Nieder mit Lindner – Keine Kürzung bei den Arbeitslosen!

Jonathan Frühling, Infomail 1192, 11. Juli 2022

Es kam, wie es kommen musste: Nachdem in der Coronapandemie Milliarden an die Wirtschaft ausgeschüttet und Schulden über 100 Mrd. für Kriegsmaterial aufgenommen wurden, zeichnen sich jetzt erste Vorstellungen über Kürzungen des Staatshaushalts ab. Das soll dafür sorgen, dass die Schuldenbremse 2023 zum ersten Mal seit 2019 wieder greifen kann.

Vorerst hat Finanzminister Christian Lindner die Brotkrumen der Arbeitslosen im Visier. Es sollen ab 2023 nur noch 4,2 Millionen statt wie bisher 4,8 Mrd. für die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen ausgegeben werden – ein sattes Minus von 609 Millionen. Das Geld wird momentan für staatlich finanzierte Jobs in der freien Wirtschaft für Langzeitarbeitslose ausgegeben. 42.000 Beschäftigte würden so ihren Lebensunterhalt verlieren.

Selbst aus der SPD kommen Stimmen, die die Wirtschaftlichkeit dieses Vorhabens kritisch sehen. Die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen kann nämlich helfen, den Fachkräftemangel in Deutschland abzudämpfen. Das Ergebnis des „sozialen Arbeitsmarktes“ gilt zudem als erfolgreich. Auch sind Wiedereingegliederte nicht mehr auf Sozialleistungen angewiesen, weshalb selbst die CDU den Vorschlag des Krawall-Neoliberalen Lindner ablehnt.

Doch bei nüchterner Betrachtung stellt sich auch die Frage, wieso der Staat das Kapital überhaupt von unseren Steuergeldern dafür bezahlt, Langzeitarbeitslose einzustellen. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um eine Lohnsubvention des Staates an die Wirtschaft. Besser wäre hier der Zwang zur Einstellung bei vollen tariflichen Entgelten statt Geldgeschenken. Außerdem ist das Geld, was dadurch jährlich eingespart wird, eher marginal. Die Ankündigung Lindners erfolgt also vor allem aus dem Grund, weiter den Druck auf die Arbeiter:innenklasse zu erhöhen, wodurch Langzeitarbeitslosigkeit in Zukunft wahrscheinlich den lebenslangen wirtschaftlichen Ruin bedeuten wird. Außerdem verknüpft er den Vorschlag demagogisch mit der Ablehnung von Steuererhöhungen, um so auf Kosten der Ärmsten der Armen Sympathien für seine Partei zu holen. Es wird also in neoliberaler Manier schön nach unten getreten.

Dabei sind Steuererhöhungen genau das, was wir brauchen – und zwar bei den Reichen! Statt das menschenunwürdige Hartz-IV-System weiter zu beschneiden, sollte die Regierung das Geld bei denen holen, die es im Überfluss haben. Die Besitzer:innen und Manager:innen von VW, Bayer und Co. müssen sich nämlich keine Angst über einen kalten Winter oder steigende Lebensmittelpreise machen. Außerdem gibt es noch immer umweltschädliche Subventionen für Diesel oder Kerosin. Hier muss der Rotstift dringend angesetzt werden.

Bei den Kapitalist:innen dagegen mangelt es vielleicht hier und da an Materialien und Vorprodukten, aber sicher nicht an Zuwendungen durch die Regierung und vielerorts auch nicht Profiten. Dem „Rest“ der Bevölkerung steht hingegen ein kalter Winter bevor. Während das Gasangebot sinkt, steigen die Preise enorm. Viele werden sich eine warme Wohnung nicht mehr leisten können. Nebenbei frisst die Inflation Löhne und Sozialleistungen auf. Auch hierzulande verringert sich der Lebensstandard. Um Lindner sein eigenes Argument vorzuhalten: Wir können uns weitere Kürzungen nicht leisten!

Die angekündigten Maßnahmen werden nur die ersten einer ganzen Reihe von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse darstellen, die in Zukunft folgen werden. Sie verdeutlichen einmal mehr, wie die sog. Fortschrittsdiskussion tickt. Es ist wichtig, für diese gegenwärtige und drohende Gefahr das Bewusstsein der Massen zu schärfen.

Regierung und Kapital stimmen Deutschland bereits darauf ein, dass die „fetten Jahre“ vorbei sind. Für Hartz-IV-Empfänger:innen und die über 20 %, die prekär beschäftigt sind, klingen diese Formulierungen sowieso wie Hohn. Lasst uns also dafür sorgen, dass vor allem für das Kapital die fetten Jahre der Bereicherung vorbei sind!

Wer die Krise bezahlen wird, ist noch nicht entschieden. Das werden wir noch auf den Straßen und in den Fabriken mit Streiks und Demonstrationen ausfechten müssen. In diesem Kampf stehen besonders die Gewerkschaften in der Pflicht. Sie müssen endlich mit der Politik der Partnerschaft mit Kapital und Regierung brechen und stattdessen für wirtschaftliche, soziale und politisch Forderungen mobilisieren, die unsere Lebensbedürfnisse sichern.




Ampelkoalitionsverhandlungen: Drei Mal freie Fahrt fürs Kapital

Leo Drais, Neue Internationale 260, November 2021

Die Ampelregierung von SPD, Grünen und FDP kommt wohl. Entgegen der Regierungsbildung von 2017 scheint es dieses Jahr eine schnelle und reibungslose Einigung zu geben.

Die Grünen mit dem geplatzten Kanzlerintraum und die FDP preschten vor und verkündeten Selfie postend, dass sie gemeinsam auf die Kanzlersuche gehen. Sie entschieden sich für Scholz, Jamaika war angesichts der inneren Krise der Union schnell vom Tisch. Dabei war dieses Manöver kein zufälliges: Nach der Wahl war klar, dass Grüne und FDP die Königsmacherinnen spielen, die zwar in manchem wie der Klimafrage einiges trennt, aber beide bedienen wichtige Teile der Mittelschichten und sind im Gegensatz zur SPD rein bürgerliche Parteien ohne enge Verbindung zu den Gewerkschaften.

Die SPD wiederum steht im Gegensatz zur Union wie auferstanden und einig wie lange nicht da. Zettelte Kevin Kühnert als Juso-Vorsitzender 2017 noch einen Minibasisaufstand gegen die Große Koalition an, ist er als Vizeparteichef mittlerweile fein ins sozialdemokratische Dasein integriert und bringt wie zum Lohn für den Gehorsam auch gleich 49 seiner Juso-FreundInnen mit ins Parlament. Vergessen ist, dass man mal BMW enteignen wollte. Derweil räumt Norbert Walter-Borjans vom linken Flügel das Feld. Den Platz neben Saskia Esken werden wohl – wenn sie denn an der Parteispitze bleibt – Lars Klingbeil vom Seeheimer Kreis oder Hubertus Heil einnehmen. Es kann ja nicht sein, dass ein Kanzler Olaf Scholz einer rein „linken“ Parteiführung gegenübersteht.

Sondierungsergebnisse

In die Sondierung gingen die drei zur Zeit innerlich stabilsten Bundestagsparteien und präsentierten rund vier Wochen nach der Wahl ein zwölfseitiges Ergebnis. Neben dem üblichen Gelaber von Innovation, Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit bürgerlicher Berufspolitik boten die Gespräche doch einen gewissen Aufschluss darüber, was wohl kommt, was nicht, wo es präsentierbare Einigkeit oder unerwähnte Kontroversen gibt.

Ein paar kleine Reförmchen enthält natürlich auch das Sondierungspapier. So wird wohl die Cannabis-Legalisierung in der einen oder anderen Form beschlossen werden. Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 soll kommen, vielleicht auch eine verbesserte staatliche Anerkennung der Rechte nicht-binärer Menschen. Alles unzureichend, aber immerhin.

Von der SPD wird vor allem die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro zum Jahrhundertereignis hochstilisiert. Dabei reichen diese schon heute nicht. Die Steuern reduzieren sie weiter und schließlich wird sie großteils, ohne zu kauen, von der Inflation gefressen werden. Darüber hinaus ist unklar, ob der Mindestlohn für alle sofort erhöht oder das, wie in der Vergangenheit, für ganze Branchen stufenweise über mehrere Jahre umgesetzt werden soll.

An die Stelle von Hartz IV soll ein Bürgergeld treten, das Betroffenen gewiss nicht aus der Armut helfen wird. Ein bundesweiter Mietendeckel kommt nicht, stattdessen soll mehr und schneller gebaut werden, was zwar die Wohnungskrise nicht löst und hohe Mieten auch nicht senkt, dem Kapital aber nach wie vor satt Profite bringt.

Zumutungen

Die Coronapandemie scheint für die SondiererInnen um Scholz, Baerbock und Lindner auf dem Papier zumindest schon nicht mehr zu existieren. Booster-Impfung und Herdenimmunität werden’s für den Standort BRD und Europa wohl schon richten. Dafür werden die Überlastung des Gesundheitssystems und der Tod Tausender letztlich billigend in Kauf genommen.

Ausgebaut und aufgerüstet sollen dafür Polizei und Überwachung werden. Gegen alles, was als politisch extrem betrachtet wird, soll ein „Demokratieförderungsgesetz“ kommen, was auch immer das mit sich bringen wird.

Was das grüne Steckenpferd des Pseudoklimaschutzes angeht, wurde das Autobahntempolimit entsorgt, das passioniert-religiöse Rasen bleibt den Deutschen dank der FDP bewahrt. Der Kohleausstieg wird vielleicht doch schon 2030 kommen, vielleicht aber auch nicht. Ansonsten ist die sogenannte Klimapolitik der Ampel eigentlich ein Investitionsprogramm: Unternehmen sollen bei der „sozialökologischen Transformation“ gefördert werden, ansonsten heißt es: mehr Ökostrom, mehr Ökolandbau, mehr E-Mobility – auf der Straße natürlich. Das 1,5 °C-Ziel steht auch auf dem Papier, wenigstens dort, denn Realität wird es mit der Ampel sicher nicht.

Auch abgesehen davon will man viel investieren: Digitalisierung und Bildung sollen dem deutschen Kapital konkurrenzfähige Infrastruktur und Fachkräfte schaffen.

