Nein zur Berliner GroKo! Gemeinsamen Widerstand organisieren!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 272, April 2023

Nach einer Panne mit Wahlwiederholung inmitten der Zeitenwende ist das politische Berlin erschüttert. Das erste Mal in über 20 Jahren ist die CDU die stärkste Kraft. Alle Parteien der rot-grün-roten Koalition haben an Stimmen verloren. Und nun? Nach Sondierungen zwischen CDU-Grünen, CDU-SPD und SPD-Grünen-Linken hat die SPD die Bombe platzen lassen. Ihr Berliner Parteivorstand ist gegen eine Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition. Die Partei befindet sich zurzeit in Unterredungen für eine Berliner Große Koalition. Auch wenn es sich mit den Grünen und der CDU in allen Varianten um Koalitionen mit offen bürgerlichen Parteien handelt und wir sowohl eine GroKo als auch RGR ablehnen, so handelt es sich nicht um gleiche Qualitäten von Angriffen auf soziale Errungenschaften in der Bundeshauptstadt.

Eine CDU-geführte Regierung bedeutet den finalen Todesstoß für den Enteignungsvolksentscheid in seiner aktuellen Form, führt zu einer „Mobilitätswende“, die auf Autos setzt, einer Ausweitung des Polizeiapparates, mehr rassistischen Polizeikontrollen, einer offeneren Zusammenarbeit mit dem Kapital und vielem mehr.

Konturen eines drohenden Regierungsprogramms

Mit dem Sondierungspapier beider Parteien wird erkennbar, was uns erwarten könnte. Franziska Giffey hatte alle Brücken für die Wiederaufnahme der RGR-Koalition damit eingerissen. Sie sagte gegenüber der Presse, die Grüne wollen nur ihre eigenen Themen durchsetzen und DIE LINKE sei zu zerstritten. Auch wenn es in Teilen nur Schlagworte sind, wollen wir hier eine erste Skizze der drohenden GroKo aufzeichnen.

Wohnen: Dass auf dem Mietenmarkt seit Jahren soziale Verdrängung stattfindet, ist bekannt. In den letzten fünf Jahren ist der Neuvermietungspreis um 48,2 % gestiegen – im letzten Quartal 2022 allein auf durchschnittlich 15,95 Euro pro Quadratmeter nettokalt. Unter den Großstädten ist nur noch München teurer. Die Mär der niedrigen Ausgangspreise ist also schon lange erzählt. Nur die Löhne sind weiterhin geringer als in vielen anderen Großstädten (etwa 10.000 Euro weniger verfügbares durchschnittliches Einkommen pro Jahr im Vergleich zu München). Trotzdem lautet der Lösungsansatz der drohenden GroKo Entlastung durch (v. a.) privaten Neubau. Das Ziel sind 20.000 Wohnungen pro Jahr (Leerstand etwa 0,9 %). Der Perspektive der Enteignung und Verstaatlichung großer privater Immobilienkonzerne wird ein erneuter Riegel vorgeschoben. Sollte (!) die sogenannte Expert:innenkommission zum Volksentscheid von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ ein positives Votum abgeben, soll ein Vergesellschaftungsrahmengesetz diskutiert werden. Ein solcher Rahmen war bereits seit Tag eins die legale Basis des Volksentscheids und nennt sich Grundgesetz.

Verkehr: Nicht erst seit den Aktionen der Letzten Generation bildet Verkehr in Berlin ein Streitthema. Die Grünen haben mit ihren sogenannten Popup-Radwegen eine Reihe von Straßen in der Stadt entschleunigt. Bei weitem decken diese nicht den Bedarf ab, stellen jedoch – neben der A100 – das bedeutendste Symbol der „Verkehrswende“. Jedoch fällt das Wort „Fahrradverkehr“ mit keinem Wort im Papier. Aber die Stadtautobahn soll vom Treptower Park bis zur Storkower Straße weitergebaut werden. Für 13 Berliner Clubs und zehntausende Berliner Mieter:innen bedeutet das das Ende.

Klima: Dieser Punkt schließt hier nahtlos an. Angesichts des Volksentscheids für ein klimaneutrales Berlin 2030 (26. März) sind hier mehr als warme Worte gefragt. So soll ein 5-Milliarden-Euro-Sondervermögen für den Klimaschutz aufgesetzt werden. Die Hälfte davon soll durch die Streichung der Coronarücklagen (2,6 Mrd. Euro) beglichen werden. Damit abgedeckt werden sollen Gebäudesanierungen, Mobilität und Energiegewinnung. Es ist unklar, inwiefern der Kauf von 51 % der Unternehmensanteile der GASAG davon beglichen werden soll. Die GASAG AG ist der größte lokale Energieversorger, ein Tochterunternehmen von Vattenfall und soll auf Initiative des Mutterkonzerns rekommunalisiert werden – zu überhöhten Preisen.

Innenpolitik und Migration: Einig ist man sich außerdem, dass ein Einbürgerungszentrum eingerichtet werden soll, dass das Antidiskriminierungsgesetz und der Mindestlohn nicht angetastet werden, dass die Polizei sogenannte Bodycams bekommt und dass Videoüberwachung in Modellprojekten getestet werden soll.

Die innere Sicherheit müsse man „ganzheitlich vom Senat aus angehen“, meint Marcel Kuhlmey von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und zuvor 25 Jahre bei der Polizei tätig. Er rechnet damit, dass der neue Senat Tasern und Bodycams gegenüber aufgeschlossen ist.

Law and Order ist also angesagt bei Aufstockung und weiteren Befugnissen der Repressionskräfte und zügiger Abwicklung von Asylanträgen, Einbürgerung und Abschiebung. Migrant:innen und Linke stehen vor schweren Zeiten. Diese Reaktion auf die Silvesterkrawalle war zu erwarten, schlug doch schon bei der Wiederholungswahl das Pendel zugunsten der CDU aus.

Weiteres: Bis 2026 soll es eine Verwaltungsreform geben. Die Polizei und Rettungsdienste sollen personell und materiell aufgestockt werden. Dabei sollen „Sicherheit und Sauberkeit“ zusammen gedacht werden – was wirklich nicht gesund klingt. Doch trotzdem hat die SPD Kleinigkeiten als Gewinne darzustellen. Das 29-Euro-Ticket (Tarifbereich AB) bleibt erhalten. Die CDU wollte noch den Berliner Mindestlohn und das Antidiskriminierungsgesetz abschaffen. Und auch in diesem Koalitionsvertrag steht erneut (!), dass die Tochterunternehmen der Berliner Krankenhäuser wieder eingegliedert werden sollen.

Koalitionsverhandlungen und Widerstand

Bis Anfang April soll ein Koalitionsvertrag vorgelegt werden. In 13 Fachgruppen wird verhandelt. Und diese haben es in sich, denn Lobbyist:innen sind hier fast überall dabei. Nachdem bekannt wurde, dass Tanja Böhm, die Leiterin von Microsoft Berlin, aus der Fachgruppe zur Digitalisierung ausgestiegen ist, wurde die Büchse der Pandora geöffnet. So ist beispielsweise in der Gruppe zu Gesundheit und Pflege Delia Strunz, ihres Zeichens Cheflobbyistin vom Pharmariesen Johnson & Johnson (Coronaimpfstoff). Daneben sitzt der Vorstand der Barmer Krankenkasse im Gremium. In der Verkehrs-AG sitzt der Bevollmächtigte für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern der DB-AG, Alexander Kaczmarek, ein Anhänger der S-Bahnzerschlagung.

Doch hiergegen regt sich Widerstand. Am Samstag, dem 18. März, fand eine Demonstration unter dem Titel „Rückschrittskoalition stoppen“ statt. Laut Veranstalter:innen nahmen etwa 2000 Menschen teil. Das Bündnis hatte sich in Reaktion auf die Sondierungsergebnisse gegründet und umfasst neben Einzelpersonen stadtpolitische, klimapolitische, antirassistische und migrantische Organisationen sowie die Jugendorganisationen von LINKEN und Grünen. Auch die Berliner Jusos haben sich gegen eine Beteiligung an Schwarz-Rot ausgesprochen und organisieren eine NoGroKo-Kampagne.

Die Aktionen richten sich vor allem an die 19.000 Berliner SPD-Mitglieder. Diese sollen Anfang April per Briefwahl über die Senatsbeteiligung abstimmen können – etwa 25 % davon sind Teil der Jusos, also unter 35 Jahren. Eine Auszählung der Stimmen wird am 23. April stattfinden. Bis 20. März hatten bereits drei der zwölf Kreisverbände sich gegen eine Beteiligung an der Koalition ausgesprochen (Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf (!)). Im Parteivorstand sprachen sich 25 Personen für und 12 gegen Koalitionsverhandlungen mit der Union aus. Sollte die Parteimehrheit für Beteiligung stimmen, so könnte Kai Wegner am 27. April Berlins Regierender Bürgermeister werden. Die CDU will über die Frage der Koalition auf einem Landesparteitag entscheiden.

GroKo bekämpfen, aber wie?

Es ist ein Fortschritt, dass sich Widerstand formiert. Aber auch 2017 gab es den in der SPD gegen die Regierungsbeteiligung (auf Bundesebene). Auch beim Volksentscheid von DWE waren es die Jusos Pankow, die für eine Enteignung ab 20 Wohnungen eintraten! Doch weiterhin sind sie die Parteijugend der Sozialdemokratie. Der Kampf muss auch außerhalb der Urabstimmung geführt werden. Andererseits hat der Protest einen faden Beigeschmack, denn bereits Rot-Grün-Rot hat die Polizei ausgebaut, die Bahn zerschlagen, runde Tische mit der Immobilienlobby initiiert, Obdachlosencamps geräumt, abgeschoben, Demonstrationen zusammenknüppeln lassen und so vieles mehr. Rot-Grün-Rot hat sich als unfähig erwiesen, die sozialen Probleme der Berliner:innen zu lösen. Und schlussendlich schafft der Widerstand in der LINKEN eine gemeinsame Gegnerin, die „Giffey-SPD“, wie sie Katina Schubert nennt (LINKE-Landesvorsitzende). Jene Kräfte, die also den Kampf der Regierungsbeteiligung untergeordnet haben, sind nun verwundert, dass die SPD sich dadurch nicht nach links bewegt hat. Ein solcher falscher Frieden ist ein weiterer Fallstrick im Niedergang der LINKEN und eine Nebelkerze, die den Aufbau einer Fraktion der Linken in der LINKEN zu verhindern droht.




Klimakatastrophenbewältigung auf kapitalistisch: ein Jahr nach der Flut im Ahrtal

Joshua Kornblum, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Etwa ein Jahr ist es nun her, dass sich die Flut in der Region um Ahrweiler ereignet hat. Eine Katastrophe, die 134 Menschen das Leben gekostet hat – Menschenleben, die umsonst verlorengegangen sind. Denn die Katastrophe war, auch laut Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags, vorhersehbar und hätte verhindert werden können. Entgegen allen vorhandenen Informationen des DWD (Deutscher Wetterdienst) oder des EFAS (Europäisches Hochwasserwarnsystem) wurde erst gar nicht und dann viel zu spät gehandelt. Um die Ignoranz auf die Spitze zu treiben, sprach noch am selben Nachmittag das Landesumweltministerium eine Entwarnung aus: Es gebe „kein Extremhochwasser“. Versagt haben ebenfalls diverse Warninstrumente, welche unzureichend oder gar nicht genutzt worden sind, auch wegen fehlender Instandhaltung.

Schuld daran will keine:r sein. Es handle sich um „eine Verkettung mehrerer vor allem lokaler und regionaler Besonderheiten“ oder die Katastrophe sei schlicht „nicht vorstellbar“ gewesen, sagt die Politik. Es wird auf bürokratische Vorgänge verwiesen. Man habe mit den vorhandenen Informationen eben nichts anfangen können oder man dachte, dass die erforderlichen Maßnahmen schon von anderer Ebene eingeleitet worden seien. Der Untersuchungsausschuss vermutet, dass sich die verantwortlichen Zeug:innen zwecks unwahrheitsgemäßer Aussagen absprechen.

Umgang mit den Folgen

Im August letzten Jahres, fast einen Monat nach der Katastrophe, beschloss die Bundesregierung einige Maßnahmen mit dem Ziel, die entstandenen Schäden und Kosten zu erstatten sowie ein besseres Warnsystem zu etablieren. Versprochen wurden außerdem ausreichend finanzielle Soforthilfen für die betroffenen Einwohner:innen.

Was ist daraus nun geworden? Der Katastrophen- und Alarmplan? Fehlt, „steht noch am Anfang“, „kein Fertigstellungsdatum“. Ein gewünschter Hochwasserschutzplan für die gesamte Länge der Ahr wird nicht einmal angegangen. Die elektronischen Warnsirenen seien zwar zum Großteil schon aufgebaut, ein Datum zur Inbetriebnahme gibt es aber auch nicht. Es herrscht berechtigterweise weiterhin Angst vor einem ähnlichen Ereignis in der Zukunft – vor allem, wenn man einbezieht, dass Hausbesitzer:innen kaum Unterstützung bekommen, sollten sie ihr Heim an einer sichereren Lage wiederaufbauen wollen.

Der betreffende, standortgebundene Wiederaufbau geht schleppend und umständlich voran. Jetzt, wo das Thema keine bundesweite Präsenz mehr besitzt, zeigt sich der Charakter der kostenscheuenden deutschen Bürokratie. Wenn man sich heute ins Ahrtal wagt, bekommt man den Eindruck, die Flut sei keine zwei Monate her.

Das, obwohl zum Wiederaufbau eine Unterstützung von 30 Milliarden Euro angekündigt worden ist. Bei flüchtiger Beurteilung könnte man also meinen, dass die Problematik nicht finanzieller Natur ist. Jedoch wurde von den versprochenen 30 Milliarden bisher nur ein Bruchteil ausgezahlt. So erhalten Hausbesitzer:innen nur 20 Prozent der – wohlgemerkt selbst vorgenommenen – Kostenschätzung zur Wiedergutmachung der Gebäudeschäden. Bei den damaligen unmittelbaren Soforthilfen wurde nur die Deckung der unmittelbaren Grundbedürfnisse berücksichtigt, in Höhe von läppischen 3.500 Euro pro Haushalt. Vielen fehlen also die Mittel, um überhaupt mit dem Wiederaufbau beginnen zu können. Anträge zur Geldbewilligung sind überaus kompliziert, werden bei minimalen Formfehlern abgelehnt, und für die Antragsverfahren dringend nötige Gutachter:innen sind völlig überlastet. Anschließend gebrauchte Handwerker:innen sowie Material fehlen ebenfalls. Über ein halbes Jahr nach der Flut wurden nur 700 Anträge bewilligt und davon lediglich 5 Antragssteller:innen voll ausgezahlt. In Folge geben viele Einwohner:innen ihren Anspruch auf finanzielle Unterstützung oder gar ihren Heimatort auf und ziehen fort. Diejenigen, die bleiben, müssen zum Teil noch immer bei Freunden oder Verwandten unterkommen.

Zu Glück beginnt sich auch Widerstand zu formieren. Am 2. Juli demonstrierten rund 350 Betroffene der Flutkatastrophe in Mainz, um endlich Gelder aus dem Wiederaufbaufonds zu erhalten, die sie bis heute aufgrund der komplizierten Verfahren nicht bewilligt gekriegt haben.

Wer hilft wirklich?

Der bürgerliche Staat zieht sich in Fällen verheerender Katastrophen stark aus der Verantwortung. Gesundheit oder Klimaschutz sind dem Kapitalismus lästige Kostenfaktoren, und in außerordentlichem Maß betrifft das auch den Katastrophenschutz.

Hier wird fast vollkommen auf die gegenseitige (und unvergütete) Solidarität der Menschen selbst gesetzt. Offiziell heißt es zwar, Katastrophenschutz sei Ländersache. Gemeint ist damit aber nicht ein von der Landesregierung unterhaltener öffentlicher Dienst, sondern sind die in dem jeweiligen Bundesland ansässigen freiwillige Hilfskräfte. So kommen in erster Linie Organisationen wie das DRK (Deutsches Rotes Kreuz), die AWO (Arbeiterwohlfahrt), kirchlich begründete (und finanzierte) Organisationen wie die Malteser oder die Johanniter neben vielen anderen Freiwilligen zum Einsatz. Die Feuerwehr stellt in Deutschland mit einer Freiwilligenquote von 93,5 Prozent keine Ausnahme dar.

In Extremfällen bietet „der Bund“ auch Unterstützung, sprich in Form des THW (Technisches Hilfswerk), mit einer Freiwilligenquote von ganzen 98 Prozent, neben größtenteils ungeeigneten Kräften wie der Bundespolizei oder Bundeswehr, deren Einsatz eher an Imagepflege erinnert.

Fazit: Es war und ist vor allem die überwältigende Solidarität der einfachen Bevölkerung untereinander, die Hilfskonvois organisierte, wochenlang beim Aufräumen half und riesige Geldsummen spendete – lange bevor sich die Regierung dazu durchringen konnte –, die die Katastrophe zu bewältigen versucht.

Was erwartet uns?

Angesichts der für Arbeiter:innen sich stets verschlechternden Lebensverhältnisse und der immer größeren Gefahr klimatisch bedingter Desaster muss die Frage gestellt werden, ob wir uns auf den Schutz des Staates verlassen können oder unser Leben auch hier den Profitinteressen des Kapitals ausgeliefert ist. Schauen wir uns dazu die Funktion und die dahinterstehenden Interessen des heutigen Systems des Katastrophenschutzes an:

Dysfunktionale Struktur, bedürftige Kommunikation sowie ein insgesamt fehlender politischer Wille bilden den Hintergrund, vor dem sich das Unglück in Ahrweiler abspielte. Laut Katastrophenforscher:innen ist dieser Zustand auch auf den Rest Deutschlands übertragbar. Formale Vereinbarungen existieren zwar für den schlimmsten Fall, nötige Übungen in Zusammenarbeit und transparente Katastrophenschutzpläne vermisse man jedoch. Meist haben die Verantwortlichen andere Aufgaben, die priorisiert werden. Und es besteht keine Tendenz, dies zu ändern. „Ohne Hochwasser keine Deiche“, bisher beschlossene Maßnahmen seien „nur kosmetische Verbesserungen“ und der Film „Don’t look up“ sei „gar nicht so originell“, so die Einschätzung der Katastrophenforscher Martin Voss und Christian Kuhlicke in der taz, April 2022.

