Der Fehlschlag von Madrid

Warum die
Weltklimakonferenz gescheitert ist und was wir daraus lernen können

REVOLUTION, Kommunistische Jugendorganisation, Infomail 1081, 19. Dezember 2019

Die
Weltklimakonferenz in Madrid ist auf ganzer Linie gescheitert. Das
Abschlussdokument ist dementsprechend mehr als lächerlich. Nahezu alle
wichtigen Fragen wie der Umgang mit den Emissionszertifikaten oder die
Entschädigung der ärmeren, vom Klimawandel umso stärker betroffenen Länder
wurden auf die nächste Konferenz im November 2020 in Glasgow verschoben. Was übrig
bleibt, sind vage nationale Klimaschutz-„Zusagen“. Da findet selbst die
Bundesregierung kaum noch etwas, was man schönreden könnte. Eine zeitliche
Verlängerung der Verhandlungsdauer um ganze 40 Stunden hat da auch nicht mehr
viel gebracht.

Und wenn eine
solche Konferenz um noch so viele Stunden mehr verlängert werden würde: Das
Problem ist nicht zu wenig Zeit oder zu wenig Engagement, sondern die im Zuge
der Krise des Kapitalismus sich international zuspitzende Konkurrenz zwischen
den Nationalstaaten. Seit der großen Weltwirtschaftskrise 2007/2008 gibt es auf
dem Weltmarkt weniger zu holen, sodass sich der Kampf um den verbliebenen Rest
vom Kuchen zwischen den einzelnen AkteurInnen massiv verstärkt hat. Da sich
Klimaschutz und wirtschaftliche Profite entgegenstehen, traut sich keiner der
global player, einen Schritt „zu weit“ in Richtung Nachhaltigkeit zu machen, da
man dann in der internationalen Konkurrenz einen Nachteil fürchtet. Aus diesem
Grund sind die USA bereits vor einiger Zeit aus dem Pariser Abkommen
ausgetreten und ihr Hauptkonkurrent China traute sich nun auf der
Weltklimakonkurrenz kaum noch, Zugeständnisse zu machen. Die EU hat noch einmal
versucht, ihren politischen Anspruch, ebenfalls eine globale Führungsmacht zu
sein, deutlich zu machen, indem sie sich (allen voran Ursula von der Leyen) als
„Zugpferd für mehr Klimaschutz“ inszenierte. Wirklich was geliefert hat sie
jedoch nicht.

Madrid ist nur
ein weiteres Beispiel dafür, wie die nette Idee von der „Weltdemokratie“ der
UNO und anderen ähnlichen Institutionen radikal in Frage gestellt wird, sobald
der Ton in der Weltwirtschaft rauer wird und die Wachstumsraten sinken. Madrid
steht dabei auch im Schatten des Scheiterns des internationalen Atomabkommens
oder des aktuellen Handelskriegs. Wir schließen daraus, dass es keine „Weltdemokratie“
geben kann, solange die Welt aus Nationalstaaten besteht, die in Konkurrenz
zueinander stehen. Vielmehr handelt es sich bei der UNO ebenso wie beim IWF und
ähnlichen Agenturen um Organe zur Durchsetzung imperialistischer
Machtinteressen, die in Zeiten zugespitzter Konkurrenz zum Stillstand kommen.
Dass diese nie Arenen freier Aushandlung waren, zeigen allein schon die fünf
Veto-Mächte. Da aber das kapitalistische System den Motor der Konkurrenz und die
Säule der nationalstaatlichen Form darstellt, müssen wir eine internationale
antikapitalistische Klimabewegung aufbauen, um diesen Widerspruch auflösen und
den Planeten noch irgendwie retten zu können. Zulange haben wir den
kapitalistischen Institutionen und den bürgerlichen PolitikerInnen vertraut,
dass sie schon eine gute Lösung fürs Klima finden werden. Der letzte Aktionstag
von Fridays for Future war zwar immer noch groß, aber hat auch eher auf die UN
gehofft als selber etwas gemacht. Die (nicht vorhandenen) Ergebnisse aus Madrid
sollten deshalb in Fridyas for Future neue Diskussionen anstoßen, wo wir
eigentlich hinwollen und wer diese Veränderung umsetzen kann. Spätestens nach
diesem Wochenende sollte nämlich allen klar sein: Klimaschutz bleibt Handarbeit.
Was wir brauchen, sind Basisstrukturen an Schulen, Unis und in Betrieben, die
demokratisch diskutieren und Konzepte erarbeiten, begleitet von großen
internationalen Aktionskonferenzen, auf denen wir gemeinsame Forderungen
erarbeiten und deren Umsetzung kontrollieren können. Kein Vertrauen mehr in die
kapitalistischen Institutionen, Verbände und Parteien!

Das Gerede von
„neuer umweltfreundlicher Technologie“ und dem „Green Deal“ können wir nicht
mehr hören, denn klar ist: Wenn sich Natur und Profit sowie
Nationalstaatlichkeit und internationaler Klimawandel widersprechen, kann es
auch keinen „grünen Kapitalismus“ geben. Der Klimawandel ist für uns in erster
Linie keine Frage der Technologie, sondern des gesellschaftlichen Umgangs mit
Natur. Es ist also nicht die Natur die gestört ist, sondern das Verhältnis, das
unser Wirtschaftssystem zu ihr hat. Genau deshalb bedeutet Kampf fürs Klima
auch Kampf für eine andere Gesellschaft. Ansätze für diesen Kampf kommen auf
der ganze Welt gerade nicht nur aus der Klimabewegung, sondern auch in Chile,
Irak und Libanon gegen den Neoliberalismus, in Rojava und Chile gegen das
Patriarchat oder in sehr vielen Ländern gegen den internationalen Rechtsruck.
Dass insbesondere die Rechtspopulisten Trump und Bolsonaro die größte
Blockadehaltung auf der Weltklimakonferenz eingenommen haben, zeigt uns nur
wieder einmal deutlich, dass sich unsere Klimabewegung klar gegen Rechts
positionieren muss. Lasst uns also aus Madrid lernen und ausgehend von Fridays
for Future und allen anderen fortschrittlichen Bewegungen auf der Welt eine
internationale antikapitalistische Bewegung zur Rettung dieses Planeten
aufbauen. Spätestens jetzt heißt es: Handeln statt Hoffen!




Polizei tötet Studierende – Solidarität mit der indischen Studierendenbewegung!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1081, 17. Dezember 2019

Am Sonntag, den 15. Dezember, griff die Polizei von Delhi
brutal StudentInnen der Jamia Millia Islamia (Nationale Islamische Universität)
und BewohnerInnen von Jamia Nagar an, die gegen das Citizenship (Amendment) Act
(CAA) protestierten.

Der Angriff war kein isolierter Gewaltakt der BJP-Regierung
von Narendra Modi. In vielen Teilen Indiens erhoben sich die Menschen,
insbesondere MuslimInnen, gegen das neue Gesetz, das am 11. Dezember 2019 vom
BJP-dominierten Parlament verabschiedet wurde. Die Änderung des
Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1955 berechtigt illegale MigrantInnen, die
Hindus, Sikhs, BuddhistInnen, Jains, ParsInnen und ChristInnen aus Afghanistan,
Bangladesch und Pakistan sind und am oder vor dem 31. Dezember 2014 nach Indien
eingereist sind, zur indischen Staatsbürgerschaft. Aber sie schließt die
muslimische Bevölkerung von der Verordnung aus. Diese Diskriminierung der
größten Minderheit des Landes ist integraler Bestandteil der
menschenverachtenden hindu-chauvinistischen Kampagne der Hindutva-Regierung
gegen MuslimInnen.

