die Rezession, die 2023 begonnen hat, kostet Arbeitsplätze und wird die Gewerkschaften zu einem noch zahmeren Verhandlungskurs bewegen. Die Inflation bleibt weiter hoch und über dem europäischen Durchschnitt, was Arbeiter:innen und Erwerbslose weiterhin sehr belastet. Seit dem Einbruch der Industrieproduktion letztes Jahr wird die österreichische Wirtschaft fast ausschließlich von der Konsumnachfrage getragen – die kann unter Arbeitsplatzverlusten, Inflation oder nicht erneuerten Staatshilfen jederzeit einbrechen. Durch die gestiegenen Zentralbankzinsen und die Großzügigkeit bei Corona-Unternehmenshilfen steht auch das Staatsbudget unter Druck. Sparpakete und Konsolidierungsmaßnahmen werden aber sicher nicht im Wahljahr beginnen – die nächste Bundesregierung wird dann aber ziemlich sofort zum Angriff auf soziale Absicherung und erkämpfte Errungenschaften übergehen.

2024 startet aber auch mit großem politischem Potential für linken Widerstand. Die SPÖ hat ihren linksten Parteivorsitzenden seit Jahrzehnten gewählt. Die KPÖ und ihre lokalen linken Verbündeten könnten erstmals seit Nationalratswahlen 1956 einziehen. Sie wären dann die einzige Oppositionspartei, die weder an eine Kapitalfraktion gebunden ist, noch über die Sozialpartnerschaft den österreichischen Kapitalismus verwaltet. Am Arbeitsmarkt steigt die Verhandlungsmacht der Arbeiter:innen durch Arbeitskräftemangel, Pensionierungswelle und abnehmender Ungleichheit zwischen Vollzeit- und Teilzeitstellen. Das hat es den Gewerkschaften erlaubt, die Lohnsteigerungen der letzten Jahre relativ breit zu verteilen, aber auch kämpferische Belegschaften zu beruhigen.

2024 wird auch ein Jahr der sich zuspitzenden imperialistischen Widersprüche. Internationalistische Forderungen werden die Arbeit von Revolutionär:innen prägen, internationalistische, anti-imperialistische und anti-militaristische Bewegungen sind aber auch an ihrem stärksten Punkt seit dem Irakkrieg. In den westlichen imperialistischen Ländern und besonders in Österreich wird der Anpassungsdruck hinter die Staatsräson mit zunehmender Propaganda und Repression ausgeübt, was zu steigendem Staatsrassismus aber auch zunehmenden Widersprüchen in der Linken führt.

Die Rechte treibt darüber hinaus eine Reihe von reaktionären Angriffen weiter, gegen die Rechte von Frauen, queeren Personen, Menschen mit Migrationsgeschichte und politischen Minderheiten. Die Hetze gegen trans Personen (und in der rechten Propaganda allen queeren Personen) ist zu einem Eckpunkt rechter Mobilisierungen geworden. Auch die ÖVP fordert die Rechte von queeren Personen einzuschränken, wenn sie beispielsweise ein Verbot von Drag Shows fordert oder für Förderungsstopps an queere Zentren eintritt. Der Rassismus der rechten Umfragemehrheit ist noch direkter und auf tödliche Weise wirksam. Das tausendfache Morden an den Außengrenzen, Schikanen und Polizeigewalt gegen Geflüchtete werden von der zunehmenden antimuslimischen Hetze angefeuert. Die Propaganda über „importierten“ muslimischen Antisemitismus reicht bis zu den Grünen und der SPÖ, dient aber vor allem dazu, den Antisemitismus von ÖVP- und FPÖ-Mandatar:innen zu rechtfertigen und die rassistisch diskriminierten Arbeiter:innen noch weiter zu marginalisieren. Dazu kommen offen diskriminierende Konstruktionen im Arbeitsrecht und Schikane-Anweisungen an das AMS, die die selbst konstruierten Sündenböcke für alles in einen entrechteten Mindestlohnsektor verbannen wollen.

Die sozialen Bewegungen sind in den letzten Jahren eher schwächer geworden. Linke Massendemonstrationen wie zu Black Lives Matter oder zum Rücktritt von Sebastian Kurz sind seltener geworden. Es gibt aber Ausnahmen: Die lang vorbereitete feministische Kampftagdemo am 8. März oder die Proteste der Elementarpädagog:innen. Die Mobilisierungsschwäche wird aber durch stärkere Strukturen und mehr Selbstbewusstsein ausgeglichen. Auch die Klimabewegung hat trotz immer kleinerer Demonstrationen einen aktivistischen Kern gehalten und ausgebaut. Diese klar außerparlamentarischen Strukturen werden in der Lage sein, den Regierungsangriffen mit Mobilisierungen zu antworten. Ob dieser Widerstand erfolgreich ist, hängt aber davon ab, ob eine gemeinsame Strategie und ein gemeinsames Aktionsprogramm gefunden werden können.

2023 war ein schlechtes Jahr, das hätte schlimmer sein können

In unseren politisch-ökonomischen Perspektiven für 2023 haben wir geschrieben, dass die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten schlittert. Das ist so auch passiert, darüber waren sich bürgerliche und marxistische Ökonom:innen aber sogar einig. In manchen europäischen Staaten ist aber zumindest die Preisexplosion zurückgegangen, auch die Wirtschaftsentwicklung schaut nur in einzelnen Kleinstaaten schlechter aus als in Österreich (Estland, Irland, Luxemburg und Ungarn). Der Hintergrund der Rezession waren die seit 2015 sinkenden Profiraten, die durch die massive staatliche Umverteilung während der Pandemie und eine stärkere Exportorientierung der österreichischen Industrie gedämpft wurden. Diese Gegentendenzen haben 2023 aber ihre dämpfende Wirkung verloren, auch unter dem Druck der Energiepreiskrise und der neuen Blockbildung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Die Rezession ist aber nicht in eine Krise übergegangen, Produktion und Reproduktion laufen weiter. Energieversorger und Industrie haben große Reserven, 2022 und 2023 haben sie sogar Rekordprofite gemacht. Die Wirtschaft wird vor allem durch die Konsumnachfrage der Arbeiter:innen stabilisiert, trotz der Kaufkraftverluste bei den unteren Einkommen . Wegen dem Arbeitskräftemangel und den hohen Profiten vor allem bei den stärksten Kapitalen hatten Firmen eine recht hohe Bereitschaft, Löhne zu erhöhen. Den Gewerkschaften ist es gelungen, viel von dieser Zahlungsbereitschaft in Kollektivvertragserhöhungen zu leiten statt in die individuelle Überzahlung von besonders gefragten Arbeiter:innen. Das stärkt die Konsumnachfrage und reduziert auch die Lohnungleichheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Gleichzeitig sind viele Abschlüsse hinter der Inflation zurückgeblieben, 2023 war für viele ein Jahr der Reallohnverluste.

Für die österreichische Industrie war der wichtigste Faktor im vergangenen Jahr aber die relative Stabilität auf den internationalen Güter- und Finanzmärkten. Die österreichischen Banken selber sind trotz der großen Investitionen in Russland ganz gut abgesichert. Eine internationale Finanzkrise hätte diesen dünnen Deich aber leicht überrollt, das war schon Anfang 2023 sichtbar:

„Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.“

Mitte März 2023 kam es mit dem „ersten Bankenwackeln“ bei der Silicon Valley Bank und der Signature Bank New York, dann mit dem Zusammenbruch der Credit Suisse, zu so einer instabilen Entwicklung. In nur einer Woche musste die amerikanische Fed mehr Hilfsgelder ausschütten als jemals zuvor in so einem kurzen Zeitraum, sogar mehr als während irgendeiner Woche in der Finanzkrise 2008.  Die Bankgewinne haben sich über das Jahr 2023 aber stabilisiert, auch wegen der Übergewinne durch die Zentralbank-Zinserhöhungen: Sie verlangen und bekommen jetzt einfach mehr Geld für ihre Bankleistungen. Die Anzahl der geschäftsgefährdenden Kreditausfälle oder Kursstürze ist aber klein geblieben. Unter dem steigenden Zinsdruck leiden vor allem Arbeiter:innen mit Hypotheken oder Konsumkrediten, aber nicht die Profite.

Für die Arbeiter:innen und die Industrie in Österreich ist 2023 schlecht gelaufen, aber nicht so schlimm wie es hätte kommen können. Zum Beispiel nicht so schlimm wie für die österreichische Regierung. Schon seit Jahresbeginn haben sich ÖVP und Grüne aneinandergeklammert wie zwei Betrunkene am Heimweg, eine Regierung ohne Umfragemehrheit, deren Minister:innen nicht anerkannt werden und die sich heftig streiten, miteinander und parteiintern. ÖVP und Grüne stehen für die politische Koalition einer politischen Mitte ohne Verbindungen in die organisierte Arbeiter:innenklasse (wie die SPÖ) oder in die außerparlamentarische Rechte. Sie ist vor allem der Versuch, zwei Kapitalfraktionen zusammenzubringen, die Profiteur:innen einer kapitalistischen grünen Wende und die Verwalter:innen des alten Fossilkapitalismus, die neidisch auf die Subventions-Extraprofite schielen.  Politisch und ökonomisch ist diese Allianz gescheitert. Den großen Teil der ÖVP zieht es zurück ins rechte, teilweise rechtsautoritäre Lager, eine relevante Minderheit will die sozialpartnerschaftliche Stabilität einer großen Koalition zurück. Die Grünen sehen mal wieder die Felle der Macht davonschwimmen, können aber schwer noch mehr Zugeständnisse machen. Und selbst die sichern keine weitere Regierungsbeteiligung mehr ab.

Die Schwäche der Regierung hat aber auch etwas Gutes: Weder im Jahr der Instabilität noch im Wahljahr stehen staatliche Konsolidierung, Sparpakete und Sozialabbau auf der Tagesordnung. Die werden der nächsten Bundesregierung überlassen, eine Horrorvorstellung für Arbeiter:innen, Erwerbslose und alle, die staatliche Unterstützung brauchen würden. Welche Parteien nach der Nationalratswahl ans Ruder kommen, macht also, wenn überhaupt, nur einen Unterschied in der genauen Ausformung der Politik gegen die arbeitende Bevölkerung.

Internationale Dynamiken: Krieg, Instabilität und neuerwachender Internationalismus

In einem kapitalistischen Weltmarktsystem hängen die einzelnen Volkswirtschaften eng miteinander zusammen. Wirtschaftspolitik, nationale konzentrierte Kapitalfraktionen und Arbeitsmarktdynamiken führen zu natürlich trotzdem unterschiedlichen Entwicklungen. Das zeigt zum Beispiel die beständig überdurchschnittliche Inflation in Österreich. Aber wenn eine globale Krise anrollt, bleibt kein noch so national abgegrenztes Auge trocken.

Dass die Rezession gerade 2023 begonnen hatte, ist auch einem weltpolitischen Auslöser zu verdanken. Der russische Angriff auf die Ukraine und die folgende innerimperialistische Konfrontation unterbrachen Lieferketten und ließen die Energiepreise explodieren. Das verstärkte aber nur den ohnehin schon bestehenden inflationären Druck: Wegen der fallenden Profitraten setzten Kapitale immer mehr auf Preiserhöhungen statt auf Ausweitung der Produktion, in Erwartung ihre neuen Anlagen gar nicht mehr so profitabel einsetzen zu können.

Aber schon vor 2023 waren die internationalen Spannungen zu einer Belastung für die nationalen Kapitale geworden (außer ihr „idealkapitalistischer“ staatlicher Vertreter war zufällig gerade am erfolgreichsten). Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China beziehungsweise der EU, die Konfrontation von US- und Russland-gestützten Kräften in Syrien, und die zunehmende Aggression zwischen den USA und China hatte gezeigt, dass die Neuaufteilung der Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder mal an ihre Grenzen gestoßen war. Auf die Periode der Globalisierung folgte eine neue Blockbildung mit ernsthaften Deglobalisierungstendenzen.

Seit Oktober 2023 ist diese Lage mit dem Krieg in Gaza und seiner langsamen Ausweitung auf die gesamte Region deutlich eskaliert. Die USA wollen ihrem engen Verbündeten Israel Zurückhaltung einreden, weil sie eine Neuorientierung der arabischen Staaten hin zu China und Russland befürchten. Gleichzeitig weiten sie selbst den Krieg auf den Jemen aus und eskalieren die Besatzung im Irak weiter.

Das Massaker der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die genozidalen Vertreibungsfantasien der israelischen Staatsspitze haben Arbeiter:innen und Jugendliche weltweit mobilisiert. Sie sind die Mehrheit der Menschen, die in der größten internationalistischen Solidaritätsbewegung seit dem US-Überfall auf den Irak auf die Straße gehen. Die Versuche von reaktionären Regierungen und Bewegungen, die Bewegung zu dominieren, scheitern an deren unehrlicher Haltung zur palästinensischen Bevölkerung. Solange die Bewegung weiterhin massenhaft mobilisiert, wird die Vereinnahmung auch weiterhin schwierig. Gleichzeitig stellt sie eine ernsthafte Herausforderung für den imperialistischen Konsens dar, sich hinter die israelischen Massaker zu stellen. Sie kann auch zur Gefahr für die despotischen Regierungen in der Türkei, Ägypten und in den Staaten des mittleren Ostens werden, wenn sie ihre Opposition gegen die israelische Gewaltherrschaft auf den Kapitalismus und die Zusammenarbeit mit Imperialist:innen ihrer eigenen Regierungen ausweitet.