Wie, als würde das alles nichts kosten, bekennen sich die SondiererInnen zur Schuldenbremse. Steuererhöhungen soll’s keine geben, schon gar nicht auf große Vermögen und hohe Einkommen – vor der Wahl noch gegen die FDP kämpferisch angekündigt, hat die SPD es nun, wenn auch etwas kontrovers, vergessen.

Hier zeichnet sich schon jetzt ab: Die Finanzierung der Erneuerung des deutschen Kapitals wird bezuschusst, öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen fehlt es an Mitteln. Abhilfe schaffen soll dabei wohl ein erneuter Privatisierungsschub – sei es durch Verkauf oder durch „Partnerschaften“ von öffentlichen Einrichtungen und privaten AnlegerInnen.

Konkurrenz als Rahmen

Außenpolitisch scheint die Ampel den bisherigen Kurs fortsetzen zu wollen: klares Bekenntnis zur EU, NATO und transatlantischen PartnerInnenschaft. Abseits aller Beschwörungsformeln zeichnet sich aber ab, dass die rassistische Abschottung der EU fortgesetzt wird und die Bundeswehr massiv aufgerüstet werden soll, inklusive der Anschaffung neuer Waffensysteme (Drohnen für Angriffe) für den Cyberwar und weitere Auslandseinsätze. Offengehalten wird die Suche nach alternativen Verbündeten mit dem Willen zum Multilateralismus.

Zugleich drückt sich in den, öffentlich wenig umstrittenen Bestimmungen der Außenpolitik auch schon das Dilemma der nächsten Regierung wie überhaupt des deutschen Imperialismus aus. Einerseits drängt die starke Exportwirtschaft dazu, vehement beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt mitzuspielen, andererseits ist man politisch und militärisch alleine zu schwach dafür. Das nächste Außenministerium wird weiter zwischen Kooperieren und Konfrontieren lavieren, im Gravitationsfeld zwischen den beiden Hauptpolen China und USA versuchen müssen, irgendwie den marodierenden EU-Hinterhof beisammen zu halten, um zumindest halbwegs eigenständig auftreten zu können.

Für die Einschätzung der künftigen Scholz-Regierung ist es zentral, diese Erfordernisse der globalen Konkurrenz im Blick zu behalten. Sie bilden letztlich auch den Rahmen für die Innenpolitik und den Verteilungsspielraum insbesondere gegenüber der ArbeiterInnenklasse. Ohne eine politische oder militärische Strategie, die sie auch nur ansatzweise allein und eigenständig international durchsetzen könnten, auch wenn hier sicher mehr Aggression unter dem Mantel der Verantwortungsübernahme zu erwarten ist, müssen Regierung und Kapital vor allem auf das stärkste Moment des BRD-Imperialismus setzen: die Industriekonzerne und dabei nicht zuletzt auf die AutoherstellerInnen.

Schon am Tag nach der Wahl hat VW 10 Punkte für die Koalitionsbildung gefordert, die klar darauf abzielten, dass der Staat bitteschön die E-Mobilität auf der Straße ordentlich bezuschussen soll, Stichworte: Ladesäulen und Kaufprämien. Auch sonst zieht sich der Tenor des subventionierten Klimaschutzes, der keiner ist, sowie der Digitalisierung durch die Forderungen diverser Unternehmensverbände. Unter grünem Label soll mit massiver Investition das Kapital erneuert werden, um ihm auf dem Weltmarkt neue Wettbewerbsvorteile zu ermöglichen. Gleichzeitig bedingt die globale Konkurrenz aber eben auch, das Kapital steuerlich nicht groß zu belasten sowie die Staatsverschuldung einzudämmen – womit wir wieder bei der Schuldenbremse sind.

Bleibt also die Frage: Wer zahlt das Ganze? Einerseits soll es natürlich die Konkurrenz tun, andererseits die überausgebeutete halbkoloniale Welt im EU-Hinterhof oder dort, wo das Lithium für die E-Autos herkommt. Letztlich stellen sich Regierung und Konzerne gerade dafür auf, dass auch die hiesige ArbeiterInnenklasse dafür aufkommt.

Angriff auf die Lohnabhängigen

Auch wenn unmittelbar keine politisch geführten Großangriffe anstehen wie die Agenda 2010, von der die deutschen Konzerne gerade jetzt massiv profitieren, so werden der von der Ampel angestrebte Umbau der Industrie und die Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse ohne ausbleibende Gegenwehr weiter abgewälzt werden.

Vor dem Hintergrund einer volatilen globalen Wirtschaftslage, einer gebremsten Konjunktur, einer weltweit weiter grassierenden Pandemie und Krise werden sich die Konjunkturprogramme der USA und der EU wahrscheinlich als unzureichend erweisen, längerfristig die Weltwirtschaft zu beleben. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass sie nach einer gewissen konjunkturellen Sonderwirkung rasch verpuffen, weil die grundlegenden Krisenmomente – fallende Profitraten, Überakkumulation von Kapital und damit verschärfte globale Konkurrenz – durch diese nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben werden.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus denkbar, dass die Ampelkoalition im Laufe der Legislaturperiode auf ein größeres, grundlegendes Angriffsprogramm umschaltet. Die sog. Rentenreform zeigt, wohin die Reise dabei gehen könnte. Die Deutsche Rentenversicherung soll auf dem Kapitalmarkt die Rente bei 48 % des Einkommens sichern. Eine solche weitere Privatisierung und Finanzialisierung bedeutet natürlich auch, dass die Altersversorgung selbst an die krisenhaften Zyklen des Finanzkapitals gekoppelt wird.

Ebenso wenig wird der Inflation entgegengesetzt, die Mieten bleiben exorbitant, viele durch Corona zerstörte Jobs wohl verloren, Niedriglohnsektor und Prekarisierung wachsen, verdächtig oft spricht das Sondierungspapier von Flexibilisierung am Arbeitsplatz. Proletarische Frauen und rassistisch Unterdrückte werden davon üblicherweise Hauptbetroffene sein, von allem Diversitätsbekenntnis und Gerechtigkeitsgerede der Ampel haben sie so gut wie nichts.

Sämtliche Versprechungen von mehr soziale Gerechtigkeit werden an der kapitalistischen Realität verbogen oder brechen an ihr, die Abkehr der SPD von einer Vermögenssteuer ist Teil davon.

Großangriff auf Jobs

Der angestrebte Umbau der Industrie bedeutet aus Kapitalsichtweise, Arbeitskräfte einsparen zu können. Genau darauf zielt die Digitalisierung zu einem Gutteil ab. Hier läuft der Großangriff bereits. In der Autoindustrie ist der Stellenabbau längst eine Realität und wird weitergehen: Mit über 170 000 Stellenstreichungen wird für die nächsten Jahre gerechnet.

Die Rolle der SPD als führende Regierungs- und bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist hierbei nicht zu unterschätzen. Sie macht Politik für das Kapital, hat aber noch immer soziale Wurzeln in den schweren Bataillonen der deutschen IndustriearbeiterInnenschaft – um deren Arbeitswelt und -platz es in den nächsten Jahren gehen wird. Einerseits muss die SPD dem Kapital irgendetwas abringen und der ArbeiterInnenklasse anbieten, das Sterbebett der Sozialdemokratie ist immerhin noch warm. Gerade im gemeinsamen Regieren mit der FDP liegt hier Sprengstoff, selbst wenn die Vermögenssteuer vom Tisch ist. Andererseits bietet die SPD in ihrer engen Verbindung mit der DGB-Bürokratie und der dadurch ausgeübten Kontrolle über zentrale Sektoren der Klasse dem deutschen Kapital auch einen Vorteil in der Durchsetzung der geplanten „Transformation“.

Und der DGB?

Dazu passt, dass der DGB im Grunde kaum was zu den Verhandlungen der letzten Wochen gesagt hat. Er setzt damit auf seine Weise den Kurs des Burgfriedens mit dem Kapital fort. Die IG Metall und ihre Betriebsräte begleiten den Jobkahlschlag, der durch Investitionen der Ampelregierung mitfinanziert wird – Gelder, die letztlich über Steuern ebenfalls zu großen Teilen von der ArbeiterInnenklasse kommen. Anstatt den Abwehrkampf anzugehen, wird mitgestaltet und die Beschäftigten werden ruhig gehalten, Lohnkämpfe, die die Inflation ausgleichen, gibt es nicht – über die unmittelbar tariflichen Fragen hinausgehende politische Streiks, die z. B. die Wohnungsfrage oder den Klimaschutz zum Thema machen, schon mal gar nicht. Es liegt hier schon der Verweis darauf verborgen, wie wichtig der Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition zu den Gewerkschaftsapparaten gerade wird.

Natürlich werden die Koalitionsverhandlungen nicht ohne Kontroversen ablaufen. Die Frage der Investitionsfinanzierung und die Begleichung der Coronaschulden ist noch nicht abschließend geklärt. Die Möglichkeiten zur Investition sind begrenzt. Worauf wird sich also konzentriert? Auf das E-Auto oder doch auf die Bahn? Gibt’s 5G nur für die Stadt oder auch auf dem Land? Wie hoch wird das Bürgergeld? Und: Wer besetzt welches Ministerium?

Wie auch immer diese Fragen von Scholz und Co beantwortet werden: Für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten gibt’s in der kommenden Periode nicht viel mehr als ein paar Krümel. Sie sind gut beraten, sich auf Abwehrkämpfe vorzubereiten.

In vielerlei Hinsicht könnten die kommenden Jahre entscheidende für eine längere Periode werden. In der Klimakrise wird in vier Jahren schon sehr absehbar sein, wie es um die 1,5 °C steht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt drängt früher oder später zu Entscheidungsschlachten. Der Umbau und die Erneuerung der Industrie finden jetzt statt – nicht für den Klimaschutz, wohl aber für die Stellung des deutschen Kapitals in der Welt entscheidend. Entlassungen, Kürzungen, Armut werden zunehmen.