Im gleichen Zusammenhang führte die indische Regierung auch
ein neues nationales Melderegister (National Register of Citizens; NRC) ein.
Zunächst galt dies nur für den Bundesstaat Assam, aber am 20. November erklärte
Innenminister Amit Shah, dass es auf das ganze Land ausgedehnt werden sollte.
Diese neue Verordnung würde von den BürgerInnen verlangen, dass sie Unterlagen
vorlegen, um ihre StaatsbürgerInnenschaft und damit ihre BürgerInnenrechte
nachzuweisen. Dies kann nicht nur gegen so genannte illegale MigrantInnen
eingesetzt werden, sondern auch, um Staatsangehörigkeitsrechte von Nicht-Hindus
und insbesondere muslimischen Minderheiten zu entziehen, die ihren Status
möglicherweise nicht dokumentieren können. Eine solche Forderung würde sich auf
viele der am stärksten ausgebeuteten Teile der ArbeiterInnenklasse auswirken,
die in extremer Armut auf schlecht bezahlten Arbeitsplätzen überleben, die
einfach keine solchen Unterlagen haben, selbst wenn ihre Familien seit
Jahrhunderten in Indien leben.

Diese rassistischen Verfassungsänderungen und neuen
Meldegesetze wecken Wut und Massenproteste von StudentInnen und MuslimInnen im
ganzen Land.

Massive polizeiliche Repressionen

Die Polizei unterdrückt die Protestbewegung mit äußerster
Brutalität. Videos auf Social Media zeigen, wie die Polizei StudentInnen in der
Universitätsbibliothek der Jamia Millia Islamia angreift. Die Polizei benutzte
Tränengas, Sprengstoff und sogar scharfe Munition. Medien haben berichtet, dass
drei Studierende an den Folgen des Angriffs gestorben sind, und etwa 50 andere
haben Schussverletzungen. Die Polizei hat auch auf die Aligarh Muslim University
geschossen. Diese Universitäten wurden angegriffen, weil dort muslimische
StudentInnen gegen das CAA und NRC protestieren.

Es gibt auch Berichte, dass viele Studierende von der
Polizei in Delhi entführt wurden. Sie tut dies, um die indische Bevölkerung zu terrorisieren
und zu spalten. Dies ist ein regelrechter Rassismus gegen die muslimischen
StudentInnen und Menschen, aber in der Jamia helfen nicht-muslimische
StudentInnen ihren KommilitonInnen und wehren sich gegen die Polizeibrutalität.
Vor allem Frauen haben viel Mut gezeigt.

Tausende haben sich dem Protest vor dem Polizeipräsidium
Delhi angeschlossen, nachdem die StudentInnen der Jawaharlal Nehru University
dazu aufgerufen hatten. In vielen anderen Teilen des Landes gingen auch ihre
KommilitonInnen auf die Straße. Sie fordern, dass die Repressionskräfte für
ihre Brutalität an der Jamia und der Aligarh Muslim University zur
Verantwortung gezogen werden. Alle Inhaftierten sollten unverzüglich und
bedingungslos freigelassen werden.

In Delhi führten die Demonstrationen von Tausenden zur
Freilassung von inhaftierten Studierenden. Im ganzen Land sind Anzeichen einer
mächtigen StudentInnenbewegung gegen die Modi-Regierung zu erkennen. Sie
fordern den sofortigen Rückzug der Polizei vom Campus Jamia und der Aligarh
Muslim University sowie aus Jamia Nagar.

Wir stehen in voller Solidarität mit den StudentInnen in
Indien und allen anderen, die gegen CAA und NRC protestieren. Ihr Widerstand
und ihr Mut, sich zu wehren, stellen eine Quelle der Inspiration dar. Gemeinsam
können wir gegen die Hindutva-Regierung und den Staat kämpfen, der die Menschen
entlang sektiererisch-religiöser Linien spaltet. Wir fordern die indische
ArbeiterInnenklasse auf, die Studierenden im Kampf gegen die Hindutva-Regierung
zu unterstützen. Die internationale ArbeiterInnenklasse und die
StudentInnenbewegungen müssen aktiv werden und Solidarität mit der Bewegung
gegen CAA und NRC aufbauen sowie Proteste, Kundgebungen und Demonstrationen
gegen die rassistischen Gesetze, Repressionen und die Ermordung von
DemonstrantInnen organisieren!




Proteste und Gentrifizierung in Leipzig-Connewitz

Leonie Schmidt, REVOLUTION und ArbeiterInnenmacht

Seit einigen
Jahren boomt Leipzig, viele Menschen ziehen in die sächsische Stadt. Das
schlägt sich natürlich auch auf dem Wohnungsmarkt nieder. Allerdings nicht nur
in den sowieso schon teuren Gegenden, sondern mittlerweile auch in alternativen
Stadtvierteln wie Plagwitz oder auch im Szeneviertel Connewitz, welches schon
seit den 1990ern für seine linken Freiräume bekannt ist. Während die Häuser
hier vorerst unangetastet blieben, kam es in den letzten Jahren zu
Mieterhöhungen, Renovierungen und Neubauten. Wirklich günstig kann man
mittlerweile hier auch nur noch leben, wenn man einen 15 Jahre alten
Mietvertrag hat.

Aktuell gibt es
gleich mehrere Projekte für Luxusbauten, wie beispielsweise drei in der
Wolfgang-Heinze-Straße, welche die Mietpreise in die Höhe treiben und Menschen
aus dem Kiez verdrängen. Andere sind ebenfalls schon fertig gestellt wie die
Studierendenapartments am Connewitzer Kreuz, in welcher ein 19 m² kleines
Apartment mal eben 525 Euro kosten kann oder die Neubauten neben dem „Werk 2“,
für die die alten Hausbestände abgerissen und die alten Anwohner_Innen
verdrängt wurden. Auch eine Nebenkostenabrechnung wird mal schnell um 100 Euro
in die Höhe getrieben, um Mieter_Innen noch mehr auszusaugen. Anwohner_Innen
wie geringfügig Verdienende, Arbeiter_Innen, Sozialleistungen Beziehende,
Azubis und Studierende, welche nicht von den Eltern finanziert werden, können
sich solche Wohnungen bereits jetzt kaum leisten. Zwischen 2012 und 2016
stiegen die Mietpreise um 21 %, 2017 gar um 10 %, 2018 pendelten sie
sich wieder auf „moderate“ 5,5 % ein. Zukünftig werden sie sich wohl immer
weniger ihre Wohnungen leisten können, zumal viele mit stagnierenden Löhnen und
Unterstützungen zurechtkommen müssen, die schon jetzt nicht zum Leben reichen.
Zusätzlicher Stress ist gegeben durch den Zwang umzuziehen und etwaige
polizeiliche, alles andere als friedliche Räumungen.

In Connewitz regt
sich hiergegen Protest und so gibt es einige Ansätze die sich gegen die
Verdrängung richten. Zum einen gibt es die Vernetzung Süd, welche es sich zum
Ziel gemacht hat, Mieter_Innen an einen Tisch zu bringen und durch Kundgebung
und Demos eine Veränderung zu bewirken. Sie fordert durchaus Schritte zur
Vergesellschaftung, die sie taktisch durch den Mieter_Innenverein bewirken
will, welcher sich politisch mehr engagieren soll.