Einen weiteren wichtigen Aspekt finden wir bei wiederholter Betrachtung der Freiwilligenorganisationen, ohne die es praktisch gar keinen funktionierenden Katastrophenschutz gäbe. Diese werden zu großen Teilen von Spenden und Mitgliedsbeiträgen finanziert. Weiter sinkende Reallöhne und andere Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse haben einschneidende Folgen: Erstens sinkt die Anzahl spendenwilliger Privatpersonen, die ohnehin schon von 34,6 Millionen (2005) auf 20 Millionen (2021) gesunken ist. Zweitens lässt auch die Bereitschaft zum Engagement als freiwillige Hilfskraft nach. Denn Einkommen und Arbeitsbedingungen beeinflussen die Zeit, die für gesellschaftliches Engagement zur Verfügung steht. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Unternehmen schon heute für einen Großteil der Spenden aufkommen. Die Folge ist eine immer größere Einflussnahme durch das Kapital, sodass zwangsläufig der Schutz von Menschenleben immer deutlicher dem Profitzwang untergeordnet oder reale Hilfe durch Imagewerbung ersetzt wird.

Aus all dem können wir schließen, dass wirksamer Katastrophenschutz wie jede Form von Vorsorge selbst eine Frage des Klassenkampfes ist. Wollen wir unsere Lebensgrundlagen erhalten und Katastrophen wie im Ahrtal in Zukunft verhindern, müssen wir als Arbeiter:innenklasse ein eigenes Programm durchsetzen.

Das inkludiert natürlich die Bereitstellung und Freigabe von Hilfsgeldern. Wie ein Jahr bitterer Erfahrung zeigt, kann diese Aufgabe nicht einfach Staatsbeamt:innen sowie Banken und Versicherungen überlassen werden. Vielmehr müssen Vertreter:innen der Gewerkschaften, der Hilfsorganisationen und der Bevölkerung die unbürokratische Auszahlung und Bereitstellung kontrollieren und durchsetzen.

Dasselbe betrifft aber auch Schutzpläne gegen Katastrophen und Aufwand zu deren zukünftiger Verhinderung. Damit diese angesichts des Klimawandels rasch umgesetzt werden, braucht es massive Investitionen, die durch die Besteuerung von Großvermögen und Unternehmensgewinnen finanziert werden. Alle jene, die aus Sicherheitsgründen ihr bisheriges Haus oder ihre Wohnung verlassen müssen, müssen dafür voll entschädigt werden.

Dies sind nur einige, aber wichtige Elemente eines ausgebauten Katastrophenschutzes unter Arbeiter:innenkontrolle, welcher Leben schützt, nicht Profite!




Vierte Welle der Pandemie: Und täglich grüßt das Murmeltier

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 258, September 2021

Die vierte Welle der Pandemie hat längst begonnen. Ende August 2021, zum Zeitpunkt der Drucklegung, befinden wir uns in einer Phase des langsamen exponentiellen Anstiegs. Am 26. August wurden 12.626 Infektionsfälle neu gemeldet, die 7-Tage-Inzidenz lag bei 66, am 28. August bereits bei 74. Seit Ausbruch des Corona-Virus sind mittlerweile weltweit 214 Millionen Menschen infiziert worden und 4,47 Millionen gestorben – und das sind nur die gesicherten, offiziellen Zahlen.

Und doch: Täglich grüßt das Murmeltier. Waren wir hier nicht schon? Hatten wir nicht bereits im vergangenen Jahr einen „Supersommer“, um dann verwundert in die nächste Welle des Pandemiegeschehens zu geraten? Und aus Perspektive des Autoren: Habe ich nicht schon beim letzten Artikel dazu die Sorge gehabt, dass er zum Zeitpunkt seines Abdrucks veraltet wirken könnte, die Zahlen weit schlechter sind als noch zum Zeitpunkt des Verfassens, noch weit mehr Menschen an den Folgen der Pandemie leiden, erkranken oder gar sterben?

Internationale Lage

Aber hier stehen, sitzen, liegen wir nun und die Pandemie bleibt weiterhin eine der brennenden Fragen der internationalen Krise. Dabei verfügen wir – anders als im Sommer 2020 – über wirksame Impfstoffe, wäre eine gezielte und koordinierte Politik zur Bekämpfung der Pandemie weitaus effektiver möglich. Doch während die reichen, imperialistischen Staaten einen Teil der Bevölkerung geimpft haben, mangelt es daran in den ärmsten Regionen der Welt, in den Ländern des globalen Südens – eine Folge der kapitalistischen Weltordnung, der Monopolisierung von Forschung, Entwicklung bei den großen Konzernen in den imperialistischen Staaten. Riesige Profite gehen offenkundig vor Gesundheitsschutz. Die vierte Welle der Pandemie ist noch direkter und unmittelbarer als die anderen gesellschaftlich verschärft und verursacht.

Die Debatten und Maßnahmen gegen die Pandemie verdeutlichen, dass wir immer wieder in eine Sackgasse geraten, solange wir einem bürgerlichen Klassenstaat die Festlegung und Kontrolle über die Maßnahmen überlassen.

Mit einer Impfkampagne die vierte Welle brechen?

Die Bundesregierung agiert als sogenanntes „One-Trick Pony“, als Pferd, das nur einen Trick draufhat. Doch die Pandemie lässt sich nicht nur durch eine Maßnahme, nicht nur durch das ständige Beschwören einer Impfkampagne stoppen.

Genau das macht aber die Bundesregierung, während wir eine ganze Palette von Maßnahmen bräuchten, um neben dem Impfen die Pandemie international einzudämmen. Maßnahmen wären: Testung, Quarantäne, Impfung, Masken, Abstand, eine Corona-Ampel, die regionale Maßnahmen festlegt, ArbeiterInnenkontrolle über alle Lebensbereiche, also auch die Arbeitswelt und vieles mehr.

Dahinter steht mehr als nur ein Wahlkampf, bei dem sich bis zum 26. September keine Partei die Finger verbrennen möchte. Es ist die logische Konsequenz einer Gesellschaftsordnung, in der die Verwertungslogik des Kapitals (G-W-G‘) stets an oberster Stelle stehen muss. Eine Ordnung, in der sinnvolle Konzepte wie das von #ZeroCovid, bei denen der Schutz der Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung im Zentrum steht, notwendigerweise mit den Profitinteressen kollidieren und nicht ohne organisierten Druck durch Streiks und soziale Kämpfe durchgesetzt werden können.

Die Politik der Bundesregierung hat während der gesamten Pandemie einen Kurs verfolgt, die Verwertungsinteressen des Kapitals zu sichern. Daher endete der Gesundheitsschutz letztlich vor den Werkstoren, die Produktion musste weiterlaufen – auch in der 2. und 3. Welle der Pandemie. Geschlossen wurden Freizeit und Bereiche der sozialen Reproduktion. Genau diese Politik hat auch die Akzeptanz gegenüber wirksamen und gesundheitspolitischen Maßnahmen zerstört, weil sie in sich widersprüchlich war und am Werkstor haltgemacht hat. Das hat nicht nur ihre Wirkung reduziert, es hat vor allem auch die Verantwortung für die Gesundheit und die Lasten der Maßnahmen den Einzelnen aufgehalst.

Backlash

Diese widersprüchliche Politik führte in den letzten Monaten zu einem ideologischen Rückschlag. Wurden zu Beginn der Pandemie jene Regierungen kritisiert, die sich für eine Strategie der Herdenimmunität aussprachen und dafür auf andere Maßnahmenkataloge und Lockdowns verzichteten, so scheint dies nun faktisch zum vorherrschenden Modell zu werden. Damit folgt die Bundesregierung dem ideologischen Chor, dass es notwendig bleibt, mit dem Virus zu leben und die Konsequenzen daraus tragische, aber individuelle Schicksale seien.

Kurzum: Wer stirbt, ist selbst schuld. Zugleich werden jene, die keinen Impfschutz bekommen können, recht kategorisch als Impfunwillige stigmatisiert, also hartnäckige, irrationale Corona-LeugnerInnen mit anderen in einen Topf geworfen. Der Staat oder die Gesellschaft haben dieser Darstellung zufolge keine anderweitigen Möglichkeiten, als an die individuelle Vernunft zu appellieren, und entledigen sich dabei weitgehend der Verantwortung.

Schon in der zweiten Welle wurde eine solche Politik mit Schlagworten wie „mit dem Virus leben“ oder „akzeptable Sterberaten“ von Unternehmerverbänden und bürgerlichen Medien propagiert. Aber es erfolgte damals auch noch ein öffentlicher Aufschrei ob der offenen Inkaufnahme vermeidbarer Todesopfer. Nun scheint sich die Lage so weit geändert zu haben, dass ein „akzeptables“ Ausmaß von Opfern – gewissermaßen die Kosten der „Freiheit“ – billigend in Kauf genommen wird.

Im Zuge dessen versucht die Bundesregierung,  durch die Einführung einer Schnelltestpauschale ab 11. Oktober die „Motivation“ zum Impfen zu fördern. Diese trifft die ärmeren Teile der ArbeiterInnenklasse deutlich härter als andere Menschen. Angebote wie garantierte bezahlte Krankheitstage im Anschluss an die Impfung, die Ausweitung mobiler Impfteams in ärmeren Stadtvierteln, in ländlichen Regionen oder gegenüber sozial marginalisierten Gruppen wie beispielsweise Wohnungslosen wären zwei mögliche wirkliche Motivationen. Sie würden allerdings Kosten verursachen – und die will der Staat lieber sparen.

Doch die Beendigung einer flächendeckenden Teststrategie auch außerhalb des Verdachtsfalls hat schwerwiegende Konsequenzen. Durch diese werden Superspreader-Events durch asymptomatisch Infizierte wahrscheinlicher. Dasselbe gilt durch die schrittweise Rücknahme der Pflicht zum Maskentragen. Der Strategiewechsel und die technik-optimistische Orientierung auf das Impfen können so leicht zu einem bloßen Hinauszögern der Überlastung des Gesundheitssystems führen.

Inzidenzen oder lockere Werte?

Am deutlichsten wird dies durch die Diskussion über die Inzidenzwerte. Es stimmt zwar, dass wir keine eindeutigen Inzidenzen haben, solange es zwei ähnlich große Gruppen in der Bevölkerung gibt, einerseits Geimpfte und Genesene und andererseits die, die nicht darunterfallen. So hat beispielsweise der bayrische Gesundheitsminister Holetschek (CSU) am 25. August bekanntgegeben, dass die Inzidenz in Bayern bei 110,55 unter Ungeimpften und bei Geimpften bei 9,18 lag.

Eine reine Betrachtung der Auslastung der Krankenhäuser, die sogenannte Krankenhaus-Ampel, ist hingegen makaber gegenüber den Beschäftigten in den Krankenhäusern, anderen notwendigen intensivmedizinischen Behandlungen und jeder von Long-Covid betroffenen Person. Um das Pandemiegeschehen weiterhin abschätzen und eindämmen zu können, ist die Inzidenz also weiterhin zentral, da wir damit die Reproduktionszahl (R) abschätzen können. Durch diese lässt sich der Trend des Infektionsgeschehens verstehen, ob exponentielles Wachstum oder exponentielle Abnahme, woraus sich wiederum etwaige Maßnahmen ableiten lassen.

Impfquoten, -stoffe und -patente

Die Gefahr einer Infektion bleibt jedoch weiterhin für geimpfte Personen bestehen. Durch die Infektion von Geimpften erhöht sich wiederum die Gefahr weiterer Mutationen, die die Immunität fähig sind zu umgehen. Dies unterstreicht die Zentralität eines internationalen Plans zur Bekämpfung der Virusausbreitung, da mittlerweile auch Regionen, deren Strategien besonders erfolgreich waren, von der Deltamutante betroffen sind, wie Vietnam. Die Basisreproduktionszahl des ursprünglichen Corona-Virus lag noch zwischen 2,8 und 3,8, die der Delta-Variante wird auf 6 geschätzt. Zwar ist es beispielsweise Taiwan gelungen, die Fallzahl wieder auf null zu senken, jedoch stellt dies eine stetige Aufgabe dar und wird mit jeder Mutante etwas unmöglicher.

Heute sind erst etwa 24,9 % der Weltbevölkerung vollständig geimpft. Wir sind also weit davon entfernt, irgendeine Art der Herdenimmunität zu erreichen aus geimpften und genesenen Personen, die in der Lage wäre, die Ausbreitung des Virus zu stoppen und dieses einzudämmen. Auch hierzulande reichen die Zahlen nicht aus (60,1 % vollständig und 64,9 % mindestens einfach geimpft; 27.08.).

Zugleich haben wir mittlerweile die paradoxe Situation erreicht, dass in Deutschland ein Überschuss an Impfstoffen existiert, der nicht ausreichend verbraucht wird, während wir international weiter einen realen und gigantischen Mangel haben. Laut einer Umfrage des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland drohen bis Herbst bis zu 3,2 Millionen Impfdosen zu verfallen. Dies führt uns einmal mehr die Folgen des Impfstoffnationalismus drastisch vor Augen, bei dem imperialistische und andere wohlhabende Länder große Mengen des Impfstoffes vorbestellten oder gar jedwede Ausfuhr verboten, solange keine ausreichende Anzahl an Impfstoffen im Inneren vorlag.

Wir haben uns bereits in mehreren Artikel in der Neuen Internationale und auf unserer Homepage mit der wichtigen Frage der Impfstoffe nebst ihrer Patente befasst, so dass wir an dieser Stelle diese nur kurz streifen werden. Um die Pandemie systematisch bekämpfen zu können, brauchen wir u. a. eine internationale Impfstrategie. Diese muss die Freigabe ihrer Patente sowie den Austausch von Wissen und Technologien beinhalten. Durch den Aufbau neuer Produktionsstätten international gilt es, die jeweiligen Flaschenhälse der Impfstoffproduktion zu vermeiden, kontrolliert durch Organe der ArbeiterInnenbewegung.

Schulen

Doch auch in Deutschland bleibt die Situation notwendig widersprüchlich. Das zeigt uns leider erneut die Schulpolitik. Über SchülerInnen hielt sich dabei lange Zeit das Gerücht, dass die Infektion kaum bis keine Gefahr bieten würde, weshalb die StiKo (Ständige Impfkommission des RKI) keine Notwendigkeit einer Impfkampagne unter SchülerInnen in den Sommermonaten gesehen hat. Im epidemiologischen Bulletin 33 des RKI  vom 24. August wurden nun neue Daten veröffentlicht, die eine andere Geschichte erzählen und eine zügige Impfkampagne unter den 12- bis 17-jährigen Jugendlichen stark empfehlen.

Die Studie enthält eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer Long-Covid-Erkrankung bei der Altersgruppe. In etwa 2,75 % der Infektionsfälle sei eine solche Erkrankung zu erwarten (Standardabweichung 1,96, somit zu 95 % eine sichere Aussage). Die Zahlen sind zwar immer noch geringer als die in der Gesamtbevölkerung erwarteten 10 – 20 %, betreffen jedoch weiterhin mehr als jede vierzigste Infektion.

Nichtsdestotrotz bleibt die Empfehlung eines konsequenten Offenlassens der Schulen durch die StiKo bestehen. Das Risiko sowohl einer Durchseuchung der SchülerInnen als auch ihrer Angehörigen wird somit bewusst eingegangen. Zusätzlich muss leider gesagt werden: Bisher konnte noch kein signifikanter Unterschied im Risiko einer Long-Covid-Erkrankung pro Infektion bei geimpften oder ungeimpften Personen festgestellt werden. Außerdem enthält die Studie nicht genug Daten bezüglich der Deltavariante. In den USA können wir jedoch erkennen, dass die Infektionsverläufe bei SchülerInnen häufiger schwerer sind.

Sogar die Pflicht zur Maske wird nur für die Zeit der „Urlaubsrückkehr“ bundesweit beibehalten. Die Strategie lautet also auch hier: Durchseuchung. Dem stellen wir das Ende der Pflicht zum Präsenzunterricht und die Kontrolle des Infektionsschutzes durch Lernende, Lehrende und die Gewerkschaften entgegen.

Exkurs: Nachlassender Impfschutz in Israel?

Kurz sollten wir noch auf einen aktuellen Kritikpunkt am Impfschutz eingehen: die Frage des nachlassenden Impfschutzes und etwaiger Drittimpfungen. Als vor einigen Wochen eine Studie (Quelle: https://www.covid-datascience.com/post/israeli-data-how-can-efficacy-vs-severe-disease-be-strong-when-60-of-hospitalized-are-vaccinated) über die zu Krankenhausaufenthalten führenden Durchbruchsinfektionen (das sind Corona-Infektionen bei vollständig Geimpften) in Israel veröffentlicht wurde, gab es laute Aufschreie: Der Impfstoff von BioNTech/Pfizer sei nicht effektiv gegen die Deltavariante! Begründet wurde dies mit den höheren Anteilen an stationierten Infizierten je 100.000 EinwohnerInnen (214 zu 301). Diese Gegenüberstellung stimmt zwar, ist jedoch verkürzt, fehlen doch die Proportionen in der Bevölkerung (18,2 % ungeimpft, 78,7 % vollständig geimpft) und die verhältnismäßigen Anteile an Infektionen (16,4 %; 5,4 %). Wenn diese noch auf die Altersgruppen über und unter 50 Jahren aufgeteilt werden, so erkennen wir, dass der Schutz vor einem schweren Verlauf samt Krankenhausaufenthalt bei den unter 50-Jährigen um 91,8 % und bei den über 50-Jährigen um 85,2 % reduziert wird. Daraus erklärt sich die Diskussion zur Dreifachimpfung in ausgewählten Bevölkerungsgruppen. Dies zeigt an, dass die geimpften und ungeimpften Gruppen verglichen werden müssen, jedoch ebenfalls in ihrer Altersstruktur, da ältere Menschen im Durchschnitt anfälliger für Lungenerkrankungen sind. Daneben bleibt zu sagen, dass die tendenzielle Abnahme eines Impfschutzes an sich eine natürliche Folge ist und die älteren Bevölkerungsteile die ersten waren, die geimpft wurden. Richtig ist jedoch die Sorge, dass bei bestehendem Impftempo die Pandemie nicht mit diesem Werkzeug allein auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden kann.

Was tun?

Für uns ist einiges klar. Die Pandemie wird mit dem Programm der Bundesregierung, aber auch jeder oppositionellen Partei im Parlament weitestgehend ausgesessen. Die Folgen der Infektion werden jeder einzelnen Person überlassen. International gibt es eine Perspektive zur Zurückdrängung noch viel weniger. Es braucht ein Ende der Odyssee des Wellenreitens!