Aufstieg der Linken

Die hoffnungsvollen Zeichen in Österreich sind verhaltener als die Massendemonstrationen gegen Krieg und Besatzung. Das letzte Jahr hat trotzdem Erfolge für linke Kräfte in der Arbeiter:innenbewegung gebracht. Der interne Wahlsieg von Andreas Babler hat statt einer Reihe an immer rechteren Elendsverwalter:innen einen tatsächlich linken Sozialdemokraten an die Spitze einer Massenpartei gebracht. Sein Sieg war auch die Folge davon, dass sich der sozialchauvinistisch-rechte Flügel um Doskozil und der bürgerlich-rechte der Partei hinter Rendi-Wagner nicht einigen konnten. Bablers Wahl auf dem Parteitag zeigte auch, dass wichtige Teile der Parteibürokratie, vor allem in Wien, ihn als geringeres Übel als Doskozil gesehen haben. Trotzdem oder gerade deshalb ist es schwierig für seine Anhänger:innen, die Parteistrukturen zu ändern. Auch die Programmatik der Partei bewegt sich nur langsam, trotz der linken Rhetorik des neuen Vorsitzenden. Dazu kommt ein handfestes Problem: Für eine traditionelle Sozialdemokratie mit linker Rhetorik und verantwortungsvollem Co-Management fehlt die politisch-ökonomische Basis. Die Sozialpartner:innenschaft als staatstragendes Projekt ist tot und ihre Strukturen dezentralisieren sich zunehmend. Wenn die SPÖ-Linke ihre Versprechen umsetzen will, muss sie auf eine Konfrontation setzen, vor der die Partei seit Jahrzehnten zurückschreckt.

Trotzdem ist klar: Das neue Versprechen der Sozialdemokratie, durch Reformen zwar keine bessere Welt aber zumindest langsamere Verschlechterungen zu erreichen, vertritt Babler glaubhafter als seine Vorgänger:innen. Wenn es ihm gelingt, die Partei auf Konfrontationskurs zu bringen, wird das die Verhandlungsposition der Arbeiter*innen erst einmal stärken.

Die Illusion der Sozialpartner:innenschaft und die schnelle Einreihung in die europa- und außenpolitische Linie des österreichischen Kapitals sind aber Bablers zwei Achillesfersen. Sie bieten den Arbeiter:innen keine Perspektive in den weiter eskalierenden Krisen. Will die Linke in der SPÖ sich behaupten, braucht sie einen Weg zur Macht und einen Bruch mit der reformistischen Mitverwaltungslogik, sie muss die soziale Rhetorik ihres Vorsitzenden auf Klassenkampf stützen. Dazu gehört auch, die verkrusteten bürokratischen Parteistrukturen aufzubrechen, was aber aktuell nicht abzusehen ist. Auch der Parteitag auf dem ursprünglich weitereichende innerparteiliche Reformen angedacht waren, entpuppte sich als sehr zahm. Lediglich die Direktwahl (aber nicht mehr eine Abstimmung über mögliche Koalitionsabkommen) wurden umgesetzt.

Auch neben der SPÖ erstarkt die parlamentarische Linke. Die KPÖ hat nach dem Bürgermeisterinnenposten in Graz auch stabile 4 Mandate durch 11,7 % bei den Salzburger Landtagswahlen erreicht. In der Stadt Salzburg ist sie sogar zweitstärkste Kraft geworden. Die KPÖ baut wachsende Strukturen in den Bundesländern auf, bei der Nationalratswahl scheint sogar zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren ein Einzug möglich, entweder durch Überspringen der 4%-Hürde oder durch ein Regionalmandat in der Steiermark.

Die KPÖ hat durch die politische Allianz mit der Jungen Linken in der selbst ausgerufenen „kommunistischen Bewegung“ einen Schwung neuer Aktivist:innen und Kader bekommen. Die neue Bundesspitze und der Salzburger Landtagswahlsieger kommen aus der Jugendorganisation. Der Wahlerfolg spiegelt aber auch wider, dass eine relevante Minderheit vor allem in den Städten von der SPÖ desillusioniert ist, ohne sich nach rechts zu orientieren. Am Weg zum Wahlerfolg hat die KPÖ sich aber auch noch einmal weiter in die Mitte bewegt. Der Programmprozess weg von den Flügeln stalinistischer und eurokommunistischer Linksreformismus hin zu einer fast sozialdemokratischen Ausprägung wurde fortgesetzt. Auch schafft es die KPÖ weiterhin nicht, klassenkämpferische Antworten auf den eskalierenden Rassismus und die Klimakrise zu anzubieten.

Die Erfolge der KPÖ zeigen aber trotzdem eine gesellschaftliche Orientierung nach links und bieten durchaus Potential, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung für klassenkämpferische und revolutionäre Forderungen einzutreten.

Regierungsrepression, Angriffe und das Damoklesschwert Konsolidierung

Babler und die KPÖ bekommen viel mediale Aufmerksamkeit. Das bedeutet auch viel medialen Druck. Bei Babler sind es vor allem die internationalistischen Positionen, für die er noch kurz vor der Vorsitzwahl eingetreten ist, die angegriffen und ins Lächerliche verzerrt werden. Bei der KPÖ wird die teilweise offene politische Bewunderung von Mitgliedern und einzelnen Funktionär:innen für das russische Regime angegriffen und der gesamten Partei vorgeworfen.

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober und dem folgenden Krieg der israelischen Armee gegen die Bevölkerung des Gazastreifens richten sich die Angriffe von Regierung und Medien auch gegen jede friedens- und neutralitätspolitische Position in der parlamentarischen Linken. Die österreichische Regierung nimmt im internationalen Vergleich eine besonders rechte Rolle ein. Zusammen mit nur einer Handvoll Ländern stimmte sie gegen Waffenstillstands-Resolutionen, die Kanzlerpartei wird nicht müde zu betonen, dass sie jeden israelischen Militäreinsatz unterstützt. Sogar humanitäre Hilfe wird teilweise als materielle Terrorunterstützung verunglimpft. Dieser Anpassungsdruck wirkt auf alle Aspekte des politischen Lebens und sogar in die Linke hinein.

Die propagandistische Mobilisierung richtet sich aber nicht vor allem gegen die Linke. ÖVP und FPÖ hetzen vor allem gegen Muslim:innen und Menschen mit Migrationsgeschichte aus muslimisch geprägten Ländern, auch in der SPÖ, bei NEOS und den Grünen finden sich Unterstützer:innen für ungehemmten antimuslimischen Rassismus. Muslim:innen werden unter Generalverdacht gestellt, geschlossene Grenzen gefordert, SPÖ und ÖVP werfen sich gegenseitig vor, wegen „offener Grenzen“ Einladungen an Antisemit:innen ausgesprochen zu haben. ÖVP und FPÖ bereiten sich offensichtlich darauf vor, einen offen hetzerischen Wahlkampf zu führen. Die Toten in Israel und Palästina werden ihnen billige Stichwortgeber:innen für eine Kampagne sein, die Migrant:innen in Österreich weiter benachteiligen und das Morden an den europäischen Außengrenzen eskalieren wird. Das kaschiert auch den gängigen Antisemitismus von FPÖ-Spitzen und die Indifferenz der ÖVP gegenüber ihrer Koalitionspartnerin in mehreren Landtagen.

Neben Staatsrassismus und Hetze steigen aber auch Rassismus und Antisemitismus in der Bevölkerung an. Sowohl die israelitische Kultusgemeinde als auch die Meldestelle antimuslimischer Rassismus haben seit dem 7. Oktober eine Vervielfachung von Übergriffen und Straftaten berichtet. Kurz nach dem Kriegsbeginn wurden in Wien Autos mit Hakenkreuzen beschmiert (ein österreichischer Rechtsextremer wurde festgenommen) und ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs verübt. Die Hetze der staatstragenden Rechten wirkt auch in die Breite der Bevölkerung. Sie ist gemeinsam mit Queerfeindlichkeit, latenter Klimawandelleugnung und prinzipiellem Frauenhass die ideologische Klammer einer möglichen schwarz-blauen Regierung.

Widerständige Bewegungen

Es spricht einiges dafür, dass sich betroffene Communities das nicht so einfach gefallen lassen werden. Die Gegenmobilisierung rund um eine rechte Kundgebung rund um die Türkis Rosa Lila Villa brachte Tausende auf die Straße und in Blockadeversuche. Die feministische Kampftag-Demo am 8. März war so groß wie schon seit Jahren nicht mehr. Und Communities von rassistisch Unterdrückten, vor allem Muslim:innen, sind seit den Bombardements von Gaza immer wieder zu Tausenden auf die Straße gegangen. Während Teile der Bewegung, besonders Demonstrationen von bestimmten querfront-affinen Gruppen, rechts geführt sind, gilt das keineswegs für alle und nicht nur die kleinen linken Mobilisierungen stehen dagegen. Auch die Klimabewegung hat aus den Bewegungen rund um Fridays for Future und dann die radikalere Lobaubesetzung Strukturen und Netzwerke aufgebaut. Dazu gab es dieses Jahr auch wieder größere Reibungen im Zuge der Kollektivvertragsverhandlungen, insbesondere die Elementarpädagog:innen machten mit großem Protest und einem Streiktag auf sich aufmerksam.

Es existieren lose, aber mobilisierungsstarke Zusammenhänge rund um die Fragen, in denen die Rechte am radikalsten hetzt und wo SPÖ und KPÖ noch wenig Position beziehen. Diese Strukturen haben das Potential, Widerstand gegen die mögliche rechte Politik einer kommenden Bundesregierung aufzubauen. Dafür müssen sie sich aber, anders als bisher, auf eine Strategie und ein Aktionsprogramm einigen. Das muss sich gegen den gemeinsamen Nenner, bürgerliche Politik und deren Sponsor:innen im Kapital richten, statt die reaktionären ideologischen Versatzstücke als einziges Problem anzugreifen.

Selbstbewusste revolutionäre Organisierung

Die linken und linksliberalen Hoffnungen auf ein Superwahljahr 2024 könnten auf den ersten Blick entmutigend für Revolutionär:innen wirken, deren Aktivität nicht auf überhöhten Hoffnungen in Vertretungswahlen basiert. Die breiten Ängste vor einem weltweiten Rechtsruck und entsprechende Überlegungen über das kleinere, reformistische oder sogar konservative Übel als (selbsternannte) Brandmauer vor dem Rechtspopulismus schlagen in dieselbe Kerbe. Aber Entmutigung ist unangebracht. Die politisch aufgeladene Stimmung, die sichtbar großen Herausforderungen und die stärker werdenden internationalistischen Bewegungen sind ein Umfeld, in dem revolutionäre Arbeit notwendig und vielversprechend ist.

Die Eskalationen im Nahen Osten gehen weit über die grausamen Massaker hinaus, die nach dem Angriff am 7. Oktober vorherzusehen waren. Bombardements durch US-amerikanische und britische Truppen im Jemen, Beschuss zwischen irakischen Milizen und dem Iran, und der Schlagabtausch zwischen Israel und dem Libanon sind die Vorboten eines imperialistischen Kriegs auf mehreren Schlachtfeldern.

In der Ukraine wird nicht nur um die Selbstbestimmungsrechte gekämpft, sondern es stehen sich Vertreter:innen des westlichen und russischen Imperialismus gegenüber. Vor den türkischen Bombardements der kurdischen Selbstverwaltung fliehen selbst US-Truppen, eine Wiederkehr des IS wird in Kauf genommen. Das zeigt nicht nur den genozidalen Anspruch des NATO-Staates, sondern auch die Fragilität des ganzen Militärbündnisses. Der Konflikt zwischen dem chinesischen und dem US-amerikanischen Imperialismus scheint vorerst nicht auszubrechen, spitzt sich aber immer wieder zu. In den Drohgebärden rund um Taiwan und gegenseitigen Sanktionsdrohungen offenbart sich, dass diese Konkurrenz fundamental ist. Sie wird nicht mit zwei Sieger:innen lösbar sein und sich bis zum 100-Jahres-Jubiläum des Volksrepublik China immer weiter zuspitzen.

Eine internationalistische Antwort ist in dieser Zeit schon richtig, aber nicht nur richtig. Sie wird viel mehr Menschen überzeugen, als wenn die Widersprüche weniger eskalieren, aber sie ist nicht nur überzeugend. Die imperialistischen Blöcke stehen sich wieder einmal direkt gegenüber. Weltweit sind Millionen auf der Straße, sie demonstrieren entweder für einen Rückzug der US- und EU-unterstützten Aggressionen oder gleich für deren Niederlage. Ein internationalistisches Programm ist notwendig und muss sich an eine internationale Massenbewegung richten.

Die Widersprüche in Österreich spitzen sich in fast unheimlicher Parallelität zu. Im wirtschaftlichen Abschwung 2024 eskaliert der Widerspruch zwischen ÖVP-Kürzungsplänen und SPÖ-Sozialstaatswünschen. Die Stoßrichtungen der Wahlprogramme lassen sich nicht mehr in einer großen Koalition oder der Sozialpartner:innenschaft zusammenfassen. Und keines davon bietet eine Perspektive für die Arbeiter:innen und Erwerbslosen, die von der Teuerung belastet und vom Arbeitsplatzverlust bedroht sind. Eine unabhängige, klassenkämpferische Antwort ist notwendig und setzt direkt an den Forderungen an, die Kolleg:innen in Warnstreiks fast aller großen Industriebranchen geäußert haben.

Die ÖVP geht mit Wahlprogrammen der FPÖ aus den 2010er-Jahren auf Stimmenfang. Neben ihrem Rechtsruck formuliert die FPÖ ein noch rechteres Programm: Massendeportationen, Jagd auf angebliche Volksverräter:innen, Angriffe auf Errungenschaften der feministischen Bewegung und Hetze gegen die LGBTQIA- Community. Die Pläne der deutschen AfD, millionenfach abzuschieben, sind durch investigative Recherchen öffentlich geworden, die FPÖ bekennt sich im Vergleich dazu ganz offen im Hauptabendprogramm zu Verfassungsänderungen, die so etwas möglich machen sollen. Dagegen sind Zehntausende auf die Straße gegangen. Auch wenn die zivilgesellschaftlichen Forderungen der Demonstrationen dem Rechtsruck nichts entgegensetzen können, zeigen sie zumindest das vorhandene Bewusstsein für eine notwendige Massenbewegung gegen Rechts.