Auf der anderen
Seite gibt es autonome Proteste, welche in den letzten Monaten Schlagzeilen
machten und auch im Fernsehen landeten, da erstmalig im Leipziger Kontext nicht
nur Bagger brannten, sondern auch eine führende Mitarbeiterin einer für einen
Neubau verantwortlichen Immobilienfirma zusammengeschlagen wurde.

Das ging für die
Behörden zu weit. Die SOKO Linx gegen Linksextremismus wurde gegründet und ein
100.000 Euro hohes Kopfgeld auf die Täter_Innen ausgesetzt. Der Staat ruft also
eine Hexenjagd aus. Indem er die öffentliche Entsolidarisierung bezahlt, werden
zeitgleich vermehrte Polizeikontrollen und Streifen im Leipziger Stadtteil
gerechtfertigt. Das eigentliche Probleme, die Verdrängung tausender
MieterInnen, die vor allem die ärmeren Schichten der ArbeiterInnenklasse
trifft, darunter viele Renter_Innen, Alleinerziehende, Frauen, MigrantI_nnen
rückt zugleich in den Hintergrund. Die Immobilienwirtschaft, Bauunternehmen und
die Wohnungsspektulant_Innen inszenieren sich als Opfer und nutzen die Chance,
nicht nur von ihren Profitinteressen abzulenken, sondern auch, um alle
Mietproteste mal unter eine Art „Generalverdacht“ zu stellen, alles kaputt
machen zu wollen.

Diese
Kriminalisierungsversuche aller, die sich gegen die Verdrängung wehren, lehnen
wir ab. Wir fordern die Auflösung der SOKO Linx, der Bespitzelung der Szene und
der Polizeikontrollen. Nicht brennende Bagger und aus Wut und Empörung
erwachsende individuelle, politisch falsche Aktionen, sondern die Profithaie in
der Bau- und Immobilienwirtschaft stellen das eigentliche Problem dar. Durch
die Ausschreibung eines Kopfgeldes zeigen die Polizeibehörden freilich einmal
mehr, dass ihnen die „Anschläge“ nur als Vorwand für verschärfte Repression,
Bespitzelung und Hetze dienen, dass sie als Erfüllungsgehilfen auf Seiten des
Kapitals stehen.

Auch wenn wir den
Willen, etwas gegen die Verdrängung zu tun, berechtigt finden, so schaden
individuelle „autonome“ Brandlegungen oder physische Angriffe auf
Vertreter_Innen des Kapitals dem Widerstand gegen die neue Immobilienwirtschaft
jedoch mehr, als dass sie ihm helfen. Sie bieten keine Perspektive und erweisen
sich als politisch kontraproduktiv. Sie stoppen die Vorhaben nicht. Allenfalls
verzögern sie einzelne Baumaßnahmen. So erklärte ein Verantwortlicher einer
Immobilienfirma im MDR-Fernsehen, dass der Bau höchstens um ein paar Wochen
verzögert wäre, wenn Bagger auf einer Baustelle brennen würden. Und ob Angriffe
auf Mitarbeiter_Innen überhaupt irgendeinen Effekt auf die Bauzeit haben, sei
dahingestellt.

Aktionen wie der physische Angriff auf eine Mitarbeiterin einer Immobilienfirma dienen eher den Zwecken jener, die sich eine goldene Nase am Elend der Mieter_Innen verdienen. Für einen Großteil der Mieter_Innen führen solche Aktionen zur Abwendung von einer radikalen Perspektive für die Wohnungsfrage. Selbst jene, die es für sinnvoll halten, werden höchstens auf die nächsten geheimen Aktionen dieser anonymen autonomen Jedi-Ritter_Innen hoffen, als dass sie aktiv werden. Die individuelle Kleingruppenaktivität lässt also selbst Sympathisierende als passive Zuschauer_Innen zurück, verkommt im Grunde zu einer Form von Stellvertreter_Innenpolitik.

Den Zwecken des
Wohnungsbaukapitals kommt das durchaus gelegen. Die Masse der MieterInnen wird
verunsichert und von der notwendigen Organisierung eher abgeschreckt denn
ermutigt. Dabei könnte nur eine Bewegung die Verdrängung stoppen, die sich auf
breite Bündnisse, Mieter_Innenversammlungen und -komitees stützt und um
konkrete politische Forderungen formiert – nicht nur in Connewitz, sondern in
ganz Leipzig, ja bundesweit.

Der Wohnungsmarkt
selbst bildet schließlich einen Teil des kapitalistischen Gesamtsystems. Diesem
droht die Krise, doch das Grundbedürfnis zu wohnen hat noch Potential für
höhere Renditen. Gleichzeitig subventioniert der Staat Investitionen in Betongold
massiv, ob über Baubezuschussung oder indirekt durch Wohngeld. Der Kampf der
Mieter_Innen muss daher als Klassenkampf geführt werden. Die Bedürfnisse, zu
wohnen und hieraus Gewinn zu schlagen, stehen einander entgegen. Und so werden
es wohl kaum die sich abgrenzenden individuellen autonomen Gruppen sein, denn
um die Gewinne am Wohnungsmarkt zu vereiteln und ausreichend leistbaren und
hochwertigen Wohnraum schaffen zu können, braucht es definitiv mehr und
mächtigere Aktivist_Innen.

Somit brauchen
wir eine antikapitalistische bundesweite Mieter_Innenbewegung. Hierfür brauchen
wir eine Strategiekonferenz, in der wir offen um eine Perspektive der
Mieter_Innenbewegung streiten und gemeinsam in Aktion treten. Eine erfolgreiche
Bewegung braucht den Schulterschluss mit der  Arbeiter_Innenbewegung. Wir müssen jede Mieterhöhung als
Angriff auf unsere Löhne verstehen. Die Aufgabe von kämpfenden Arbeiter_Innen
ist es hier, die Gewerkschaften und die Beschäftigten in der Branche
(z. B. Bauarbeiter_Innen, Reinigungskräfte, Instandhaltung,
Hausmeister_Innen, …) ins Boot zu holen.

Wir müssen die
Wohnungsfrage mit der Eigentumsfrage verbinden. Forderungen wie die
entschädigungslose Enteignung der Immobilienkonzerne unter Kontrolle der
Mieter_Innen und Beschäftigten sind hier ein Ansatzpunkt. Ein gutes Beispiel
dafür ist die Berliner Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen, welche
durch ihre Aktionen das Konzept der Enteignung wieder in aller Munde gebracht
hat. So muss nun beispielsweise auch die SPD einen mehr oder minder löchrigen
Mietendeckel umsetzen. Aber die Organisierung gegen hohe Mieten und
Luxus-Neubauten darf sich nicht nur grundsätzlich auf die Wohnungsfrage
beziehen, sie muss erweitert werden auf alle Fragen, die das Leben in einer
Stadt, also beispielsweise Kulturräume und öffentliche Verkehrsmittel, und
generell den Kampf gegen den Kapitalismus, also Enteignung der Betriebe und
demokratische Arbeiter_Innenkontrolle, betreffen. Daher fordern wir, die
entschädigungslose Enteignung aller „Miethaie“ und die Kontrolle des Wohnraums
unter Arbeiter_Innenkontrolle zu stellen, sowie einen massiven Ausbau von
Sozialwohnungen und Infrastruktur in der Stadt, kostenlose öffentliche
Nahverkehrsmittel und Kulturangebote für alle.