Wir brauchen also eine soziale Bewegung, die für ein unabhängiges Klassenprogramm zur Beendigung der Pandemie und gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die arbeitende und unterdrückte Bevölkerung des Planeten kämpft. Dafür muss der Wahlkampf genutzt werden, müssen aber auch Arbeitskämpfe wie die der Krankenhausbewegung in Berlin und zu guter Letzt die verschiedenen Proteste in einem sich abzeichnenden heißen Herbst wie #unteilbar, Mietenwahnsinn, die Proteste gegen die IAA oder die Klimastreiks.

All diese Auseinandersetzungen agieren vor dem Hintergrund der internationalen Pandemie und sollten beantworten können, wie die von ihr aufgeworfenen Fragen in diesen Zeiten zu lösen sind. An Aktionen mangelt es dabei nicht, sondern das zentrale Problem ist das Fehlen einer einheitlichen politischen Perspektive. Deshalb braucht es gemeinsame Strategiediskussionen dieser verschiedenen Kämpfe, wie der Widerstand gegen die dreifache Krise von Ökonomie, Ökologie und Pandemie organisiert werden soll.

Wir brauchen ein Sofortprogramm, wie wir diesen Kampf führen wollen. Einige mögliche Aspekte eines solchen Programms könnten die folgenden sein:

  • Sofortige Aussetzung der Präsenzpflicht in Betrieben, Schulen und Universitäten! Festlegung dieser durch Kontrollorgane der Beschäftigten bzw. der Lehrenden und Lernenden!
  • Bezahlte und garantierte Krankschreibungen von mindestens zwei Tagen nach der Impfung!
  • Keine Aussetzung des kostenlosen flächendeckenden Schnelltestangebotes und Einführung einer Testpflicht für Großveranstaltungen, egal ob bereits geimpft oder genesen!
  • Ausweitung der mobilen Impfteams, ob in ärmeren Vierteln, auf dem Land oder in Betrieben!
  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen, international! Sofortige Aufhebung des Patentschutzes sowie Transfer von Wissen und Technologien!
  • Zahlen sollen die KrisengewinnerInnen! Beschlagnahmung der Pandemiegewinne zur Finanzierung der Kosten zu ihrer Bekämpfung. Wer sich weigert, soll enteignet und verstaatlicht werden!
  • Kontrolle der Maßnahmen durch Organe aus Beschäftigten, Gewerkschaften und von ExpertInnen, die unser Vertrauen genießen!



Völkermord an Ovaherero und Nama: Selbstgerechtes Land der Täter

Robert Teller, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt wieder Verantwortung in der Welt. Das tat auch bereits ihr völkerrechtlicher Vorläufer, das Deutsche Reich. 1884-1885 hielt Otto von Bismarck die „Berliner Konferenz“, auch Kongokonferenz genannt, ab. Eingeladen waren jene Mächte, die sich an der „Zivilisierung Afrikas“ beteiligen wollten oder dies bereits taten. Bekannt ist, dass der deutsche Imperialismus dabei keine nachhaltigen Erfolge feiern konnte. Nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag 1919 nicht nur das deutsche Kolonialreich vollständig unter die Siegermächte aufgeteilt, sondern auch „Deutschlands Versagen auf dem Gebiet der kolonialen Zivilisation“ vertraglich festgehalten. Als moralische Instanz kam Deutschland auch in den folgenden 100 Jahren nicht wieder auf die Beine.

Die etwa 3 Jahrzehnte deutscher Kolonialherrschaft in Afrika waren von zahllosen Aufständen und blutigster Repression durch die deutschen Truppen geprägt. Im damals „Deutsch-Südwestafrika“ genannten heutigen Namibia gipfelte dies in der Ermordung der Mehrheit der Ovaherero (auch als „Herero“ bezeichnet) und einer enormen Zahl von Angehörigen der Nama und anderer Bevölkerungsgruppen. Zu den berüchtigtsten deutschen Gräueltaten in Afrika gehört die „Schlacht am Waterberg“ ab dem 11. August 1904. Etwa 60.000 Ovaherero wurden von Einheiten der deutschen „Schutztruppe“ unter Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha umzingelt. Den Ovaherero gelang der Ausbruch aus dem Kessel und damit zunächst die Flucht. Die deutschen Truppen verfehlten den von der militärischen Führung erwarteten „vollständigen Sieg“ über die Aufständischen und die bei ihnen versammelten unbewaffneten Angehörigen. Unvorbereitet auf einen längeren Kampf in der unwirtlichen Landschaft entschied sich von Trotha, die Ovaherero in der Wüste Omaheke zu isolieren und ihnen den Zugang zu Wasserstellen zu verwehren. Wenigen gelang die Flucht ins britische Kolonialgebiet, viele verdursteten. Die Ermordung der flüchtenden Ovaherero ordnete von Trotha explizit am 2. Oktober in seiner als „Vernichtungsbefehl“ berüchtigt gewordenen Bekanntmachung an. Später im Leben bilanzierte jener wie folgt: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen.“

Moral und Recht

Moral ist, wenn man moralisch ist, aber damit tut sich der deutsche Imperialismus schwer. Nachfahren der damals Ermordeten fordern seit Jahrzehnten eine offizielle deutsche Anerkennung der Verantwortung für den Völkermord, eine Entschuldigung und direkte Reparationszahlungen an Organisationen, die die damals betroffenen Bevölkerungsgruppen heute repräsentieren. Das kürzlich beschlossene Abkommen wird von den Betroffenenverbänden einhellig abgelehnt. Ein Hauptargument ist dabei die Weigerung der deutschen Regierung, sowohl ein Verhandlungsmandat dieser Organisationen als auch deren kollektiven Anspruch auf Entschädigung anzuerkennen. Verhandelt wurde von deutscher Seite aus mit VertreterInnen der namibischen Regierung, die ihrerseits ein Mitspracherecht der Verbände ablehnte. Wie der Kolonialstaat damals erfüllt insoweit auch der halbkoloniale Staat heute als historisches Erbe die Funktion, den Bevölkerungsgruppen ihre kollektiven Rechte zu verweigern.

Wünschenswert wäre vom Standpunkt des deutschen Imperialismus sicherlich eine moralische Reinwaschung. Problematisch hingehen wäre es, dabei Tür und Tor zu öffnen für die Geister der Vergangenheit, die an anderen Ecken des Kontinents noch lauern. Daher hatte sich die damalige Schröder-Bundesregierung zum runden Jubiläum 2004 entschlossen, in warmen Worten die „geteilte Geschichte“ zu bedauern und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul (SPD) zum Bußgang an den Waterberg zu schicken. In ihrer Rede vor dem gespanntem Publikum verhaspelte sie sich. Das Wort „Völkermord“ war gefallen und die Büchse der Pandora geöffnet. Seither sind die Bemühungen dieser und aller nachfolgenden bundesdeutschen Regierungen darauf gerichtet gewesen zu begründen, dass es einen kleinen, aber feinen Unterschied gibt zwischen einem Völkermord in einem historischen oder auch moralischen Sinne einerseits und im juristischen andererseits. Juristisch wurde der Völkermord nämlich erst 1948 in der UNO-Völkermordkonvention definiert und geächtet. Heißt: Von Trotha und das Kaiserreich hätten ja nicht ahnen können, dass sich ihr Völkermord einmal an derartigen Rechtsnormen würde messen lassen müssen, und somit seien sie unschuldig im Sinne der Anklage. Die Konvention zur Verhinderung des Völkermordes wird hier kurzerhand zur Grundlage seiner juristischen Rechtfertigung.

„Aussöhnung“

Hieraus ergab sich im angestrebten Aussöhnungsprozess erheblicher Gesprächsbedarf, der seit 2015 mehr als fünf Jahre Geheimverhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung erforderte. Kürzlich wurde die Einigung auf ein Aussöhnungsabkommen mit der namibischen Regierung verkündet, präsentiert von einem sich moralisch schuldbewusst gebenden Außenminister Heiko Maas. Der genaue Inhalt des Abkommens ist allerdings so gut, dass er nach wie vor von offizieller Seite geheimgehalten wird.

Laut Süddeutscher Zeitung ist jedoch bekannt, dass Punkt 10 dessen wie folgt lautet: „Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.“ So hat es die mit Worten jonglierende Diplomatie also doch vollbracht, einen Völkermord aus Sicht der TäterInnen moralisch anzuerkennen, ohne jedoch juristisch dafür belangt zu werden.

Opfer

Die Ovaherero Traditional Authorities (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) erklärten zu dem Abkommen:

„Das sogenannte Versöhnungsabkommen […] ist ein deutscher PR-Coup und ein Verrat durch die namibische Regierung. […] Offensichtlich hat Deutschland noch immer keine Absicht, anzuerkennen, dass von Trotha einen Völkermord im Sinne des Völkerrechts verübt hat – folglich habe Deutschland kein Verbrechen gegen die Menschheit begangen und beabsichtigt nicht, sich für irgendein Verbrechen des Völkermords zu entschuldigen – insbesondere nicht gegenüber den Nachfahren der Opfergemeinschaften!  […]

Hinter der sogenannten ,Kompensation‘ zugunsten von ,sozialen Projekten‘ verbirgt sich nur die fortgesetzte deutsche Finanzierung namibischer Regierungsprojekte wie NDP5 (Nationaler Entwicklungsplan 5) und ,Vision 2030′, wie es der Premierminister im namibischen Parlament am 16. März 2021 dargestellt hat.“

Auch das Bündnis „Völkermord verjährt nicht“ weist das Abkommen zurück und fordert eine völkerrechtliche Anerkennung des Genozids und hiermit verbundene Reparationsleistungen. Die jetzt verkündete sogenannte Entschädigung ist am Ende doch nichts anderes als die Finanzierung lokaler StatthalterInnen des Imperialismus, keine Reparation gegenüber Betroffenen.

Was bleibt, ist die Frage, warum sich die BRD überhaupt diese Blöße gibt, wenn doch die kaiserlichen Methoden des Kolonialkriegs eigentlich rechtlich unangreifbar sind. Liegt es am Ende nicht vielleicht doch eher daran, dass auch heute wieder imperiale Interessen auf dem afrikanischen Kontinent aneinandergeraten und ein schuldbewusstes „friendly face“ dabei im Wettlauf mit dem chinesischen und US-Imperialismus von Vorteil sein kann?




Ausgangssperren, der Staat und linke Antworten

Robert Teller, Infomail 1146, 22. April 2021

Mit dem neuen Infektionsschutzgesetz kommt die bundesweite Ausgangssperre, wenn auch nun in einer stark abgeschwächten Form. Auf Grundlage von Landesverordnungen ist sie ohnehin vielerorts in Kraft. In vielen anderen Ländern gehört sie schon lange zum Standardprogramm der Pandemieeindämmung, wobei die politisch-moralischen Bedenken teils geringer ausfallen als hierzulande. Oftmals haben sich Ausgangssperren bereits gegen andere „innere Bedrohungen“ für die Herrschenden bewährt, warum also nicht auch in diesem Fall?

Das Gesetz

Angela Merkel hält die Ausgangssperre für eine „Zumutung für die Demokratie“, so auch weitgehend der Rest der Republik – von links bis rechts. Dennoch wurde nun beschlossen, dass man abends nur noch mit triftigem Grund rausdarf. Derartige Gründe gibt es etliche. Damit wurde insbesondere sichergestellt, dass der Weg von und zur Arbeit jederzeit stattfinden kann, die Verausgabung von Arbeitskraft nicht beeinträchtigt wird und die Maßnahme somit keine Zumutung fürs Kapital darstellt. Ebenso erlaubt ist der Ausgang, um Sorgearbeit zu verrichten, wie z. B.  zur Betreuung oder Pflege von Kindern bzw. Angehörigen.

Das alles ist insgesamt natürlich eine juristisch hochkomplexe Abwägung von allesamt höchst wichtigen Rechtsgütern, daher die Zumutung. Das Menschenrecht auf nächtliches Spazierengehen gilt in Zukunft etwa dann, wenn ein Hund dabei ist oder auch ein Kind, nicht aber, wenn gar kein weiteres Säugetier in Reichweite ist, das als Virenwirt in Frage käme. Widersprüchlich ist das alles nicht nur auf den ersten Blick.

Faktisch enthält das neue Infektionsschutzgesetz wenig Neues. In Zukunft gilt eine Home-Office-Pflicht, falls keine „zwingenden Gründe“ entgegenstehen. Die gab es aber bereits seit Januar und wird nun lediglich so abgeändert, dass Arbeit„nehmer“Innen auch verpflichtet sind, die Home-Office-Möglichkeiten zu nutzen. Es bleibt aber weiterhin den Unternehmen selbst überlassen zu entscheiden, welche Gründe als „zwingend“ gelten und welche nicht. So ist nicht zu erwarten, dass sich die Home-Office-Quote, die Anfang März nur um 30 % lag, deutlich erhöhen wird.

Ansonsten werden Maßnahmen nun bundesweit einheitlich geregelt, die bisher auf Landesebene ähnlich, aber nicht überall einheitlich gehandhabt wurden. Wenn in Zukunft 3 Tage lang in Folge die 7-Tage-Inzidenz auf Landkreisebene den Wert 100/100.000 überschreitet, soll einheitlich die bereits bekannte Kontaktbegrenzung gelten (1 Haushalt + 1 Person), ohne dass regionale Sonderwege möglich sind. Unter derselben Voraussetzung soll automatisch die Ausgangssperre von 22 Uhr bis 5 Uhr in Kraft treten – mit diversen Ausnahmen, die es fraglich machen, ob sie überhaupt einen Effekt auf die Infektionslage haben wird. Eine schärfere Ausgangssperre wäre rechtlich zu angreifbar gewesen, wie die erfolgreichen Klagen gegen regionale Ausgangssperren in Frankfurt, Hannover und anderen Städten zeigten.

Wirksamkeit der Ausgangssperre

In der wissenschaftlichen Literatur findet sich wenig Überzeugendes, das für die Verhängung von Ausgangssperren spricht. Die meisten Forschungsarbeiten beruhen wesentlich auf Analysen epidemiologischer Messdaten, d. h. auf einem Vergleich der beobachteten Infektionsdynamik in verschiedenen Ländern oder Zeitabschnitten bei unterschiedlichen Eindämmungsmaßnahmen. Diese Datenanalysen haben den methodischen Mangel, dass sie für sich genommen keine kausale Wirkung einzelner Maßnahmen aufdecken können, sondern nur Korrelationen. Sie leiden zudem daran, dass in der Praxis eine Vielzahl verschiedener Eindämmungsmaßnahmen verhängt wird, deren Einzelwirkungen nicht unabhängig voneinander gemessen werden können. Daher ist es auch keineswegs so einfach, wie manchmal suggeriert, den kausalen Effekt einer bestimmten Maßnahme zur Pandemiebekämpfung von anderen isoliert und abgegrenzt zu bestimmen.

Ein gewichtiges Gegenargument ist bekanntlich die Gefahr einer Verlagerung sozialer Begegnungen aus dem (überwachten) öffentlichen Raum in private Innenräume. Ein solcher Effekt könnte schnell die positiven Eindämmungseffekte zunichtemachen, da das Übertragungsrisiko in Innenräumen um ein Vielfaches höher ist als draußen. Insbesondere treten die für die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus so wesentlichen Super-Spreading-Ereignisse – soweit bekannt – praktisch ausschließlich in Innenräumen auf.

Ein weiteres Argument ist, dass unvermeidbare Erledigungen wie Einkäufe oder Fahrten im öffentlichen Verkehr von den Nachtstunden in den Zeitraum außerhalb der Ausgangssperre verlegt werden und die Personendichte etwa in Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln dann während der zulässigen Zeiten steigt, was zu einem überproportionalen Anstieg der Übertragungsrate führen würde.

Für die Wirksamkeit von Ausgangssperren spricht dagegen das Argument, dass während der Nachtstunden hauptsächlich „hochmobile“ Personengruppen eingeschränkt werden, die einen überproportionalen Anteil am Infektionsgeschehen haben könnten.

Der Effekt einer Ausgangssperre auf die Häufigkeit der fraglichen ungeschützten Kontakte in Innenräumen lässt sich nur schwer messen und noch schwieriger prognostizieren. Aggregierte anonymisierte Mobilfunk-Bewegungsdaten geben für Deutschland eine grobe Auskunft über die Anzahl von Ortswechseln von MobilfunkteilnehmerInnen, nicht aber über die Frequenz und die konkreten Umstände damit verbundener sozialer Begegnungen. In einer aktuellen Auswertung ergibt der Vergleich der Mobilitätsdaten in Baden-Württemberg auf Kreisebene jeweils vor und nach Aufhebung der Winterausgangssperren laut Statistischem Bundesamt, dass sich die „Aufhebung der Ausgangssperre kaum auf das Gesamtmobilitätsgeschehen auswirkte.“ Der beobachtete Anstieg während des Sperrzeitraums lag im Bereich von 10 %, jedoch machte die Mobilität in diesem Zeitraum nur 5 % der Gesamtmobilität eines Tages aus.

Soziale Auswirkung

Während die Wirkung auf die Einschränkung von Neuinfektionen zweifelhaft ist und allenfalls bescheiden sein dürfte, so ist das Ausgangsverbot mit zwei Effekten verbunden. Erstens kann so die Behauptung gestützt werden, dass eine wirkliche Wende, eine „harter Kurs“ in der Bekämpfung der Pandemie verfolgt würde. Dabei bleiben neuralgische Punkte, die bisher von Schließungen ausgenommen waren, also die gesamte Industrie und der Kernbereich der Mehrwertproduktion, weiter außen vor. Ebenso wird der Zickzackkurs an den Schulen und Kitas, der alle Seiten nur zermürben kann, faktisch fortgesetzt, diesmal mit dem Inzidenzwert von 165. Die nächtliche Ausgangssperre soll somit Entschlossenheit suggerieren, wo Konzeptlosigkeit und Lavieren zwischen Gesundheit und Wirtschaftsinteressen vorherrscht.

Zweitens werden die Ausgangssperren aber konkrete soziale, repressive und negative Folgen für die Bevölkerung haben – und zwar vor allem für jene, die schon jetzt unter der Ausgangssperre am meisten leiden.

Sicherlich wird sie geeignet sein, Jugendliche zu schikanieren, die in lauen Frühlingsnächten mal gerne ein Bier risikoarm an der frischen Luft trinken möchten. Die Ausgangssperre wird aber noch weitere, ohnedies schon täglich vor sich gehende Formen der Diskriminierung verstärken.