Gegen die Klimabewegung, Gleichstellungspolitik und die Aktivitäten von LGBTQIA- Aktivist:innen hetzen ÖVP und FPÖ, als ob sie voneinander abschreiben würden. Sozialdemokratie und Linksliberale haben dem außer Lippenbekenntnissen nichts entgegenzusetzen. Im Aktivismus ist von ihnen nichts zu sehen und ihre Programme für Klimawende und soziale Berechtigung gehen an der Dramatik der Krisen vorbei. Gleichzeitig sind die Protestinitiativen in diesen Bereichen zwar klein, aber gut vernetzt. Sie haben Erfahrung mit großen Mobilisierungen und längeren Kampagnen, kennen auch die Konfrontation mit der Polizei. Wenn sie sich auf eine Proteststrategie einigen und gemeinsam für klare politische Ziele kämpfen, ist erfolgreicher Widerstand möglich.

Ein Aktionsprogramm für den Widerstand gegen Massenentlassungen, Sparpakete, Rassismus, sexistische und queerfeindliche Politik und die Klimakrisenpolitik der Regierung ist nötig, aber auch möglich. Vor allem in Wien, aber auch in der Steiermark, Oberösterreich und Tirol gibt es Bündnisse, um die herum sich so ein Aktionsprogramm aufbauen und die es weiterbringen kann. Es braucht aber auch die Analyse, die Erfahrung und einen glaubwürdigen Aktivismus von Revolutionär:innen, damit solche Bündnisse ihren Widerstand in einen Machtkampf verwandeln können.

Es geht nämlich um nicht weniger als um einen Machtkampf. Rechtsruck und Krieg kündigen einen Regimewechsel der Herrschenden an: Schluss mit der postpandemischen Großzügigkeit, Schluss mit der nur schleichenden Verschlechterung unserer Lebensumstände, Schluss mit dem Verzicht auf offene Gewalt in der geordneten weltweiten Machtaufteilung.

Protest allein und Etappensiege ohne Folgeerfolg reichen hier nicht aus. Deshalb wird im dynamischen Bewegungsmosaik auch die Organisierungsfrage wichtig und entscheidend sein. Zwei Rechtsparteien, die Massenanhänge mobilisieren wollen, wahrscheinlich der Staatsapparat in ihren Händen und eine stärker werdende Propagandamaschinerie knicken nicht vor Demonstrationen ein, auch wenn die Zehntausende auf die Straße bringen. Was wir der Offensive der Herrschenden entgegenwerfen, muss stabil genug für deren Angriffe sein, ohne sich durch Starrheit in die Defensive drängen zu lassen.

Die Wahlerfolge der KPÖ in Graz und Salzburg, die Wahl des ersten linken SPÖ-Vorsitzenden in diesem Jahrtausend und die Arbeit von LINKS in Wien zeigen, dass Parteien als Ausdruck und Methode linker Politik alles andere als tot sind. Österreich erlebt eine bei Wahlen durchaus erfolgreiche Linke während dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Der kommt aber mit den Schwächen der jeweiligen Parteiprogramme und -methoden.

Es ist notwendig, die Organisierungsfrage innerhalb der Bewegungen, eng an den Linksentwicklungen der Parteien, zu stellen. Aber es reicht nicht aus, in breiten linken Bewegungen aufzugehen und dafür Programm und Methode hintanzustellen. Ganz im Gegenteil werden Revolutionär:innen ihre Verankerung und ihren Aktivismus nutzen, um Aktivist:innen von unserer Politik zu überzeugen und Vorschläge an Strukturen zu machen. Denn eine erfolgreiche linke Politk muss es schaffen, breit und radikal aufzutreten. Nur so kann sie sich dem gesellschaftlichen Rechtsruck, der herrschenden Klasse kampfkräftig und erfolgsversprechend gegenüberstellen.




Nahost: Israel droht mit Ausweitung des Krieges in der Region

Erklärung der Liga für die Fünfte Internationale, 14.4.2024, Infomail 1251, 15. April 2024

Am 13. April feuerte der Iran 300 Drohnen und ballistische Raketen auf Israel ab. Die große Mehrheit wurde von Israels hochentwickelten Luftabwehrsystemen, aber auch mit Hilfe der in der Region stationierten amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte sowie Jordaniens und Saudi-Arabiens abgeschossen.

US-Präsident Joe Biden, der Israels sechsmonatigen Völkermord im Gazastreifen weiterhin unterstützt und verteidigt, beeilte sich natürlich zu sagen: „Ich verurteile diese Angriffe auf das Schärfste“. Er fügte hinzu: „Ich habe gerade mit Premierminister Netanjahu gesprochen, um Amerikas eisernes Engagement für die Sicherheit Israels zu bekräftigen.“

Tatsächlich war der iranische Angriff eine Reaktion auf eine weitaus schädlichere Provokation Israels. Am 1. April feuerten israelische Kampfflugzeuge mehrere Raketen ab, die das iranische Konsulat in der syrischen Hauptstadt Damaskus zerstörten und Brigadegeneral Mohammad Reza Zahedi, einen hochrangigen Kommandeur des Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC), einen weiteren iranischen General und 14 andere Personen töteten.

Militäranalyst:innen zufolge wurden die iranischen Angriffe absichtlich so gewählt, dass sie von der israelischen und verbündeten Luft- und Raketenabwehr leicht entschärft werden konnten. Außerdem handelte es sich bei den Zielen offenbar nicht um Bevölkerungszentren, sondern eher um einige abgelegene militärische Ziele auf den Golanhöhen und in der Wüste Negev. Der gesamte Angriff war höchst symbolisch und sollte der „Abschreckung“ vor weiteren israelischen Attacken dienen. In diesem Sinne erklärte auch der Sprecher der iranischen Mission bei den Vereinten Nationen, dass sie die Angelegenheit in Damaskus mit diesem Vergeltungsschlag als „erledigt“ betrachten.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die israelische Regierung dies auch so sieht. Für sie ist die iranische Regierung in eine Falle getappt, die sie mit der Provokation von Damaskus gestellt hatte. Die Netanjahu-Regierung braucht die „Einmischung“ des regionalen Hauptfeindes, um ihre militärische Stärke zu beweisen und den Gazakrieg zu einem Krieg mit allen Kräften in der Region auszuweiten, die den palästinensischen Widerstand unterstützen könnten. Wie ein israelischer Beamter sagte, ist es jetzt an der Zeit, die Fähigkeit des Irans auszulöschen, eine Bedrohung für Israel darzustellen.

Die Umwandlung des Genozids im Gazastreifen in einen regionalen Krieg, vor dem auch die Vereinigten Staaten seit langem gewarnt haben, ist damit einen großen Schritt vorangekommen. Es ist klar, dass dies eine bewusste Provokation des Kriegskabinetts von Netanjahu ist, die nicht nur auf den Iran abzielt, sondern auch darauf, seine amerikanischen und westeuropäischen Verbündeten direkter zu verwickeln.

Es stellt auch ein Mittel dar, um den Problemen zu entgehen, die durch die Großdemonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem entstanden sind, bei denen sein Rücktritt gefordert wurde. Außerdem wurde er durch die Verurteilung des Massakers der Israelischen Sicherheitskräfte IDF an den Mitarbeiter:innen der World Central Kitchen, die am 1. April Hilfsgüter lieferten, durch die internationalen Medien kurzzeitig in Verlegenheit gebracht. Seine Verbündeten können nun zur Propaganda „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ zurückkehren.

Die Gefahr, dass Israel, eine Atommacht mit der modernsten konventionellen Bewaffnung im Nahen Osten, bei einem Angriff auf den Iran, Libanon und Syrien aufs Ganze geht, ist sehr real.

Unterdessen geht der Genozid in Gaza weiter. In den drei Tagen des Eid al-Fitr (das Fest, das normalerweise das Ende des einmonatigen Fastenmonats Ramadan für Muslime markiert; Fest des Fastenbrechens, Zuckerfest) verübten die IDF Massaker an ganzen Familien und töteten über 170 Frauen und Kinder. Zur gleichen Zeit „randalierten“ 72 israelische Siedler:innen unter dem Schutz von IDF-Soldat:innen im besetzten Westjordanland, wie es die BBC nannte. Bei diesen gewalttätigen Ausschreitungen wurden Autos, Häuser und Geschäfte angezündet und ganze Straßenzüge zerstört.

All dies zeigt, dass der zionistische Staat weit davon entfernt ist, eingedämmt oder geschwächt zu werden, und dass er wild entschlossen ist, eine „zweite Nakba“ zu begehen, wie es etliche Minister:innen nennen. Dies könnte die lang erwartete Bodeninvasion in Rafah beinhalten, die Räumung des Gazastreifens von seiner traumatisierten Bevölkerung oder deren Einsperrung in ein noch kleineres Gefangenenlager, und im Westjordanland in die isolierten, überfüllten Stadtgebiete, während faschistische Siedler:innen Dorfbewohner:innen töten und das, was von palästinensischem Ackerland übrig ist, besetzen.

Die weltweite Bewegung gegen den Genozid, die in ihrer Langlebigkeit und Größe bereits beispiellos ist, muss über Proteste hinausgehen. Sie muss unwiderstehlichen Druck auf die Regierungen der westlichen imperialistischen Länder sowie der Monarchien und Militärdiktaturen des Nahen Ostens ausüben, um alle Waffenlieferungen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel zu unterbinden. Direkte Massenaktionen müssen durchgeführt werden, um die falschen Behauptungen zurückzuweisen, dass Antizionismus Antisemitismus sei, eine Tatsache, die durch die wachsende Zahl fortschrittlicher jüdischer Menschen, die Israels Handlungen verurteilen, immer deutlicher wird.

Für die Regierungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands und anderer westlicher Länder ist eines klar: Sie stehen fest hinter dem israelischen Staat. Das macht eine Eskalation des Krieges und einen massiven Angriff auf den Iran, Syrien oder den Libanon zu einer realen Gefahr.

  • Wir stellen uns klar gegen solche zionistischen Offensiven! Wir stellen uns entschieden gegen jede imperialistische Intervention!

  • Für den sofortigen Abzug aller US- und anderer imperialistischer Truppen aus dem Nahen Osten! Wir sind für die Schließung aller imperialistischen Militärbasen!

  • Stoppt die Waffenlieferungen und die finanzielle Unterstützung für Israel! Stoppt alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit dem zionistischen Staat!

  • Beendet den Völkermord! Waffenstillstand jetzt! Abzug der israelischen Truppen! Beendigung der Blockade! Öffnung der Grenzübergänge!

  • Für das Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge! Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina!



Nach den zwei Tagungen – wohin steuert China?

Creek Li, Infomail 1251, 13. April 2024

Berichte aus China zeigen, dass das Land trotz Fassade der Einheit und schmeichelhaften Sprache, die auf dem Nationalen Volkskongress im März dieses Jahres geherrscht hat, mit ernsten wirtschaftlichen Problemen konfrontiert ist, sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene, die das parteistaatliche System in eine Situation des Stillstands und der Lähmung bringen.

Das lässt sich an der Unfähigkeit der Parteiführung unter Xi Jinping ablesen, sich an die etablierten Verfahren zur Entwicklung der Wirtschaftspolitik zu halten. Normalerweise würde diese zunächst auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees, die üblicherweise im November stattfindet, erörtert und dann von der Zentralen Wirtschaftsarbeitskonferenz im Dezember detaillierter ausgearbeitet werden. Schließlich würde sie auf den „Zwei Tagungen“ des Nationalen Volkskongresses und des Politischen Konsultativrats des Chinesischen Volkes, die im März zwei Wochen lang zusammentreten, zur Zustimmung vorgelegt. Symptomatischer Weise wurde diese Tagung nach der ersten Woche abgebrochen, und es wurden keine größeren Ankündigungen gemacht – sogar die traditionelle Pressekonferenz des Ministerpräsidenten wurde abgesagt.

Obwohl die regierende Kommunistische Partei erfolgreich die Restauration des Kapitalismus unter ihrer vollständigen Kontrolle überwacht hat, ist eine wichtige Quelle der Legitimität des Regimes die Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums und die ständige Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung. Dies ist in den letzten drei Jahrzehnten mehr oder weniger gut gelungen. Zum Zeitpunkt des Handelskriegs zwischen China und den USA Ende der 2010er Jahre waren jedoch bereits Anzeichen für eine schlechte Wirtschaftslage zu erkennen. Engpässe in der Infrastruktur und ein Mangel an Innovationen in der Hightechindustrie, der auf die Verlagerung  ausländischer, insbesondere US-amerikanischer, Produktionsunternehmen in befreundete Länder nach Südostasien und Lateinamerika sowie auf die langfristigen Auswirkungen der US-Sanktionen zurückzuführen ist, waren echte Hindernisse für eine weitere Beschleunigung.

Der Inflationszyklus, der das Wachstum in den 1990er und 2000er Jahren begleitet hatte, wich einer schleichenden Deflation als Reaktion auf die schwache Nachfrage nicht nur in China, sondern auch international aufgrund des Rückgangs der chinesischen Exporte. Diese Schwierigkeiten wurden durch die Covid-19-Ausperrungen von 2020 bis 2022 und die schädlichen Auswirkungen des Klimawandels auf der ganzen Welt noch verschärft. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 gingen beispielsweise die Ausfuhren Chinas in die Vereinigten Staaten um 25 % zurück. Der größte Handelspartner der Vereinigten Staaten ist nun Mexiko, während China auf den dritten Platz zurückgefallen ist.