Warum wir eine Aktionskonferenz brauchen

Der Rechtsruck hat tiefe Spuren hinterlassen, die Zerbröckelung des bürgerlichen Lagers zeigt sich nicht zuletzt in der ersten 3-Parteien-Regierung seit Adenauer. Je nachdem, wie sie sich den Massen verkauft, kann sie das Hinsterben der „bürgerlichen Mitte“ und den Rechtsruck verzögern oder verstärken. Angesichts neuer Geflüchtetenbewegungen, Pandemie und vielfachen sozialen Abstiegs liegen rechtspopulistische bis faschistische Kräfte von AfD bis Dritter Weg schon auf der Lauer.

Die Stärkung bürgerlicher und rechter Kräfte ist aber nur eine mögliche Entwicklung. Eine fortschrittliche Alternative dazu wird jedoch nur zu einer realen Möglichkeit werden, wenn die Reorganisation der ArbeiterInnenklasse angegangen, sie zur zentralen, eigenständigen Kampfkraft gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe wird. Der Sieg des Berliner Volksentscheides Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die riesigen Demonstrationen von Fridays for Future, die zahlreichen Waldbesetzungen und eine Reihe anderer großer Mobilisierungen in den letzten Jahren zeigen nicht nur, dass neue Bewegungen entstanden bzw. im Entstehen begriffen sind, sie verweisen auch auf ein Potential des Widerstandes.

Diese Mobilisierungen gilt es, zu stärken und zugleich das politische Bewusstsein der AktivistInnen zu erhöhen. Wie können wir Enteignungen wirklich durchsetzen? Wie können wir Massentlassungen und Privatisierungen stoppen? Wie können wir verhindern, dass Inflation und Preissteigerungen mühsam erkämpfte Lohnerhöhungen gleich wieder wegfressen? Wie können wir der imperialistischen Außenpolitik und der rassistischen Abschottung Deutschlands und der EU entgegentreten? Wie können wir den Kampf für reale, sofortige Verbesserungen mit dem um eine andere Gesellschaft verbinden?

Es braucht daher dringend die Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes und darum, wie wir diese Auseinandersetzungen wirklich verbinden können. Das aber fällt nicht vom Himmel. Es braucht einen konkreten Startpunkt dafür, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren – eine Aktionskonferenz. Sie sollte nicht aus einem linken Für-sich-Selbst bestehen, sondern im Gegenteil größtmöglich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse einbeziehen, allen voran die Gewerkschaften oder jedenfalls deren oppositionelle Kräfte, Linkspartei und SPD-Linke oder mindestens alle, die nicht stramm hinter Scholz oder der Koalitionspolitik der Realos in der Linkspartei stehen.

Eine solche Aktionskonferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den wichtigsten Angriffen gemeinsam auf der Straße und im Stadtteil, in den Betrieben und Büros, an Schulen und Unis entgegenzutreten. Wir schlagen vor, sie Anfang 2022 Spektren übergreifend zu organisieren und dort einen bundesweiten Mobilisierungsplan zu beschließen und überall Bündnisse aufzubauen, die diesen Kampf koordinieren.




Kemmerich – ein Ministerpräsident von AfD Gnaden

Martin Suchanek, Infomail 1088, 5. Februar 2020

Bis vor kurzem kannten ihn nur wenige. Nachdem Thomas L.
Kemmerich am 5. Februar zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wurde, warfen
wohl viele die Suchmaschinen im Internet an, um mehr über einen Mann zu
erfahren, der bisher im bürgerlichen Parlamentarismus und auch in der FDP
allenfalls eine drittrangige Rolle spielen durfte.

Der Thüringer FDP-Fraktionsvorsitzende Kemmerich gehörte von
2017–2019 zu den HinterbänklerInnen, den grauen Mäusen im Bundestag. Bei den
Landtagswahlen 2019 schaffte seine Partei gerade 5 %. Der Unternehmer und
Vorsitzende der FDP-nahen Vereinigung „Liberaler Mittelstand“ war bisher nur
durch notdürftig als „Mittelstandpolitik“ verbrämten Neo-Liberalismus und als
Betreiber einer Friseurkette aufgefallen, die Jobs mit „flexiblen
Arbeitszeiten“ verspricht.

Wahrscheinlich wäre Kemmerich auch eine unbekannte
Randfigur, eine der zahlreichen StatistInnen des bürgerlichen Politbetriebs
geblieben, hätte ihn nicht die politische Lage in ungeahnte „Höhen“ gehievt.
Schließlich kommt es auch in deutschen Landtagen nur höchst selten vor, dass
ein Mitglied der schwächsten Partei zum Ministerpräsidenten gewählt wird.

Erklärbar ist seine Wahl nur als Folge des politischen
Patts, das die Wahlen 2019 in Thüringen mit sich brachten – und der
offenkundigen Bereitschaft von CDU und FDP, auch mit der AfD „bürgerliche
Mehrheiten“ zu organisieren.

Die Linkspartei konnte zwar zulegen und wurde mit 31 %
stärkste Partei. Allein verfügt sie über 29 der 90 Sitze. Aber ihre
Koalitionspartnerinnen schwächelten: Die SPD sackte auf 8,2 % ab und die
Grünen schafften mit 5,2 % gerade den Einzug ins Abgeordnetenhaus. Daher
verfügte die rot-rot-grüne Koalition gerade über 42 Stimmen, während die AfD
(22 Mandate), CDU (21) und FDP (5) eine gemeinsame Mehrheit bilden konnten.

Bürgerblock

Union und FDP standen also vor der Wahl, entweder mit der
AfD zu kooperieren oder Rot-Rot-Grün und damit den bisherigen
Ministerpräsidenten Ramelow zu „tolerieren“.

Nachdem Ramelow in den ersten beiden Wahlgängen jedoch keine
absolute Mehrheit erringen konnte, zog die AfD im dritten ihren Kandidaten
zurück – und erklärte wie schon in den letzten Wochen, den FDP-Mann Kemmerich
zu wählen. Dieser errang die Mehrheit. Mit 45 gegenüber 44 Stimmen für Ramelow
wurde er bei einer Enthaltung als neuer Ministerpräsident gewählt.

Zufall stellt die Wahl von Kemmerich natürlich keinen dar.
Schon im Vorfeld hatte er erklärt, dass er sich auch von der AfD zum
Ministerpräsidenten wählen lassen würde. Während Bundes-CDU und -FDP
„offiziell“ noch von der „Abgrenzung“ und „Nichtzusammenarbeit“ mit der rechten
AfD schwadronierten, kümmerte die Thüringer Abgeordneten dieses leere Geschwätz
offenkundig schon lange nicht mehr.

Der Feind der Union und FDP wird dort offenbar bei den
„Roten“ – und sei es ein noch so blasser Roter wie Thüringens Ramelow –
verortet. Den Hauptfeind für Union und FDP bildet schließlich die
ArbeiterInnenbewegung und nicht der Rechtspopulismus, in dessen Reihen sich
neben (halb)faschistischen Flügel-Leuten auch viele ehemalige CDUlerInnen und
FDPlerInnen tummeln. Hier wächst anscheinend zusammen, was, jedenfalls für
bedeutende Teile der Union und FDP, zusammengehört.

Zu solch einer Wahl gehört auch die Legendenbildung.
FDP-Bundesvize Kubicki erklärt gar, dass die Wahl einen großen Erfolg seiner
Partei darstelle, da diese schließlich die „demokratische Mitte“ darstelle –
einen Erfolg, für den FDP und CDU den politischen Sieg der AfD billigend in
Kauf nehmen. Kemmerichs FDP und erst recht die Thüringer CDU stellen den
Ausgang so dar, also hätten sie nur „zufällig“ den Liberalen mit den Stimmen
der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt, da sie Höcke und Co. nicht an ihrer
Stimmabgabe „hindern“ hätten können. Dabei hätten sie das natürlich können. Sie
hätten sich nur der Stimme enthalten müssen.

Die TaschenspielerInnen des Parlamentarismus ziehen es
offenkundig vor, sich blöd zu stellen. Das glaubt zwar niemand, aber solche
„Erklärungen“ sollen wenigstens den Bundesparteien erlauben, weiter so zu tun
können, als ob sie mit der AfD nicht kooperieren würden, als ob es sich nur um
einen „Sonderfall“ oder „Betriebsunfall“ handeln würde. FDP-Chef Linder phantasiert
sogar davon, dass es gar keine Kooperation mit der AfD gegeben habe – man habe
sich schließlich nur von ihr wählen lassen.

In Wirklichkeit stellt die Thüringer Wahl des Ministerpräsidenten ein Politprojekt einer CDU/FDP-Koalition von AfDs Gnaden dar. Auch wenn es durchaus möglich ist, dass die Bildung einer Landesregierung Kemmerich durch CDU und FPD mit Duldung der AfD scheitert, so sollte doch niemand deren Bildung ausschließen. Schließlich zeigte der 5. Februar, zu welchen Manövern Teile von FDP und CDU mittlerweile bereit sind.

Schließlich entspricht die Bereitschaft der CDU und FDP in
Thüringen auch der Überzeug weiter Teile ihrer Parteien und von Fraktionen der
herrschenden Klasse, dass Koalitionen mit der AfD eine Option werden könnten,
wenn sich die Krise der EU weiter verschärften sollte. Hinzu kommt, dass damit
in jedem Fall auch der Druck auf die Grünen oder andere „PartnerInnen“ nach den
nächsten Bundestagswahlen erhöht werden kann. Sollten sie sich der CDU/CSU
nicht fügen, hätte diese dann eben auch eine Alternative.

Klassenpolitik

Thüringen zeigt auch, dass – unabhängig von allen
„zufälligen“ Momenten der Wahl – Klasseninteressen allemal bedeutender sind als
Beteuerungen, undemokratische, rechtspopulistische, rassistische Parteien
„auszugrenzen“. Wenn es um die Sicherung bürgerlicher Macht und vor allem auch
um die Option eines aggressiveren, nationalistischen Kurses zur Wahrung der
Interessen des eigenen Kapitals in der internationalen Konkurrenz geht, will
und wird sich die herrschende Klasse nicht den „Luxus“ einer „Ausgrenzung der
AfD“ leisten. Solche Schritte müssen freilich vorbereitet werden – und dazu
kann eine regionalpolitische Entscheidung, bei der für alle unappetitlichen
Tabubrüche im Zweifelsfall die LandespolitikerInnen verantwortlich gemacht
werden können, den Boden bereiten.