Wohnungslose, die auf der Straße überleben müssen, können mit zusätzlichen rechtlichen Mitteln Schikanen durch die Polizei ausgesetzt werden. Racial Profiling, das natürlich auch ohne Ausgangssperre rund um die Uhr stattfindet, kann jetzt zusätzlich mit dem Verweis auf sie legitimiert und als Maßnahme des Infektionsschutzes umgedeutet werden.

Für Frauen und nicht-binäre Personen bedeutet die Ausgangssperre auch, dass sie sich entscheiden müssen, ob sie alleine in der Nacht einen Spaziergang machen oder „freiwillig“ zuhause bleiben.

Schließlich trifft die Ausgangssperre Menschen aus den ärmeren Schichten der ArbeiterInnenklasse und des KleinbürgerInnentums besonders hart, weil diese auf engerem Wohnraum leben müssen.

Während sich die gesundheitspolitische Wirkung weitgehend auf Symbolik beschränken dürfte, also gegen null geht, schränkt die Ausgangssperre nicht einfach die „Demokratie“ ein, sie wirkt auch verstärkt auf die vorhandenen Formen gesellschaftlicher Ungleichheit und Unterdrückung.

Programmatik

Die Ausgangssperre kann daher – wie alle Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung – nicht einfach unabhängig von ihrem Klassencharakter betrachtet werden.

Als MarxistInnen lehnen wir das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates ab. Wir sind gegen die Ausweitung legaler Repressionsinstrumente und verteidigen entsprechend auch bürgerliche Rechte, die den staatlichen Repressionsorganen Grenzen setzen. Die Krise des bürgerlichen Parlamentarismus und die weltweit zu beobachtende Tendenz hin zu bonapartistischen Krisenregimen setzt diese Verteidigung demokratischer Rechte wieder weit oben auf die Tagesordnung.

Dabei verteidigen wir nicht die „gute alte Demokratie“, ihre angeblich klassenneutralen Institutionen, sondern wir betonen, dass die Angriffe auf demokratische Rechte gerade den Klassencharakter des bürgerlichen Staates unterstreichen und daher von unserer Seite aus eine Strategie des Klassenkampfes erfordern. Die Erosion der alten (bürgerlichen) Demokratie ruft nach Prinzipien der ArbeiterInnendemokratie – Kontrolle und Gegenmacht durch Organe der Klasse – als zentrale Elemente dieser Strategie.

Wenn auch die pandemische Situation in den historischen Programmen des Marxismus nicht explizit behandelt wurde, sind die genannten zentralen Positionen übertragbar. Die autoritären und bonapartistischen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung lehnen wir ab, weil sie eine spezifisch bürgerliche Antwort auf die Pandemie darstellen. Deutlich wird dieser Klassencharakter etwa darin, dass die Zulässigkeit privater Begegnungen – die in gewissem Umfang wohl zu den unverzichtbaren menschlichen Elementarbedürfnissen zählen – pedantisch reguliert wurde, obwohl gerade hier grundsätzlich kein Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach gesundheitlichem Eigenschutz und der Notwendigkeit, die Infektionsdynamik zu bremsen, besteht. Dem Fortbestand der bürgerlichen Familie und dem christlichen Brauchtum wurde natürlich eine privilegierte Stellung eingeräumt.

Das Verrichten der Lohnarbeit dagegen entzieht sich einer Bewertung, in welchem Maß sie angesichts voller Intensivstationen überhaupt notwendig ist. Eingeschränkt wurden für die Profitmacherei letztlich untergeordnete Sektoren wie Gaststätten und Hotellerie oder die Kulturindustrie. Die Schließung der Kernsektoren der Mehrwertproduktion stand faktisch nie zur Diskussion im Bereich des bürgerlichen Mainstreams. Für die Regierung und ihre bürgerlichen KritikerInnen gelten diese Bereiche als sakrosankt. Es sind die wirklichen heiligen Kühe der Marktwirtschaft, die außerhalb der Sphäre des privaten und öffentlichen Lebens nicht zur Disposition stehen.

Das Ziel der bürgerlichen Pandemiepolitik bestand und besteht in der möglichst weitgehenden Aufrechterhaltung der Kapitalverwertung. Damit muss bei steigenden Infektionszahlen der Gesundheitsschutz primär zu einer individuellen Verantwortung, also auch zur moralischen Pflicht für jede/n Einzelne/n werden. Der Dienst am Vaterland besteht nun darin, sich im Privaten so weit wie möglich einzuschränken und weiterhin Lohnarbeit im Großraumbüro oder in der Montagehalle zu verrichten. Weil diese Moral tatsächlich wenig überzeugend ist, gibt es sie auch in bußgeldbewehrter Form.

Diesen Maßnahmen abstrakte Forderungen nach „Freiheit“ (auf Feiern, Reisen, Leute treffen, … also Leute anstecken) entgegenzusetzen, steht offensichtlich in einem deutlichen Widerspruch zur Natur dieser Pandemie. Sie sind utopisch, weil die bloße Aufhebung von staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen für einen Großteil der Bevölkerung, der selbst gefährdet ist oder gefährdete Angehörige hat, faktisch den Zwang zur Selbstisolation oder zur Inkaufnahme eines extremen Gesundheitsrisikos bedeuten würde. Das Hochhalten der individuellen Freiheit, während diese durch die Natur der Pandemie selbst negiert wird, kann natürlich keine proletarische Politik sein, sondern nur reaktionärer kleinbürgerlicher Utopismus.

Die Pandemie erfordert Zwangsmaßnahmen und diese können nicht per se – unabhängig von ihrem Klassencharakter – abgelehnt werden, weil ein marxistisches Programm sich nicht gegen die materiellen Voraussetzungen menschlichen Überlebens auflehnen kann. Wie jede Politik stellt auch das Pandemiemanagement Klassenpolitik dar und KommunistInnen sollten das derzeitige ablehnen, weil seine Maxime die Aufrechterhaltung der Verwertungsbedingungen des Kapitals ist.

Eine marxistische Programmatik zielt daher darauf ab, einen möglichst schnellen Stopp der massenhaften Ausbreitung des Virus zu erreichen und dabei dem Kapital die Hauptlast aufzuerlegen. Zugleich geht es darum, die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und der Massen zu verteidigen. Das bedeutet insbesondere: einen umfassenden solidarischen Shutdown aller nicht essentiellen Betriebe – bei voller Lohnfortzahlung und sozialer Absicherung, durchgesetzt durch die ArbeiterInnenbewegung und überwacht durch Kontrollkomitees der Beschäftigten.




Fiasko Osterpause: Politische Achterbahn statt Bekämpfung der Pandemie

Martin Suchanek, Neue Internationale 254, April 2021

Die Hängepartei geht weiter. Nachdem sich Bund und Länder Anfang März aufgrund des Drucks der Wirtschaft noch eine bunte Mischung von Öffnungsschritten vorgestellt hatten, verkündete das selbsternannte „Team Vorsicht“ um Kanzlerin Merkel, den bayrischen Ministerpräsidenten Söder und den Berliner Bürgermeister Müller in der Nacht vom 22. zum 23. März, dass nunmehr auf die Bremse zu treten sei. Die Corona-Politik, in der Substanz zwar unverändert, sollte einen Schritt in die andere Richtung machen.

Schließlich befänden wir uns mitten in einer dritten Welle der Pandemie. Stetig steigende Inzidenzwerte, die Ende März konstant über 100 liegen und mit großer Wahrscheinlichkeit weiter nach oben gehen werden, belegen das ebenso wie die Veränderungen des Virus selbst. Die weitaus ansteckendere und lebensbedrohlichere Mutante B. 1.1.7, die sog. britische, wurde auch in Deutschland zur vorherrschenden.

Vorsicht?

Innerhalb weniger Stunden entpuppte sich „Team Vorsicht“ als „Team Kurzsicht“. Die vor dem Regierungsgipfel aus dem Hut gezauberte „Osterpause“, die ohnehin nie mehr war als ein unklar definierter möglicher arbeitsfreier Gründonnerstag, wurde am 24. März aufgrund des Drucks aus der Wirtschaft, aber auch aus den Reihen der Unionsparteien wieder zurückgezogen.

Dabei sollte eigentlich die sog. „Notbremse“ greifen, sprich ab einem Inzidenzwert von 100 sollen partielle Öffnungen, die Anfang März auf den Weg gebracht wurden, zurückgefahren werden. Doch die Osterpause entpuppte sich als schlechter vorgezogener Aprilscherz. Ihre Rücknahme befördert eine veritable Führungskrise im bürgerlichen Lager. Zum Zeitpunkt der Drucklegung des Artikels folgte eine weitere Regierungserklärung samt Entschuldigung der Kanzlerin. Ein zusätzlicher Bund-Länder-Gipfel ist wohl auch geplant.

Während das Kabinett Merkel im Frühjahr 2020, also vor etwas weniger als einem Jahr, wegen seines erfolgreichen Krisenmanagements in den Meinungsumfragen breite Zustimmung erhielt, wurde dieser Bonus längst verspielt. Eine Antwort auf die brennenden Fragen der Pandemie wie auch die sozialen Existenznöte trauen immer weniger Menschen dieser Regierung zu. Zu Recht!

Die Politik von Merkel und Co. erschöpft sich in einem „Weiter so“, das nur neu verpackt wird. So wurde beim Bund-Länder-Gipfel, sehen wir von der Osterposse ab, der bestehende Lockdown bis zum 18. April verlängert.

Die Frage der Schließungen der Schulen und Kitas konnte ein Stück weit umschifft werden, da in diese Zeit ohnehin die Osterferien fallen, diese also für zwei Wochen geschlossen sind.

Umso heftiger umstritten war dafür die Öffnung des Inlandstourismus. Die fünf Küstenländer wollten hier Sonderregelungen durchsetzen. Auch wenn sie schließlich einlenkten, so verdeutlicht das Beispiel die „Kontinuität“ des Zickzacks der Corona-Politik. Angesichts der aktuellen Regierungskrise könnte ein erneuerter Vorstoß zur Öffnung touristischer Einrichtungen durchaus rasch erfolgen.

Ursache

Bei der vorherrschenden bürgerlichen Corona-Politik stehen Gesundheitsschutz der Allgemeinheit und Profitinteressen der Wirtschaft einander gegenüber. Sie verbinden sich zu einem inkonsequenten, in sich unschlüssigen Ganzen, zu Maßnahmenpaketen, die weder den Erfordernissen der Bevölkerung nach Gesundheitsschutz und sozialer Absicherung entsprechen noch die Rufe des Kapitals nach Freiheit des Geschäfts voll befriedigen.

Dass dieser Widerspruch die ganze Politik der Regierung bestimmt, zeigte sich einmal mehr bei den Beschlüssen des Bund-Länder-Gipfels.

Als die Osterpause, also ein arbeitsfreier Gründonnerstag, verkündet wurde, blieb offen, ob dieser auch arbeitsrechtlich als Feiertag gelten solle, ob Beschäftigte z. B. im Homeoffice wirklich nicht arbeiten müssten oder ob der Tag wie alle Feiertage bezahlt werden solle. Ungeklärt war auch, ob jene, die z. B. im Gesundheitswesen oder im öffentlichen Verkehr arbeiten müssen, Feiertagszulagen erhalten sollten. Solche „Kleinigkeiten“, die vor allem die Interessen der Lohnabhängigen betreffen, sollten von der Bundesregierung nachgereicht werden.

Nachdem dieser Tag jetzt vom Tisch ist, wird der Lockdown in bisheriger Form fortgesetzt. Eingeschränkt werden weiter vor allem jene Bereiche des Lebens, die unsere Freizeit, also die Regenerationsmöglichkeiten der Menschen betreffen. Zweitens obliegt die Verantwortung für die Umsetzung der Maßnahmen und für die negativen finanziellen und sozialen Folgen weiter den Einzelnen, wird im Wesentlichen individualisiert. Wer auf engem Raum leben muss, muss das auch weiter. Ärmere Familien, Alleinerziehende, Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen müssen ein Mehr an „Eigenverantwortung“ erbringen. Vor allem Frauen müssen mehr private Hausarbeit leisten. Die Kinderbetreuung wird den Eltern und hier wiederum vor allem den Frauen aufgehalst.

Während die BürgerInnen regelmäßig und munter zur „Vernunft“ ermahnt werden, der die meisten ohnedies folgen, bleibt der für die kapitalistische Ökonomie entscheidende Sektor wie seit Beginn der Pandemie außen vor. Von einem Lockdown in der Industrie, bei den Banken und Versicherungen, in den Großraumbüros und Schlachthöfen ist längst selbstverständlich keine Rede mehr. Selbst von den Schutzvorkehrungen, die z. B. für Schulen oder im Einzelhandel verpflichtend sind (Masken, Mindestabstand), werden die industrielle Produktion, aber auch ein bedeutender Teil der Angestelltentägigkeiten (z. B. Großraumbüros) bis heute ausgenommen.

Tests wie für Schulen gibt es für Industriekonzerne nur auf freiwilliger Basis und, wie z. B. bei BMW in Leipzig, nur für die Stammbelegschaft. Für die LeiharbeiterInnen, immerhin rund 50 % der dort Arbeitenden, erklärt sich der Konzern als nicht zuständig. Der Osterlockdown stellt also in den entscheidenden Bereichen der kapitalistischen Mehrwertproduktion reine Augenwischerei dar. Diese sind und bleiben ausgenommen von allen Schließungen, ja selbst von üblichen Hygienevorschriften.

Neu sind an der aktuellen Lage aber zwei Dinge: Erstens hat sich die Gesundheitskrise zu einer politischen Krise entwickelt, wie auch die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigen. Zweitens droht die anhebende dritte Welle der Pandemie trotz der Impfung der über 80-Jährigen, Tausende weitere Tote zu fordern.

Linke Alternative

Eine linke Politik zur Pandemie- und Krisenbekämpfung wird angesichts dieser drohenden Katastrophe dringender denn je. Sie müsste genau dort ansetzen, wo die Politik im Interesse des Kapitals haltmacht: bei der Forderung nach zeitweiliger Schließung aller für die tägliche Reproduktion nicht essentiellen Bereich der Ökonomie, um die Infektionszahlen zu drücken und damit die Zahl der Erkrankungen, langer und ernster Folgeschäden sowie hunderter Toter pro Tag massiv zu reduzieren und auf null zu bringen.

Dies hätte zugleich den Vorteil, dass wir nicht in der Situation eines zermürbenden Dauerlockdowns leben müssten, der Millionen vor die Alternative Gesundheit oder Sicherung der Existenz stellt. Ein solidarischer Lockdown würde, nebenbei bemerkt, nach einem zeitweiligen Herunterfahren der Wirtschaft also sehr viel allgemeinere und kontrollierte Öffnungsmöglichkeiten bieten. Hinzu kommt, dass er auch mit einer Ausweitung gesellschaftlich notwendiger bezahlter Reproduktionsarbeit einhergehen müsste – also Sicherung der Betreuung Pflegedürftiger, Ausbau des Gesundheitswesens, Öffnung von Schulen und Kitas und ihr Betrieb in kleineren Gruppen/Klassen, so dass die Eltern nicht nur dann entlastet werden, wenn sie arbeiten müssen.

Die Politik des solidarischen Lockdowns, wie sie die Initiative #ZeroCovid vertritt, stellt eine substantielle, grundlegend andere Strategie als jene der Bundesregierung, aller Kapitalverbände, der liberalen ÖffnungsfanatikerInnen und der rechten Corona-LeugnerInnen dar.

Sie würde die zeitweilige europaweite Schließung aller nicht essentiellen Bereiche unter Kontrolle der Beschäftigen und Gewerkschaften mit der Forderung nach sozialer Absicherung für alle, dem Ausbau des Gesundheitswesens, dem Ende privater Verfügungsgewalt über die Impfstoffproduktion und -verteilung sowie nach Finanzierung dieser Maßnahmen durch die Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen verbinden.

Liberale und Rechte

Das Dramatische an der aktuellen Lage besteht einerseits darin, dass sich die Pandemie bei den gegenwärtigen Maßnahmen weiter ausbreiten wird. Andererseits ist auch offen, wer, welche gesellschaftliche Kraft angesichts der Schwäche der Regierung das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verändern wird.

Angesichts der Entwicklung der letzten Monate hoffen die bürgerlich-liberalen ÖffnungsfanatikerInnen, die nach noch mehr Freiheit des Kapitals schreien, die Lage nach ihren Vorstellungen nutzen zu können. Ihr Rezept lautet: Testen, Öffnen, Impfen und vor allem „Eigenverantwortung“.

Seit Monaten trommeln bürgerliche Blätter, vor allem aber die Unternehmerverbände inklusive deren wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Institute, dass wir „mit dem Virus leben“ lernen müssten. In einer einflussreichen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft wird die Inkaufnahme des Todes zu einer gesellschaftlichen Herausforderung stilisiert: „Das ist gesellschaftlich herausfordernd, weil es so etwas wie virus-spezifische Bereitschaft und Fähigkeit einfordert, mit begrenzten gesundheitlichen Folgen und begrenzter Sterblichkeit zurechtzukommen, diese auszuhalten.“ (Bardt/Hüther, Aus dem Lockdown ins Normal, S. 10)

Diese pseudo-philosophische Rechtfertigung des Sozialdarwinismus dient vor allem Unternehmerverbänden, der FDP und anderen ÖffnungstrommlerInnen zur ideologischen Verklärung ihrer Politik.

Die AfD, rechte Corona-LeugnerInnen, QuerdenkerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen aller Art halten sich bei solchen Erwägungen erst gar nicht auf. Die Krise treibt ihnen vor allem AnhängerInnen aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten zu, selbst wenn ihre vollständige Ignoranz gegenüber der Pandemie viele (noch) abschrecken mag. Wie die Demonstration von 20.000 Menschen in Kassel gezeigt hat, formiert die Rechte zur Zeit diese gesellschaftliche Verzweiflung zu einer politischen Kraft, zu einer reaktionären, kleinbürgerlichen Massenbewegung, die die Pandemie zur Ausgeburt einer „Merkel-Diktatur“ oder einer Verschwörung von Gates und Soros verkehrt. Der drohende Ruin dieser Schichten in Zeiten von Pandemie und Krise wird von den Rechten auf eine Scheinursache gelenkt. Der grundlegende Irrationalismus der Bewegung gerät zur ideologischen Rechtfertigung ihrer Pseudo-Radikalität.

Und die Linke?

Angesichts dieser Lage sind Initiativen wie #ZeroCovid in den letzten Wochen in eine gesellschaftliche Defensive geraten, obwohl sie eine solidarische Strategie im Interesse der Masse der Bevölkerung vertreten. Die zunehmenden Infektions- und Sterbezahlen mögen die vorherrschende Stimmung zwar ändern, zugleich wird sich jedoch auch die reaktionäre Kritik an jeder Politik zur Bekämpfung der Pandemie wie die der sog. QuerdenkerInnen radikalisieren.