Die Expert:innen an der Spitze waren sich der Schwierigkeiten bewusst, die mit den Produktionsüberkapazitäten des Landes, dem Investitionsstau bei der Infrastruktur, der Immobilienpreisblase, der ungleichen Einkommensverteilung und der chronischen Deflation verbunden waren. Im Jahr 2021 ließ Peking diese Bedenken in den Entwurf des 14. Fünfjahresplans einfließen, eine aus der Zeit der Planwirtschaft übernommene Praxis, die einen Ausblick auf die wirtschaftlichen Entwicklungsstrategien für die nächsten fünf Jahre gab. Dieser Plan sah eine Ausweitung der Investitionen in Forschung und Entwicklung, der ländlichen Bildung, der Gesundheits- und Umweltdienste, der Sozialfürsorge, eine bessere Verteilung des Nationaleinkommens und die Eingliederung junger Menschen in den Arbeitsmarkt vor, alles in Verbindung mit einer relativen finanziellen Stabilität und einer gesunden Zahlungsbilanz. Aufgrund einiger tief verwurzelter struktureller Probleme in der chinesischen Wirtschaft, die mit dem parteistaatlichen System zusammenhängen, sind diese Ziele jedoch nur schwer zu erreichen.

Das erste und wichtigste Problem bildet natürlich das Platzen der Immobilienblasen und die daraus resultierenden riesigen Schulden. Dies betrifft nicht nur die berühmten Unternehmen wie Evergrande und Country Garden, sondern auch die Kommunal- und Provinzregierungen und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen, die Finanzstützen für Kommunalverwaltungen, die den Verkauf von Grundstücken an Immobilienunternehmen subventionieren. Durch den Konkurs von Bauträger:innen ist den lokalen Regierungen eine wichtige Einnahmequelle weggebrochen – Berichten zufolge über 25 % –, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits unter den enormen Kosten der von Peking verhängten Abriegelungen während der Pandemie leiden. Zweitens hat das Versäumnis Pekings, Rettungspläne zur Entschädigung kleiner Unternehmen oder prekär Beschäftigter während der Covidzeit durchzuführen, zu einem starken Rückgang des Verbrauchs geführt, da die Menschen an ihren Ersparnissen festhalten. Dies erklärt, warum es nach der Wiedereröffnung nicht, wie von den meisten Ökonom:innen erwartet, zu einem Konsumboom gekommen ist. Es hat vielmehr dazu geführt, dass viele Unternehmen Lagerüberschüsse verzeichnen und Arbeiter:innen entlassen, was die Nachfrage noch weiter schwächt.

Technisch gesehen sind die Schulden von Evergrande und anderen Unternehmen zwar spektakulär, aber kein unlösbares Problem. Eine Kombination aus Umschuldung, Finanzierung der Fertigstellung und des anschließenden Verkaufs unvollendeter Projekte, Zusammenlegung potenziell lebensfähiger Teile der bankrotten Unternehmen, Übertragung der Schulden auf eine „Bad Bank“, Zwangsvergleiche mit den Gläubiger:innen und die Beschlagnahmung der Vermögenswerte der Immobilienspekulant:innen selbst könnten alle eine Rolle bei der Lösung der Finanzkrise der Branche spielen. Bisher wurden solche Maßnahmen jedoch kaum ergriffen, und der Chef von Evergrande, Hui Ka Yan, wurde sogar recht milde behandelt. Dies ist ein Zeichen für den widersprüchlichen Druck und die Loyalitäten innerhalb des Regimes. Aber das ist noch nicht alles: Selbst wenn solche Maßnahmen rigoros umgesetzt würden, wären damit weder das Problem der Umstrukturierung der Wirtschaft weg von der langjährigen Strategie der Abhängigkeit von Infrastrukturinvestitionen noch das der riesigen Schulden der lokalen Regierungen gelöst.

Sowohl die bankrotten und veralteten Sektoren der Wirtschaft als auch die potenziell dynamischen und profitablen Branchen sind im Parteistaatsapparat vertreten. Die zahlreichen Interessen innerhalb der Partei, die in regionalen, generationsbedingten, beruflichen und sozialen Unterschieden wurzeln, konnten zusammengehalten werden, solange alle auf den Fortschritt durch die robusten wirtschaftlichen Wachstumsstatistiken der letzten dreißig Jahre vertrauten. Zu diesem „Wachstum“ gehörten jedoch auch Zigmillionen leere Wohnungen und Tausende von Kilometern ungenutzter Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecken und Autobahnen. Ein krasses Beispiel stellt die Provinz Guizhou dar. Nach Angaben der Zeitung South China Morning Post hat Guizhou bis Ende 2022 insgesamt 8.331 Kilometer Autobahnen gebaut und übertrifft damit Japans Gesamtlänge von 7.800. Aber Japan hat 82 Millionen Autos, die auf seinen Autobahnen fahren, Guizhou verfügt über weniger als 6 Millionen. Die Kosten und mangelnde Rentabilität solcher Investitionen machen die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Parteistaatsapparats zunehmend unvereinbar.

Auch auf internationaler Ebene stößt China auf mehrere Schwierigkeiten. Einerseits hat es seinen Plan, das Überkapazitätsproblem durch Kapitalexporte über das Programm „Ein Gürtel, eine Straße“ („Neue Seidenstraße“) zu lösen, nicht erfüllt. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs und einer eskalierenden Rivalität mit den USA wird dies noch schwieriger sein.Die derzeitige Pattsituation in der Welthandelsorganisation WTO zeigt, dass China zwar die seit dem Ende des Kalten Krieges im Washingtoner Konsens festgelegte „regelbasierte Ordnung“ untergräbt, aber noch nicht in der Lage ist, sie zu stürzen. Die USA sind ein globaler Hegemon mit der stärksten Militärmacht und sie kontrollieren immer noch die Bretton-Woods-Institutionen, die unter ihrer Vorherrschaft aufgebaut wurden und dazu dienen, diese aufrechtzuerhalten.

Die Gipfeltreffen der G20- und der BRICS-Staaten haben gezeigt, dass es für China möglich ist, über Handelsbeziehungen mit den Ländern des globalen Südens stabile Wirtschaftspartner:innenschaften aufzubauen. Diese bieten nicht nur neue Märkte für Chinas Produkte, sondern erhöhen auch dessen moralische Autorität in der Weltordnungspolitik, nicht zuletzt durch die Stimmen dieser Länder in der UNO. Nichtsdestotrotz stellen sie nicht annähernd eine Konkurrenz für die USA dar. Außerdem ist, wie John Maynard Keynes schon vor langer Zeit feststellte, „Währungskompetenz“ für die internationalen Beziehungen von entscheidender Bedeutung.

Trotz der wiederholten Bemühungen Pekings, den Yuan zu internationalisieren, hat es bisher nichts geschaffen, was auch nur annähernd mit den Funktionen des US-Dollars vergleichbar wäre. Eine echte Internationalisierung des Yuan würde im Wesentlichen Reformen zur Lockerung der Banken- und Kapitalkontrollen erfordern. Wie die Fälle der Konzerne Tencent und Alibaba Finanz zeigen, wären solche Reformen mit dem parteistaatlichen System unvereinbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zinsdifferenz zwischen China und den USA zu einer ständigen Kapitalflucht und zum Abzug ausländischer Investitionen führt.

Hier fangen alle politischen Probleme an und deshalb kann es zu einer Lähmung innerhalb des Parteistaats kommen. Nachdem Parteichef  Xi Jinping im Fraktionskampf erfolgreich war und den Gipfel seiner persönlichen Macht erreicht hat, ist er nun von Verleumder:innen umgeben und steht an einem existenziellen Scheideweg, der in der Geschichte schon so oft Autokrat:innen zu falschen Entscheidungen getrieben hat.

Kürzlich beschloss Xi aus Furcht vor einer sich auftürmenden Staatsverschuldung und einer Krise der Staatsfinanzen, die Ausgaben der lokalen Behörden und Infrastrukturprojekte zu kürzen. Dies fiel mit dem Abschwung im Immobiliensektor zusammen und die kombinierte Wirkung wird zu einem weiteren Rückgang der Einkommen und Beschäftigung führen, wodurch Millionen von Menschen arbeitslos und Zulieferbetriebe in der gesamten Wirtschaft in den Ruin getrieben werden. Dies könnte sich in einer politisch sensiblen Zeit als gefährlicher Schritt erweisen. Gleichzeitig wird sich die chinesische Wirtschaft stetig verschlechtern, wenn Xi zulässt, dass Immobilienspekulant:innen ihre Geschäfte wie gewohnt fortsetzen und die Immobilienblasen nicht aufbrechen, wie die sanfte Behandlung des Chefs von Evergrande andeuten könnte. Die Jugendarbeitslosigkeit hat im Jahr 2023 einen historischen Höchststand erreicht und liegt nach Schätzungen einiger Ökonom:innen derzeit bei etwa 40 %, was zu sozialen Unruhen führen könnte. Diese Kombination von Problemen, die jeweils verschiedene Bereiche innerhalb der Partei und des Staatsapparats betreffen, erklärt sowohl die immer diktatorischere Herrschaft von Xi als auch seine Unfähigkeit, ein neues Wirtschaftsmodell zu finden, das das Wirtschaftswachstum in der Einparteiendiktatur fördern kann.

Was Chinas derzeitige Krise schlussendlich von der in anderen imperialistischen Ländern unterscheidet, ist das herrschende Regime, keine kapitalistische Regierung, sondern ein stalinistischer Parteistaat, der aus einer Planwirtschaft hervorgegangen ist und nun versucht, seine Herrschaft in einer kapitalistischen Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Im Laufe der Zeit haben sich zwangsläufig verschiedene Fraktionen und Flügel innerhalb der Staatsbürokratie herausgebildet, die ihre eigenen politischen Programme mit unterschiedlichen Haltungen gegenüber der chinesischen Bourgeoisie sowie Strategie zur Bewältigung der aktuellen wirtschaftlichen Probleme entwickeln werden.

Dies bietet die Möglichkeit einer offenen Spaltung der Partei, bei der die prokapitalistischen Fraktionen mit der Großbourgeoisie zusammenarbeiten könnten, um zu versuchen, eine bürgerliche Demokratie zu errichten, möglicherweise sogar unter dem Banner der Republik China. Das Verständnis der Dynamik einer solchen Situation ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines Programms für eine Arbeiter:innenpartei, die durch die Mobilisierung der Arbeiter:innen zur Verteidigung ihrer Interessen unabhängig von und gegen die Interessen sowohl der Bürokratie als auch der Kapitalist:innen aufgebaut werden soll.




Zum Missbrauch der IHRA-Definition von Antisemitismus

Dave Stockton / Markus Lehner, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde 2016 eingeführt und in mehreren europäischen und nordamerikanischen Staaten verwendet, um propalästinensische Aktivist:innen, einschließlich der wachsenden Zahl antizionistischer Jüdinnen und Juden, als „Antisemit:innen“ zu diffamieren. Sie wurde eingesetzt, um die freie Meinungsäußerung über das Wesen und die Handlungen des Staates Israel zu unterdrücken. Sie wurde auch benutzt, um propalästinensische Redner:innen und Veranstaltungen auf dem Universitätsgelände zu verbieten, darunter auch Proteste gegen Israels aktuelle Verbrechen in Gaza und den anderen besetzten Gebieten.

Grund dafür sind einfach die wachsenden Proteste gegen Aktionen des israelischen Staates innerhalb der Länder, deren Regierungen diesen seit Langem mit Waffen unterstützen und ihn auch wirtschaftlich stark fördern. Ein wichtiger Faktor für diesen Wandel sind die wiederholten Angriffe Israels auf den Gazastreifen von 2006 bis heute, die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem. Ein subjektiver Faktor ist jedoch das Aufkommen der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Sie wurde im Juli 2005 von Omar Barghouti und Ramy Shaath und einer Vielzahl von palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs gegründet. Sie hat sich international ausgebreitet und mit der wachsenden Zahl jüdischer antizionistischer Gruppen sowie mit den älteren Palästinasolidaritätsbewegungen verbunden.

BDS mobilisiert mit dem Argument, dass es sich bei Israel um einen Apartheidstaat handelt, der mit Südafrika vor dem Untergang der weißen Herrschaft vergleichbar ist, weil es sich in seiner Verfassung zum Staat nur von Juden/Jüdinnen und zur Verkörperung nur ihres Selbstbestimmungsrechts erklärt hat. Darüber hinaus rechtfertigen das Fehlen gleicher Bürgerrechte und die Sicherheitsmauer (die BDS als „Apartheidmauer“ bezeichnet hat) tatsächlich Vergleiche mit Südafrika, obwohl es natürlich wichtige Unterschiede gibt (Südafrika musste z. B. die Arbeitskraft der schwarzen Mehrheit nutzen und konnte sie nicht verdrängen).

BDS setzt sich nicht nur für den Boykott von Unternehmen ein, die Waffen liefern und wirtschaftliche Unterstützung für die Siedlungsprojekte im Westjordanland leisten, sondern auch für das Rückkehrrecht der sechs Millionen Flüchtlinge in der weltweiten Diaspora und der Binnenvertriebenen in den besetzten Gebieten.

Obwohl BDS eine Bewegung ist, die auf der utopischen Idee basiert, dass friedliche Proteste und das Aufzeigen von Parallelen zur südafrikanischen Apartheid zu einem grundsätzlichen Wandel führen werden, wird Israels Anspruch, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, dadurch angegriffen. Damit wurde ein gewisser Rechtfertigungsdruck erzeugt und zumindest die Frage einer Zweistaatenregelung wieder auf den Tisch gebracht. Die Behauptung verschiedener Regierungen und Parlamente, BDS sei antisemitisch, ist lächerlich – es sei denn, Antisemitismus wird neu definiert als Kritik am israelischen Staat und Schaden, den dieser den Palästinenser:innen sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch den Millionen darüber hinaus vertriebenen zufügt.