Frankreich: „Es ist genug – wir müssen den Kampf gewinnen!“

Marc Lassalle, Paris, Infomail 1080, 10. Dezember 2019

Anderthalb
Millionen Menschen bei mehr als 200 Demonstrationen in ganz Frankreich. Neun
von zehn Zügen ausgefallen, die Pariser U-Bahn lahmgelegt, zwei Drittel
der  LehrerInnenschaft,
FluglotsInnen, des Gesundheitspersonals, der Elektrizitätsangestellten (EDF),
Feuerwehrleute und StudentInnen wie SchülerInnen befinden sich im Streik…. Am
5. Dezember stand Frankreich still. Dies könnte schnell zur größten Streikwelle
und sozialen Bewegung seit 1995 werden. Die Streikenden äußerten ihre
Entschlossenheit, bei Bedarf bis Weihnachten fortzufahren!

Die Bewegung
wurde gegen eine weitere Reform des Rentensystems gestartet, die fünfte in 20
Jahren. Diesmal greift die Regierung nicht nur die EisenbahnerInnen und die
Pariser U-Bahn-Beschäftigten an, für die besondere Rentenbedingungen gelten,
sondern praktisch den gesamten öffentlichen Sektor und insbesondere die
LehrerInnen, die 500–600 Euro pro Monat aus ihren Pensionen verlieren werden,
und darüber hinaus ein breites Spektrum von ArbeiterInnen in 42 verschiedenen
Rentenversicherungssystemen.

Die Regierung
bereitet in der Tat eine „systemische“ Reform vor, die lächerlicherweise als
eine gerechte dargestellt wird, bei der jeder Euro auf dem Gehaltsscheck
angeblich die gleiche Wirkung auf die Rente durch ein „Punktesystem“ nach sich
zieht. Diese absolute Lüge verschleiert die Tatsache, dass viele ArbeiterInnen
lange Zeiträume von prekärer Arbeit oder in Arbeitslosigkeit leben, dass vor
allem Frauen kürzere Beschäftigungszeiten haben, so dass die Regierungsreform
am Ende eher zu einer weit verbreiteten Armut als zu Gerechtigkeit führen wird.
Darüber hinaus wird neben dieser systemischen Reform auch eine „parametrische
Reform“, d. h. eine längere Arbeitszeit vor der Pensionierung,
vorbereitet.

Druck von unten

Kein Wunder,
dass die ArbeiterInnenklasse seit September einen massiven Streik für den 5.
Dezember vorbereitet hat. Die Stimmung ist jetzt ganz anders als bei früheren
Bewegungen. Bereits im September wurde die Pariser Metro durch einen massiven
eintägigen Streik gelähmt. Im Oktober streikten ohne Vorwarnung
Zugwartungszentren mehrere Wochen lang. Ein Eisenbahner, der in einer Vollversammlung,
der assemblée generale (AG), sprach, erklärte:

„Wir drängten
sie (das Management) zum Rückzug. Sie haben ihr Projekt in diesem Zentrum
aufgegeben. Wie lange ist es her, dass wir sie zum Rückzug bewegen konnten?
Warum haben wir diesmal gewonnen? Ich denke, es liegt daran, dass diesmal alles
von der Basis ausging. Wir sagten: ,Wir hatten (den Gewerkschaftsspitzen) genug
gehorcht und warteten darauf, dass sie uns sagen, wir sollen mobilisieren. Wir
haben die Werkzeuge niedergelegt, dann haben sich die Belegschaften versammelt und
diskutiert. Durch diese Diskussion kamen wir zu einer Einigung und haben dann
alle gemeinsam gehandelt. Das ist es, was sie fürchten, dass wir uns selbst organisieren.
Und außerdem gibt es ein besonderes soziales Klima. Ein Jahr lang gibt es die
gelben Westen (gilets jaunes). Es gibt einen Streik in den Krankenhäusern. Es
gab einen Streik in der Pariser U-Bahn. Es ist wie ein Schnellkochtopf. Am 5.
Dezember wird ihnen das ins Gesicht geschleudert werden.“

Tatsächlich wurde
die ganze Bewegung unter sehr starkem Druck von der Basis in Gang gesetzt.
Viele Gewerkschaften zögerten anfangs, sich für den Streik zu organisieren,
einschließlich der CGT, aber sie mussten sich dem anschließen, weil der Druck
der Basis und die unglaubliche Wut von unten aufstiegen. Dies wurde bereits bei
den Streiks der Gesundheitsfachkräfte seit dem Frühjahr deutlich, wo der Streik
nicht von der Gewerkschaft, sondern von einer „Basiskoordination“ (Collectif
Inter-Urgence) geleitet wurde.

Zum ersten Mal
seit mehreren Jahren wird die von den GewerkschaftsführerInnen bevorzugte
Taktik des eintägigen Streiks oder der Aktionstage offen kritisiert. Im
vergangenen Jahr führten die EisenbahnerInnen einen längeren Streik mit einer
besonders selbstzerstörerischen Taktik durch: zwei Streiktage pro Woche über
zwei Monate lang. Infolgedessen wurden sie besiegt. In diesem Jahr haben sie
die Lektion gelernt und sich auf einen mehrwöchigen, anhaltenden Streik
vorbereitet. Die ArbeiterInnen haben in Vorbereitung auf den Streik Geld
gespendet. Für viele ist der Geldbetrag, den sie mit der Reform verlieren
werden, so hoch, dass die Entscheidung, sich dem Streik anzuschließen,
offensichtlich erschien.

Ein weiteres
Merkmal dieser Bewegung ist die Anzahl der Vollversammlungen, der AGs, die in
den Betrieben stattfinden, sogar noch vor Streikbeginn. In der Regel werden AGs
erst nach Ausrufung eines Streiks einberufen. Seit Wochen bereiten sich die
ArbeiterInnen jedoch in AGs vor und diskutieren darüber, und die am stärksten
Politisierten treffen sich in „berufsübergreifenden AGs“, die verschiedene
Sektoren und Gewerkschaften für die Streikplanung umfassen.

Selbst Lutte
Ouvrière (ArbeiterInnenkampf), eine der größten trotzkistischen Gruppen, die im
Streik 1995 keine Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie geäußert hatte,
reagiert auf diese neue Stimmung:

„Viele von uns
trauen den Gewerkschaften und ihren bürokratischen Systemen nicht, bei denen
sie wiederholt die Interessen der ArbeiterInnen geopfert haben. In der Tat! Wir
müssen mit der Überzeugung kämpfen, dass wir uns organisieren können, um unsere
Bewegung auf demokratische Weise zu kontrollieren und zu führen. In der Überzeugung,
dass wir entscheiden und handeln können, ohne auf die Anweisungen der
Gewerkschaftsführung zu warten.“

Natürlich kämpfen
die meisten Streikenden wirklich nicht nur gegen die Rentenreform, sondern
gegen die gesamte neoliberale Reformpolitik zur Halbzeit der Präsidentschaft
von Emmanuel Macron, dessen Regierung heute schon geschwächt ist. Die
Gelbwestenbewegung hat trotz ihrer politischen Verwirrung, ihres
Organisationsmangels, ihrer schrecklichen inneren Widersprüche und ihres
kleinbürgerlich-populistischen Charakters vielen eine wichtige Lehre ziehen
lassen: Ein längerer Kampf kann die Regierung destabilisieren und den Weg für Erfolge
ebnen. Das ist wahr, vorausgesetzt, die Bewegung organisiert sich von unten und
behält eine strenge Kontrolle über Durchführung und Ergebnisse. Dieser Geist
der Selbstständigkeit ist heute in der ArbeiterInnenklasse weit verbreitet.