Grundsätzlich aber muss die Initiative ihre Forderungen beibehalten und zugleich gezielt versuchen, die ArbeiterInnenbewegung und die Linke aus ihrer Passivität angesichts der Pandemie zu reißen. Dazu soll #ZeroCovid ihre Schwerpunktsetzung klarer bestimmen und ihre Politik konkretisieren.

Wir müssen gerade in den Gewerkschaften, in sozialen Bewegungen weiter für den solidarischen Lockdown eintreten, für eine Politik, die Gesundheitsschutz und den Kampf gegen die Lasten von Pandemie und Krise und deren Abwälzung auf die Bevölkerung miteinander verbindet. Die Verschlechterung der Lage setzt die Forderung nach einem europaweiten „solidarischen Shutdown“ auf die Tagesordnung, wenn wir Gesundheitsschutz und soziale Sicherheit durchsetzen wollen.

Eine an den Interessen der Masse der Menschen orientierte Politik zur Bekämpfung der Pandemie muss also eine Klassenpolitik sein. Sie kann nur durch Mobilisierungen gegen Kapital, Regierungen und politische Rechte, durch eine gesellschaftliche Bewegung erkämpft werden, die in den Betrieben, an Schulen und Unis, im öffentlichen Dienst, in den Krankenhäusern, in den Wohnvierteln, in Stadt und Land verankert ist.

Ideologischer Kampf

Die Hinnahme einer „akzeptablen“ Zahl von Toten als „gesellschaftliche Leistung“ durch (neo)liberale, konservative oder rechte IdeologInnen des Kapitals, das rechtspopulistische Gerede von der Corona-Diktatur oder die Verklärung des freien Warenverkehrs zur Freiheit schlechthin verdeutlichen, dass der Kampf um die Corona-Politik auch auf ideologischer Ebene eine Form des Klassenkampfes darstellt. Es gilt, die Menschenverachtung und den Zynismus all jener zu entlarven, die von der Rückkehr zu einer Normalität sprechen und damit die Bevölkerung darauf einstimmen wollen, den Tod Tausender in Deutschland und von Millionen weltweit als Normalzustand in Kauf zu nehmen.

Vor allem aber gilt es darzulegen, worin der Zweck dieser barbarischen Unternehmung besteht: nämlich in der Verbreitung der Vorstellung, dass es keine Alternative zur Akzeptanz einer solchen Politik gebe. Wir müssen daher nicht nur verdeutlichen, dass hinter den Kosten der bürgerlichen Freiheit die Interessen des Kapitals zum Vorschein kommen. Wir müssen auch klarmachen, dass es bei der Frage der Corona-Politik, der Durchsetzung eines solidarischen Shutdowns im Interesse der ArbeiterInnenklasse auch um die Frage geht, welche soziale Kraft, welche Klasse die Gesellschaft selbst so reorganisiert, dass die Bekämpfung der Pandemie nicht mehr als Gegensatz zur „Freiheit“ erscheint. Dies erfordert, den Kampf um die Forderungen von #Zero-Covid im größeren Kontext des revolutionären Kampfes um die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer globalen, demokratischen Planwirtschaft zu begreifen.




Krise des deutschen Krankenhaussektors

Katharina Wagner, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März 2021

Man hatte es kommen sehen! Nicht erst seit dem Beginn der weltweiten Corona-Pandemie war es um das deutsche Gesundheitssystem nicht gut bestellt. Seit vielen Jahren existiert ein Fachkräftemangel im Gesundheits- und vor allem im Altenpflegebereich. Die herrschenden, schlechten Arbeitsbedingungen tun ihr Übriges dazu, potenzielle BerufsanfängerInnen abzuschrecken bzw. Fachkräfte aus dem Arbeitsumfeld zu vertreiben. Dabei war und ist der Bereich Kranken- und Altenpflege, sowohl der bezahlten als auch in viel größerem Maße der unbezahlten, weiterhin eine Domäne der Frauen. Der Anteil weiblicher Beschäftigter liegt bei über 80 %. Nun, inmitten  der Pandemie, mehren sich die Stimmen, die vor einem Kollaps des deutschen Gesundheitssystems warnen, vor allem auf den Intensivstationen.

Gleichzeitig spielten die Beschäftigten in den Krankenhäusern eine zunehmend bedeutendere Rolle in den Klassenkämpfen der  letzten Jahre, sei es um mehr Personal an diversen Unikliniken oder als VorkämpferInnen in der Lohntarifrunde des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen im letzten Herbst.

Aktuelle Situation

Seit Anfang Februar gehen zwar die Zahlen von Covid-Neuinfizierten zurück. Noch immer sterben aber hunderte Menschen täglich und Grund zu Entwarnung gebt es aufgrund des Zick-Zack-Kurse von Bund und Ländern bei der Pandemie-Bekämpfung und aufgrund neuer Mutationen erste recht nicht. Laut DIVI-Intensivregister (DIVI: Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) sind in den erfassten 1.200 Akut-Krankenhäusern derzeit 22.433 Intensivbetten belegt, lediglich 17 % der Gesamtbetten stehen bundesweit für weitere PatientInnen zur Verfügung. Von den derzeit intensivmedizinisch behandelten COVID-19-PatientInnen (über 5000 Anfang Januar 2021) müssen rund 57 % beatmet werden, mit einer durchschnittlichen Beatmungsdauer von rund zweieinhalb Wochen (Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020). Mit rund 64 % sind die Betten allerdings mit anderen als an COVID-19 Erkrankten belegt, bspw. nach Notfällen oder planbaren Operationen.

Denn anders als im Frühjahr haben viele Kliniken aufgrund finanzieller Gründe den Regelbetrieb noch immer nicht eingeschränkt. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass diese Zahlen teilweise nicht der Realität entsprechen. So meldete das ARD-Magazin „plusminus“ am 02. Dezember 2020 aufgrund interner Recherchen, dass etliche Krankenhäuser mehr verfügbare Betten gemeldet hatten, als tatsächlich zur Verfügung stehen, um den versprochenen Bonus von bis zu 50.000 Euro pro neu aufgestelltem Intensivbett vom Bund zu bekommen. Allerdings kann ein nicht unerheblicher Teil dieser Betten aufgrund fehlender Fachkräfte nicht eingesetzt werden. Dieser Fehlanreiz seitens des Bundesgesundheitsministers kostete den/die SteuerzahlerIn bisher rund 626 Millionen Euro (Quelle: www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/videos/sendung-vom-02-12-2020-video-102.html).

Zusätzlich erhielten die Kliniken sogenannte Freihaltepauschalen im Zuge von zwei Rettungsschirmen, um finanzielle Anreize für das Freihalten von Intensivbetten durch Verschiebung planbarer und nicht dringend notwendiger Operationen zu setzen. Während die Pauschalen beim ersten Rettungsschirm im Frühjahr 2020 an alle Krankenhäuser ausgezahlt wurden, sollen innerhalb des zweiten nur Kliniken Geld bekommen, die in Gebieten mit hohem Infektionsgeschehen liegen und weitere Bedingungen erfüllen. Die Entscheidung über die Auszahlung liegt bei den jeweiligen Bundesländern. Trotz der beiden Rettungsschirme fordern bereits verschiedene Organisationen, darunter die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) weitere Liquiditätshilfen für das gesamte Jahr 2021 inklusive Streichung der Einhaltung und Dokumentation von Personaluntergrenzen. Auch die Prüfquote des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen soll auf max. 5 % reduziert werden. All dies geht natürlich zu Lasten der Beschäftigten und PatientInnen.

Unterm Strich können diese Ausgleichszahlungen allerdings die Defizite im Krankenhaus nicht wettmachen, die ein auf gewinnträchtigen Behandlungen fußendes System mit sich bringt und besonders durch die Pandemie schonungslos aufgedeckt wurden. Wir kritisieren also nicht die Ausgleichszahlungen als solche, sondern ihre Planlosigkeit und ihren zu geringen Umfang. So wurden sie teils nicht an die Behandlung von CoronapatientInnen geknüpft, teils wurden Einrichtungen geschlossen (Rehakliniken) und ihr Personal in Kurzarbeit geschickt, während die Hotspots mit Überlastung und Einnahmeverlusten zu kämpfen hatten.

Für das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gab es außer Beifall und warmen Worten wenig für seine aufopferungsvolle Tätigkeit während der Pandemie. Zwar wurde eine Corona-Prämie seitens des Bundes zugesagt, diese aber an sehr viele Bedingungen geknüpft und von vornherein nur für ca. 100.000 der über 440.000 Angestellten in Krankenhäusern vorgesehen. Die Entscheidung, wer nun den Bonus bekommen solle, wurde dabei den Betriebs- und Personalräten sowie MitarbeiterInnenvertretungen (in kirchlichen Einrichtungen, wo Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetz nicht gelten) zugeschoben. Dagegen gab es allerdings teilweise heftigen Widerstand. Für die stationäre und ambulante Pflege wurde bereits im Frühjahr 2020 eine Bonuszahlung beschlossen, diese aber in sehr vielen Fällen nicht an die Beschäftigten weitergegeben.

Ökonomische Entwicklung

Während die Krankenhäuser in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg bis in die Anfänge der 1970er Jahre komplett durch den Staat finanziert wurden (Kameralistik), fand 1972 ein Wechsel zu einer dualen Finanzierung statt. Dabei wurden die Kosten zwischen den Bundesländern und den Krankenkassen aufgeteilt. Während letztere für die laufenden, also Betriebs- und Behandlungskosten, aufkamen, übernahm der Staat die sogenannten Investitionskosten. Allerdings gingen diese Aufwendungen seit Einführung dieses Systems  drastisch zurück, während es gleichzeitig zu einem Personalkostenanstieg für die Krankenkassen, genauer gesagt für die Versicherten, kam. Dies alles bereitete den Boden für die Einführung der sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs: diagnosis related groups) 2004, nachdem bereits 2002 eine gesetzlich verordnete Öffnung des Krankenhausbereichs für private Konzerne eingeführt wurde. Dies erlaubte nur noch eine Abrechnung von gleichen Behandlungskosten pro Fall, wohingegen anfallende Kosten für z. B. für Rettungswesen, Verwaltung, Materialbesorgung etc. nicht berechnet werden können. Daraus resultiert eine Auslagerung von Tätigkeiten außerhalb der Pflege mit gleichzeitigem Personalabbau im Bereich der Pflegearbeit. So ermittelte beispielsweise eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahre 2018 einen Mangel von 100.000 Vollzeitstellen allein in der Krankenhauspflege. Durch mögliche Verluste der Kliniken bei überdurchschnittlich hohem Fallaufwand sieht man sich gezwungen, PatientInnen entweder frühzeitig zu entlassen oder profitorientierte Eingriffe wie das Einsetzen künstlicher Gelenke stark gegenüber konventionellen und langwierigen Therapien zu favorisieren. Auch zahlreiche Schließungen von kommunalen Krankenhäusern sowie eine starke Privatisierungswelle waren direkte Folgen des Wechsels hin zu einem profitorientierten Abrechnungssystem.

Darunter haben nicht nur die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich stark zu leiden. Auch für PatientInnen, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet dies eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Mittlerweile formiert sich schon seit einigen Jahren Widerstand gegen ungenügende Personalbemessungsgrenzen, Fachkräftemangel und schlechte Arbeitsbedingungen. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen weitere Probleme wie die nicht ausreichende Versorgung mit Test- und Schutzausrüstung sowie die Aushebelung von erkämpften Arbeitsschutzrechten, als Beispiel sei an dieser Stelle die Erhöhung der maximalen Arbeitszeit angeführt, hinzu. So hat Niedersachsen eine Vorreiterrolle eingenommen und als erstes Bundesland die maximale tägliche Arbeitszeit für Beschäftigte in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen sowie im Rettungsdienst von 10 auf 12 Stunden täglich über den 1.1.2021 hinaus angehoben. Ausgleichsstunden oder besondere Entschädigungszahlungen sind in dieser Allgemeinverfügung zum Arbeitszeitgesetz nicht vorgesehen (Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020).

Die Antwort auf diesen besonders dreisten Vorstoß kann nur in einer Verstärkung des Kampfes für die Abschaffung der Fallpauschalen, eine gesetzlich geregelte Personalbemessung („Der Druck muss raus!“) und die Verstaatlichung der privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnenverbände bestehen. Dieser muss aktuell ergänzt werden durch einen Pandemienotplan unter ArbeiterInnen- und NutzerInnenkontrolle für flächendeckende Impfungen, Tests, Infektionskettenrückverfolgungen und Bereitstellung aller Krankenhäuser und Kliniken für die Coronatherapie.

Reaktion der Gewerkschaften und anderer Organisationen

Die Gewerkschaften, allen voran ver.di, haben sich in dieser Situation des Pflegenotstandes meist auf Lobbyismus, wie etwa das Sammeln von Unterschriften oder Starten diverser Petitionen, konzentriert. Kam es tatsächlich mal zu Streikaktionen, blieben diese meist auf einzelne Krankenhäuser wie etwa die Charité in Berlin oder andere Unikliniken beschränkt. Bei der letzten Tarifrunde im öffentlichen Dienst im Herbst 2020 wurde in erster Linie von der Tarifkommission eine Verbesserung der Entlohnung gefordert. Forderungen nach Einhaltung der beschlossenen Personaluntergrenzen wurden dagegen nicht aufgenommen, obwohl vielen Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen wichtiger gewesen wären als eine Anhebung ihrer Löhne. Denn selbst in Krankenhäusern, wo in der Vergangenheit Personaluntergrenzen vereinbart wurden, als Beispiel sei hier wieder die Charité in Berlin genannt, haben die Beschäftigten keinerlei Möglichkeiten, die Einhaltung durchzusetzen. Denn eigentlich müssten bei Unterschreitung der Personaluntergrenzen Betten gesperrt und planbare Operationen verschoben werden. Dies verringert allerdings den Gewinn der profitorientierten Krankenhäuser und wird demzufolge nicht durchgeführt.

Perspektiven für den Kampf

Um dies zu verhindern und die Einhaltung der Personalbemessungsgrenzen durchzusetzen, sind daher dringend Kontrollorgane der Beschäftigten sowie der  PatientInnenorganisationen notwendig. Und statt eines „Häuserkampfs“ in einzelnen Kliniken sollte seitens der Gewerkschaften ein bundesweiter Tarifvertrag mit gesetzlich geregelten Personaluntergrenzen und einer damit einhergehenden Mindestbesetzung gefordert werden. Um dies zu erreichen, müssen innerhalb der Gewerkschaften Streikaktionen bis hin zum politischen Streik als einem wichtigen Kampfmittel der Beschäftigten sowie der gesamten ArbeiterInnenklasse organisiert werden. Dafür sollten zunächst Aktions- und Kontrollkomitees in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen aufgebaut werden und die Beschäftigten sowie die GewerkschaftsaktivistInnen gemeinsam mit PatientInnenorganisationen über notwendige Maßnahmen entscheiden. Ein weiterer notwendiger Schritt wäre die Durchführung einer bundesweiten Aktionskonferenz zur Vernetzung für einen gemeinsamen Kampf und die Unterstützung der #ZeroCovid-Kampagne als ersten Schritt in Richtung eines Pandemiebekämpfungsnotplans.

Allerdings dürfen wir keine Illusionen in die bürgerliche Gewerkschaftsbürokratie hegen, sondern müssen für einen internen Wandel hin zu kämpferischen Gewerkschaften eintreten. Die Vernetzung für kritische Gewerkschaften (VKG) bildet einen ersten Sammelpunkt für die Möglichkeit der Bildung einer klassenkämpferischen, antibürokratischen Basisbewegung in den Gewerkschaften, die diese wieder auf den Pfad des Klassenkampfs statt der Sozialpartnerschaft mit dem Kapital führen und die Bürokratie durch jederzeit abwählbare, der Mitgliedschaft verantwortliche, zum Durchschnittsverdienst ihrer Branche entlohnte FunktionärInnen aus den Reihen der besten AktivistInnen ersetzen kann!

Als Ausgangspunkte für Diskussionen im Zuge einer solchen bundesweiten Aktionskonferenz im Gesundheitsbereich halten wir folgende Forderungen für sinnvoll:

  • Staat und Unternehmen raus aus den Sozialversicherungen! Abschaffung der konkurrierenden Kassen zugunsten einer Einheitsversicherung mit Versicherungspflicht für alle, Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen!
  • Allerdings sollen die Unternehmen ihren Beitrag („Unternehmeranteil“) proportional zu ihren Gewinnen zahlen statt zu ihren Personalkosten!
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern!
  • Stopp aller Privatisierungen im Gesundheitsbereich! Entschädigungslose Enteignung der Gesundheitskonzerne und Verstaatlichung aller Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime unter Kontrolle der dort Beschäftigten und der Organisationen der PatientInnen, alten Menschen und Behinderten sowie ihrer Angehörigen!
  • Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) – stattdessen: Refinanzierung der realen Kosten für medizinisch sinnvolle Maßnahmen!
  • Breite Kampagne aller DGB-Gewerkschaften – unter Einbezug von Streikmaßnahmen – für Milliardeninvestitionen ins Gesundheitssystem, finanziert durch die Besteuerung der großen Vermögen und Erhöhung der Kapitalsteuern!
  • Sofortige Umsetzung aller bereits durchgesetzten Regelungen zur Personalaufstockung (PPR 2), kontrolliert durch Ausschüsse von Beschäftigten, ihrer Gewerkschaften und PatientInnenorganisationen!
  • Einstellung von gut bezahltem Personal entsprechend dem tatsächlichen Bedarf, ermittelt durch die Beschäftigten selbst! Sofortige Umsetzung der von ver.di, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat eingeforderten neuen Personalbemessung PPR 2 und nötigenfalls ein politischer Streik zur Durchsetzung!
  • Kampf für bessere Bezahlung aller Pflegekräfte in Krankenhäusern und (Alten-)Pflegeeinrichtungen: mind. 4.000 Euro brutto für ausgebildete Pflegekräfte!
  • Einstellung von ausreichend gut bezahlten und geschulten Reinigungskräften! Entsprechende Qualifizierung von vorhandenem Reinigungspersonal, das mit tariflicher Bezahlung bei den medizinischen Einrichtungen eingestellt wird! Sofortige Rücknahme der Auslagerung von Betriebsteilen in Fremdfirmen bzw. Tochtergesellschaften mit tariflichen Substandards!
  • Radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich – vor allem in den Intensivbereichen: Reduzierung der Arbeitszeit auf 6-Stunden-Schichten – bei vollem Lohn- und Personalausgleich und Einhaltung der Ruhezeit von mindestens 10 Stunden! Gegen die Verschlechterung des Arbeitszeitgesetzes, nötigenfalls mittels eines politischen Massenstreiks!
  • Für einen internationalen Notplan gegen die Coronapandemie unter ArbeiterInnenkontrolle, beginnend mit einer Ausweitung der #ZeroCovid-Kampagne und der Einberufung einer internationalen Aktionskonferenz!