Was Israel mehr fürchtet als jede tatsächliche oder wahrscheinliche Beeinträchtigung, die ihm durch die BDS-Aktivitäten entsteht, ist die Bewegung der öffentlichen Meinung, insbesondere in den westlichen imperialistischen Staaten, die Israel sponsern und schützen, Resolutionen im UN-Sicherheitsrat blockieren und seine Kriege und die Räumung palästinensischen Landes entschuldigen. Daher hat es einen Gegenangriff gestartet, indem es Aktivist:innen, die sich mit Palästina solidarisieren, pauschal des Antisemitismus bezichtigt. Dabei hat sich die Förderung einer Theorie des „neuen Antisemitismus“, in Gestalt der IHRA-Definition und ihr beigefügten sogenannten Beispiele, als nützliche Waffe erwiesen.

Antisemitismus und Antizionismus

Revolutionäre Sozialist:innen haben schon immer alle Ausdrucksformen des Jüdinnen- und Judenhasses angeprangert, alle Stereotypen über ihre angebliche Macht und ihren Reichtum, die Kontrolle der Medien, des Rechts usw. sowie Verschwörungstheorien (Protokolle der Weisen von Zion) und die Leugnung des Holocausts. Der Kampf gegen diese giftige Hetze ist ein zentraler Bestandteil unseres antirassistischen Programms und der Herausbildung des revolutionären Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse.

Revolutionär:innen haben den Holocaust nie heruntergespielt, geschweige denn geleugnet, seine schreckliche Natur und die Tatsache, dass er aufgrund des vorsätzlichen Ziels des Nationalsozialismus, alle europäischen Juden und Jüdinnen auszurotten, eine besondere Bedeutung trägt – durch die systematische industrielle Massentötung, der sechs Millionen jüdischstämmige Menschen zum Opfer gefallen sind. Aber es ist deshalb keine „Relativierung“, wenn man feststellt, dass Völkermord nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wird – es gibt und gab auch andere Völkermordversuche in der Neuzeit. Auf jeden Fall schmälert dies nicht die enorme Bedeutung des Holocausts, denn es macht ihn nicht weniger relevant, sondern mehr. Er zeigt, wohin die Dämonisierung vieler rassisch, national und geschlechtlich definierter Gruppen führen kann. Diese Sensibilisierung hat zu Recht Sympathie und Unterstützung für das jüdische Volk und diese anderen Betroffenen geweckt.

Der Antisemitismus spielt in der rechten und faschistischen Ideologie nach wie vor eine besonders wichtige Rolle, da er eine falsche „antikapitalistische“ Ideologie liefert, um die klassenunbewussten Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums zu mobilisieren und ihre Wut von der Kapitalist:innenklasse abzulenken.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa, den USA und in vielen anderen Ländern der Welt in den letzten Jahrzehnten ist ein Produkt der tiefen Krisenbedingungen des modernen Kapitalismus und der Zunahme der Rivalitäten nicht nur zwischen den imperialistischen Großmächten (USA, EU, China, Russland usw.), sondern auch zwischen aufstrebenden regionalen Mächten (Indien, Iran, Türkei, Saudi-Arabien usw.). Die Nazis und ihr Holocaust waren auch das Ergebnis solcher Bedingungen (mit Zuspitzung in den1930er Jahren) und des Versagens der Arbeiter:innenbewegung, sie aufzuhalten und zu besiegen und eine sozialistische Revolution herbeizuführen.

Heute ist der Übergang vom rassistischen Rechtspopulismus zum offenen Faschismus eine reale Möglichkeit und obwohl viele dieser Kräfte heute Israel unterstützen, haben einige (z. B. Viktor Orbáns Ungarn) bereits prominente jüdische Persönlichkeiten wie George Soros im Visier. Kampagnen gegen echten Antisemitismus sind für die Erziehung neuer Generationen gegen alle Formen von Rassenvorurteilen und -hass unerlässlich. Aber ihn mit der Opposition gegen Israels eigene völkermörderische Aktionen in Gaza zu verwechseln, wird bei dieser Aufgabe nicht helfen.

Eine wichtige Rolle bei der Verwirrung der Opposition gegen Israel und seine rassistische Politik und Aktionen besteht darin, neu zu definieren, was Antisemitismus bedeutet. Dazu hat die Theorie des so genannten „neuen“ Antisemitismus beigetragen. Irwin Cotler, kanadischer Rechtsprofessor und ehemaliger Justizminister in der liberalen Regierung Paul Martins von 2003 – 2006, definiert ihn so:

„Mit einem Wort: Der klassische Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht der Juden, als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu leben, in der sie leben. Der neue Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht des jüdischen Volkes, als gleichberechtigtes Mitglied der Familie der Nationen zu leben, mit Israel als dem anvisierten ,kollektiven Juden unter den Nationen’.“

Dieser Wandel kann nur echten Hass gegen Juden und Jüdinnen mit der Ablehnung der Handlungen des israelischen Staates verwechseln.

Die IHRA-Definition

Die sogenannte Arbeitsdefinition des Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) verabschiedet und von der Europäischen Union und der Europäischen Kommission angenommen wurde, übernimmt diesen Paradigmenwechsel von der Feindseligkeit gegenüber Juden und Jüdinnen aufgrund imaginärer Verbrechen zu der gegenüber Israel aufgrund realer. Ihre Kerndefinition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen Juden äußern kann. Rhetorische und physische Manifestationen des Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Personen und/oder deren Eigentum, gegen jüdische Gemeinschaftseinrichtungen und religiöse Einrichtungen.“

Viele haben eingewandt, dass dies eine wortreiche Erweiterung einer reinen Wörterbuchdefinition ist, nämlich dass Antisemitismus verbal oder physisch zum Ausdruck gebrachter Hass auf Juden und Jüdinnen ist.

Wenn man dies bedenkt, wird klar, dass drei der elf „Beispiele“, die der IHRA-Definition beigefügt sind und von denen sieben den Staat Israel erwähnen, einen ganz anderen Zweck verfolgen, nämlich die Kritik an diesem Staat zu minimieren und den Einsatz für die Rechte der Palästinenser:innen zu behindern. Das siebte dieser Beispiele für Antisemitismus lautet: 

„dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, z. B. durch die Behauptung, die Existenz eines Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“.

Damit wird das „Recht“ der zionistischen Bewegung und des von ihr 1948 mit Waffengewalt geschaffenen Staates auf „Selbstbestimmung“ als unanfechtbar akzeptiert, ohne dass dieses Recht der arabischsprachigen Bevölkerung Palästinas, die bis dahin die Mehrheit bildete, anerkannt wird. Das Selbstbestimmungsrecht war ihnen seit 1917 von den britischen Besatzer:innen verweigert worden, und diese Verweigerung wurde und wird vom israelischen Staat weiterhin aufrechterhalten.

Auch wenn die vor den Schrecken des Holocausts nach Palästina ausgewanderten Menschen jedes Recht auf ein geschütztes und selbstbestimmtes Leben hatten, so wurde aus dem Projekt der Gründung eines neuen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebietes gleichzeitig ein neokoloniales Gebilde, das sich für die imperialistischen Großmächte als wichtiges Element ihrer postkolonialen Beherrschung der wichtigen „Nahostregion“ eignete – unter völliger Missachtung der arabischen Bevölkerungen ebendieser im Allgemeinen und in Palästina im Speziellen. Die völlige Entkopplung der „Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ in der Region Palästina vom Kontext der postkolonialen Geschichte und Realität der Region führt zu einer völlig aberwitzigen, ahistorischen Neudefinition des Antisemitismus als Rechtfertigungsideologie für eine Form des postkolonialen Neoimperialismus.

Das zehnte Beispiel ist definiert als „Vergleiche der gegenwärtigen israelischen Politik mit der der Nazis“. Da es nicht unüblich ist, die Unterdrückung und unmenschlichen Handlungen verschiedener Staaten, einschließlich der oben genannten, mit den Nazis zu vergleichen, gibt es keinen Grund, Israel von einer solchen Kritik auszuschließen, insbesondere nach den letzten sechs Monaten.

Auch wenn man wie wir die spezielle historische Bedeutung des Holocausts anerkennt – so ist er vor allem eines: Kennzeichen der Tiefe der Krise der „westlichen Moderne“. Die Verbrechen des Kolonialismus und ihre Fortführung in den brutalen Repressionsakten der postkolonialen Weltordnung gehören jedoch zu den Grundlagen der „westlichen Moderne“ – zur Absicherung der ökonomischen, politischen und militärischen Ordnung, die zugunsten der privilegierten Schichten und Klassen in den imperialistischen Zentren erfolgt. Die Verbrechen, die beides hervorbringt, sind alle systembedingt grausam und müssen in solcher Weise auch benannt werden können.

Die achte ist ein Beispiel dafür, dass „mit zweierlei Maß gemessen wird, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird“.

Die Behauptung einer selektiven Kritik an Israel ist wirklich lächerlich, da die meisten Kritiker:innen der Handlungen Israels, und vor allem die extreme Linke, nicht nur Staaten wie Putins Russland für seine völkermörderischen Handlungen (in Tschetschenien) kritisiert haben, sondern auch Großbritannien und die USA für ihre schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Irak, ganz zu schweigen von Vietnam, Frankreichs Massaker in Algerien und Großbritanniens Wüten in Kenia, im Jemen usw. All diesen Fällen liegt dasselbe zugrunde – Imperialismus.

Außerdem kann Israel in seiner jetzigen Konstruktion als rein jüdischer Staat angesichts einer Masse davon Ausgeschlossener im eigenen, im besetzten Land und in der palästinensischen Diaspora Lebender keine „demokratische Nation“ sein. In welcher Form auch immer das Zusammenleben von jüdischen und palästinensischen Menschen in Zukunft vernünftig geregelt werden kann – in seiner jetzigen Form ist Israel ein in seinem Kern rassistisches Konstrukt, das Juden/Jüdinnen wie Palästinenser:innen keine wirklich sichere und gemeinsame Perspektive bietet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gründe für die Verleumdung und Verfolgung der Verteidiger:innen des arabischen Teils der Bevölkerung Palästinas aus der Sicht Israels ganz einfach darin liegen, die Vollendung ihrer Zerstörung als nationale Gemeinschaft „vom Fluss bis zum Meer“ zu erreichen.  Die Arbeiter:innenklasse, die antiimperialistische und demokratische Bewegung weltweit sowie die Standhaftigkeit ihres Volkes werden dies niemals zulassen.




Deutschland vor Gericht

Martin Suchanek, Infomail 1250, 10. April 2024

„Begünstigung zum Völkermord“: So lautet die Anklage gegen Deutschland, die seit dem 8. April vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt wird. Die „werteorientierte“ und „feministische“ Außenpolitik , die nicht nur Außenministerin Baerbock gern allen Bösewichten der Weltpolitik als Leuchtfeuer der Demokratie vorhält, steht nun selbst vor Gericht.

Über Jahre redet nicht nur sie gebetsmühlenartig jede Waffenlieferung, jede Intervention, jede Sanktion gegen andere Staaten, jede Interessenpolitik „demokratisch“ schön. Und über Jahre galt der IGH als ein, wenn auch eher symbolisch-moralisches, Mittel in der innerimperialistischen Konkurrenz, das Deutschland gern gegen die Konkurrenz aus Russland oder anderswo in Stellung brachte. So applaudierte man im März 2022, als der Gerichtshof Russland aufforderte, seinen reaktionären Angriffskrieg gegen die Ukraine zu stoppen. Und man empörte sich darüber, dass Putin und seine Militärmaschinerie die Anhörung boykottierten und das Urteil in den Wind schlugen.

Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern

Frei nach Konrad Adenauer verfährt auch die Bundesregierung heute. Was kümmert uns, die Baerbocks, die Scholzs, die Habecks und Linders (und natürlich auch die konservative Opposition) unser Geschwätz von gestern.

Internationale Gerichtshöfe gelten offenbar nur dann als wirkliche „demokratische“ Errungenschaft, wenn sie im Sinne einer Weltordnung Anklagen verfolgen und Urteile fällen, die der geopolitischen Ausrichtung Deutschlands, der USA, der EU und ihrer Verbündeten entsprechen. Außerdem trat die Bundesrepublik für eine weite Auslegung des Begriffs Genzoid ein, als sie sich im November 2023 der Klage Gambias gegen Myanmar anschloss, dessen Regime Völkermord an den Rohingya vorgeworfen wird.

Offenbar rechnete niemand damit, dass mit Israel ein enger geostrategischer Verbündeter und wirtschaftliche Partner auf derselben Anklagebank landen könnte. Dabei hatten die rechten Minister im Kabinett Netanjahu aus ihren reaktionären, pogromistischen Absichten nie ein Hehl gemacht. Rund 40.000 Tote seit Beginn der israelischen Angriffe und Besatzung, die Vertreibung von weit mehr als einer Million Menschen in Gaza sowie eine drohende Hungerkatastrophe sprechen eine klare Sprache.

Von einem laufenden Genozid will die deutsche Bundesregierung jedoch partout nichts wissen. Die zur Staatsräson erhobene bedingungslose Solidarität mit Israel umfasst offenbar auch die Pflicht zur Realitätsverweigerung, zur Doppelmoral sowieso. Allenfalls werden regelmäßig Aufforderungen zur Mäßigung an Israel gerichtet, während zugleich Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina gesperrt werden und die Lieferungen von Rüstung an Israel 2023 auf einen Wert von 326,5 Millionen Euro verzehnfacht wurden.

Wie Deutschland reagiert

Nachdem der IGH nach der Klage Südafrikas die Gefahr eines Genozid in Gaza bejahte, folgt Deutschland verdientermaßen Israel auf die Anklagebank. Der Vorwurf lautet „Begünstigung zum Völkermord“ durch Waffenlieferungen und Blockade von Hilfe für Flüchtlinge. Eingebracht wurde er von Nicaragua.