Gefahren…

Allerdings sind
die Einsätze für Macron sehr hoch. Sein Sieg würde bedeuten, dass er seine
neoliberalen Reformen an vielen anderen Fronten vorantreiben und ein massives
Programm von Angriffen gegen die ArbeiterInnenklasse im Allgemeinen abschließen
könnte wie die jüngste Reform, die das Arbeitslosengeld und insbesondere den öffentlichen
Sektor stark reduziert hat. Eine Niederlage für die Regierung würde allerdings eine
völlig neue Phase im Klassenkampf einleiten. Oder, mit den ziemlich deutlichen
Worten eines Ministers: „Die Rentenreform ist der große Test. Wenn wir uns zurückziehen,
ist die fünfjährige Amtszeit vorbei und wir können nichts anderes tun.“

Um dies zu
vermeiden, hat die Regierung mehrere Taktiken versucht. Im Oktober versuchte
sie, den Zorn abzulenken, indem sie die rassistische Karte spielte, mit einer
Debatte im Parlament über religiöse Kleidung und einer weiteren über das
Kopftuch. Darüber hinaus hat die Regierung den Inhalt der Reform versteckt,
indem sie Bereitschaft zur Konsultation vorgibt und darauf wartet, dass das
Schlimmste an sozialem Zorn vorbeigeht. Tatsächlich plant sie eine wichtige Ankündigung
für Mittwoch, den 11. Dezember.

Es ist möglich,
dass dadurch einige kleinere oder scheinbare Zugeständnisse gemacht werden, z. B.
dass die Reform nur für diejenigen gilt, die beispielsweise nach 1970 geboren
wurden. Die Regierung ist sicher, dass sie geheime Verhandlungen mit den
GewerkschaftsführerInnen fortsetzen wird, wo sie auf die Unterstützung der großen
Gewerkschaft, des Demokratischen Französischen Gewerkschaftsbundes, CFDT, zählen
kann. Obwohl dies zahlenmäßig der größte Verband ist, liegt er bei den Wahlen
in den Betrieben hinter der CGT.

Die CFDT hat
Bewegungen gegen frühere Rentenreformen sabotiert und Macron bei den Präsidentschaftswahlen
unterstützt. Tatsächlich hat sie den Verrat an den ArbeiterInnen seit mehreren
Jahrzehnten zu ihrem Markenzeichen gemacht. Am 5. Dezember bedauerte
Generalsekretär Laurent Berger, dass „die vorherrschende Logik darin besteht,
noch ein wenig Druck auf sich selbst auszuüben, bevor man mit der Diskussion
beginnt“.

Eine weitere
Karte ist natürlich die so genannte öffentliche Meinung. Die Medien beschreiben
die EisenbahnerInnen als „privilegiert“, die sich im Ausstand befinden, um ihre
großzügigen Leistungen zu verteidigen und „das Land als Geisel zu nehmen“. Laut
Meinungsumfragen, so unzuverlässig diese sind, unterstützen 60 Prozent die
Reform der speziellen Rentensysteme, aber die gleiche Zahl unterstützt auch den
Streik!

Schließlich kann
sich die Regierung auf staatliche Repression verlassen. Gestählt durch ein Jahr
der Zusammenstöße mit den gelben Westen haben die verschiedenen Polizeikorps
einen Vorrat an Munition aller Art angesammelt, von der einige, wie Tränengas,
tatsächlich unter Verletzung der internationalen Chemiewaffenabkommen verwendet
werden.

Bereits die
Pariser Demo wurde von Tausenden von paramilitärischen Spezialeinheiten stark „eskortiert“
und die meisten Marschierenden konnten den vorgesehenen Endpunkt aufgrund von
gewalttätigen Auseinandersetzungen dazwischen nicht erreichen. Ein Zeichen für
die Tiefe der sozialen Widersprüche ist jedoch, dass an diesem Tag auch viele
Polizeieinheiten gestreikt haben….

Stärken und
Schwächen

Die aktuelle
Bewegung, die um hohe Einsätze spielt, legt sowohl enorme Stärken als auch
enorme Schwächen an den Tag. Die Stärken bestehen vor allem in der Tatsache,
dass die Avantgarde der ArbeiterInnen, die EisenbahnerInnen, im Mittelpunkt des
Kampfes stehen und entschlossen sind, die Frontlinie zu halten, und die
Tatsache, dass die Wut groß ist und das Potenzial hat, viele andere Sektoren,
einschließlich des Privatsektors, hineinzuziehen. Die Initiative liegt derzeit
in den Händen der ArbeiterInnenschaft und ihrer AGs.

Überall zeugen
Berichte von der Größe und Entschlossenheit der AGs im ganzen Land. Einige von
ihnen beziehen nicht nur EisenbahnerInnen, sondern auch LehrerInnen und andere
ArbeiterInnen ein, berufsübergreifende AGs, die oft von Militanten der extremen
Linken, der Neuen Antikapitalistischen Partei, NPA, und Lutte Ouvrière
(ArbeiterInnenkampf), vorgeschlagen werden. Schwächen sind jedoch auch deutlich
zu erkennen, insbesondere in Bezug auf die Organisation und die Ziele der
Streiks.

Erstens gibt es
bisher keinen Versuch, diese AGs national zu koordinieren. Während die OberschülerInnen
und  StudentInnen daran gewöhnt
sind, landesweite Koordinationen aufzubauen, sind seit den 1980er Jahren fast
keine Beispiele dafür in den Kämpfen der ArbeiterInnen bekannt. Damit hat die
Gewerkschaftsbürokratie ein Vertretungsmonopol bei den Verhandlungen und somit
einen enormen Vorteil, wenn es darum geht, die Streiks abzubrechen und dann
einige kleinere Zugeständnisse zu behaupten.

Es liegt auf der
Hand, dass eine landesweite demokratische Koordinierung der Streikenden
erforderlich ist, da die Initiative ansonsten in den Händen der Regierung und
der GewerkschaftsführerInnen bleibt. Die Entscheidung, den Streik
aufrechtzuerhalten, wird von jeder AG an jedem Arbeitsplatz unabhängig
voneinander getroffen, in der Regel für den nächsten Tag oder einige Tage. Wenn
es kein entscheidendes Kräftemessen gibt, können weniger traditionell militante
Sektoren und ihre AGs den Mut verlieren, so dass die Bürokratinnen den Streik
Stück für Stück demobilisieren können.

Eine weitere
Schwäche liegt in der Tatsache, dass die EisenbahnerInnen und die Pariser
U-Bahn-Beschäftigten derzeit der einzige Sektor sind, der sich in einem
unbefristeten Streik befindet. Wenn sich die LehrerInnen national einem
unbefristeten Ausstand anschließen würden, würde dies die Bewegung enorm verstärken,
aber ob sie es tun werden, ist noch nicht klar. Dasselbe gilt für die StudentInnen,
die die sozialen Auswirkungen des Streiks enorm verstärken könnten. Einige
Universitäten sind geschlossen, um Besetzungen zu verhindern, andere sind
bereits mobilisiert.

In Marseille war
die Zahl der Streikenden im Bereich der Ölraffinerien die höchste seit den
1970er Jahren, aber dies scheint im Moment ein Einzelfall zu sein. Die
Ausweitung weiterer unbefristeter Streiks auf den Privatsektor würde sowohl
eine effektive Organisation erfordern, um Streikposten zu errichten, mit den
Beschäftigten zu diskutieren und sie zu überzeugen, als auch ein Ziel, das über
die bloße Rücknahme der Rentenreform hinausgehen muss. Forderungen gegen den
Abbau der öffentlichen Dienste, für höhere Zuschüsse an Studierende, für höhere
Löhne und gegen Zeitarbeit und unsichere Arbeitsplätze (précarité) sollten
demokratisch diskutiert und demokratisch und landesweit in eine einheitliche
Forderungsplattform einbezogen werden.