Diese Schlussfolgerung sollten sich auch alle jene zu eigen
machen, die hofften und hoffen, die AfD im Gleichschritt mit den bürgerlichen
Parteien zu „stoppen“. Dies trifft bei aller Empörung über die Manöver von FDP
und CDU auch auf die SPD, Grünen und Linkspartei in Thüringen zu. Die Grünen
werfen der FDP vor, sich von FaschistInnen wählen zu lassen – ein Akt, der
jedoch im Gegensatz zu den Vorstellungen dieser bürgerlichen DemokratInnen
leider nicht einzigartig in der deutschen Geschichte ist.

Die SPD verspricht, dass sie mit Kemmerich nicht kooperieren
wolle. Diese „Härte“ fällt ihr freilich leicht. Ausnahmsweise muss sie ihre
„Prinzipien“ nicht über Bord werfen, denn sie wird im Thüringer
Kabinettsschacher ohnedies nicht gebraucht. Nach dem Rechtsruck im Landtag
müsste sie eigentlich die Große Koalition auf Bundesebene aufkündigen – doch so
treu will die Sozialdemokratie zu ihren angeblichen Prinzipien wieder auch
nicht stehen. Stattdessen wird sich die SPD wohl auf Allerweltsfloskeln
beschränken wie etwa Kevin Kühnert, der in einer ersten Stellungnahme erklärte,
dass „Wachsamkeit … das Gebot der Stunde“ sei.

Schließlich muss sich aber auch die Linkspartei fragen,
wohin sie ihr Hofieren der Thüringer CDU, die Spekulationen und
Hinterzimmergespräche mit Gauck über eine „Projektregierung“, also eine Duldung
von Rot-Rot-Grün durch die CDU, gebracht haben. Selbst das zahme rot-rot-grüne
„Projekt“ wollten CDU und FDP nicht länger erdulden – es zweigt sich einmal
mehr, dass diese parlamentarischen Kombinationen kein Schutz vor dem Rechtsruck
und dem weiteren Aufstieg der AfD darstellen. Der 5. Februar legte nicht nur
die Leere der „Abgrenzung“ von CDU und FDP gegenüber der AfD offen, sondern
auch die Leere der – auch von der Linkspartei geteilten – „Einheit der
DemokratInnen“, von offen bürgerlichen Kräften, und der, wenn auch
verbürgerlichten, ArbeiterInnenbewegung.

Dass die Thüringer Vorsitzende der Linkspartei,
Hennig-Wellsow, Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße wirft, drückt
schließlich nicht nur berechtigen Zorn, Wut, ja Abscheu aus – es verdeutlicht
auch ungewollt das illusorische Vertrauen, das die Linkspartei in CDU und FDP,
also in die Parteien des Kapitals, hegt(e).

Auch Parteichef Riexinger beklagt diesen „bitteren Tag für
die Demokratie“ – als ob diese erst gar keine Herrschaftsform des Kapitals
wäre. In Wirklichkeit zeigt der Urnengang eben auch, dass „die Demokratie“
keine über den Klassen schwebende politische Institution darstellt, dass die
„demokratischen Parteien“ der Bourgeoisie eben auch zur Kooperation mit den
wenig demokratischen, rechtspopulistischen politischen Parteien bereit sind.

Die AfD, Rechtspopulismus, Rechtsruck und erst recht der
Faschismus werden durch die gemeinsame „Ausgrenzung“ dieser Parteien weder in
den Parlamenten noch in der Gesellschaft gestoppt werden können. Im Gegenteil.
Die „Ausgrenzung“ durch CDU und FDP hat sich als Chimäre, als Illusion
erwiesen. Der Kampf gegen rechts – diese Lehre verdeutlicht das Thüringer
Ergebnis einmal mehr – kann letztlich nur als Teil des Klassenkampfes, gegen
Rassismus, Faschismus, Ausbeutung und Unterdrückung geführt werden. Einheit
also nicht „der DemokratInnen“, sondern der sozialen und ArbeiterInnenbewegung
mit eigenen Zielen und Forderungen gegen den Rechtspopulismus als eine, wenn
auch aggressivere Spielart bürgerlicher Politik.




Abbruch der Jamaika-Verhandlungen – Politische Krise in Berlin

Susanne Kühn, Infomail 973, 20. November 2017

Gescheitert! Schwarz-Gelb-Grün wird vorerst keine Regierung bilden. Kurz vor Mitternacht verließ die FDP die Sondierungsgespräche – laut Union und Grünen just zu einem Zeitpunkt, als eine Einigung nahe schien.

Das mag durchaus der Fall sein. Die Begründung der FPD, dass ihr erst Sonntagnacht auffiel, dass das „Gesamtpapier“, das schon am Freitag vorlag, ihren Überzeugungen und „Prinzipien“ widerspreche, mag glauben, wer will. Die „Rekonstruktion“ und Rechtfertigung des Scheiterns der Verhandlungen überlassen wir an dieser Stelle getrost anderen. Es ist auch nicht notwendig, die Differenzen auf einzelnen Politikfeldern zu wiederholen, die über die Wochen immer wieder v. a. zum Migration, Klima, aber auch zu Finanzen und Zukunft der EU hervortraten.

Bemerkenswert ist vielmehr, dass Union und Grüne anscheinend vor einer Einigung standen, als die FDP für alle überraschend die Verhandlungen platzen ließ. Die Grünen warfen ihr vor, eine gemeinsame Regierung ohnedies nicht gewollt zu haben. CDU-Vertreterin Klöckner sprach von einer schlechten „spontanen Inszenierung“. In selten trauter Einigkeit lobten Seehofer und die Grünen Angela Merkel. Ob nun die FDP die Hauptverantwortung für das Platzen der Jamaika-Koalition trägt oder ihr „nur“ ebendies in die Schuhe geschoben werden soll, ist letztlich zweitrangig. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sie scheiterte, obwohl die Grünen der CSU anscheinend noch weitere Zugeständnisse gemacht haben. Ob die FDP nun aus rein taktischem Eigeninteresse motiviert die Koalition platzen ließ und plötzlich ihre Werte, freien Markt kombiniert mit Nationalismus, „entdeckte“ – hinter diesen Formeln offenbart sich auch eine tiefe politische Krise im gesamten bürgerlichen Lager.

Unwahrscheinlich war das Scheitern der Gespräche nicht, dessen konkrete Form aber schon. Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dass Jamaika an „zu wenig Vertrauen“, am Mangel an „staatspolitischer Verantwortung“, an „mangelnder Kompromissfähigkeit“, an der „angeschlagenen Autorität“ Merkels, am Machtkampf in der CSU, am „Unwillen“ der FDP gescheitert sei. Diese Faktoren spielten natürlich eine Rolle. Es scheinen nebensächliche, triviale Faktoren zu sein, die maßgeblich das Scheitern herbeiführten. So sehr die handelnden Personen auch Banalität, Egomanie, unterschiedliche „Kultur“ verkörpern, so erklärt das aber letztlich nichts.

Widersprüche

Vielmehr gilt es, die tieferen Ursachen, die inneren Widersprüche des deutschen Kapitalismus zu verstehen, die in einem immer einigermaßen wahrscheinlich gebliebenen, in der Form jedoch überraschenden, ja zufälligen Ende der Sondierung hervorgetreten sind. Dies ist umso wichtiger, als die AkteurInnen selbst jede Menge Nebelkerzen über ihr eigenes Handeln, ihre Motive, den Stand der Verhandlungen in die Welt setzen – und selbst wesentlich an oberflächlichen Fragen hängenbleiben.

Hinter dem Zusammenbruch der Sondierungsgespräche steht eine tiefe strategische Krise der herrschenden Klasse. Unter den Regierungen Merkels vermochte der deutsche Imperialismus zwar Ländern wie Griechenland seine Austeritätspolitik aufzuzwingen, seine Krise auf Kosten der anderen Länder der EU abzufangen, die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt zu halten, wenn nicht zu stärken. Aber er konnte die EU nicht als Block unter seiner Führung oder einer deutsch-französischen Achse weiter einen. Im Gegenteil, in der internationalen Konkurrenz und im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt sind die EU und Deutschland als geo-strategische Akteure gegenüber den USA und China, ja auch Russland zurückgefallen. Der Hauptgegensatz zwischen den imperialistischen Großmächten ist mittlerweile der zwischen den USA und China, während die EU in ihrem aktuellen Zustand weiter zurückbleibt.

Brexit, die sog. „Flüchtlingsfrage“, die zunehmenden nationalistischen Gegensätze, die ungelösten Konflikte über die Finanzpolitik, die militärische wie politische Schwäche gegenüber den globalen Konkurrenten, die inneren Widersprüche der EU-Institutionen – all das bedeutet, dass der deutsche Imperialismus in einer widersprüchlichen Situation steckt. In den letzten Jahren wurde zwar offenbar, dass es einer neuen, klaren europapolitischen Strategie zu einer Vereinheitlichung der EU unter deutscher Führung (z. B. in Form eines Kerneuropa) bedarf, um zu verhindern, dass die EU weiter hinterhertrabt oder Euro und Staatenbund überhaupt auseinanderfliegen.

Aber der „geschäftsführende Ausschuss“ der herrschenden Klasse und die deutschen Think-Tanks haben keine einheitliche Antwort auf die Frage, ja sie wird in der Regel nicht einmal offen diskutiert. Das „System Merkel“, das die deutsche Vormachtstellung „moderierend“ in Europa einführen wollte, das sich vor allem auf das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und auf die Dominanz von EU-Institutionen verließ, ist praktisch gescheitert. Das ist die eigentliche Ursache seines „Autoritätsverlustes“. Das hat zugleich reaktionäre Antworten gestärkt – insbesondere in Form der AfD, aber auch im gesamten bürgerlichen Lager.

 

Dieses fundamentale Problem, das alle anderen „großen Themen“ und „Zukunftsfragen“ wie Klimaschutz, Flüchtlingspolitik, Digitalisierung überschattet, erscheint in der deutschen „offiziellen“ Politik als mehr oder minder über den Parteien stehend. Nur Linkspartei und AfD beziehen hier offen und zumindest partiell Gegenpositionen aus reformistischer oder rechter Sicht. Ansonsten erschien das EU-Thema in den Koalitionsverhandlungen allenfalls als „Zahlungsfrage“ – die strategische Zielsetzung wurde öffentlich nicht angesprochen.