Die Reaktion darauf? Man weist nicht nur jede Schuld von sich. Bezüglich der Kritik am IGH, den man ja noch gegen missliebige Regime brauchen könnte, hält man sich zurück, auch wenn man dessen Zuständigkeit bezweifelt. Umso heftiger soll, wie schon im Fall Südafrika, der Kläger, in diesem Fall das Regime in Nicaragua, diskreditiert werden. Keine Frage, sowohl die Regierung Südafrikas als auch jene Nicaraguas unterdrücken die eigene Bevölkerung, vor allem die Arbeiter:innenklasse und die Armen. Keine Frage, ihre Klagen entbehren nicht eines guten Schusses Doppelmoral. Doch damit befinden sie sich in der internationalen Staatengemeinschaft, nicht zuletzt mit der Bundesrepublik, in guter Gesellschaft.

Gegenüber der Öffentlichkeit versucht die Regierung, der angeblich Rechtsstaatlichkeit und besonders das humanitäre Völkerrecht über alles gehen, den Gegenstand der Klage durch die Diskreditierung des Klägers zu „entkräften“. Das wäre etwa so, als würde ein/e des Mordes Beschuldigte/r argumentieren, das Gericht müsse die Anklage zurückweisen, weil der/die Klagende in der Vergangenheit Verbrechen begangen hätte. Dabei sollten die Bundesregierung und ihre Rechtsvertreter:innen wissen, dass jede/r Beschuldigte vor einem bürgerlichen Gericht damit Schiffbruch erleiden muss. Und das wissen natürlich auch die Jurist:innen, die Deutschland verteidigen.

Eine Fiktion als Verteidigungsstrategie

Doch gegenüber der eigenen Bevölkerung halten die Regierung, ihre Sprecher:innen und der Großteil der Medien an einer Verteidigungs„strategie“ fest, die vor allem darin besteht, Nicaragua jedes Recht auf Klage abzusprechen. Und das hat einen guten Grund. Sich ernsthaft auch nur auf den Vorwurf der Beihilfe zum Genozid einzulassen und generell mit Kriegsverbrechen zu beschäftigen, würde die gesamte ebenso verlogene wie moralistisch aufgeladene Rechtfertigung Deutschlands für die „bedingungslose Solidarität mit Israel“ in Frage stellen. Es würde offenlegen, dass diese nicht dem Kampf gegen den Antisemitismus dient, sondern einerseits der billigen Entschuldigung für den Holocaust und die Verbrechen der Nazis, andererseits den eigenen geostrategischen Interessen.

Daher muss die Bundesregierung an ihrer eigenen Fiktion festhalten, dass schon der Vorwurf des Völkermordes gegenüber Israel, bereits die Verhandlung einer Klage eine „Ungeheuerlichkeit“ darstellen würden.

Doch die Ungeheuerlichkeit findet in Gaza statt – mit der Hilfe und den Waffen aus Deutschland. Während selbst andere westliche bürgerliche Staaten aufgrund der Barbarei der Bombardements auf Distanz gehen und wie z. B. Kanada oder Gerichte in den Niederlanden Waffenlieferungen an Israel stoppen, hält die Bundesregierung an der Fiktion fest, dass der zionistische Staat unter Netanjahu eine Art Verteidigungskrieg führen würde. Der größte Teil der Menschheit kann darüber nur den Kopf schütteln. Auch eine Mehrheit der Deutschen folgt der Bundesregierung längst nicht mehr. Obendrein kann auch eine wachsende Minderheit der israelischen Bevölkerung ob der Nibelungentreue der deutschen Regierung zum israelischen Kriegskabinett nur ungläubig staunen.

Auch wenn sich die Verhandlung der Klage Nicaraguas über Wochen hinziehen wird und der Ausgang eng damit verbunden ist, ob der IGH Südafrikas Klage gegen Israel recht gibt, so bewirkt der Prozesse zumindest eines: Er trägt dazu bei, die Rechtfertigungsideologie des Krieges gegen Gaza in der Öffentlichkeit weiter zu unterminieren. Und das stellt für den herrschenden Kurs der Regierung ein wirkliches Problem dar. Auf Dauer lassen sich Waffenlieferungen für einen Genozid und bedingungslose Solidarität mit einem Staat, der ihn gerade durchführt, durch eine weitgehende mediale Gleichschaltung, Repression und Aushebelung demokratischer Rechte nur schwer durchhalten, wenn eine immer größere Mehrheit der Bevölkerung diese Politik dennoch ablehnt.

Hinzukommt, dass es keineswegs ausgeschlossen ist, dass der IGH Nicaraguas Klage folgt. Selbst wenn er Deutschland „nur“ in Teilen schuldig sprechen würde, stünde die Regierung vor einem Dilemma. Der IGH verfügt zwar über keine materiellen Mittel, seine Urteile gegen den Willen verurteilter Staaten zu erzwingen – und insofern könnte Deutschland weitermachen wie bisher. Das tun schließlich auch andere Staaten, wie Israel, China, Russland oder die USA. Doch diese haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass für sie das nationale Interesse über jedem Urteil steht, das diesem zuwiderläuft. Deutschland hingegen ging über Jahre damit hausieren, dass das humanitäre Völkerrecht über allem stünde und für alle verbindlich wäre. Natürlich war das immer eine Lüge, wie man jüngst an der Reform genannten, faktischen Abschaffung zentraler Elemente des Asylrechts in der EU sehen kann.

Bei einer Verurteilung durch den IGH müsste Deutschland jedoch eine Entscheidung treffen. Entweder es folgt dem Entscheid und brüskiert damit seinen Verbündeten Israel, dem man ständig „bedingungsloser Solidarität“ versichert hat. Oder man ignoriert den Rechtsspruch und macht damit deutlich, dass man nur solange das humanitäre Völkerrecht, Demokratie und Menschenrecht hochhält, als sie den eigenen außenpolitischen Zielen dienen.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass eine Verurteilung durch das Gericht in Den Haag die deutsche Unterstützung des zionistischen Regimes stoppen wird. Aber der Prozess, die öffentliche Klage und erst recht eine mögliche Verurteilung unterminieren die ohnedies immer brüchiger werdende Legitimität der deutschen Politik. Es ist eine Aufgabe der Palästinasolidaritätsbewegung, genau diese Legitimitätskrise zu vertiefen, indem sie die Bundesregierung und die imperialistischen Mächte an den Pranger stellt. Denn dies stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, die zunehmende Ablehnung der Regierungspolitik in der Bevölkerung zu einer Bewegung auf der Straße und in den Betrieben werden zu lassen, die diese Politik wirklich stoppen kann.




Russische Föderation: Bonapartistische Wahlfarce

Frederik Haber, Infomail 1250, 8. April 2024

Wenn es eine Steigerung des alten Witzes „Wenn Wahlen etwas bewirken würden, wären sie verboten“ gäbe, dann „Dieses Jahr stellte sich Putin zur Wiederwahl als Präsident der Russischen Föderation“.

Natürlich wurde der Präsident wiedergewählt, alles war dafür getan worden. Ob es 88,5 % sind, mehr oder weniger ändert für die meisten Betrachter:innen nichts, ebenso wenig die Zahlen für die Mitbewerber:innen. Aber die Wahlen verraten etwas über das System Putin und das ist interessant für alle, die auf Veränderungen in der Russischen Föderation hoffen oder dafür arbeiten. Das sind sehr unterschiedliche Kräfte mit sehr verschiedenen Zielen. Wir gehören dazu, aber auch die Führer:innen der westlichen Imperialistischen Staaten, unsere stärksten Feind:innen also.

Das „System Putin“

Anders als für die meisten Beobachter:innen ist für Putin eine hohe Zustimmung bei der Wahl sehr wichtig. Auch wenn er gerne und oft als „Diktator“ bezeichnet wird – er macht es nicht so wie Selenskyj und setzt einfach die Wahlen aus, nein, er zeigt, dass er sich im Unterschied zu Letzterem solche leisten kann.

Putin hat seine Herrschaft, anders als viele Diktator:innen, auch nicht durch einen Militärputsch oder etwas Ähnliches erlangt, sondern er hat Wahlen gewonnen. Das Regierungssystem mit einem starken Präsidenten hat nicht er erfunden, sondern das geht vor allem auf Jelzin zurück, der als Präsident vor dreißig Jahren sogar das Militär einsetzte gegen den damals noch existierenden, (bereits unter Gorbatschow) demokratisch gewählten Volkdeputiertenkongress und den von ihm gewählten Obersten Rat, ihn beschießen ließ und mit Kanonen zur Kapitulation zwang.

Putins etablierte seine Macht in einer sehr prekären Konstellation am Ende der neunziger Jahre, als der jahrelange Präsident Jelzin und die radikalen Liberalisierer:innen mit aller Macht alles, was irgendwie an Sowjetunion, Planwirtschaft oder kollektives Eigentum erinnerte, zerschlagen hatten und mit den Reichtümern des Landes die neu entstandene Bourgeoisie fütterten. Das Land steckte Ende der 1990er Jahre in einer tiefen Wirtschaftskrise, es gab massenhafte Armut und Hunger. Die Arbeiter:innenklasse begann, sich mit großen Streiks zu wehren, während die neue Bourgeoisie ihre frisch gerafften Milliarden aus dem Land abzog.

In dieser Situation konnte eine einzelne Person sich über die kämpfenden Klassen und ihre Fraktionen erheben und unter der Parole „Einheit des Landes“ einen Weg weisen, der scheinbar allen dienen würde. Putin war der, der diese Rolle am besten ausfüllen konnte und dem es gelang, in der Russischen Föderation ein System zu etablieren, das nach dem berühmten napoleonischen Vorbild Bonapartismus genannt wird. Es war die historische Situation mit schwankenden, unsicheren Kräfteverhältnissen, die für die Herrschenden nach Putin verlangte. Hinzu kommt, dass Gorbatschow, Jelzin und die ganze neue Bourgeoisie zwar den degenerierten  Arbeiter:innenstaat der UdSSR zerschlagen (auf der Grundlange einer stalinistischen Bürokratie, die schon ab den 1920er Jahren begonnen hatte, die Arbeiter:innenklasse zu entmachten und die Bolschewistische Partei zu zerstören) und den Kapitalismus restauriert – aber das Problem nicht angegangen hatten, an welcher Stelle denn sich dieses Land wieder im imperialistischen Weltsystem einordnen würde.

Weichenstellung

In den ersten 10 – 15 Jahren seiner Herrschaft stellte Putin die Weichen dafür, dass Russland nicht wie von den westlichen Imperialist:innen vorgesehen eine letztlich untergeordnete Macht wurde, auch nicht nur – wie zur Zarenzeit – ein schwacher imperialistischer Staat, stark abhängig von Krediten und Technik europäischer Länder, sondern ein Staat wurde, der dank der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion und seiner begehrten Bodenschätze zumindest über so viel wirtschaftliche und technische Ressourcen verfügt, dass er im Kampf um die Neuaufteilung der Welt dem weiterhin tonangebenden Welthegemon USA ganz schön in die Quere kommen kann.

Der Versuch Putins, Russland einen Platz unter den führenden imperialistischen Nationen zu verschaffen, war durchaus erfolgreich. Aber diese Politik fordert auch Opfer, um Militär und Interventionen zu finanzieren. Und in einem bürgerlichen Staat werden diese Kosten immer auf die arbeitenden Klassen abgewälzt – so wie dies (in sogar sehr viel geringerem Ausmaß im Vergleich zu ihren Leidensgenoss:innen in der RF) momentan auch die Arbeiter.innen und Bauern/Bäuerinnen in Deutschland zu spüren bekommen.

Die Kräftekonstellation, die Putin einst seinen Aufstieg erlaubte, besteht nicht mehr in derselben Form. Die Arbeiter:innenklasse hat ihre Kampfkraft verloren und die Bourgeoisie ist nicht mehr der kopf-und konzeptlose Haufen der 1990er Jahre, sondern hat ihre Herrschaft konsolidiert – nicht durch mehr oder weniger offenes Auskämpfen der Interessen der verschiedenen Fraktionen der Kapitalist:innen (was eine wesentlich Funktion der bürgerlichen Demokratie ist) , sondern durch die ordnende Hand des Staates, personifiziert durch Bonaparte Putin.

In den letzten Jahren konnte dieser immer weniger für das „ganze Volk“ handeln, weil er immer deutlicher für die Bourgeoisie steht. Je mehr Opfer er von der arbeitenden Bevölkerung fordert, Privatisierung und Verschlechterung von Bildung, Gesundheit, Renten usw. durchsetzte, umso  deutlicher muss seine Popularität jetzt inszeniert werden. Denn Bonapartismus erfordert Populismus, auch wenn Putin mit Privilegien für Kriegsveteran:innen und hohen Soldzahlungen an Kämpfer:innen sowie Steuererhöhungen für Reiche im Krieg auch wieder seine „soziale“ Seite aufpoliert. Natürlich aber erlaubt vor allem der zunehmende kalte und heiße Krieg eine zusätzliche Neubegründung der „Einheit der Nation“. Aber das ist ein riskantes Spiel: Verlorene Kriege sind wohl das Allerunpopulärste für jede Regierung.

Die Wahl

Von daher sollten die Wahlen in Russland ein riesiges Plebiszit abliefern. Putin trat bei der Wahl an als „unabhängiger“ Kandidat, nicht für seine Partei „Einiges Russland“. Er sammelte, (besser ließ sammeln) deshalb auch Unterstützer:innenunterschriften, was er als Kandidat seiner Partei nicht hätte zu tun brauchen. Aber auch ein Plebiszit sieht besser aus, wenn es Gegenkandidat:innen gibt, sofern garantiert ist, dass sie chancenlos sind. Die Gefährlichen werden nicht zugelassen, wie Nadeschdin oder beseitigt wie Nawalny. Insgesamt hatten 11 weitere Personen angekündigt zu kandidieren, zogen dann „freiwillig“ ihre Bewerbung teilweise selbst aber wieder zurück. Zugelassen wurden der „liberale“ Wladislaw Dawankow, Nikolai Charitonow für die KPRF und Leonid Sluzki für die rechtsnationalistische LDPR. LDPR und KPRF sind die Parteien, die seit Jahrzehnten verlässlich die Politik des Kreml unterstützen, vor allem seine Außen-und Kriegspolitik, aber auch seine Repression im Inneren.