Der Vorsitzende
der CGT, Philippe Martinez, hat wiederholt betont, dass die Streikenden durch
die AGs „selbst entscheiden“ werden, ob sie sich einer unbefristeten
Mobilisierung anschließen oder diese fortsetzen. Dies verzichtet jedoch auf die
Frage der Führung und einer Strategie zum Sieg. Die CGT sollte sich darüber im
Klaren sein, dass, wenn andere ArbeiterInnen nicht neben der Eisenbahn und den
anderen öffentlichen Verkehrsmitteln in Paris (RATP; Régie Autonome des
Transports Parisiens) uneingeschränkt unbefristete Maßnahmen ergreifen, diese
isoliert werden könnten und ihre Widerstandsfähigkeit erschöpft wäre. Dann könnte
ein mieser Deal zustande kommen, wie im letzten Jahr. Philippe Martinez hat
vielleicht eine „Verallgemeinerung der Streiks“ gefordert, aber er hat die
Losung eines unbefristeten Generalstreiks abgelehnt.

…und Chancen für
die Bewegung

Die offene
Agitation für einen Generalstreik ist der Weg, um den Streik auszudehnen, aber
auch, um ihm ein klareres politisches Profil zu verleihen, d. h. gegen die
ganze Reihe von Regierungsangriffen. Gerade in Bezug auf diese Aufgaben ist die
Bewegung der gelben Westen ein negatives Beispiel, dem man nicht folgen sollte.
Sie waren gewaltsam gegen jede Form von Delegiertenorganen oder
-vertreterInnen, irgendeine Art von Politik oder Partei und sogar jede
nationale Organisation. Deshalb ist die Bewegung gescheitert. Leider haben weit
links stehende Gruppen wie NPA und LO jede Kritik vermieden.

Die äußerste
Linke hat jetzt eine große Verantwortung. Wichtige Persönlichkeiten der
ArbeiterInnenbewegung sind in jüngster Zeit aus ihren Reihen hervorgegangen,
und sie haben eine starke und historische Verankerung in der SNCF. Heute
spielen sie eine wichtige Rolle bei der Organisation der AGs. Beide sind jedoch
zahlenmäßig und politisch schwach. Darüber hinaus ist die NPA in Bezug auf landesweite
Organisation besonders schwach, und es ist nicht klar, ob sie aufgrund ihrer
politischen Schwächen und ihrer tiefen internen Meinungsverschiedenheiten eine
führende Rolle auf nationaler Ebene spielen kann.

Viele andere
reformistische Kräfte wie die Parti Socialiste, die Kommunistische Partei
Frankreichs oder Mélenchons France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) unterstützen
den Streik, überlassen ihn aber den GewerkschaftsführerInnen und hoffen
einfach, ihn für die nächste Runde der Kommunalwahlen, die im März 2020
stattfinden soll, zu nutzen. Mélenchon twitterte im Einklang mit seinem
Neopopulismus: „Selbst Madame Le Pen sagt, dass wir demonstrieren müssen. Das
ist ein großer Schritt nach vorne.“ Sicherlich ist das Letzte, was die Bewegung
braucht, die Unterstützung durch Le Pen und die Rassemblement Nationale, RN,
ehemals FN. Die Anwesenheit von RassistInnen und regelrechten FaschistInnen
unter den gelben Westen trug zum Zerfall und Scheitern dieser Bewegung bei.

Zusammenfassend
lässt sich sagen, dass die französische Bewegung 2019 an Stärke und Breite
historisch ist. Sie hat das Potenzial, den Hochgeschwindigkeitszug der
neoliberalen Reformen von Macron zu blockieren und entgleisen zu lassen.
Angesichts des besonderen internationalen Zusammentreffens solcher Bewegungen
auf der ganzen Welt, Chile, Irak, Hongkong, kann sie eine starke internationale
Resonanz auslösen und sicherlich andere Bewegungen der ArbeiterInnenklasse in
Europa fokussieren und inspirieren. Die Bewegung wächst heute noch und hat ihr
Potenzial noch nicht voll ausgeschöpft. RevolutionärInnen sollten sie nachdrücklich
unterstützen und dazu beitragen, ihren organisatorischen und politischen Inhalt
zu verstärken, damit sie ihr Ziel, die Regierung zu besiegen, erreichen kann.

Wir brauchen:

  • Sektorenübergreifende AGs und Koordinationen in jeder Stadt, um unbefristete Streiks auf alle Arten von Beschäftigten im öffentlichen Sektor auszuweiten und den Privatsektor mit seinen eigenen Forderungen einzubinden.
  • Eine landesweite Koordination der Delegierten der AGs mit der Kontrolle über alle Verhandlungen mit Macron und der Regierung.
  • Einen allumfassenden und unbefristeten Generalstreik, um Macrons gesamtes Programm zu besiegen und ihn von der Macht zu vertreiben.
  • Eine breit angelegte Diskussion darüber, wer an die Stelle der Macron-Regierung treten soll, d  h. die Frage einer ArbeiterInnenregierung muss auf die Tagesordnung gesetzt werden.



Ökosozialismus: Kritik der Konzeption von Michael Löwy

Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1980, 9. Dezember 2019

Mit diesem Artikel möchten wir unsere bisherige Kritik des Ökosozialismus zur Diskussion stellen. Dabei ist es schwierig, von dem Ökosozialismus zu sprechen, da es sich um einen politisch breit besetzten Begriff handelt. Eine der ausgeprägteren politischen Darstellungen lieferte Michael Löwy, Mitglied der Vierten Internationale (Vereinigtes Sekretariat), in seinem Buch „Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“, weshalb wir uns vor allem darauf beziehen. Das bedeutet aber auch, dass dieser Artikel nicht schon unser letztes Wort zu diesem Thema sein kann. Die zunehmende Bedeutung der Ökologie, welche durch die Umweltbewegung eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit erhalten hat, wird eine marxistische Auseinandersetzung mit den Ideen des Ökosozialismus auch in Zukunft erfordern.

Hintergrund unserer Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus ist die Tatsache, dass im Dezember 2018 das Netzwerk „Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative“ in Österreich gegründet wurde. Die beteiligten Organisationen Aufbruch Salzburg, Aufbruch Innsbruck, Revolutionär-Sozialistische Organisation (RSO), Sozialistische Alternative (SOAL) und Solidarische Linke Kärnten (SLK) bekennen sich damit zum gemeinsamen Aufbau einer antikapitalistischen und ökosozialistischen Organisation, ohne ihre eigenen Strukturen bisher aufgelöst zu haben. Dieser Gründung war ein Austausch über eine antikapitalistische und ökosozialistische Kooperation vorangegangen, an dem wir uns zwar nicht personell beteiligen konnten, aber zu dem wir in einem Diskussionsbeitrag unsere Offenheit gegenüber einer antikapitalistischen Kooperation klarstellten. Zur Frage des Ökosozialismus konnten wir damals noch keine fundierte Position beziehen. Deshalb schrieben wir: „Ist der Begriff des ‚Ökosozialismus‘ wirklich noch so offen oder stehen hinter dem Begriff teilweise nicht schon seit längerer Zeit linke Strömungen, die sich damit bewusst vom ‚orthodoxen‘ Marxismus abzugrenzen versuchten? Wir halten eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus im Rahmen einer Kooperation jedenfalls für vernünftiger, als diesen als Ausgangspunkt einer solchen zu setzen.“ Unsere Bedenken wurden jedenfalls bei der Gründung dieser Kooperation nicht berücksichtigt, auch haben wir von keiner Seite eine Antwort auf unseren Beitrag erhalten.