Die Regierungen unter Merkel haben – gerade weil sie auch Erfolge des deutschen Kapitals verwalteten und die Exportindustrie befeuerten – die strategischen Probleme zunehmend vor sich hergeschoben oder sind an den inneren Gegensätzen der EU, ihren Widersprüchen an Grenzen gestoßen.

Fragmentierung des Parteiensystems

Auch wenn die EU-Frage nach außen hin relativ wenig Erwähnung fand, so machte sie sich nichtsdestotrotz bei den Verhandlungen geltend. Alle „PartnerInnen“ fürchteten, dass ein „Weitermachen“ unter Merkel IV mit denselben politischen Zielen und Methoden nicht nur kein Problem lösen, sondern sie selbst auch politisch schwächen würde. Zudem sitzt der CSU die AfD im Nacken und die FDP fürchtet, in einer neuen Regierung wieder über den Tisch gezogen zu werden. Die Grünen erwiesen sich als die „Beweglichsten“ – nicht nur wegen ihres Opportunismus und Rechtsrucks, sondern auch weil sie politisch-inhaltlich Merkel und dem Teil der CDU, der hinter ihr steht, tatsächlich näher als CSU und FDP stehen.

Die Verhandlungen fanden zudem vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Polarisierung im Inneren statt, die die Bindekraft von CDU/CSU und SPD bei ihren „traditionellen“ Milieus schwächte. Da die SPD ohnedies die Politik der herrschenden Klasse administrierte und die Linkspartei zu keiner kämpferischen, sichtbaren Oppositionspolitik fähig war, verschob sich das politische Spektrum nach rechts. Nicht nur die SPD verlor Millionen Lohnabhängige. Die Krise der CDU/CSU führte dazu, dass sie ihre Funktion als vereinheitlichende bürgerliche „Volkspartei“ nicht mehr erfüllen kann. Das offen bürgerliche Spektrum ist heute de facto auf fünf Parteien (AfD, CDU, CSU, Grüne, FDP) im Parlament zersplittert, was objektiv die Bildung von Regierungen erschwert.

Das Scheitern der Sondierungsgespräche bedeutet eine tiefe politische Krise nicht nur in Deutschland. Auch als EU-Führungsmacht wird die Bundesrepublik wenig bis gar nicht in Erscheinung treten können. Natürlich werden „Reformen“ und Gesetze auf den Weg gebracht. Natürlich dominiert Deutschland weiter. Aber die grundlegenden Fragen liegen auf Eis – und damit wird sie weiter gegenüber USA und China an Boden verlieren.

Das Scheitern der Sondierung bringt alle diese Probleme in Form einer Regierungskrise auf den Tisch. Katerstimmung und Ratlosigkeit herrschen vor. Alle möglichen Kombinationen werden aufgezählt – von einer Minderheitsregierung über das Weichkochen der SPD bis hin zu Neuwahlen.

In dieser Situation wird, gewissermaßen als Nebenprodukt, unwillkürlich die Rolle des Bundespräsidenten gestärkt, der lange Zeit als eine bloß „moralische“ Instanz, als eine Art Grüßdirektor des deutschen Imperialismus erschien. Auch wenn von Steinmeier keine politischen Abenteuer zu erwarten sind, so wird seine Präsidentschaft wohl damit einhergehen, dass sich die Rolle des Amtes, ihre Bedeutung für die Regierungsbildung verändert. Ein „aktiver“ Präsident wird gestärkt, mag er sich vorerst auch nur auf moralische Appelle beschränken, die Parteien an ihre „Verantwortung für das Land“ zu erinnern. Damit werden autoritäre Tendenzen und Institutionen hoffähig gemacht, die zum Einsatz kommen können, falls auf parlamentarischem Wege oder durch das Handeln der Parteien die Probleme der Regierungsbildung nicht gelöst werden können.

In den nächsten Monaten müssen wir uns auf eine Fortsetzung der Regierungskrise einstellen. Wahrscheinlich wird die Große Koalition noch bis weit ins Jahr 2018 „übergangsweise“ im Amt bleiben. Das könnte selbst bei Neuwahlen zutreffen, da diese wahrscheinlich zu einem ähnlichen Ergebnis – und damit zu erneuten Schwierigkeiten bei der Koalitionsbildung – führen würden. Auch wenn sich die Kräfte deutlich verschieben, so erleichtert das keinesfalls notwendig die Regierungsbildung.

Hinzu kommt, dass es in mehreren politischen Parteien zu größeren personellen Änderungen und Machtkämpfen kommen kann. So erscheint eine Verschärfung der inneren Krise der CSU unvermeidlich. Auch die Grünen werden ihr Führungsduo in Frage stellen. Ebenfalls kann bei Neuwahlen eine Ablösung Angela Merkels zum Thema werden. Schon heute hält sich sich vor allem, weil ein sofortiger Rücktritt Deutschland weiter schwächen würde und die CDU über keine/n unumstrittene/n NachfolgekandidatIn verfügt. Es ist aber klar, dass Merkel von der ewigen Kanzlerin zum Auslaufmodell mutiert ist.

Eine Neuauflage der Großen Koalition – unwahrscheinlich, wenn auch nicht ganz auszuschließen – käme nicht nur einem politischen Selbstmord der SPD gleich. Es ist auch fraglich, ob sie ohne tiefe Krise der Sozialdemokratie überhaupt zu haben wäre – und somit ebenfalls eine instabile Regierung bedeuten würde.

Schließlich bleibt eine Minderheitsregierung, die jedoch nur Bestand haben könnte, wenn sie nicht nur von CDU/CSU (eventuell einschließlich der Grünen) getragen würde, sondern vermittelt über den Präsidenten, Bundestag und Bundesrat auch eine indirekte Stütze in der SPD z. B. bei Europafragen hätte.

Wie man es auch dreht und wendet, für die herrschende Klasse wird die Krise nur schwer lösbar sein. Für die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften, die Unterdrückten eröffnet das auch eine Chance. Damit diese genutzt werden kann und nicht zu einer Stärkung der AfD führt, bedarf es aber einer politischen Neuausrichtung der ArbeiterInnenbewegung selbst, eines Bruchs mit der Politik von Klassenzusammenarbeit und Sozialpartnerschaft sowie der Bildung einer Aktionseinheit gegen die Angriffe des Kapitals, die Maßnahmen der „geschäftsführenden“ Regierung und gegen den Rechtsruck.




Große Koalition abgewählt – übernimmt Schwarz/Gelb/Grün?

Martin Suchanek, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Ein politisches Erdbeben wurde es dann doch. Auch wenn die Gebäude oder Institutionen der Bundesrepublik nicht eingestürzt sind, erschüttert wurden sie, auch wenn Merkel mit einer neuen Regierungskoalition weitermachen wird.

Die bürgerlichen Parteien

Abgewählt wurde die Große Koalition, deren Parteien verloren 13,8 Prozent der Stimmen, sackten also von insgesamt 67,2 Prozent auf 53,5 Prozent ab (1).

Allen Verlusten zum Trotz verkündet die CDU, dass sie ihre drei „strategischen Wahlziele“ errungen habe, also weiter die stärkste Partei und Fraktion stellt, gegen die keine Regierung gebildet werden könne und dass sie außerdem Rot-Rot-Grün verhindert hätte. Solcherart kann sich die Union trotz des Verlustes von 8,6 Prozent zur Wahlsiegerin erklären, immerhin bleibt ihr die Führung der nächsten Regierung. In Wirklichkeit dient eine solche „Bilanz“ offenkundig vor allem dem Schönreden der eigenen Niederlage.

AfD und FPD hingegen waren vor unverhohlenem Triumphalismus kaum zu bremsen. Im nationalen Überschwang verkündete AfD-Vorsitzender Gauland nicht nur, dass seine Partei die Regierung jagen werde, sondern auch noch, dass sie sich das „Land und das Volk“ zurückholen würde. Sprachlich war das zwar einigermaßen verunglückt. Klar ist aber, worum es der AfD geht – nicht das „eigene“ Volk soll zurückgeholt werden, vielmehr sollen jene, die nach Meinung der AfD nicht zu diesem gehören, aus dem Land vertrieben oder eingedeutscht werden.

Was die AfD an rassistischer Zuspitzung verspricht, will die FDP an der Regierung in Sachen „Liberalismus“, also an Privatisierungen, Flexibilisierung und neo-liberaler Politik, „einbringen“. Frei ist das Land, nämlich vor allem dann, wenn die großen Unternehmen und Konzerne frei für die Profitmacherei sind – notfalls auch auf Kosten der Umwelt und der Bevölkerung, wie die Verteidigung des Braunkohlebergbaus und der wahnwitzige Lobbyismus für den innerstädtischen Berliner Flughafen Tegel zeigen.

Dabei geht der Sieg der FDP, immerhin eine Verdoppelung ihrer Prozente und Stimmen, auch auf einen „taktischen“ Wechsel von früheren Union-WählerInnen zurück.

Die Grünen zeigten, dass man sich auch über den letzten Platz im Rennen um Parlamentssitze freuen kann – mag es auch nicht immer so überzeugend gelingen. In der nächsten Regierung stehen sie für „Umwelt“, „Offenheit“ und „Europa“. Mit Europa ist die „demokratische“ Vertiefung der EU in Allianz mit Frankreich zum Wohle „der europäischen Wirtschaft“ gemeint. Unter Umwelt geht es um den „ökologischen Umbau“ im Rahmen eines Green New Deal mit der Großindustrie. Und unter „Offenheit“ verstehen sie die „faire“ Selektion der MigrantInnen und die humanitäre Ausgestaltung der Abschiebung.

All das ist eine Basis für zähe, aber letztlich wohl erfolgreiche Koalitionsverhandlungen zwischen Union, Grünen und FDP. Eine neue Regierung wird wahrscheinlich erst nach längeren Verhandlungen zustande kommen, zu einem „Gelingen“ des Unternehmens haben aber diese drei Parteien schon jetzt keine Alternative mehr.