Die KPRF geht dabei soweit, einerseits bekannte linke Personen auf ihren Listen kandidieren zu lassen wie die Dumaabgeordnete Udalzowa, dann aber nicht den kleinsten Protest zu erheben, wenn deren Mann Sergei Udalzow, wie vor kurzem geschehen, verhaftet wird. Kein Wort der Solidarität mit dem verurteilten Boris Kargalizki, der früher oft auch bei KPRF-Veranstaltungen als Redner geladen war, sondern die Rechtfertiung seiner Verhaftung damit, dass er ja „Trotzkist“ sei und vom Ausland finanziert werde (er hatte Honorare für Artikel in linken Zeitungen erhalten).

Dritter „Gegenkandidat“ für Putin war der ziemlich neu aufgetauchte Wladislaw Dawankow, der die Rolle des „Liberalen“ verkörpern sollte, mit der ebenfalls ziemlich sichtbar „von oben“ gegründeten Partei „Neue Leute“ (auch: „Neue Menschen“). Sie alle konnten und sollten nur dazu dienen, die Verhinderung gefährlicher Gegenkandidat:innen zu kaschieren und Putins Sieg zu dekorieren.

Das Ergebnis

  • Wladimir Putin (Parteilos): 88,5 %;

  • Nikolai Charitonow (KPRF): 4,4 %;

  • Wladislaw Dawankow (Neue Leute): 3,9 %;

  • Leonid Sluzki (LDPR): 3,2 %.

Über die Vorauswahl der Kandidat:innen durch die Zentrale Wahlkommission hinaus gibt es noch andere Gestaltungsmöglichkeiten. Wohl spezifisch für die Russische Föderation ist die Mobilisierung durch die staatliche Bürokratie: Staatliche Angestellte werden von ihren Vorgesetzten aufgefordert zu wählen, gegebenenfalls gemeinsam. Diese Vorgesetzten werden ihrerseits für eine hohe Wahlbeteiligung und die Zahl der Putinstimmen verantwortlich gemacht – vergleichbar vielleicht mit dem früher z. B. in Bayern geübten Brauch, nach dem Gottesdienst mit entsprechender priesterlicher Empfehlung gemeinsam zur Wahl der CSU zu gehen.

Das interessanteste Ergebnis bleibt unter diesen Wahlbedingungen noch die Anzahl der ungültigen Stimmen. Das Wahlgesetz der Russischen Föderation ignoriert Bemerkungen, Beleidigungen oder die Nennung anderer Namen. Ungültig ist eine Stimmeabgabe genau dann, wenn mehr als 1 Kästchen angekreuzt ist. Und genau das haben 1,37 Millionen mehr oder weniger bewusst getan. Die Oppositionskoalition „Sprawedliwyj mir“ (deutsch: „Mach die Welt“) hatte auch dazu aufgerufen.

Westliche Demokratie

Als revolutionäre Kommunist:innen kritisieren wir die Wahlen und das dahintersteckende bonapartistische System, weil nach unserer Analyse klar ist, worauf Putins Autokratie politisch beruht und wie er sie institutionell absichert.

Das hat nichts mit der Polemik der westlichen demokatischen Demagog:innen zu tun, deren Ziel es ist, für ihren kalten Krieg gegen Russland, dessen Upgrade zu einem heißen sie derzeit  erwägen, eine ideologische Rechtfertigung zu suchen: Demokratie versus Diktatur; freie Wahlen gegen Scheinwahlen. Diese Demagogie dient – entsprechend der Putins – auch in erster Linie dazu, die eigene Bevölkerung und vielleicht noch die jeweiligen Verbündeten bei der Stange zu halten.

Bei objektiver Betrachtung des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlsystems ist klar, dass dieses auch nur einen Schein von Demokratie trägt: ein Wahlsystem, das die Selbstregistrierung der Wähler:innen erfordert, eine willkürliche Streichung aus dem Register durch lokale Wahlkommissionen erlaubt und so schon 20 – 30 % der Wahlberechtigten – vor allem aus den sozialen Unterschichten und Unterdrückten – ausschließt; ein Wahlsystem, das den Einsatz von hunderten Millionen US-Dollar für eine Kandidatur erfordert und so die Kandidat:innen auf Personen beschränkt, die mindestens einen bedeutenden Teil der Kapitalist:innen hinter sich haben; ein Wahlmodus, bei dem man mit einer geringeren Stimmenzahl als die Konkurrenz gewinnen kann – all dies drückt mitnichten den Willen der Mehrheit aus (ein bisschen Fälschung an entscheidenden Punkten ist auch noch drin.) Der amerikanische Präsident legitimiert sich durch eine Konkurrenz, die zwar eine reale unter Fraktionen des Großkapitals darstellt, aber gegenüber dem Wahlvolk als Inszenierung von „Werten“ und „Lifestyle“ abläuft, gerade auch weil dieser Präsident immer ein Kandidat des Großkapitals – also einer winzigen Minderheit der Bevölkerung – ist.

Die Art und Weise, wie die Wahlen in der Russischen Föderation abgehalten wurden, und der Charakter des Putin’schen Bonapartismus zeigen einerseits auf, dass er noch den Staatsapparat so beherrscht, dass Wahlen nicht das Mittel sein werden, durch das sich dieses System verändern kann. Anderserseits belegt die notwendige Inszenierung der Popularität Putins, dass dieser Bonapartismus ausgehöhlt ist, wenn er sich auf eine solche offensichtliche Farce einlassen muss. Das Potential für eine Opposition von links, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützen könnte, ist aus diesen Wahlen schwer zu ersehen. Ein kleiner Hinweis steckt zum einen in Teilen der 4,4 %  für den Kandiaten der KPRF, vor allem aber in den 1,37 Millionen ungültigen Stimmen. Eine Ablehnung des Krieges könnte auch bei einem Teil der 3,8 % Stimmen für Dawankow eine Rolle spielen.

Auch wenn wir über die Größe dieser Potentiale nur spekulieren können, sie sind definitiv größer als das, was eine Antikriegsbewegung derzeit auf die Straße bringen kann, die sowieso härteste Repression erleidet, und mehr als das, was linke Gruppen derzeit organisieren können. Aber politische Aktivist:innen können und müssen sich heute darauf vorbereiten, dass das System spätestens dann zusammenbricht, wenn der Bonaparte (aus)fällt. Selbst ein/e designierte/r Nachfolger:in wäre eben nie durch den tatsächlichen oder vermeintlichen „Willen des Volkes“ an die Macht gekommen, sondern müsste sich noch stärker vor allem auf staatliche Repression stützen. Die Situation könnte dann schnell krisenhafte Entwicklungen annehmen und ein offeneres Auftreten der Arbeiter:innenklasse, der national, rassistisch oder sexistisch Unterdrückten, der Linken und der Kriegsgegner:innen erlauben. Aber auch rechte, nationalistische bis hin zu faschistischen Kräften werden das Feld betreten.

Aufgaben für die Linke

Natürlich darf die Repression nicht einfach hingenommen und ihre Opfer müssen verteidigt werden. Momentan werden wieder besonders Frauen- und LGBTIA-Strukturen angegriffen, darüber hinaus jede sexuelle Äußerung jenseits der Heteronorm. Rassismus gegen Muslim:innen sowie gegen alle Arbeitsmigrant:innen nimmt zu.

Natürlich gibt es weiterhin Widerstand von unten, der unterstützt und ausgeweitet werden muss, ob es sich um gewerkschaftlichen Aktivitäten handelt oder Antikriegsproteste, wie z. B. in der Bewegung der „Frauen der Mobilisierten“.

Aber die wichtigste Aufgabe der organisierten Linken der Russischen Föderation besteht derzeit darin, ein marxistisches Verständnis für die Verhältnisse zu entwickeln und darauf aufbauend eine Programmatik, die revolutionäre Antworten auf die bestehenden und kommenden Konflikte liefert.

Sowohl Emigrant:innen wie auch die internationale Linke können dabei helfen. Je mehr die politischen und militärischen Spannungen zwischen Russland, China und den anderen Imperialist:innen zunehmen, desto wichtiger werden solche Verbindungen zum politischen Austausch und praktischen Handeln.




Frühlingsbeginn in Jordanien?

Jona Everdeen, Infomail 1250, 6. April 2024

Die meisten von uns freuen sich vermutlich gerade sehr, dass der Frühling wieder kommt und Sonnenschein und wärmere Temperaturen mit sich bringt. Doch kann es sein, dass die Freude bald noch viel größer ausfällt, wenn auch der Arabische Frühling zurückkehrt und revolutionäre Erhebungen und internationale Solidarität mit sich bringt? Die Massenproteste, die gerade in Jordanien gegen die de facto Unterstützung Israels durch die Haschimitenmonarchie stattfinden, könnten zumindest zum Auslöser eines solches Prozesses werden.

Die Lage in Jordanien

Während die Lage im Land zwischen Jordan und Mittelmeer, in Palästina, noch immer in vielen Medien Thema ist und sich auch in den westlichen Metropolen zahlreiche Menschen mit den Palästinenser:innen solidarisieren, die noch immer unter Israels genozidalem Krieg leiden, erfährt man kaum etwas über das Land östlich des Jordans. Dabei könnten die aktuellen Ereignisse in Jordanien für die Lage in Palästina und der ganzen Region eine große Bedeutung gewinnen.

Seit etwas mehr als einer Woche demonstrieren in unmittelbarer Nähe zur israelischen Botschaft, einer von wenigen überhaupt in einem arabischen Land, täglich zigtausende Jordanier:innen in Amman, der Hauptstadt des Landes. Ihre Forderungen: die Schließung der Botschaft und das Ende der Kooperation der herrschenden Regierung um den Haschimitenkönig Abdullah II. bin al-Hussein mit Israel. Konkret fordern sie auch die Aufhebung des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien, der 1994 geschlossen wurde und die Beziehungen normalisierte.

Diese Proteste sind nicht die ersten im von König Abdullah II. bonapartistisch regierten Jordanien, so war dieses bereits ein Nebenschauplatz des (ersten) Arabischen Frühlings. Massive Proteste zwangen den König, einige Reformen zuzugestehen, was damals die Lage beruhigen konnte. Im vergangenen Jahr gab es jedoch erneut große Proteste in Jordanien, die sich, wie bereits die des Arabischen Frühlings, gegen die Folgen der Krise richteten, die die Jordanier:innen hart trafen.

Wie in fast allen arabischen Ländern gab es auch hier in den ersten Wochen des Krieges riesige Solidaritätsdemonstrationen mit den Menschen in Gaza. Allerdings litten auch diese unter demselben Problem wie in anderen Ländern, indem sie sich zu großen Teilen nicht gegen die eigenen Regierungen richteten, die, mal mehr, mal weniger versteckt, mit Israel und dessen Verbündeten kooperieren.

Heute sieht das anders aus. Doch nicht nur richten sich die Demonstrationen jetzt in Amman gegen die Politik der Regierung, auch scheinen sie gut organisiert zu sein. So bilden gezielt Ärzt:innen und Anwält:innen die ersten Reihen in der Hoffnung, die Demos so vor Gewalt durch Repressionskräfte zu schützen. Diese antworten nämlich mit Härte. In den letzten Tagen kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Demonstrierenden. Doch gelang es auch immer wieder, die Polizei zurückzudrängen. Auch sieht es nicht so aus, als würden sich die Proteste schnell beruhigen, sondern eher, als hätte die Bewegung gerade erst begonnen. Doch wer sind überhaupt die Haschimiten, die in Jordanien die Politik bestimmen? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Israel und der Besetzung und Unterdrückung Palästinas?

Die Haschimiten, Palästina und Israel

Jordanien und Palästina teilen sich nicht nur einen Fluss, sondern auch eine lange, gemeinsame Geschichte. Die Haschimiten spielten in dieser jedoch nie eine rühmliche Rolle. So erlangten sie die Macht über das Gebiet Transjordanien, nachdem sie eine zentrale Rolle in der arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich gespielt hatten, welche Britannien nutzen konnte, um die mit Deutschland verbündete Regionalmacht im Ersten Weltkrieg zu besiegen. Anders jedoch als versprochen, wurde das „befreite“ arabische Gebiet nicht unabhängig, sondern in ein französisches und ein britisches Mandatsgebiet aufgeteilt, letztendlich nur ein anderes Wort für Kolonie. So wurde auch Jordanien nicht unabhängig, sondern lediglich zu einem Emirat der Haschimiten, die die Oberhoheit Britanniens anerkannten. Nach der Unabhängigkeit 1946 als Königreich intervenierte Jordanien zwar in den Krieg gegen das neu gegründete Israel, das gerade die Nakba begonnen hatte, allerdings eher aus Machtinteresse denn aus internationaler Solidarität. So verleibten sich die Haschimiten nach dem Krieg, unter Verurteilung anderer arabischer Staaten, die Westbank als eigenes Territorium ein. Im Angriffskrieg Israels gegen seine Nachbarn (Sechstagekrieg) im Jahr 1967 verlor Jordanien zwar die Westbank, seine verräterische Rolle jedoch nicht. In das Land waren nach Beginn der Nakba und im Zuge des Sechstagekriegs hunderttausende Palästinenser:innen geflohen, die einen signifikanten Teil der Bevölkerung stellten. So wurde Jordanien zum Schwerpunkt der PLO, die von hier aus den palästinensischen Befreiungskampf zu organisieren versuchte. Der Haschimitenkönig Hussein I. sah in der nationalistischen PLO eine Gefahr für seine Macht und führte einen brutalen Bürgerkrieg gegen die Palästinenser:innen (Schwarzer September 1970). 1994 dann unterzeichnete Jordanien mit Israel einen Friedensvertrag, der die Beziehungen der beiden Länder normalisierte und die israelische Herrschaft über Palästina anerkannte. Jordanien wurde zum engsten Verbündeten Israels in der Region. Das Haschimitenkönigshaus pflegt ebenfalls enge Beziehungen mit den USA. So unterhält der US- Imperialismus wichtige Militärbasen in Jordanien, die für seine Kontrolle über den Nahen Osten zentral sind.