Zum inhaltlichen Einstieg möchten wir klarstellen, dass sich unsere Kritik des Ökosozialismus nicht auf die hervorgehobene Bedeutung der Ökologie bezieht. Der Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in einem immer drastischeren Ausmaß und gefährdet damit nicht nur die Möglichkeit einer zukünftigen egalitären Gesellschaft, sondern die Existenz menschlicher Zivilisation überhaupt. Dementsprechend kann man der Umweltfrage gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Unsere Kritik bezieht sich vielmehr auf die Revisionen, die zum Teil und unter anderem bei Löwy an den revolutionären Auffassungen des Marxismus vorgenommen werden und zu gefährlichen politischen Schlussfolgerungen verleiten. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich zu erwähnen, dass einige dieser Revisionen – zumindest für den deutschsprachigen Raum – auf die historischen Ursprünge des Ökosozialismus in entsprechenden Debatten innerhalb der deutschen Grünen in den 1980ern zurückreichen. Eine lesenswerte Kritik an den damaligen ökosozialistischen Führungsfiguren Rainer Trampert und Thomas Ebermann findet sich schon bei Dieter Elken. Nun aber zu Michael Löwy.

Warum Ökosozialismus?

Löwy geht davon aus, dass die Rettung des ökologischen Gleichgewichts auf dem Planeten unvereinbar ist mit der „expansiven und zerstörerischen Logik des kapitalistischen Systems“. An dessen Stelle brauche es über den Weg einer Revolution eine nachhaltige Gesellschaft auf Grundlage einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Soweit können wir ihm folgen. Aber schon beim eigentlichen Ausgangspunkt für seine Theorie des Ökosozialismus wird es schwierig: Löwy unterstellt der ArbeiterInnenbewegung sozialdemokratischer und stalinistischer Tradition eine „Fortschrittsideologie“ und eine „Ideologie des Produktivismus“. Er definiert nicht klar, was er darunter versteht, aber sofern er damit die Unterordnung der Ökologie unter die quantitative Ausweitung der Produktion meint, können wir ihm zustimmen – allerdings sind wir nicht wie er bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sogleich die Idee des Fortschritts zu verwerfen, sondern würden diese vielmehr unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit verteidigen. Wie dem auch sei, aufgrund des „Produktivismus“ müsse es eine „Konvergenz“ der ArbeiterInnenbewegung und der Umweltbewegung zum Ökosozialismus geben. Dabei handle es sich um eine „ökologische Theorie- und Aktionsströmung, die sich die grundlegenden Errungenschaften des Marxismus zu eigen macht und sich dessen Schlacken entledigt“. Man muss ihm zugutehalten, dass er entgegen anderen ÖkosozialistInnen Marx und Engels gegen den „Produktivismus“-Vorwurf letztlich verteidigt. Warum es daher abseits der noch zu diskutierenden Schlacken nicht ausreiche, den Marxismus gegen sozialdemokratische und stalinistische Entstellungen zu verteidigen und die Umweltbewegung für den Marxismus zu gewinnen, bleibt an dieser Stelle noch etwas unverständlich.

Zur Herrschaft über die Natur

Einen Teil der Antwort findet man in Löwys Auseinandersetzung mit Marx‘ und Engels‘ Bemerkungen zur Herrschaft über die Natur, die sich immer wieder in ihren Werken finden und immer wieder kritisiert wurden. So verweist er beispielhaft auf Engels‘ Aussage, dass die Menschen im Sozialismus zum ersten Male bewusste, wirkliche HerrInnen der Natur werden. Anschließend verweist er wohlwollend darauf, dass Marx den Mensch als Teil der Natur gesehen habe (was hier nicht als Widerspruch zu Engels gemeint ist). Er zitiert ein bedeutendes Zitat von Engels selbst, das da lautet: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. ( … ) Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außerhalb der Natur steht (…) und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ Trotz dieser Klarstellung und Verteidigung von Marx und Engels gesteht er den falschen KritikerInnen zu, dass ihre Schriften Anlässe für unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses von Mensch und Natur böten. Und schlussendlich behauptet er, dass Marx am Ende den Sozialismus nicht mehr als „Herrschaft“ oder „Kontrolle“ des Menschen über die Natur gesehen habe, sondern eher als „Kontrolle des Stoffwechsels mit der Natur“ und offenbart zumindest seine Distanzierung zur marxistischen Terminologie – wozu man einwendend fragen könnte, wie der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur denn (nachhaltig) kontrollieren könne ohne Kontrolle und Beherrschung der Natur?

Zur Frage der Produktivkräfte

Kommen wir aber zum eigentlichen Kritikpunkt von Löwy am Marxismus. Diesen verortet er in einer bestimmten Formulierung des historischen Materialismus von Marx selbst, im Vorwort der „Kritik der politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in einen Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ( … ). Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ Dazu meint Löwy: „Diese Konzeption scheint den Produktivapparat als ,neutral‘ zu betrachten: und wenn er einmal von den durch den Kapitalismus auferlegten Produktionsverhältnissen befreit sei, könne er sich unbegrenzt entwickeln. Der Irrtum dieser theoretischen Konzeption muss heute nicht einmal mehr bewiesen werden. ( … ) [Der Produktivapparat ist] nicht neutral, er dient der Akkumulation des Kapitals und der unbegrenzten Expansion des Marktes. Er steht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Umweltschutzes ( … ). Man muss ihn daher ‚revolutionieren‘ ( … ) Das kann für bestimmte Produktionsbranchen bedeuten, sie zu ‚brechen‘ ( … ).“ Und gegen Ende des Buches erklärt er, dass „eine sozialistisch-ökologische Transformation zugleich sowohl die Produktionsverhältnisse als auch die Produktivkräfte und, damit verbunden, die Konsummodelle, die Transportsysteme sowie letztlich die gesamte kapitalistische Zivilisation umwandeln muss.“

Die ökologische Frage fordere laut Löwy daher von den MarxistInnen eine Revision der traditionellen Konzeption der Produktivkräfte und er zitiert wohlwollend einen italienischen „Ökomarxisten“, der meint: „Die Formel, nach der sich eine Transformation potenzieller Produktivkräfte in reale Destruktivkräfte vor allem in Bezug auf die Umwelt vollzieht, erscheint uns angemessener und bedeutsamer als das altbekannte Schema des Widerspruchs zwischen (dynamischen) Produktivkräften und (den sie in Ketten haltenden) Produktionsweisen.“ Zum besseren Verständnis sei hier Marx selbst zu den Destruktivkräften zitiert: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (… ).“

Dass Löwy Marx‘ Konzeption des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Irrtum (ohne Beweis!) einfach beiseiteschiebt, ist höchst problematisch, immerhin bildet sie den Kern seiner materialistischen Geschichtsauffassung. Der Verweis, dass eben alles revolutioniert werden müsse, bietet dafür keinen Ersatz, denn dabei handelt es sich nur um eine Schlussfolgerung und um keine materialistische Herleitung gesellschaftlicher Veränderung. Obendrein basiert diese auf der falschen Unterstellung, dass die Veränderung der Produktionsweise nicht auch eine qualitative Veränderung der Produktivkräfte nach sich ziehe, und impliziert eine „produktivistische“ Deutung. Was die Entwicklung von Produktivkräften tatsächlich bedeutet, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, was Marx eigentlich unter Produktivkräften verstanden hat – was Löwy in seinem Buch unterlässt. Im ersten Band von „Das Kapital“ schreibt Marx: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel und durch Naturverhältnisse.“ Die Produktivkräfte umfassen also nicht nur Wissenschaft, Technik oder Maschinerie, sondern (wie an anderer Stelle formuliert) die Naturbedingungen, unter denen produziert wird, und die menschliche Arbeitskraft selbst, die es natürlich beide zu bewahren gilt. Somit wird klar, dass Umweltzerstörung bei Marx Zerstörung von Produktivkraft ist!