Bund-Länder-Gipfel: Lockdown, Teilöffnung und das Spiel mit der Gesundheit

Martin Suchanek, Infomail 1140, 4. März 2021

Wenig überraschend vereinbarte der Bund-Länder-Gipfel vom 3. März für den kommenden Monat Öffnungsschritte. Vorsichtige, natürlich. Schließlich soll eine „dritte Welle“ der Pandemie vermieden werden. Andererseits trommeln Unternehmerverbände, parlamentarische Opposition und auch die Regierungsparteien für Öffnungen. Selbstlos, natürlich. Schließlich sollen angeblich nur den BürgerInnen ihre „Freiheitsrechte“ zurückgegeben werden, als deren Kristallisationspunkt offener Schulunterricht, offene Geschäfte, Kneipen, Kultureinrichtungen und Urlaubsreisen neuerdings firmieren.

Beschlüsse vom 3. März

Mit den Beschlüssen vom 3. März setzen Bund und Länder ihren widersprüchlichen Kurs der Pandemiebekämpfung im Wesentlichen fort. Wie schon in den letzten Monaten sollen zwei letztlich gegensätzliche Ziele vereinbart werden – Gesundheitsschutz einerseits, die Geschäftsinteressen „unserer“ Wirtschaft, also die Profitinteressen des Kapitals, andererseits. Deren „Freiheitsrechte“, Beschäftigte in Fabriken, Schlachthöfen und Verteilzentren dem Virus auszusetzen, waren nie wirklich eingeschränkt.

So sollen in den nächsten Wochen auch bisher geschlossene Teile des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens geöffnet werden, wenn auch nur schrittweise und nicht ganz. Nur für den Fall deutlich steigender Infektionszahlen, die nun mit einem Inzidenzwert von 100 Infizierten pro 100.000 EinwohnerInnen, die binnen 7 Tagen positiv auf einen PCR-Test reagierten und gemeldet wurden, veranschlagt werden, sollen wieder verschärfte Regeln in Kraft treten.

Offen bleiben sollen in jedem Fall Kitas und Schulen, auch wenn es schon wenige Wochen nach den ersten Öffnungen zu einzelnen Schulschließungen kam, weil der Infektionsschutz nicht gewährleistet werden konnte. Vordergründig geht es dabei um die Sorge um Kinder und Jugendliche. In Wirklichkeit soll vor allem sichergestellt werden, dass die Eltern der Lohnarbeit nachgehen können. Schließlich brummt es in bestimmten Bereichen der Großindustrie (Automobil, Chemie) und in der Bauwirtschaft. Dort werden die Eltern geraucht und diese Arbeiten können ebenso wie die in Gastronomie, Einzelhandel oder Hotellerie nicht einfach ins Homeoffice verlagert werden.

Neben Schulen und Kitas sollen einzelne Dienstleistungen weiter offenhalten oder ab kommenden Montag, dem 8. März, aufsperren. Zu den Friseurläden gesellen sich dann Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte (sofern diese in einzelnen Ländern nicht ohnedies schon geöffnet waren) sowie Fahr- und Flugschulen.

Bei einer regionalen Sieben-Tage-Inzidenz von unter 50 darf der Einzelhandel aufsperren, bei einer von von weniger als hundert ist das Geschäft nur in der Form des Terminshopping („click and meet“) möglich.

Ähnliche Öffnungsschritte gibt es für Museen, Galerien, zoologische und botanische Gärten sowie Gedenkstätten. Weitere sind für den 4. und 5. Schritt des vereinbarten Plans für Außengastronomie, Kinos, Theater, Konzert- und Opernhäuser sowie später für Freizeitveranstaltungen mit mehr als 50 Personen vorgesehen.

Reaktionen

Deutschland verfügt nun über den lange geforderten Stufenplan. Zufrieden stellt der Kompromiss jedoch so ziemlich niemanden. Doch das war auch nicht zu erwarten. Während VirologInnen und GesundheitsexpertInnen vor einer dritten Welle warnen, kann es der Wirtschaft nicht schnell genug gehen. Alle Branchen, die nicht sofort loslegen können, fühlen sich benachteiligt. Alle hätten seit Monaten tolle Hygienekonzepte erarbeitet.

Besonders ins Zeug legt sich die Sprecherin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes DEHOGA, Ingrid Hartges. Sie vertritt nicht nur 85.000 Betriebe und deren Interessen. Die Kämpferin gegen alle Inzidenzwerte geriert sich auch gleich als Anwältin der Freiheit ihrer KundInnen und von Millionen Beschäftigten, deren Arbeitsrechte vor Corona oft genug mit Füßen getreten wurden.

Klarer Weise geht es auch anderen Branchenverbänden zu langsam – von FPD und AfD wollen wir gar nicht reden. Auch Dietmar Bartsch von der Linkspartei will mit Kritik nicht sparen und findet alles zu unübersichtlich.

Natürlich ist der Stufenplan unübersichtlich, ein Flickenteppich. Doch wie anders könnte er denn beschaffen sein, wenn er zugleich regional und branchenweise differenziert sein und sich nicht an starren Inzidenzwerten festhalten soll? Angesichts dieser Vorgaben kann ein Stufenplan nur kleinteilig werden. Solche Kritiken verbleiben zudem vollkommen an der Oberfläche, weil sie das „Wirrwarr“ an Regelungen nicht als das begreifen, was es ist: das Resultat einer widersprüchlichen Regierungspolitik. Diese versucht einerseits, ein starkes und rasches Anwachsen der Neuinfektionen, also ein exponentielles Wachstum, zu verhindern, das zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen würde. Andererseits sind die entscheidenden Teile der kapitalistischen Wirtschaft, also die Zentren der Mehrwertproduktion im industriellen Bereich, die Bauwirtschaft oder das gesamte Finanzkapital ohnedies schon während des gesamten Lockdowns von jeder Schließungsdiskussion ausgenommen.

Dabei müsste eine linke Politik zur Pandemie- und Krisenbekämpfung genau dort ansetzen, nämlich bei der Forderung nach zeitweiliger Schließung aller für die tägliche Reproduktion nicht essentieller Bereich der Ökonomie, um die Infektionszahlen gegen null zu drücken und damit die Zahl der Erkrankungen, langer und ernster Folgeschäden sowie hunderter Toter pro Tag massiv zu reduzieren und möglichst auf null zu bringen. Dies hätte zugleich den Vorteil, dass wir nicht in der Situation eines zermürbenden Dauerlockdowns leben müssten, der Millionen vor die Alternative Gesundheit oder Sicherung der Existenz stellt. Nebenbei bemerkt, würde ein solidarischer Lockdown nach einem zeitweiligen Herunterfahren der Wirtschaft also sehr viel allgemeinere Öffnungsmöglichkeiten bieten.

Die Politik des solidarischen Lockdowns, wie sie die Initiative #ZeroCovid vertritt, stellt eine substantielle, grundlegend andere Strategie als jene der Bundesregierung, aller Kapitalverbände, der totalen ÖffnungsfanatikerInnen und der rechten Corona-LeugnerInnen dar.

Sie würde die zeitweilige europaweite Schließung aller nicht-essentiellen Bereiche unter Kontrolle der Beschäftigen und Gewerkschaften mit der Forderung nach sozialer Absicherung für alle, dem Ausbau des Gesundheitswesens, dem Ende privater Verfügungsgewalt über die Impfstoffproduktion und -verteilung sowie nach Finanzierung dieser Maßnahmen durch die Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen verbinden.

Bürgerliche Pandemiepolitik und Individualisierung

Doch zurück zur bürgerlichen Politik. Die Strategie der Bundesregierung hofft auf eine Begrenzung der Ausbreitung des Virus („Flatten the Curve“), um so eine dritte Welle im Zaum zu halten, bis eine Immunisierung durch Impfungen erreicht worden sei. Ob das funktioniert, ist mehr als fraglich angesichts der Ausbreitung neuer Mutanten und einer damit einhergehenden rascheren Verbreitung des Virus.

Massentests, zumal kostenlose, könnten sicherlich hilfreich für die Eindämmung des Virus sein. Wenn sie jedoch kombiniert werden mit einer Erhöhung der Verbreitungsmöglichkeiten des Virus, so wirken sie allenfalls beschränkt. Eine Wunderwaffe gegen die Infektion stellen sie keineswegs dar, wie Länder wie Österreich zeigen, die seit Monaten weit mehr Tests durchführen, gleichzeitig größere Bereiches des Handels und Tourismus öffneten und deutlich höhere durchschnittliche Inzidenzwerte als Deutschland aufweisen.

Die Forderungen all jener, die auf noch raschere Öffnungen drängen, laufen in jedem Fall auf eine Erhöhung des Gesundheitsrisikos für die Bevölkerung hinaus, und zwar für Millionen. Die sog. Risikogruppen sind schließlich keine kleine Minderheit, wie es in der öffentlichen Diskussion mitunter suggeriert wird. Eine Studie des RKI geht davon aus, dass etwa 36,5 Mio. Menschen in Deutschland einem erhöhten Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf ausgesetzt sind. Das sind 51,9 % der Bevölkerung ab 15 Jahren. Davon gehören 21,6 Mio. Menschen zur Hochrisikogruppe, also 30,6 % der Bevölkerung ab 15 Jahren. Überdurchschnittlich betroffen sind dabei alleinlebende Personen und Menschen mit schlechteren Bildungsabschlüssen.

Im Grunde hoffen Bund und Länder mit einer Kombinationen von Öffnungsschritten, Massentests und beschleunigten Impfungen, die Ausbreitung des Virus, schwere Krankheitsverläufe und Todeszahlen auf ein „akzeptables“ Maß zu beschränken.

Politisch kommt die Regierung damit all jenen auf halbem Weg entgegen, die auch angesichts der Ausbreitung hoch infektiöser Mutanten endlich zu einer „Normalität“ zurückkehren wollen, die stillschweigend hunderte Tote pro Tag akzeptiert.

Der Dreiklang der Öffnungspolitik – Impfung, Massentests und Hygienekonzepte – schiebt zugleich die Verantwortung für die eigene Gesundheitsvorsorge auf die einzelnen Menschen. So wie die Essenz der Freiheit der LohnarbeiterInnen im Verkauf (oder Nichtverkauf) der Ware Arbeitskraft besteht, so sollen auch die freien StaatsbürgerInnen entscheiden, ob und wie sehr sich dem Infektionsrisiko aussetzen oder nicht. Schließlich ist ja niemand gezwungen, ins Restaurant, ins Kino, ins Theater zu gehen …

Das erhöhte Infektionsrisiko stellt eben den Preis der Freiheit dar, die es – no risk, no fun – in der bürgerlichen Gesellschaft nicht umsonst gibt.

In einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft sprechen das die Autoren Bardt und Hüther klar aus:

„Ein gesellschaftliches Optimum ist nicht bei dem Extremfall der vollständigen Vermeidung und Risikofreiheit zu suchen, sondern wird in einer Kombination aus geringer Verbreitung und guter Kontrolle des Virus und seiner Folgen liegen – die Formel ‚mit dem Virus leben’ meint genau dies. Das ist gesellschaftlich herausfordernd, weil es so etwas wie virus-spezifische Bereitschaft und Fähigkeit einfordert, mit begrenzten gesundheitlichen Folgen und begrenzter Sterblichkeit zurechtzukommen, diese auszuhalten.“ (Aus dem Lockdown ins Normal, S. 10)

Dies ist nicht nur zynisch gegenüber den Kranken und Sterbenden, deren Leid oder Tod vermeidbar wäre. Es verklärt zugleich deren Hinnahme und das Abstumpfen von Empathie und Sorge zur „gesellschaftlichen Herausforderung“. So wird das Interesse am Anlaufen der Wirtschaftsmaschine zur Freiheit verklärt.

Ruf nach „Freiheit“

Ganz in diesem Sinn, wenn auch weniger verklärend, wurden schon vor dem letzten Bund-Länder-Gipfel Forderungen nach weiteren Öffnungen aller bislang geschlossenen Bereiche der Wirtschaft oder des öffentlichen Lebens immer lauter. Unternehmerverbände, Standesorganisationen, von AfD und FDP ganz zu schweigen, trommeln für die Öffnung von allem und jedem – natürlich nicht nur für „unsere“ Wirtschaft, sondern für „Freiheit“ und „BürgerInnenrechte“. Rechtspopulismus und Neoliberalismus mutieren geradezu zu Freiheitsparteien.

So ziemlich jede bürgerliche Kraft präsentierte ihre „Öffnungsperspektive“ oder ihren „Stufenplan“. Da wollten auch die Regierungsparteien nicht zurückstehen. Gesundheitsminister Spahn verkündet – wieder einmal voreilig – Massentests aus dem Supermarkt oder gar flächendeckende kostenlose Testung. Familienministerin Giffey, die in Neukölln für harte Selektion gegenüber (muslimischen) MigrantInnen stand, entdeckt Kinder und Jugendliche. Diese seien mehr als SchülerInnen und Lernende, nämlich, man sollte es nicht glauben – Menschen. Billige Gefühlsduselei, die sich als Empathie gibt, ersetzt das fehlende politische Konzept.

MinisterpräsidentInnen drängten auf „regionale“ Lösungen, also auf die Öffnung im „eigenen“ Bundesland. Bayerns Landeschef Söder verklärte die Öffnung der Friseurläden und den folgenden Haarschnitt zum Schritt, den Menschen wieder ihre „Würde“ zurückzugeben. Somit wissen wir wenigstens, wo dieses vergleichsweise billige Gut zu erwerben ist.

Sorgen um das Wohl der Kinder und Jugendlichen macht sich selbstredend nicht nur Ministerin Giffey. So ziemlich alle, die in den letzten Jahren an der Bildung kräftig gespart haben, denen kostenlose und flächendeckende Kitas noch vor kurzem als sozialistisches Teufelszeug und Anschlag auf die Mutterrolle galten, werfen sich jetzt für Kind und Gleichheit in die Bresche. All jene, die über Jahrzehnte das klassenmäßig und rassistisch selektive dreigliedrige Schulsystem zur Ultima Ratio menschlicher Bildung stilisiert haben, die jeden Schritt zur Gemeinschaftsschule oder zu realer Integration sowie die dementsprechende finanzielle und personelle Ausstattung blockiert haben, entdecken jetzt ihr Herz für MigrantInnen, Erwerbslose und die sog. bildungsfernen Schichten, also die Underdogs aus der ArbeiterInnenklasse. Konkurrenzdruck, Prüfungsstress, Notenterror, Ausgrenzung, Leistungsdruck fanden vor Corona an deutschen Schulen anscheinend nur ausnahmsweise statt.

Doch nicht nur Kitas und Schulen, auch die Kultur findet UnterstützerInnen wie selten zuvor. Vorbei sind die Zeiten, wo die Verschwendung für subventionierte Staatskunst in Konzerthäusern und Theatern angeprangert wurde, wo sich Kunst am Markt und sonst nirgendwo bewähren sollte. Das drohende Sterben der Kinos und unabhängigen Bühnen, die schon vor Corona von Ketten und Kommerz an den Rand gedrückt waren, erweicht nun viele AnhängerInnen des freien Marktes.

Der Besuch des Restaurants und der Kneipe wird neuerdings zur kulturellen Leistung erhoben, sogar der Einkauf, ob im Ein-Euro-Shop oder in der Edelboutique, wird zum Akt der Freiheit, ja zur eigentlichen Freiheit.

Und wer sollte es den ParteigängerInnen der kapitalistischen Marktwirtschaft verdenken, dass der Warenkauf, das offene Geschäft, das offene Restaurant, also die Freiheit des Warenverkehrs zur höchsten Form der Freiheit schlechthin verklärt wird. Schließlich drängt sich die auf der Basis der bürgerlichen Gesellschaft geradezu auf, als gedankliche, ideologisierte Widerspiegelung gesellschaftlich wesentlicher Verhältnisse.

Widersprüche der Regierungspolitik

Die handfeste prekäre Lage und die reale Existenzdrohung, in die widersprüchliche Politik der Bundes- und Landesregierungen mittlerweile Millionen Menschen tatsächlich gebracht hat, bestärkt diesen Ruf nach dieser Freiheit, nach Öffnung, nach Rückkehr zur kapitalistischen Normalität.

Wenn viele Menschen über die Härte des Lockdowns, über dessen soziale und individuelle Folgen klagen, so können sie das auch gut begründen.

  • Die Millionen Menschen, die in Kurzarbeit geschickt wurden, haben massive Einkommensverlust hinnehmen müssen, auch wenn sie noch etwas sozial abgefedert waren. Umso mehr trifft das alle, die entlassen wurden oder als Selbstständige, FreiberuflerInnen oder prekär beschäftigte „SubunternehmerInnen“ ihr Einkommen verloren.
  • Das heißt, die Pandemie und die mit ihr eingehende Wirtschaftskrise treffen vor allem zwei Klassen – die Lohnabhängigen und die (unteren) Schichten des KleinbürgerInnentums.
  • Auch wenn es Abfederungen gab (und gibt), so hat das schon jetzt massive Einkommenseinbußen und etliche Pleiten nicht verhindert. Hinzu kommt, dass alle wissen, dass in den nächsten Monaten weitere Entlassungen, Umstrukturierungen und Schließungen drohen, viele also nicht am Ende, sondern am Beginn der wirtschaftlichen Folgen von Krise und Pandemie stehen.
  • Die Schließungen der Schulen und Kitas verstärken zum Teil die soziale Selektion. Sie machen sie vor allem deutlicher sichtbar. Hinzu kommt, dass Kindern und Jugendlichen aus der ArbeiterInnenklasse und vor allem aus deren ärmsten Schichten am wenigsten Wohnraum und Infrastruktur zur Verfügung stehen. Zudem leiden auch deren Eltern am stärksten vor realer Angst vor Verarmung.
  • Die Politik der Regierung, die Industrie, Banken, Finanzinstitutionen neben den wirklich essentiellen Bereichen wie Krankenhäusern oder Lebensmittelhandel offenzuhalten, bedeutet, dass die Belastung lohnabhängiger Frauen besonders stark ansteigt, dass diese noch mehr Hausarbeit, Kinderbetreuung und Berufstätigkeit stemmen müssen.
  • Hinzu kommt auch die Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen, Transpersonen und Kinder. Während der Pandemie ist ein Entkommen aus dieser häuslichen Hölle noch schwieriger.