Doch während das bonapartistische Haschimitenregime, aus Gründen seines Machterhalts, mit den Feind:innen der arabischen Völker klüngelt, sind die jordanischen Menschen mit Palästina solidarisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil so viele wie in keinem anderen Land selber ihre Wurzeln in Palästina haben, ihre Großeltern während der Nakba vertrieben wurden und ihre Familienangehörigen heute in Gaza bombardiert oder in der Westbank von Siedler:innen angegriffen werden.

Die Haschimiten haben bisher alles getan zu verhindern, dass die Menschen östlich des Jordans ihre Geschwister westlich des Flusses in ihrem Befreiungskampf unterstützen, haben sich aktiv mit deren Unterdrücker:innen zusammengetan, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Jetzt ist es an der Zeit, die Macht dieses korrupten Clans endlich zu brechen!

Nur der Frühling kann den Winter beenden

Wenn die Proteste in Jordanien siegen, die mit westlichem Imperialismus und Zionismus kooperierende Bourgeoisie absetzen wollen, muss die Bewegung Organisationen der Gegenmacht aufbauen, sich anders als die Massenproteste des Arabischen Frühlings in den Betrieben und Stadtteilen, an den Schulen, Universitäten organisieren. Die in Jordanien durchaus relevante Gewerkschaftsbewegung kann hier die entscheidende Rolle spielen, denn nur eine massive Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, einen dauerhaften Sieg des Volkes gegen seine Unterdrücker:innen zu erringen! Dabei könnte diese Bewegung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: endlich zu einer Politik der internationalen Solidarität und Unterstützung der Palästinenser:innen aus Jordanien führen und auch die Folgen der kapitalistischen Krise für die Bevölkerung reduzieren und deren Lebensbedingungen mittels einer gezielten Planung der wirtschaftlichen Produktion verbessern. Dabei spielen die Gewerkschaften zwar ein wichtige Rolle, aber im Kampf ist es vor allem Zentral, eine politische Kraft, eine Revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen, die den Kampf gegen die Dynastie mit dem Kampf für eine sozialistische Revolution verbindet.

Doch kann dies nicht isoliert geschehen, eine kleine jordanische Arbeiter:innenrepublik wäre kaum lebensfähig, sondern nur als Teil einer erneuten revolutionären Massenbewegung im Nahen Osten und darüber hinaus – letztlich in einer Föderation sozialistischer Staaten des Nahen Ostens.

Während Jordanien vielleicht das extremste Beispiel für Kooperation eines arabischen Landes mit Israel verkörpert, ist es nicht das einzige. Auch Ägypten hat seine Beziehungen mit Israel im späten 20. Jahrhundert normalisiert und trägt die Unterdrückung der Palästinenser:innen faktisch mit. Doch auch Regierungen, die Solidarität mit Palästina vorgeben, tun dies in der Regel nur, um ihre Bevölkerung ruhigzustellen. Von praktischer Solidarität sieht man wenig. De facto haben sich alle Staaten des Nahen Ostens mit der Existenz des israelischen Staates in seiner derzeitigen Form abgefunden, das heißt mit Apartheid und Besatzung, und akzeptieren auch den genozidalen Krieg in Gaza größtenteils, bei lediglich symbolischer Verurteilung. Schließlich will man es sich ja auch nicht mit Israels westlichen Verbündeten verderben. Denn die bonapartistischen Regierungen der Region sind vom Wohlvollen imperialistischer Mächte abhängig, deren Vormachtstellung sie stützen, und von denen sie, im Gegenzug für die Durchsetzung der Ausbeutung der eigenen proletarischen Massen und die Plünderung ihrer Ressourcen durch internationale Konzerne, eine Teil der Beute erhalten.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!

Diese Unterdrückung beenden können die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika sowie in jeder Region der Welt nur, indem sie ihre eigenen Regierungen stürzen und Regierungen der Arbeiter:innen und Kleinbäuer:innen errichten, die in Räten die Kontrolle über Politik und Wirtschaft übernehmen. Um gegen Imperialismus und von diesem unterstützte Konterrevolution gewappnet zu sein, müssen sich diese zu einer sozialistischen Förderation zusammenschließen und gemeinsame Wirtschaftsplanung und Verteidigung in Form von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmilizen etablieren. So kann ein zweiter Arabischer Frühling die Macht des Imperialismus in der Region brechen und zur Inspiration für Unterdrückte auf der ganzen Welt werden. Die derzeitigen Massenproteste in Jordanien haben zumindest das Potential, eine solche Dynamik anzustoßen.




Kommunalwahlen  in der Türkei – Erdoğan wird abgestraft

Dilara Lorin, Infomail 1250, 5. April 2024

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Portugal: Rechtsruck bei Wahlen

Dara O’Cogaidhin, Infomail 1250, 4. April 2024

Die nicht eindeutigen Ergebnisse der portugiesischen Parlamentswahlen vom 10. März führten zu einem knappen Sieg der Mitte-Rechts-Koalition Demokratische Allianz (AD) über die Mitte-Links-Partei Sozialistische Partei (PS). Zum ersten Mal seit 40 Jahren erreichte der prozentuale Stimmenanteil des so genannten „centrão“ einen Tiefstand von 60 %. Da es keinen eindeutigen Sieger gab, war die rechtsextreme Chega („Genug“) die eigentliche Nutznießerin der Wahl, denn sie vervierfachte ihre Sitze von 12 Sitzen im 230 Sitze zählenden Parlament im Jahr 2022 auf heute 48. Sie ist nun die drittstärkste Partei im Parlament und hält faktisch das Gleichgewicht der Macht.

Der AD-Vorsitzende Luis Montenegro sagte, er werde an seinem Wahlversprechen festhalten, keine Regierungskoalition mit Chega zu bilden, obwohl deren Chef André Ventura erklärte, er sei bereit, einige seiner umstritteneren Maßnahmen wie die chemische Kastration von Sexualstraftätern und die Einführung lebenslanger Haftstrafen fallen zu lassen, wenn dies die Einbeziehung in ein mögliches Regierungsbündnis ermögliche. Die Aussicht auf eine große Koalition zwischen der AD und der PS wurde ausgeschlossen, obwohl die PS angedeutet hat, dass sie die Bildung einer Minderheitsregierung der AD ermöglichen würde, indem sie sich bei wichtigen Abstimmungen im Parlament der Stimme enthält, um Chega in Schach zu halten.

Bedeutende Gewinne für Chega

Das Ergebnis unterstreicht den politischen Rechtsruck in ganz Europa. Portugal, das erst nach der Nelkenrevolution vor 50 Jahren zur Demokratie zurückkehrte, galt als immun gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem gesamten Kontinent. Die Chega, die vor fünf Jahren gegründet wurde, trat mit einem Antiestablishmentprogramm an und versprach, mit der Korruption aufzuräumen. Ihre Kampagne enthielt auch einwanderungsfeindliche und Anti-LGBTQ+-Rhetorik, wobei Ventura eine Wehmut für die als Estado Novo bekannte Diktatur und deren Verteidigung traditioneller katholischer Werte zum Ausdruck brachte. Ventura ist ein ehemaliger Priesteranwärter, der sich als Fußballkommentator im Fernsehen einen Namen gemacht hat.

Die Korruption wird von vielen als typisch für die beiden großen Parteien in Westeuropas ärmstem Land angesehen. Die Chega, deren wichtigster Wahlkampfslogan „Portugal säubern“ lautete, konnte aus einer öffentlichkeitswirksamen Korruptionsuntersuchung im Zusammenhang mit staatlich beauftragten Energieprojekten Kapital schlagen, die im vergangenen Jahr zum Rücktritt des PS-Ministerpräsidenten Antonio führte.

Trotz eines Haushaltsüberschusses und jährlicher Wachstumsraten von über 2 % hat die PS-Regierung eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter:innen zugelassen. Aufgrund der hohen Mietpreise herrscht eine Wohnungskrise, und Lissabon ist eine der teuersten Städte Europas, was die Miete angeht. Der durchschnittliche Monatslohn vor Steuern liegt bei etwa 1.500 Euro, was kaum ausreicht, um eine Einzimmerwohnung in der Hauptstadt zu mieten. Die PS-Regierung sah sich im vergangenen Jahr auch mit einer Streikwelle für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Rückschläge für die Linke

Neben der PS waren die größten Verlierer:innen der Wahlnacht der Linksblock (Bloco Ezquierda, BE) und die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP). Der BE konnte die 5 Parlamentssitze, die er 2022 gewonnen hatte, halten, vermochte jedoch nicht von der Desillusionierung der Arbeiter:innenklasse in die PS zu profitieren und erhielt den schlechtesten Stimmenanteil seit 20 Jahren. Im Jahr 2015 gewann der BE 18 Parlamentssitze und unterstützte zusammen mit der PCP, die 17 Sitze gewann, eine Minderheitsregierung der PS in einem Pakt, der als geringonça („improvisierte Lösung“) bekannt wurde.

Die Unterstützung der PS-Regierung war sowohl für den BE als auch für die PCP eine Katastrophe. Statt  sich von den Intrigen der Regierung, die ihre Aktivist:innenkapazitäten absorbierten, zu befreien, weigerten sich sowohl der BE als auch die PCP, eine Führungsrolle zu übernehmen und die Kämpfe zu verallgemeinern, als es im Herbst 2021 zu einer Streikwelle kam. Sie unterstützten auch weiterhin die Regierung, als diese das Militär mobilisierte, um einen landesweiten LKW-Fahrer:innenstreik im Jahr 2019 zu brechen.

Indem sie einer wirtschaftsfreundlichen PS-Regierung eine linke Deckung boten, schufen sie den Raum für Chega, sich als „antisystemische“ Protestpartei zu präsentieren. Anstatt die PS für die akute Lebenshaltungskostenkrise verantwortlich zu machen, kritisierte die BE-Vorsitzende Mariana Mortágua stattdessen deren absolute Mehrheit und forderte die Parteien der Linken (einschließlich der PS) auf, vor den Wahlen im März „eine Mehrheitsvereinbarung für ein linkes Regierungsprogramm auszuhandeln“. Anstatt eine sozialistische Alternative zu präsentieren, nährte der BE die Illusion, dass eine fortschrittliche Linksregierung durch die PS möglich sei.

Der BE hat auch eine neuen politische Konkurrentin namens LIVRE („Frei“), eine Pro-EU-Partei mit grün-linker Ausrichtung. Ihr Vorsitzender Rui Tavares spaltete sich 2014 vom BE ab. Sie hat ihre Vertretung im Parlament von einem Sitz im Jahr 2022 auf heute vier Sitze erhöht. Anders als der BE und die PCP war sie nicht damit belastet, eine PS-Regierung zu stützen, und profitierte am meisten vom Zusammenbruch deren absoluter Mehrheit. LIVRE gewann auch ihre Sitze in den traditionellen Bastionen des BE, darunter Lissabon und Setúbal.

Der langsame Niedergang der PCP bei den Wahlen setzt sich fort. Die Zahl ihrer Sitze ging von 6 auf 4 zurück, was zum Teil auf die Überalterung ihrer Wähler:innenschaft zurückzuführen ist, die tief in den Kämpfen gegen die Diktatur verwurzelt ist. Ihr 76-jähriger langjähriger Vorsitzender, Jerónimo de Sousa, wurde wiederholt kritisiert, weil er sich weigerte, die imperialistische Invasion Russlands in der Ukraine zu verurteilen. Die PCP behält immer noch die Kontrolle über den größten portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP, der im vergangenen Jahr Teilstreiks organisierte, um gegen Sparmaßnahmen und die steigende Inflation zu protestieren, es aber versäumte, einen Generalstreik als nächsten Schritt in einem nachhaltigen Aktionsplan gegen die PS-Regierung zu organisieren.

Instabile Regierung: Widerstand aufbauen!

Im vergangenen Jahr kam es zu einer Eskalation des Klassenkampfes gegen die PS-Regierung. Das Fehlen einer koordinierten industriellen Offensive bedeutete jedoch, dass die PS-Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit die Schläge auffangen konnte. Niedrige Löhne und hohe Lebenshaltungskosten, die im letzten Jahr durch einen Anstieg der Inflation und der Zinssätze noch verschlimmert wurden, bedeuten, dass eine konservative Minderheitsregierung der AD von Anfang an verwundbar sein wird. Sie muss nicht nur mit anderen Parteien verhandeln, um Gesetze von Fall zu Fall zu verabschieden, sondern es ist auch mit Neuwahlen zu rechnen, wenn die AD ihren Haushalt für 2025 nicht verabschieden kann.

Die Demonstrationen zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution sollten die Gelegenheit bieten, in jedem Betrieb Arbeiter:innenversammlungen zu organisieren, um den Kampf zu planen, die verschiedenen Sektoren zu vereinen und die rechte AD-Regierung zu stürzen. Auf der Grundlage ihrer reichen revolutionären Traditionen müssen die Arbeiter:innen und Jugendlichen eine kämpferische Partei aufbauen, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist, um dem neoliberalen Angriff der AD zu widerstehen, bevor sie in der Lage sind, die Aufgaben zu erfüllen, die von der Revolution von 1974 – 1975 übrig geblieben sind.