Der Grund dafür ist einfach: Diese drei Parteien stehen in wesentlichen Fragen für eine Fortsetzung, allenfalls für eine Modifikation der Politik der Großen Koalition. Vor allem aber stehen sie dafür, dass die Lösung der Krise der EU eine, ja die Kernaufgabe der nächsten Bundesregierung sein wird. Wobei es darum geht, den „Kern“ Europas, also die Achse um Frankreich und Deutschland zu stärken und verlorenes Terrain in der Weltpolitik gegenüber den USA und China aufzuholen – wozu notwendigerweise auch Aufrüstung, Interventionen, verstärktes globales Agieren und die Sicherung der Investitionsbedürfnisse des Großkapitals gehören.

Verliererin SPD

Nur eine Partei vermochte am Wahlabend an ihrer Niederlage nichts zu deuten – die SPD. Sie verlor 5,2 Prozent der Stimmen und fuhr mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg ein. In absoluten Zahlen verlor sie fast zwei Millionen WählerInnen.

Die Niederlage kam zwar angesichts der Umfragen weniger überraschend als die Einbußen der Union. Aber die Union hatte 2013 immerhin ein extrem starkes Ergebnis (plus 7,7 Prozent), während die SPD sich von der Agenda-Politik bis heute nicht zu erholen vermochte.

Offenkundig hatte die Parteispitze dieses Debakel schon einkalkuliert. So verkündete sie kurz nach den ersten Hochrechungen, dass sie für eine Fortsetzung der Großen Koalition nicht zur Verfügung stünde. So war Schulz wenigstens ein Wahl-Coup gelungen.

Der Gang in die Opposition blieb ihr als einzige Möglichkeit, den finalen politischen Selbstmord zu verhindern – ob sie sich in dieser zu regenerieren vermag, ist allerdings fraglich. Die „Taktik“, so zu tun, als wäre nur die CDU für die Regierungspolitik und den Mangel an politischer Debatte im Land verantwortlich gewesen, wird wohl erst recht nicht als „Strategie“ reichen.

Die Verluste der SPD sind zweifellos wohlverdient und vor allem auf dem eigenen Mist gewachsen. In den Altersgruppen unter 45 schnitt sie nach Umfragen noch einmal stark unterdurchschnittlich ab (19 Prozent bei den 18-24-Jährigen, 18 bei den 25-35-Jährigen und 16 Prozent bei den 25-44-Jährigen).

Bei den ArbeiterInnen (24 Prozent), RentnerInnen (24 Prozent) und Arbeitslosen (23 Prozent) ist sie zwar überdurchschnittlich stark vertreten – aber auf einem historisch geringen Niveau. Es sind aber jene Teile der Bevölkerung, die der SPD noch eher die Stange hielten als Angestellte oder gar Selbstständige. Es liegt eine gewisse – unfreiwillige – Ironie darin, dass jene Schichten, die sie in den letzten Jahren immer wieder verraten hat, noch eher zu ihr hielten als die viel umworbene „Mitte“.

Erhebungen unter Gewerkschaftsmitgliedern (2) zeigen, dass die SPD mit 29 Prozent noch immer den höchsten Anteil erzielen konnte. Die Union erreichte im Landesdurchschnitt 20, die Linkspartei 12 Prozentpunkte. Damit lag sie aber nur auf dem vierten Platz – hinter der AfD, die 15 Prozent erzielen konnte. Im Osten kommt sie ebenso wie die Linkspartei unter Gewerkschaftsmitgliedern auf 22 Prozent – gegenüber 24 Prozent der Union und 18 der SPD. Allein das ist ein politisches Alarmsignal.

Das drückt sich z. T. auch in den Wählerwanderungen aus. Die SPD verlor fast nichts an die Union, aber 380.000 Menschen an die Grünen und 470.000 an die FDP. Das dürften eher Angestellte und Selbstständige gewesen sein. Sie verlor zugleich 470.000 an die AfD, was sicher auch den erschreckend hohen Anteil von ArbeiterInnen und Arbeitslosen an den AfD-Stimmen miterklärt. An die Linkspartei wanderten 430.000 ehemalige SPD-WählerInnen, vor allem im Westen, wo die Linkspartei weit überdurchschnittlich abschnitt.

Zweifellos sind gerade an diese Parteien auch Stimmen des Protests und der Unzufriedenheit verloren gegangen, nachdem klar geworden war, dass die SPD ohnedies keine Regierungsoption zu bieten hatte. Sie haben gewissermaßen taktisch gegen die Sozialdemokratie gestimmt, aber aus durchaus entgegensetzten Motiven. Die Stimmen der AfD brachten zwar sicher auch Unzufriedenheit mit allen anderen Parteien zum Ausdruck, sie waren aber auch eine Stimme für mehr, offeneren und unverhüllten Rassismus und Nationalismus, wie die Umfragen zu den Motiven der AfD-WählerInnen zeigen.

Die Linkspartei wurde aus anderen Gründen – im Grunde als Zeichen für eine „echte“ sozialdemokratische Politik, für Reformen im Interesse der ArbeiterInnen und Jugend gewählt.

Die Linkspartei

Betrachten wir nur die Stimmenanteile der Linkspartei, so scheint sich mit einem Plus von 0,6 Prozent (8,6 auf 9,2) wenig verändert zu haben. Dahinter verbergen sich jedoch enorme Veränderungen innerhalb ihrer WählerInnenschaft.

Erstens hat DIE LINKE in den neuen Bundesländern, also ihren traditionellen Bastionen, durchgängig verloren und ist auf den dritten Rang hinter CDU und AfD abgerutscht. Damit wird eine Entwicklung fortgesetzt, die sich schon in den Landtagswahlen (insbesondere in Berlin) gezeigt hatte. Hinsichtlich der Wählerwanderungen drückt sich das deutlich in Verlusten an die AfD aus – und zwar rund 400.000!

Zugleich hat die Linkspartei in allen westlichen Bundesländern sowie in Berlin zugelegt – und zwar durchaus beachtlich. In Berlin konnten die Verluste in den Ostbezirken durch Gewinne in den westlichen Bezirken kompensiert werden, so dass die Partei gegenüber den Bundestagswahlen 2013 leicht zulegen konnte. DIE LINKE schaffte es außerdem in allen westlichen Bundesländern, deutlich über die 5-Prozenthürde zu kommen, sogar in Ländern wie Bayern (6,2 Prozent), Baden-Württemberg (6,4), Rheinland-Pfalz (6,8) oder Nordrhein-Westfalen (7,5), wo sie bei den Landtagswahlen deutlich gescheitert war.

Sicherlich ist ein Teil dieser Stimmen auch auf taktisches Verhalten sozialdemokratischer WählerInnen zurückzuführen, die für die Linkspartei stimmten, da die SPD ohnedies keine Chance auf die Kanzlerschaft hatte und ihre Stimme somit auch nicht „verschwendet“ werden würde.

Das Wahlergebnis zeigt aber auch den Wandel an der sozialen Basis der Partei auf, Auch wenn die Linkspartei nur leicht überdurchschnittlich ArbeiterInnen (10 Prozent), Arbeitslose (11 Prozent) ansprechen konnte, so repräsentiert sie die bewussteren, (links)reformistischen Teile der ArbeiterInnenklasse. Hinzu kommt, dass sie unter jüngeren WählerInnen (18-34 Jahre) mit 11 Prozent besser als unter allen anderen Altersgruppen abschneidet.

Zweifellos haben die relative Stabilität des deutschen Imperialismus, das geringere Niveau gewerkschaftlicher Kämpfe und Niederlagen der Refugee-Bewegungen die Chancen der Linkspartei geschmälert. Ein Rechtsruck der Gesellschaft erschwert durchaus auch das Anwachsen links-reformistischer Parteien, zumal wenn große Teile der ArbeiterInnenklasse sozialpartnerschaftlich integriert sind und das Niveau der Klassenkämpfe relativ gering ist.

Trotz leichter Zuwächse vermocht die Linkspartei der vorhandenen Unzufriedenheit keinen umfassenden Ausdruck zu geben und konnte die Krise der SPD weniger als möglich nutzen. Die Gründe dafür sind hausgemacht, sie sind Resultat von Anpassung und Anbiederung. Erstens an die rassistische und chauvinistische Hetze gegen Geflüchtete, wie sie auch von „Linken“ wie Wagenknecht verbreitet wurde, zweitens an die Gewerkschaftsführungen, die allenfalls zaghaft kritisiert werden, und an den „demokratischen“ Mainstream, wie im Zuge von Distanzierungen nach dem G20-Gipfel zu sehen war. Und drittens in der Regierungspolitik in Thüringen, Berlin, Brandenburg. Dass die Partei vielen nicht gerade als „oppositionell“ erscheint, ist kein „Vermittlungsproblem“, sondern, wenn auch im kleineren Maßstab, ähnlich wie bei der SPD die notwendige Folge bürgerlicher Regierungspolitik, der Verwaltung sog. Sachzwänge.

Aufstieg der AfD

Zweifellos hat die AfD davon – noch viel mehr natürlich von der Politik der SPD – profitiert. Die beiden, sich historisch und organisch auf die ArbeiterInnenklasse stützenden Parteien verloren insgesamt 870.000 WählerInnen an die Rechts-PopulistInnen, also fast so viele wie die Union (980.000). Darüber hinaus hat sie mit 1,2 Millionen Stimmen als einzige Partei ehemalige NichtwählerInnen wirklich mobilisieren können.

Die AfD konnte sich als einzige „anti-systemische“ Partei präsentieren und damit auch Unzufriedenheit aller Art auf sich kanalisieren. Aber die Umfragen, die zeigen, dass eine Mehrheit der AfD-WählerInnen die Rechten nicht wegen ihrer Politik, sondern vor allem wegen der Ablehnung anderer Parteien wählte, sind kein Grund zur Entwarnung.

Der „Protest“ ist eindeutig mit einem politischen Inhalt verbunden. Die WählerInnen der AfD nehmen deren offenen Rassismus und aggressiven Deutschnationalismus nicht nur billigend in Kauf, viele wählen sie auch gerade deshalb.