Diese verheerenden Auswirkungen gedenken die ÖffnungstrommlerInnen aus Wirtschaft, bürgerlicher Politik oder dem Rechtspopulismus natürlich nicht zu lösen. Sie instrumentalisieren sie aber, indem sie versuchen, in ihrer Existenz bedrohte kleinbürgerlichen Schichten und Lohnabhängige, die tatsächlich von der Politik im Stich gelassen werden, vor ihren Karren zu spannen.

Während die Ausbreitung der Infektionszahlen und bis zu tausend und mehr Tote pro Tag die Corona-LeugnerInnen und ÖffnungsfanatikerInnen Anfang des Jahres zum Schweigen brachten, wittern sie jetzt politische Morgenluft. Die Zahl der Corona-Toten und Kranken gilt als überschaubar und müsse eben so hingenommen werden. Während auf die Zunahme von anderen Erkrankungen, Depressionen, häuslicher Gewalt verwiesen wird, wird über die Toten der Mantel des Schweigens gehüllt und so getan, als wären alle Probleme der Gesellschaft gelöst, wenn nur alle wieder kaufen und verkaufen könnten, wie sie wollen.

Und die Linke?

Angesichts dieser Lage sind Initiativen wie #ZeroCovid in eine gesellschaftliche Defensive geraten, obwohl sie eine solidarischer Strategie im Interesse der Masse der Bevölkerung vertreten. Es wäre jedoch grundfalsch, angesichts dieser aktuellen Stimmungslage die Initiative oder ihre Forderungen fallenzulassen oder erst wieder zu erheben, wenn sich die Stimmung ändert.

Im Gegenteil! Wir müssen gerade in den Gewerkschaften, in sozialen Bewegungen weiter für den solidarischen Lockdown eintreten, für eine Politik, die Gesundheitsschutz und den Kampf gegen die Lasten von Pandemie und Krise und deren Abwälzung auf die Bevölkerung miteinander verbindet. Natürlich darf dies nicht ultimatistisch geschehen, sondern aktuell sollten folgende Aspekte in den Vordergrund gerückt werden:

  • Die Unterstützung aller Aktionen von Gewerkschaften, Beschäftigten, sozialen Bewegungen, die auch die Fragen von Gesundheitsschutz, sozialer Sicherung, Internationalismus und Klassenpolitik miteinander verbinden – seien es die Mobilisierungen zum Internationalen Frauenkampftag, sei es der Aktionstag der Berliner GEW am 12. März, seien es Kämpfe von SchülerInnen gegen Prüfungs- und Abschlussstress unter Corona-Bedingungen und vieles mehr.
  • Das Warnen vor eine „dritten Welle“, die angesichts der Regierungspolitik wie auch  der anderer EU-Staaten in den nächsten Wochen leider wahrscheinlicher wird. Ein solche Verschlechterung der Lage wird die Forderung nach einem europaweiten „solidarischen Shutdown“ auf die Tagesordnung setzen, wenn wir Gesundheitsschutz und soziale Sicherheit durchsetzen wollen.
  • Die letzten Wochen zeigen einmal mehr: eine an den Interessen der Masse der Menschen, der Lohnabhängigen, der Jugend, der Frauen, der geschlechtlich Unterdrückten, der MigrantInnen und der älteren Menschen orientierte Politik muss eine Klassenpolitik sein. Sie kann nur durch Mobilisierungen gegen Kapital, Regierungen und politische Rechte, durch eine gesellschaftlichen Bewegung erkämpft werden, die in den Betrieben, an Schulen und Unis, im öffentlichen Dienst, in den Krankenhäusern, in den Wohnvierteln, in Stadt und Land verankert ist.
  • Die Verklärung der Hinnahme einer „akzeptablen“ Zahl von Toten als „gesellschaftliche Leistung“ durch (neo)liberale, konservative oder rechte IdeologInnen des Kapitals, das rechtspopulistische Gerede von der Corona-Diktatur oder die Verklärung des freien Warenverkehrs zur Freiheit schlechthin verdeutlichen, dass der Kampf um die Corona-Politik auch auf ideologischer Ebene eine Form des Klassenkampfes darstellt. Es gilt, die Menschenverachtung und den Zynismus alle jener zu entlarven, die von der Rückkehr zu einer Normalität sprechen und damit die Bevölkerung darauf einstimmen wollen, den Tod Tausender in Deutschland und von Millionen weltweit als Normalzustand in Kauf zu nehmen. Vor allem aber gilt es darzulegen, worin der Zweck dieser barbarischen Unternehmung besteht: nämlich in der Verbreitung der Vorstellung, dass es keine Alternative zur Akzeptanz einer solchen Politik gebe. Wir müssen daher nicht nur darlegen, dass hinter den Kosten der bürgerlichen Freiheit die Interessen des Kapitals zum Vorschein kommen. Wir müssen auch darlegen, dass es bei der Frage der Corona-Politik, der Durchsetzung eines solidarischen Shutdowns im Interesse der ArbeiterInnenklasse auch um die Frage geht, welche soziale Kraft, welche Klasse die Gesellschaft selbst so reorganisiert, dass die Bekämpfung der Pandemie nicht mehr als Gegensatz zur „Freiheit“ erscheint. Dies erfordert freilich, den Kampf um die Forderungen von #Zero-Covid im größeren Kontext des revolutionären Kampfes um die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer globalen, demokratischen Planwirtschaft zu begreifen.



Widersprüche und Widerstände: Lockdown 2.0

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Der Lockdown light von Bund und Ländern ist gescheitert. Noch Mitte November verkündeten Regierungen und bürgerliche Politik, dass sich die Infektionszahlen, wenn auch auf hohem Niveau, stabilisiert hätten und das extrem rasche Viruswachstum gebrochen wäre.

All das erweist sich als Schönwetterrhetorik. Der Herbst wurde kalt und trübe und der Wetter wird noch kälter und düsterer werden. Die Entwicklung von Impfstoffen mag zwar die Gesundheitslage im Laufe des kommenden Jahres substantiell verbessern – kurzfristig wütet die Pandemie jedoch wie nie zuvor, und zwar weltweit und in Deutschland.

Pandemische Lage

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels, am 12. Dezember, waren bundesweit 321.500 Menschen infiziert. Zum Vergleich: Die Höchstzahl der ersten Welle betrug am 7. April 2020 64.318 Personen. In der 2. Dezemberwoche erlebten wir zudem einen Anstieg der Zahlen in allen Bundesländern außer Bremen. Hamburg bildete mit 38,1 % den traurigen Rekord. Würden alle Bundesländer als gleich groß gewertet werden, so wäre der durchschnittliche Anstieg gegenüber der vorhergehenden Woche etwa 16 %, der Medianwert liegt dabei bei 14,35 % (Quelle: RKI vom 12.12.2020).

Nicht minder dramatisch stellt sich die Zahl der täglich an oder mit Corona Verstorbenen dar. Im Dezember überstieg sie mehrfach den bisherigen Höchststand vom 15. April mit 510 Verstorbenen pro Tag. Der bisherige Negativrekord wurde am 10. Dezember mit 604 Toten erreicht. Hochgerechnet auf einen Monat entspräche das über 15.000 (!) Toten. Ohne drastische Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Kontaktbeschränkung drohten über die kommenden Monate noch dramatischere Zahlen und eine massive Überlastung des Gesundheitswesens, vor allem aufgrund fehlenden Personals, an dem es über Jahre neoliberaler „Reformen“, Privatisierungen und Kürzungen nun überall mangelt.

Setzt sich diese Entwicklung fort, droht der gesundheitspolitische Deichbruch. Das dämmert wohl auch der Bundesregierung und den Ländern. Faktisch besteht die Landkarte Deutschlands nur noch aus Risikogebieten. Ein „echter“ Lockdown zeichnet sich ab, der ab 16. Dezember gelten soll. Dieser soll folgende Maßnahmen umfassen:

  • Bundesweite Schließung von Schulen und Kitas
  • Schließung aller Geschäfte und Läden, die nicht der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern dienen
  • Ausgangssperren, die sich jedoch regional oder lokal unterschiedlich gestalten
  • Eine Verlängerung und Ausweitung der Entschädigungszahlen für geschlossene Geschäfte.

Gültig sind die Maßnahmen bis zum 10. Januar, gewissermaßen als Verlängerung der Weihnachtsferien unter massiven Kontaktbeschränkungen. Bund und Länder hoffen, mit einem härteren Lockdown Neuinfektionen und Verbreitungsrate so weit absenken zu können, dass Schulen und Geschäfte ab der 2. oder 3. Januarwoche wieder zur „Normalität“ zurückkehren können, die Zahlen bis zum Frühjahr „kontrollierbar“ bleiben und aufgrund von Impfungen der besonders Gefährdeten einschließlich der Beschäftigten in Krankenhäusern und in der Altenpflege weniger Menschen schwer erkranken oder gar sterben.

Heilige Weihnacht, böses Neujahr?

Dafür soll auf Neujahrsfeiern verzichtet werden und auch das heilige Fest des Friedens, der Liebe und der Familie, besser als Weihnachten bekannt, nur eingeschränkt stattfinden.

Sinnvoll sind solche Kontaktbeschränkungen allemal. Allein, der ideologische und wirtschaftliche Eiertanz um diese Maßnahmen weist auf die Widersprüchlichkeit der Regierungspolitik hin, die auch den härteren Lockdown durchzieht – wohl auch wie ihre gesamte Regierungszeit.

Während Reisen zum familiären Weihnachtsfest außer Frage stehen und die Kontaktbeschränkungen etwas erleichtert werden, soll das für das andere große, vergleichsweise weltliche Neujahrsfest nicht gelten. Dieses feiern wir schließlich ausgelassen mit FreundInnen und nicht nur mit der heiligen, vorzugsweise christlichen Familie.

Angesichts der pandemischen Lage mahnen neuerdings auch CDU-PolitikerInnen zur Zurückhaltung unterm Weihnachtsbaum. Noch am 21. November verteidigte Friedrich Merz im Tagesspiegel die Weihnachtsfeier noch als letztes Refugium der Freiheit: „Es geht den Staat auch nichts an, wie ich mit meiner Familie Weihnachten feiere.“

Angesichts steigender Todeszahlen schweigt er seither. Freilich: Die Doppelmoral der bürgerlichen Politik erschöpft sich längst nicht damit. Fast alle BefürworterInnen eines härteren Lockdowns wollen nicht nur ein Familienfest light, sondern auch das Weihnachtsgeschäft einigermaßen retten.

Kein Wunder, dass der 12. Dezember, der letzte „sichere“ Einkaufstag, zum umsatzstärksten des Jahres wurde. Die Kaufhäuser waren übervoll. Während die „Politik“ ständig die BürgerInnen ermahnt, sich verantwortlich zu verhalten und auf die Abstands- und Hygieneregeln zu achten, sollten möglichst viele ihre Einkäufe noch rasch und rechtzeitig erledigen und nicht nur online shoppen.

Geradezu sinnbildlich offenbarte sich die Doppeldeutigkeit am Beispiel Frankfurt/Main am 12. Dezember. Der SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann erließ einerseits ein Verbot der Querdenken-Demonstration, andererseits reduzierte die Stadt für einen Tag die Ticketpreise auf die Kosten von Kinderfahrscheinen, um das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln.

Neben dieser makaberen Doppeldeutigkeit läuft die gesamte Weihnachts- und Neujahrspolitik der Regierungen aber auch auf folgendes Muster hinaus: Gelingt es nicht, die Zahlen zu reduzieren, sind dafür die Menschen hauptverantwortlich. Das Brechen von Kontaktbeschränkungen im privaten Bereich, im Haushalt, mit Familie und FreundInnen wird als zentrales, wenn nicht als das Hauptproblem der unkontrollierten Ausbreitung der Pandemie präsentiert.

Kapitalistisches Pandemiemanagement und seine Widersprüche

Dabei treten die Widersprüche des kapitalistischen Pandemiemanagements seit Monaten offen zutage.

Der zweite Lockdown erstreckte sich im Wesentlichen auf Bereiche des privaten Konsums und der Freizeit – von der Gastronomie bis zu Theater, Konzerthäusern und Kinos. Zu Recht fragten sich Millionen, warum der Besuch eines Klassenzimmers mit 30 SchülerInnen erlaubt, ein Treffen mit 5 FreundInnen jedoch pandemietreibend sein sollte. Zu Recht fragen sich Millionen, warum z. B. Kinos und Theater mit funktionierenden Hygienekonzepten geschlossen wurden, während Shoppingmalls (Einkaufszentren) weiter offenhielten. Hinzu kam, dass die Regierung keine Vorsorge für eine absehbare zweite Welle getroffen hatte – sei es durch dauerhafte Maßnahmen im Gesundheitsbereich oder durch die Ausstattung der Schulen mit Luftfiltern oder Verkleinerung der Klassengrößen. Schließlich hätte das Milliarden gekostet, die schon zur Rettung der Unternehmen verbraten waren. Die öffentliche innere Widersprüchlichkeit der Maßnahmen rief viel berechtigte Empörung hervor und verschaffte in den ersten Wochen auch der rechtspopulistischen Querdenken-Bewegung weiter Zulauf.

Vor allem aber führte sie dazu, dass sich Corona im Herbst wieder massiv ausbreitete und die zweite Welle der Pandemie weit mehr Opfer fordert als die erste.

Das hängt auch mit einem grundlegenden Unterschied des Lockdowns zusammen. Im März und April stellten die meisten Industriebetriebe aufgrund unterbrochener Lieferketten ihre Produktion ein. Die Schulen waren geschlossen, der öffentliche Verkehr ging massiv zurück.

Im Lockdown light, aber auch nach Verschärfung der Maßnahmen durch die Bundes- und Landesregierungen Mitte Dezember 2020, blieben zentrale Teile der kapitalistischen Ökonomie ausgenommen – genauer gesagt jene, die für die Schaffung des Mehrwerts und für Kredit und Kapitalzirkulation wesentlich sind: Industrie, Transport und Finanzsektor.

In der Weihnachtszeit kommen schließlich nicht nur Familien zusammen, es ist auch der Zeitraum, indem viele Menschen ohnehin Urlaub genommen haben, in der viele Werke sogar Betriebsurlaub anordnen, indem Eltern sowieso mit ihren Kindern zuhause bleiben müssen. Summa summarum ist es für das Kapital der billigste Zeitpunkt für einen Lockdown!

Kein Wunder also, dass große Kapitalfraktionen die Wirtschaftspolitik der Regierung durchaus mit Wohlwollen betrachten. Die Unternehmen, die mit stärkerer Kritik gegenüber den Maßnahmen laut wurden, sind vor allem in der Zirkulationssphäre ansässig, wie beispielsweise die Veranstaltungsbranche, der Tourismus- und Hotelsektor und auch der „nicht-systemrelevante“ Einzelhandel. Diese sollten teilweise mit halbgaren Überbrückungshilfen befriedet werden oder durch Appelle daran, dass „Einkaufen […] eine patriotische Pflicht“ ist, wie CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier es formulierte.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Dass die SPD und die Gewerkschaften den Kurs der Regierung mitbestimmten bzw. mittragen, erklärt wesentlich, warum es bislang so wenig Widerstand von links gab. Über Monate befand sich auch die Linkspartei im Dornröschenschlaf. Mit dem Herbstbeginn geht sie immerhin vermehrt auf Distanz zur Regierung und fordert eine Vermögensabgabe von 300 Milliarden Euro über 20 Jahre.

Auch wenn die Krise 2020 teilweise beschränkt wurde durch Milliardenstützen, KurzarbeiterInnengeld, Finanzhilfen aller Art, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie schon in diesem Jahr zu dramatischen Einkommenseinbußen, Lohnverzicht, Entlassungen, Betriebsschließungen geführt hat:

  • Noch immer arbeiten Millionen in Kurzarbeit. Viele Kleinunternehmen, FreiberuflerInnen, Selbstständige stehen vor dem Aus.
  • In der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes erlitten die Gewerkschaften eine schwere Niederlage, was zu stagnierenden oder sinkenden Einkommen für Millionen Beschäftigte in den nächsten 3 Jahren führen wird.
  • In der Großindustrie – insbesondere im Automobil- und Luftfahrtbereich – drohen oder laufen massive Kürzungsprogramme, Massenentlassungen und der Verlust zehntausender Arbeitsplätze in Konzernen wie Daimler.
  • Der Umstieg auf Homeoffice während der Pandemie verändert Millionen Arbeitsverhältnisse und damit die Ausbeutungsraten massiv zugunsten des Kapitals.
  • Während Teile des Unternehmertums massive Einbußen erlitten, gibt es natürlich auch „Corona-GewinnerInnen“ wie Logistik, Versandhandel oder die Pharma-Industrie.
  • Der sog. Green New Deal entpuppt sich als Förderprogramm für die E-Mobilität – auf Kosten von Beschäftigten und Umwelt, wie am Dannenröder Wald zu sehen ist.
  • Hunderttausenden droht, wegen sinkender Einkommen und weiter steigender Mieten und Wohnungsspekulation ihr Heim zu verlieren.
  • Regierungen und Kapital nutzen die Pandemie zur Einschränkung demokratischer Rechte und zur Einschüchterung der ArbeiterInnenklasse und sozialer Bewegungen. Nicht nur Gesetze werden verschärft. Alle, die mit Demonstrationen, Besetzungen für ihre berechtigten sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Interessen eintreten, werden unter Generalverdacht gestellt, die Gesundheit anderer zu gefährden. Die wahnwitzige, pseudoradikale kleinbürgerliche Querdenken-Bewegung, die Freiheit mit Rücksichtslosigkeit gleichsetzt und tatsächlich den Tod Tausender billigend in Kauf nimmt, erleichtert den bürgerlichen Kräften dabei ihre Politik.

Aufgaben für 2021

Die Zögerlichkeit der Regierungen in Bund und Ländern bezüglich der Einschränkungen zwischen Weihnachten und Neujahr, aber auch die Friedhofsruhe bezüglich der fiskalpolitischen Maßnahmen gegenüber der Corona-Neuverschuldung zeigen einerseits, dass die Pandemie sicher zum Hauptthema der kommenden Bundestagswahl wird. Andererseits wird die Regierung versuchen, die ganz massiven Einsparungen erst in der nächsten Legislatur durchzuziehen. Bis zur Bundestagswahl soll alles am besten noch „abgefedert“ und sozial stattfinden. Die Gesamtrechnung für die Bekämpfung der Pandemie und für die Kosten der kapitalistischen Krise – insbesondere für die Staatsverschuldung – soll erst nach den Wahlen präsentiert werden.