Das zeigten z. B. Umfragen über die Ansichten der AfD-WählerInnen am Wahlabend. So erklärten 99 Prozent, dass sie gut finden, dass die AfD „den Einfluss des Islam in Deutschland verringern will“. 96 Prozent „finden es gut, dass sie den Zuzug von Flüchtlingen stärker begrenzen will.“ Zu diesen Einstellungen kommt hinzu, dass die AfD als beste Law-and-Order-Partei erscheint, die Kriminalität – vorzugsweise von AusländerInnen – wirklich bekämpfen wolle.

Außerdem treibt ihre WählerInnen um, dass wir angeblich „einen Verlust der deutschen Kultur erleben“ (95 Prozent) und der „Einfluss des Islam in Deutschland zu stark wird“ (94 Prozent).

Rassismus und – zunehmend auch völkisch begründeter – Nationalismus bilden den Kitt der AfD. Vermeintliche und wirkliche Ängste werden so zu einer aggressiven chauvinistischen, rechten Ideologie verbunden, die heute zwar noch vor allem parlamentarisch ausgerichtet ist, die sich jedoch auch weiter radikalisieren kann, wie die Verbindungen der AfD zu offen faschistischen Kräften zeigen.

Auch wenn diese Partei noch um einiges von der Stärke einer FPÖ oder FN entfernt ist, so hat sich zweifellos eine rechts-populistische, rassistische Partei in Deutschland etabliert. Diese wird sich – gerade angesichts der globalen politischen Verwerfungen und verschärften Konkurrenz – auch trotz innerer Konflikte und (noch) fehlender unumstrittener Führungsfigur – kaum „selbst zerlegen“. Erst recht wird sie nicht durch den Parlamentarismus „entzaubert“ werden. Im Gegenteil. Die Politik der nächsten Regierung wird ihr Stoff geben, sich als Opposition aufzuspielen, zumal wenn SPD und Linkspartei den Fehler machen sollten, den Kampf gegen die Regierung zugunsten der imaginären Einheit der „DemokratInnen“ hintanzustellen.

Die AfD ist kein Fremdkörper in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Entstehung einer rechts-populistischen Partei verdeutlich die krisenhaften Prozesse, die – schon vor einer ökonomischen Zuspitzung – aus dem Untersten der Gesellschaft empordrängen.

Nationalismus, Chauvinismus, Bevorzugung der Deutschen, Abschottung gegen MigrantInnen, anti-muslimischer Rassismus – all das sind keine Alleinstellungsmerkmale der AfD, sondern in allen bürgerlichen Parteien vertreten und in der Form des Sozial-Chauvinismus auch bei SPD und Linkspartei. Die AfD erntet diese Früchte, die andere gesät haben.

Die Mobilisierung gegen die AfD und ihren Rassismus darf daher nicht als eine vom Klassenkampf getrennte Aufgabe verstanden werden. So wie es gilt, der rechten, rassistischen Hetze entgegenzutreten, so muss das mit dem Kampf gegen den staatlichen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte, aber auch mit der „sozialen Frage“, also für Mindestlohn, Rente, gleichen Zugang zu Bildung, gegen Mietenspekulation usw. verbunden werden.

Es braucht aber auch einen bewussten Kampf gegen das Gift von Rassismus und Nationalismus in den Reihen der ArbeiterInnenklasse, in den Betrieben, an Unis und Schulen.

Regierungsbildung – das Problem des Unvermeidlichen

Ein von der nächsten Regierung unabhängiger Kurs der Linken und der Gewerkschaften ist eine unabdingbare Voraussetzung nicht nur für einen erfolgreichen Kampf gegen die AfD und die Stimmungen, auf die sie sich stützt.

Die Niederlage der Union, aber auch die Schwierigkeiten, eine Jamaika-Koalition rasch auf die Beine zu bringen, zeigen auch, dass es für die herrschende Klasse einen zweiten, wichtigeren Grund als den Aufstieg der AfD für Beunruhigung gibt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Parteienspektrum in Westdeutschland lange praktisch auf drei Parteien verengt. Schon die Entstehung der Linkspartei und der Grünen unterminierte das. Mit der AfD kam noch eine Kraft hinzu.

So sehr sich aber auch CDU, CSU, Grüne, FDP sowie die SPD in wichtigen Zielsetzungen – gerade wenn es um die Ordnung Europas geht – ähneln, so sind ihre Gegensätze auch real und nicht wahltaktisch vorgeschoben. Das trifft nicht nur auf FPD und Grüne zu, die beide gerne mit der Union (wenn auch nicht miteinander) koalieren möchten, sondern auch auf CDU/CSU. Gerade in der Europapolitik orientieren die CDU-Führung und auch die Grünen auf einen Pakt mit Macron, die FDP ist zwar nicht grundsätzlich dagegen, lehnt dafür aber seine finanzpolitischen Vorschläge kategorisch ab. Ähnliches gilt für andere Politikfelder.

Hinzu kommt, dass gerade FDP und Grüne, aber angesichts ihres katastrophalen Wahlergebnisses und baldiger Landtagswahlen auch die CSU, um ihre „Alleinstellungsmerkmale“ fürchten.

Die Verhandlungen werden noch zusätzlich erschwert, weil es für den deutschen Imperialismus angesichts der verschärften globalen Konkurrenz und der Krise der EU auch darum geht, dass die nächste Regierung eine klarere Strategie verfolgt, um die EU unter deutscher Führung zu „einen“ und neu zu formieren. Formelkompromisse mögen daher zwar im Koalitionsschacher funktionieren, für die strategischen Zielsetzungen Deutschlands wären sie aber selbst ein Problem.

Die Weigerung der SPD, in Verhandlungen mit der Union einzutreten, zwingt die drei anderen Parteien praktisch zu einer Koalitionsbildung. Kein Wunder, dass alle auf die SPD schlecht zu sprechen sind, engt deren Entscheidung ihre Optionen doch massiv ein.

Während Merkel und die Union die SozialdemokratInnen höflich ums Überdenken ihrer Haltung auffordern, macht es die FDP schriller. So wirft ihr Parteivorsitzender Lindner der SPD Landesverrat vor, da sie erstmals seit 1919 die Interessen der Partei über jene des Landes stelle.

Dass die SozialdemokratInnen so weit gehen, doch noch Koalitionswilligkeit zu signalisieren, um den Spielraum der FDP beim Jamaika-Poker zu erhöhen, darf bezweifelt werden, auch wenn die Partei für ihre selbstmörderische Entscheidungen immer wieder zu haben war.

Hinter der Aufregung ob der „harten“ Haltung der SPD zeigt sich aber mehr. Die Bourgeoisie möchte die Option auf eine „große“ Koalition, auf eine zweite Wahl für den Fall innerer Zerwürfnisse von CDU/CSU, Grünen und FDP offenhalten.

In den nächsten Jahren will die herrschende Klasse kein Szenario, das zu mehr Polarisierung zwischen den Klassen, zu einer „härteren“ Sozialdemokratie oder auch zu einer weniger regierungsnahen Politik der Gewerkschaften führt.

In der Ablehnung der Großen Koalition liegt nämlich – durchaus entgegen den Intentionen aller SPD-FührerInnen – ein Moment, das auf mehr Konfrontation entlang sozialer und ökonomischer Fragen verweist. Wenn sie irgendwie „Glaubwürdigkeit“ zurückgewinnen wollen, „soziale Gerechtigkeit“ in den Vordergrund rücken, dann müssen sie sich als Opposition nicht nur zur Regierung präsentieren, sie müssen sich auch der Konkurrenz der Linkspartei stellen – wie diese umgekehrt aufpassen muss, dass ihr die SPD ihr sozialdemokratisches Programm nicht einfach klaut.

Einige Schlussfolgerungen

Die kurzen Betrachtungen führen zu einigen ersten Schlussfolgerungen.

  1. Die Wahlen sind eine Warnung an die Linke und an die ArbeiterInnenbewegung. Sie bringen einen Rechtsruck der Gesellschaft zum Ausdruck. Der Sieg der AfD und ihre Hetze ist nur der extremste Ausdruck. Der triumphale Widereinzug der FDP ist das ebenso wie die Rechtsentwicklung der Grünen.
  2. Die Verhältnisse sind zugleich auch instabiler geworden. Wir müssen damit rechnen, dass die Krise Europas, die instabile Weltlage, aber auch die Drohung eines weiteren Zulaufs zur AfD als Disziplinierungsmittel nicht nur in der Regierung, sondern auch gegenüber der parlamentarischen Opposition und den Gewerkschaften genutzt wird, indem die „Einheit der Demokraten“ beschworen wird.
  3. Daher gilt es nicht nur, den offenen RassistInnen auf der Straße, in den Betrieben, in Stadt und Land konfrontativ entgegenzutreten – es muss dies durch Klassenpolitik, durch ein Bündnis der ArbeiterInnenorganisationen, der MigrantInnen und Flüchtlinge, der Gewerkschaften und Linken, nicht durch gemeinsame Erklärungen mit der Regierung geschehen.
  4. Der Kampf gegen die Angriffe der nächsten Regierung, auf sozialer, gewerkschaftlicher, vor allem aber auch internationaler Ebene muss im Zentrum linker Politik stehen. Die aktuelle Lage erfordert und ermöglicht, den Widerstand nicht nur auf nationaler Ebene, sondern vor allem auch auf europäischer und internationaler zu koordinieren. Gerade von der Linkspartei und den Gewerkschaften – respektiven deren linkeren Kräften – ist hier eine entschlossene Initiative gefordert, die es erlaubt, den Kampf in Frankreich, den Widerstand in Katalonien, den Kampf gegen Militarisierung, Interventionen und die Abschottung der EU koordiniert zu führen.
  5. Daher schlagen wir eine Aktionskonferenz vor, auf der die Politik der nächsten Regierung analysiert und ein Forderungs- und Mobilisierungsplan verabschiedet wird. Dazu sollten vorbereitende Treffen in allen Großstädten, an Schulen, Unis und in den Betrieben und Gewerkschaftsgruppen stattfinden.

 

Endnoten

(1) Die Zahlen beziehen sich auf das vorläufige amtliche Ergebnis vom 25. September. Diese und andere Zahlen sind der Homepage der Tagesschau entnommen. Einzige Ausnahme bilden die Zahlen zur WählerInnenpräferenz von Gewerkschaftsmitgliedern.