Die Maßnahmen der Regierung verdeutlichen, dass im Kapitalismus eine Bekämpfung der Pandemie höchstens über ein medizinisches Heilmittel erfolgreich sein kann. Währenddessen werden wir durch ein widersprüchliches Krisenmanagement von einer Welle in die nächste zu geraten drohen.

Dem Lockdown der Regierung müssen wir die Forderung nach einer Schließung aller für Gesundheit, Versorgung, Infrastruktur nicht notwendigen Bereiche entgegenstellen. Dabei können wir uns nicht auf das Kabinett oder die MinisterpräsidentInnen und ihren Apparat – und erst recht nicht auf die UnternehmerInnen verlassen. Diese muss vielmehr unter Kontrolle der Beschäftigten und Gewerkschaften erfolgen. Diese müssen bestimmen, welche Arbeit, welche Art Produktion aufrechterhalten und welche wie lange eingestellt wird. An den Schulen müssen Kontrollausschüsse aus Beschäftigten, SchülerInnen und Eltern festlegen, ob und unter welchen Bedingungen der Unterricht aufgenommen werden kann.

Ein solcher Lockdown ist angesichts der aktuellen Notlage notwendig. Er muss zugleich ergänzt werden durch den Ausbau der Testkapazitäten, von Infrastruktur in Schulen und Betrieben, wie mit Raumluftfiltern, Quarantäneangeboten in Hotels für Personen ohne eigenen Rückzugsort (z. B. Flüchtlinge und Obdachlose) und einer gesellschaftlichen Kontrolle über die Vergabe sicherer Impfstoffe.

Ergänzt werden muss dies durch die Sicherung der Einkommen und Löhne von allen, die in Kurzarbeit sind; für Arbeitslosengeld in der Mindesthöhe von 1600.- Euro/Monat statt Hartz IV, durch die Auszahlung eines Mindesteinkommens für kleine Selbstständige und Studierende und für Stützungsprogramme von Kleinunternehmen, um sie vorm Ruin zu bewahren.

Zugleich braucht es aber auch entschiedene Maßnahmen, um die Kosten der Krise und der Pandemie den großen Kapitalien und VermögensbesitzerInnen aufzuzwingen. Ohne Eingriffe in das Privateigentum an den großen Unternehmen, in das Kreditwesen, in den Kapitalverkehr wird jede Bekämpfung der Pandemie immer nur Stückwerk bleiben, immer vom Widerspruch zwischen allgemeinen Gesundheits- und Lebensinteressen und den Profitinteressen des Kapitals geprägt sein.

Die entschädigungslose Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens unter Kontrolle der dort Arbeitenden wäre dazu ein erster unerlässlicher Schritt – und zugleich auch ein Mittel sicherzustellen, dass ein Impfstoff allen gemäß ihrer Bedürftigkeit kostenlos zukommt und zwar nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in der sog. Dritten Welt.

Die Frage der entschädigungslosen Enteignung betrifft aber auch alle Sektoren, die mit Entlassungen, Kürzungen drohen oder diese schon vornehmen – womit auch ein wichtiger Schritt gesetzt wäre zur Enteignung der Schlüsselpositionen der Wirtschaft, vor allem der großen Konzerne, Banken und Finanzinstitutionen.

Nur durch eine Verstaatlichung unter Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung wäre es möglich, die Produktion und Investitionen gemäß eines gesellschaftlichen Plans über notwendige, nützliche, aufzunehmende und unnötige, einzustellende Arbeit in der Pandemie und zum Umbau nach ökologischen und sozialen Kriterien zu reorganisieren.

Kampf

Eine solche Lösung der gesundheitlichen (und ökonomischen) Krise muss jedoch erkämpft werden. Das Perfide an der Situation ist, dass wir damit rechnen müssen, dass die sozialen Angriffe zurzeit noch nicht mit einem Schlag, sondern eher in Form einer Salamitaktik einschlagen. Dagegen entsteht zwar spontan lokaler Widerstand, aber er verbindet sich keineswegs automatisch. Die Gewerkschaften begrenzen die Auseinandersetzungen in der Regel auf den jeweiligen Standort – auch dort, wo betriebliche Auseinandersetzungen gegen Schließungen und Entlassungen geführt werden. Sie weigern sich aus Perspektive von Co-ManagerInnen, dies im Gesamtbetrieb, geschweige denn innerhalb der Branche oder gar in der Gesellschaft insgesamt auszufechten. Dadurch entstehen zwar immer wieder heroische betriebliche Auseinandersetzungen. Diese verpuffen jedoch schnell und zeichnen so auch ein Bild von Aussichtslosigkeit.

Die Aufgabe von RevolutionärInnen, von klassenkämpferischen ArbeiterInnen besteht aktuell nicht darin, auf die Spontaneität der Klasse zu hoffen, sondern schon jetzt die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, seien es Gewerkschaften oder Parteien wie die SPD und die Linke in Debatten um die Organisierung und den Inhalt eines Widerstandes zu ziehen und den Aufbau eine Antikrisenbewegung in Angriff zu nehmen. Um den Inhalt, die Forderungen, die Strukturen einer solchen Bewegung braucht es eine öffentliche und kontrovers geführt Diskussion – vor allem aber die gemeinsame Aktion, um die Frage des Kampfes gegen die Krise nicht dem bürgerlichen Parlament zu überlassen und zugleich offen um die effektivsten Kampfmethoden zu streiten.




Novelle des Infektionsschutzgesetzes: Regierung lässt Notstandbefugnisse parlamentarisch absegnen

Martin Suchanek, Infomail 1126, 19. November 2020

Bundestag und Bundesrat können auch rasch handeln. An einem einzigen Tag, am 18. November, stimmten sie die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes durch, so dass sie nach Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten schon am Folgetag in Kraft tritt.

Große Koalition plus

An der Corona-Politik wird sich damit nichts Grundsätzliches ändern. Die Große Koalition und die Landesregierungen werden weiter versuchen, die Profitinteressen des Großkapitals zu wahren, eine Schließung von Großkonzernen und der Schulen zu vermeiden – und zugleich die Infektionszahlen nach unten zu drücken, indem vor allem das öffentliche Leben im Konsum- und Freizeitbereich eingeschränkt wird.

Wie sehr die Bundesregierung dem Kapitalinteresse verpflichtet ist, verdeutlichen die Milliarden, die in die Rettung von Konzernen wie der Lufthansa gepumpt wurden, während für die Unterbringung von Obdachlosen, für den Ausbau von Testkapazitäten, für die Vorbereitung der Schulen auf eine 2. Welle der Pandemie Zeit verloren ging und kein Geld lockergemacht wurde.

Im Bundestag stimmten 413 Abgeordnete für die Gesetzesänderung, 235 dagegen, 8 enthielten sich. Im Bundesrat erhielt es 49 von 69 Stimmen. In beiden Kammern konnte sich die Regierung auf eine klare Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und Grünen stützen, die gewissermaßen als erweiterte „Mitte“ agierte und so die bisherige Politik von Bund und Ländern legitimierte.

Erklärter Zweck des Gesetzes war schließlich auch, die Corona-Politik der Großen Koalition auf eine parlamentarische Basis und eine „solidere“ rechtliche Grundlage zu stellen, also bei etwaigen Klagen vor den Gerichten nur selten zu scheitern. Aus diesem Grund wurde auch der ursprüngliche Entwurf vom 12. November noch rasch „nachgebessert“, seine Substanz blieb allerdings unverändert. Auch wenn ein zentraler und berechtigter Kritikpunkt der parlamentarischen Opposition am neuen Gesetz darin liegt, dass es die Machtbefugnisse der Regierungen in Bund und Ländern ausweitet, so verdeutlicht die Abstimmung auch, dass das nicht den Kern des Problems darstellt. Auch auf parlamentarischem Weg würde im Grunde derselbe politische Kurs verfolgt werden.

Erstmals seit Beginn der Pandemie stellten sich dem Gesetzesvorhaben aber auch eine rechte und eine linke Opposition entgegen.

Rechte Kritik

Die rechte zerfällt dabei in eine marktliberale, die von der FDP vorgetragen wird, die im Grunde eine Regierungspolitik mit Restaurant- und Kulturbetrieb haben will. Wenn sie von der Einschränkung der „Freiheit“ spricht, meint sie vor allem die Gewerbefreiheit. Beherzt springen FPDlerInnen den Kleingewerbetreibenden bei, machen sich für das „Recht auf Arbeit“ der Selbstständigen stark. Geld soll deren Rettung jedoch möglichst nichts kosten. Soziale Sicherung für Selbstständige oder in die Scheinselbstständigkeit Gedrängte oder für Kleinbetriebe will die FDP im Namen des Grundrechts auf freie Berufsausübung sparen. Aufsperren! lautet die liberale Devise, natürlich mit tollen Hygienekonzepten.

Auf diese will die AfD auch gleich verzichten. Der Rechtspopulismus und seine rechten bis rechtsradikalen Fußtruppen schwadronieren von der Merkel-Diktatur, vergleichen das Infektionsschutzgesetz allen Ernstes mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD will selbst bei diesem Aberwitz nicht stehen bleiben und erklärt: „Die heutige Gesetzeslage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab.“

Mit solchen Vergleichen will sich die AfD zum parlamentarischen Arm und parteipolitischen Ausdruck einer rechtspopulistischen Bewegung auf der Straße machen – von Corona-LeugnerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen, NationalistInnen, RassistInnen und AntisemitInnen bis hin zu offenen Nazis. Demagogisch greifen sie die berechtigte Existenzangst vor allem kleinbürgerlicher Schichten auf – und versprechen ihnen Rettung durch eine Rücksichtslosigkeit. Wer die Corona-Gefahr leugnet, braucht auch für den  vielbeschworenen „Mittelstand“ oder den Gesundheitssektor kein Geld, sondern setzt auf das Überleben der „Tüchtigen“, nimmt den Tod von abertausenden gesundheitlich Gefährdeten billigend in Kauf.

Linkspartei

Doch nicht nur eine liberale und eine rechtspopulistische Opposition erhoben ihr Haupt. Auch die Linkspartei setzte sich von der Politik der „nationalen Einheit“, die sie am Beginn der Pandemie mitgetragen hatte, ab. Sie votierte gegen die Änderungen zum Infektionsschutzgesetz und begründete dies vor allem damit, dass nur das Parlament weitreichende Einschränkungen zum Infektionsschutz erlassen und dieses Recht nicht an die Regierung delegiert werden dürfe. Darüber hinaus setzte sie sich recht entschieden von den rechtspopulistischen ReaktionärInnen auf der Straße und von der AfD ab.

Schließlich verwiesen Abgeordnete und Stellungnahmen der Linkspartei immer wieder auf die Versäumnisse der Regierungspolitik und deren Ausrichtung an den Kapitalinteressen. Die Forderung nach einer Vermögensabgabe, die in den nächsten Jahren über 300 Milliarden einbringen soll, und nach einer vorausschauenden Gesundheitspolitik im Interesse der Bevölkerung bringen nicht nur eine reformistische Kritik an der Regierung zum Ausdruck. Sie stellen auch einen Ansatzpunkt für die gemeinsame, außerparlamentarische Aktion auf der Straße und in den Betrieben, für den Aufbau einer Antikrisenbewegung dar. Wir fordern daher von der Linkspartei, ihren parlamentarischen Reden und ihrem Abstimmungsverhalten auch Taten folgen zu lassen und gemeinsam mit sozialen Bewegungen, klassenkämpferischen GewerkschafterInnen und der radikalen Linken den Aufbau eine solchen Bewegung in Angriff zu nehmen.

Hände weg vom Demonstrations- und Versammlungsrecht!

Mit der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes wurde im Wesentlichen die bisherige Regierungspolitik abgesegnet und parlamentarisch legitimiert. An wichtigen Punkten handelt es sich aber auch um eine Verschärfung der Gesetzeslage.

Entscheidende, politisch gefährliche Änderungen im Infektionsschutzgesetz finden sich im Paragraph 29a, der die Befugnisse zur Einschränkung von verfassungsmäßigen Grundrechten durch die Bundes- und Landesregierungen auflistet und somit die bisherige Praxis der Regierungen, Einschränkungen dieser Rechte auf dem Wege von Beschlüssen der staatlichen Exekutivgewalt auf den Weg zu bringen, rechtlich absichern soll.

Im Grunde stattet das Gesetz die Regierungen mit Befugnissen aus, die denen von Notstandsmaßnahmen gleichkommen. Hinzu kommt, dass etliche der Bestimmungen recht dehnbar formuliert wurden, was der Exekutivgewalt entsprechenden Spielraum für die Einschränkung von Grundrechten gewährt – einschließlich unterlässlicher demokratischer Rechte wie des Demonstrations- und Versammlungsrechts, ohne die die ArbeiterInnenklasse und soziale Bewegungen ihre Interessen nicht verteidigen können.

Auch wenn die Regierung gerne betont, dass bundesweite Demonstrationsverbote nicht vorgesehen seien, lassen allein schon Vorschläge von PolitikerInnen der Großen Koalition oder aus der Polizei Zweifel an diesen Versprechungen aufkommen.

So fordert der Hamburger Erste Bürgermeister Tschentscher ein Verbot von Demonstrationen in den Innenstädten. Diese könnten, gibt sich der Sozialdemokrat kulant, auch am Stadtrand oder auf der grünen Wiese stattfinden. VertreterInnen der Polizei widersprechen zwar und geben sich scheinbar als SchützerInnen des Versammlungsrechts aus, um als „Kompromiss“ eine Begrenzung der TeilnehmerInnenzahlen auf 500 bis 1.000 Menschen ins Spiel zu bringen. Demoverbot light, gewissermaßen.

Diese Gefahr der willkürlichen, klassenpolitisch motivierten Einschränkung demokratischer Rechte müssen wir ernst nehmen. Schon im ersten Lockdown wurden diese faktisch ausgehebelt. Dass die Gewerkschaften, SPD und auch Linkspartei diese Politik im Interesse der „nationalen Einheit“ mitgetragen und im Fall des DGB gleich freiwillig auf die Erster-Mai-Kundgebungen verzichtet haben, machte die Sache nicht besser. Wie die Einschränkung demokratischer Rechte auf der ArbeiterInnenklasse lastet, verdeutlichten  die Tarifrunden im öffentlichen Dienst oder im Nahverkehr, als Warnstreiks als Gesundheitsrisiko, Streikende als mögliche „Superspreader“ diffamiert wurden – als ob die Arbeit von Tausenden in stickigen Büros oder Berufsverkehr in überfüllten Bussen und Bahnen weniger gesundheitsgefährdend wären als Streikposten und Massendemos mit Masken und Sicherheitsabstand an der frischen Luft.

Grundrechte und Klassenpolitik

Bei verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten denken die meisten Menschen zuerst an wichtige demokratische Errungenschaften, die einzelne BürgerInnen oder deren Agieren gegenüber staatlichen Eingriffen schützen – also z. B. das Recht auf Meinungs-, auf Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, auf Schutz der Privatsphäre, Wahlrecht, rechtliche Gleichheit unabhängig von Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung, von Herkunft usw.

All diese Errungenschaften mussten über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte von der ArbeiterInnenbewegung, der Frauenbewegung und anderen demokratischen und sozialen Bewegungen erkämpft werden – und etliche wie z. B. die rechtliche Gleichheit aller MigrantInnen ohne deutsche StaatsbürgerInnenschaft sind selbst bis heute längst nicht errungen.

Doch neben diesen bürgerlich-demokratischen Rechten, die wir unbedingt verteidigen und ausweiten müssen, beinhalten die Grundrechte in der kapitalistischen Gesellschaft auch solche Dinge wie die Gewerbefreiheit, das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln usw. Diese stellen keine willkürlichen Zusätze zu oben genannten Rechtsgarantien formal gleicher StaatsbürgerInnen dar, sondern eigentlich den Kern der Grundrechte unter kapitalistischen Bedingungen.

Dies erklärt auch, warum sich rechte wie linke KritikerInnen der Bundesregierung alle gern auf „Grundrechte“ berufen, wenn sie deren Corona-Politik verurteilen. Der zwiespältige Charakter eben dieser Grundrechte bringt es mit sich, dass dieser Bezug von allein Seiten mit einer gewissen Berechtigung erfolgt, weil sich beide auf Rechtsgarantien für die BürgerInnen einer kapitalistischen Gesellschaft beziehen.

Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse bedeutet das, dass wir wichtige Grundrechte erkämpfen, nutzen und verteidigen müssen, weil sie die Organisations- und Kampfmöglichkeiten sichern und ausweiten helfen.

Andere wiederum dienen letztlich nur der Verteidigung des Kapitals und müssen eingeschränkt, letztlich im Zuge einer Revolution aufgehoben werden. Beim Recht auf Eigentum, heilige Kuh und Kern aller bürgerlichen Verfassungen und Menschenrechtskataloge, tritt dies am deutlichsten zutage.

Doch genau das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die damit einhergehende Verfügungsgewalt des Kapitals über die Arbeit müssen wir angreifen – und zwar sowohl im Kampf für effektiven Gesundheitsschutz wie um eine Antikrisenprogramm im Interesse der Lohnabhängigen.

Das Problem der Regierungspolitik besteht nämlich nicht nur in der Einschränkung wichtiger Grundrechte – und insbesondere von Demonstrations- und Versammlungsrecht. Es besteht auch darin, dass um alle Maßnahmen, die die Rechte des Kapitals einschränken, ein möglichst großer Bogen gemacht wird. So wurden monatelang die Zustände auf den Schlachthöfen wider besseres Wissen toleriert und auf die „Selbstkontrolle“ der Unternehmen gesetzt. So findet eine Kontrolle von Infektionsschutz in der Großindustrie faktisch nicht statt.

Hinzu kommt, dass wir uns bei der Kontrolle weder auf das Parlament noch auf staatliche Behörden verlassen können. Vielmehr müssen wir den Kampf um effektiven Gesundheitsschutz und notwendige Maßnahmen zur Verhinderung von Lohn- und Einkommensverlusten mit der entschädigungslosen Enteignung wichtiger Betriebe z. B. im Gesundheitswesen und dem Kampf für ArbeiterInnenkontrolle verbinden.

Hierzu haben wir einen Vorschlag für ein Aktionsprogramm entwickelt, das den Kampf gegen die Corona-Gefahr und die kapitalistische Krise miteinander verbindet.