(2) Bundestagswahl 2017: So haben Gewerkschaftsmitglieder gewählt

 




Die offen bürgerlichen Parteien – Größeres Angebot

 

Jürgen Roth, Neue Internatinale 222, September 2017

Die Krise der EU hat – trotz relativer Stabilität in Deutschland – in der letzten Legislaturperiode auch zu einem mehr oder minder offen ausgetragenen Richtungsstreit in der herrschenden Klasse geführt. Auch wenn heute Angela Merkel wieder als die einzig mögliche Kanzlerin erscheint, so war sie erstmals seit ihrem Amtsantritt politisch angeschlagen.

Die Konflikte in der Union, der „Wiederaufstieg“ der FDP, die AfD und auch die Grünen spiegeln dabei eben auch unterschiedliche Kapitalfraktionen und Konflikte um die zukünftige Strategie des deutschen Imperialismus wieder, die unvermeidlich auch in der kommenden Periode offen in Erscheinung treten müssen.

Die Union

Nach dem klaren Wahlerfolg 2013 hat die CDU/CSU zunächst Wahlniederlagen eingefahren. Ein Grund für diese wie auch für den Aufstieg der AfD war die kurzfristige, scheinbare Abkehr der CDU von ihrer traditionellen Asylpolitik während des Spätsommers 2015. Als Merkel drei Wochen lang „großzügig“ die Grenzen v. a. für syrische Geflüchtete öffnen ließ, entstanden Risse zwischen den „Schwesterparteien“, aber auch Unmut an der mittleren und unteren CDU-Basis. Während die Geflüchteten kamen, profilierte sich die CSU quasi als Rechtsopposition in der Großen Koalition.

Die CDU sonnte sich in dieser Zeit auf der breiten Unterstützung durch SPD, Grüne und „Zivilgesellschaft“ für ihre Politik der „offenen Grenzen“. Doch im Wahljahr 2017 präsentiert die Union sich wieder geeint. Das reichte, um der SPD zwei Landesregierungen abzunehmen.

Die Gründung der CDU war die Lehre, die das Großbürgertum aus der zersplitterten Parteienlandschaft der Weimarer Republik zog und der sie die Hauptschuld für den Aufstieg der NSDAP zuschob. Diese offen bürgerliche Partei neuen Typs vereinte zunächst das gesamte konservative und nationale Lager mit der christlichen ArbeiterInnenschaft der Zentrumspartei, später stieß der rechte nationalliberale Flügel aus der FDP dazu. Die sich sozialer, aber auch rechter gebärdende CSU konnte der Bayernpartei den Rang ablaufen, damit den eingefleischten regionalen Partikularismus überwinden. Die nachholende Industrialisierung dieses Bundeslands federte sie sozial geschickt ab. Das ist das Geheimnis hinter ihrer unangefochtenen Vorherrschaft seit Ende der 1950er Jahre.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steht die Union als politisches Flaggschiff des Monopolkapitals stabil da. In Frankreich und Italien sind die großen offen bürgerlichen Parteien untergegangen. Doch auch in Deutschland ist es schwierig geworden, eine Regierung aus zwei Parteien sogar mit dieser Union zu bilden. Ende der 1960er Jahre deutete dagegen alles auf ein Zweiparteienparlament hin, heute sind schon 5, demnächst 6 vertreten. Im Gefolge der nächsten Krise, der zunehmenden Konzentrationsprozesse, die den Untergang schwächerer Kapitale nach sich ziehen werden, wird aber auch die Union unter Druck geraten und ihre Existenz auf den Prüfstand gestellt werden. Ihr Zerfall würde eine Krise ersten Ranges für die Monopolbourgeoisie bedeuten.

Auch das erklärt, warum die verschiedenen Flügel der CDU/CSU ihre Konflikte begrenzen. Der deutsche Imperialismus setzt zur Zeit auf eine klar dominierende bürgerliche Partei, um die herum jedoch zunehmen mehr „Optionen“ gruppiert werden können, die sowohl die SPD als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wie kleinere offen bürgerliche Parteien einschließen. Kurzfristig jedenfalls ist daher die Aufsplitterung der Parteienlandschaft für die herrschende Klasse kein allzu großes Problem, ja eröffnet auch Optionen. Entscheidend wird dabei freilich, ob und wie sehr die nächste, wahrscheinlich von der CDU-geführte Regierung in der Lage sein wird, die Gesamtinteressen des deutschen Kapitals international substantiell voranzubringen.

Die AfD

2015 rückte die AfD deutlich nach rechts, der islamophobe, rassistische und nationalistische Flügel trat geeint gegen den „nur“ neoliberalen Lucke-Flügel an und übernahm danach die Partei. In der Phase der Krise von CDU/CSU konnte die AfD enorme Wahlerfolge erreichen und sich trotz schwerer innerer Führungskämpfe im Parteienspektrum etablieren. Ähnlich der FPÖ mobilisiert sie die kleinen und mittleren Selbstständigen und FreiberuflerInnen, aber auch diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse, welche sozialen Abstieg erlebt haben oder sich vor diesem fürchten. Das betrifft diejenigen im Hartz-IV- und Niedriglohnbereich, aber auch die gutverdienenden Schichten.

Während Petry und Pretzell eher für gesichtslosen, rassistisch geprägten Rechtspopulismus stehen, wollen Poggenburg und Höcke die AfD als nationalistische Kraft etablieren, völkische Ideologie weiter verbreiten und nach rechts öffnen. Dahinter stehen letztlich unterschiedliche Auffassungen über die Funktion der AfD. Soll sie als zukünftige Koalitionspartnerin der CDU diese auf einen „echten“ konservativen Kurs bringen, muss sie eine gewisse bürgerliche „Respektabilität“ vorweisen. Die andere Option besteht darin, die AfD als rechts-radikale, nationalistische Massenpartei zu etablieren – eine Option, die bei einer Verschärfung sozialer Gegensätze und Klassenkämpfe auch für das Kapital interessant werden könnte.

Im Gegensatz zu ihrer Propaganda, die „den deutschen Arbeiter“ beschwört, ist rassistische und neoliberale Sozialpolitik das Programm, worauf sich die gesamte Partei einigen kann.

Die FDP

Die zeitweilige Schwäche der Union, aber auch der rechtsnationale Trend in der AfD haben der FDP geholfen, sich wieder als „Alternative“ für Kleinbürgertum, Mittelstand und Großkapital anzubieten – sei es durch Zweitstimmen von der Union oder, dass die AfD eben die neoliberalen, kleinbürgerlichen Schichten/Eliten nun weniger vertritt.

Die FDP ist aktuell wieder in 9 Landesparlamenten vertreten. Zunächst hatte sie ihr „linksliberales“ Profil bei Bürgerrechten und Datenschutz schärfen wollen. Damit gebärdet sich die FDP zusätzlich auch offen für Ampelkoalitionen bzw. solche mit der SPD und Schwarz-Grün („Jamaika“variante).

In Zeiten einer schleichenden Weimarisierung der Parteienlandschaft braucht das Großkapital die kleinen Parteien (FDP, Grüne) ohne einen ständisch organisierten Massenanhang wie die Union umso dringender. Sie können z. B. ein flexibles Scharnier zwischen offen bürgerlichem Lager und den reformistischen ArbeiterInnenparteien bilden wie unter den sozialliberalen bzw. rot/grünen Koalitionen, wo sie leichter und schneller Reformen im Bildungssektor und Arbeitsrecht durchsetzen konnten, als es die Unionsparteien vermochten. Die Kanzlerschaft Kohls wurde im Gegenzug durch das rasche Umschwenken der FDP ermöglicht.

Der wahrscheinliche Wiedereinzug der FDP in den Bundestag ist daher keineswegs nur als eine konjunkturelle Entwicklung zu verstehen. Diese Partei muss wenig bis keine Rücksicht auf schlechter verdienende Bevölkerungsgruppen nehmen – sie ist somit „freier“ als jede andere Partei, offen und ungeschminkt Kapitalinteressen und neo-liberale Politik zu vertreten: ein nützliches „Korrektiv“ für die herrschende Klasse gegenüber den „Volksparteien“.

Die Grünen

Nach den gescheiterten Sondierungen 2013 mit der Union haben die Grünen auf Landesebene ihre Verwendbarkeit für Koalitionen mit der Union erneut nachgewiesen, auch mit „rechten“ CDU-Landesverbänden (Baden-Württemberg, Hessen). Sicherlich ist eine von den Grünen geführte Koalition wie in Baden-Württemberg eine Ausnahmeerscheinung, aber auch Beweis ihrer extremen Flexibilität. Kretschmann war im Bundesrat eine verlässliche Stütze der Regierungspolitik Merkels, zeitweise mehr als die CSU. Somit haben sich die Grünen in Stellung für eine unionsgeführte Bundesregierung gebracht.

Nicht viel übrig geblieben ist vom Image der Partei, die die meisten „radikalen“ Linken jahrzehntelang „links“ von der SPD verorteten. An der Bundesregierung (1998-2005) wurden der Jugoslawienkrieg in der Partei durchgesetzt und die Agenda 2010 mitgetragen. Seitdem gehen die Grünen immer klarer in die bürgerliche Mitte, sind in Fragen der Steuer- und Wirtschaftspolitik ein Pendant zur FDP geworden, wenn auch mit Fokus auf andere (klein-)bürgerliche Schichten („alternative Energien“ z. B.). In Fragen der Austeritätspolitik haben die Grünen sich auf die Seite der EU gestellt, Abschiebungen afghanischer Geflüchteter sind zumindest in Baden-Württemberg an der Tagesordnung.

In gewisser Weise konkurrieren die Grünen mit der FDP um die Position als Mehrheitsbeschafferin. Rechtsausleger wie der Tübinger Bürgermeister Palmer vertreten offen AfD-Positionen zur Flüchtlingsfrage. Auch das Zerplatzen der Koalition in Niedersachsen zeigt, wie sehr diese Partei sich dem bürgerlichen konservativen Milieus angenähert hat.

Zu den entscheidenden Themen aktuell wie Rechtsruck, Zukunft der EU, sozialer Frage hat diese Partei keine Alternative zum Programm der CDU/CSU oder SPD anzubieten. Die letzten 35 Jahre zeigten, wie schnell eine „radikale“ Partei der kritischen Intelligenz in den offen bürgerlichen Mainstream integriert werden konnte.