Zur ökosozialistischen Ethik

Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass es sich bei der Frage der Produktivkräfte nur um ein belangloses Missverständnis handelt. Tatsächlich folgen aus der falschen Theorie aber irreführende Folgerungen für die Praxis. Löwy problematisiert die Hemmung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus nämlich kaum, sondern vorwiegend deren falsche Entwicklung und Handhabung. Dementsprechend spielt der offensichtlichste Ausdruck von Produktivkrafthemmung und -zerstörung, die Wirtschaftskrise, keine zentrale Rolle in seiner politischen Konzeption. Wirtschaftskrisen werden bei ihm vor allem aufgrund der darauf folgenden hemmungsloseren Ausbeutung der Natur als Verschärfung der Umweltkrise thematisiert. Natürlich gibt es auch Menschen, die darunter leiden und sich gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur wehren, aber er skizziert keine revolutionäre Situation, in der die herrschende KapitalistInnenklasse in eine politische Krise gerät und die ausgebeutete und unterdrückte ArbeiterInnenklasse die bestehenden Verhältnisse nicht mehr ertragen möchte. Stattdessen widmet er ein eigenes Kapitel einer „ökosozialistischen Ethik“, die der nicht-ethischen Logik des Kapitals radikal entgegengesetzt sei. Sie müsse sozial, egalitär und demokratisch sein und der Ökosozialismus würde letztendlich als Ethik der Verantwortung zum humanistischen Imperativ. Hier verlässt Löwy den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich von seinen utopischen Vorläufern dadurch abgrenzte, dass er ihn aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entwicklung begründete und nicht aus moralischen oder sonstigen Prinzipien, nach denen sich die Welt zu richten habe.

Zur Revolution

Im Marxismus ist es die ArbeiterInnenklasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess den Kapitalismus nicht nur beseitigen kann, sondern daran auch ein objektives Interesse hat. Wer ist das „revolutionäre Subjekt“ bei Michael Löwy? Eine wirklich eindeutige Antwort bleibt er schuldig. Natürlich bezieht sich Löwy implizit beim Ökosozialismus als Konvergenz von ArbeiterInnenbewegung und Umweltbewegung auf die ArbeiterInnenklasse. Auch spricht er davon, die Produktionsmittel in die Hände der ArbeiterInnen zu geben. Aber die Rolle der ArbeiterInnenklasse wird nicht weiter ausgeführt, und wo es um politische AkteurInnen geht, hebt er vor allem indigene Gemeinschaften hervor und als besonders entscheidend die globalisierungskritische Bewegung. Aufschlussreicher ist die „Internationale ökosozialistische Erklärung von Belém (Brasilien)“, die Löwy am Ende des Buches anfügt. Dort heißt es: „Die am stärksten unterdrückten Schichten der menschlichen Gesellschaft, die Armen und die indigenen Bevölkerungsgruppen, müssen ein prägender Teil dieser ökosozialistischen Revolution werden ( … ) Gleichzeitig ist die Geschlechtergerechtigkeit eine grundlegende Komponente des Ökosozialismus ( … ) In allen Gesellschaften gibt es darüber hinaus noch weitere mögliche TrägerInnen für eine revolutionäre ökologische Veränderung. ( … ) Die Arbeiterkämpfe, die Kämpfe der Bauern und Bäuerinnen, die Kämpfe der Landlosen und der Arbeitslosen für soziale Gerechtigkeit sind untrennbar mit den Kämpfen für Umweltgerechtigkeit verbunden.“ Es ist unbestreitbar, dass all die genannten sozialen Gruppen wichtig sind im Kampf gegen den Kapitalismus. Aber zumindest in der Erklärung von Belém, die Löwy unterzeichnet hat, sind die Kämpfe der ArbeiterInnen nur ein Teil vieler Kämpfe, ohne herausragende Rolle. Wir wollen hier keinen rein ökonomischen ArbeiterInnenkampf beschwören – es geht um die Frage, wer die notwendige revolutionäre Umgestaltung tatsächlich vollziehen kann und auf wen sich eine sozialistische Organisation daher orientieren und stützen muss.

Diese Frage wird in Löwys Buch allerdings nicht gestellt.
Überhaupt findet sich bei ihm keine wirkliche Begründung einer politischen
Organisation, geschweige denn Partei. In der marxistischen Tradition müssen
sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zur ArbeiterIinnenpartei
formieren, zum politischen Subjekt werden, um den Rest ihrer Klasse für den
Sozialismus zu gewinnen. Auch bleibt in diesem Zusammenhang bei ihm die Frage
offen, wie ein revolutionäres Klassenbewusstsein in der ArbeiterInnenklasse
hergestellt werden soll. Die ÖkosozialistInnen haben sich in einem
internationalen Netzwerk organisiert, der Aufbau einer Partei gehört nicht zu
dessen Zielen.

Zu guter Letzt wollen wir noch auf eine zentrale Frage eingehen, nämlich die programmatische Methode. Löwy kommt wie wir aus einer politischen Tradition, die sich die Methode von Trotzkis Übergangsprogramm auf die Fahnen schreibt. Er stellt richtig fest, dass die Notwendigkeit der Revolution nicht bedeutet, auf den Kampf für Reformen, also für Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu verzichten. Er formuliert das so, dass der Kampf für ökosoziale Reformen zugleich Träger einer Veränderungsdynamik ist, eines Übergangs von Minimal- zu Maximalforderungen. Mit Minimalforderungen werden im Marxismus Reformen bezeichnet, während Maximalforderungen die nach einer zukünftigen Gesellschaft beinhalten. Übergangsforderungen wie zum Beispiel diese, dass die ArbeiterInnen in ihren Betrieben Komitees schaffen, mit denen sie eine Kontrolle über die kapitalistische Produktion ausüben, sollen am Kampf um Verbesserungen im Hier und Jetzt anknüpfen (in diesem Beispiel könnte es um die Umweltverträglichkeit des Unternehmens gehen), aber die ArbeiterInnenklasse zur Eroberung der politischen Macht befähigen. Löwy formuliert in Wahrheit keine solchen Übergangsforderungen. Stattdessen scheint es, als ob er darunter nur Forderungen versteht, die in der kapitalistischen Profitlogik nicht umsetzbar sind, etwa die öffentliche Umgestaltung des Verkehrssystems, und somit über den Kapitalismus hinausweisen. Allerdings handelst es sich dabei nicht um Übergangsforderungen, weil sie in ihrer Konsequenz nicht zur Selbstermächtigung der ArbeiterInnen gegen das Kapital führen. Übergangsforderungen bestehen eben nicht nur im Kampf für ökosoziale Reformen. Somit weist der Ökosozialismus von Michael Löwy programmatisch nicht über einen Kampf um radikale Reformen gepaart mit einem ökologischen Maximalismus hinaus.




SPD-Vorsitz: Klare Niederlage für Scholz/Geywitz – Große Koalition am Ende?

Tobi Hansen, Infomail 1079, 6. Dezember 2019

Die SPD-Basis
hat sich gegen die VertreterInnen des Parteiestablishments, Finanzminister und
Vizekanzler Scholz und die Bundestagsabgeordnete Geywitz entschieden. Im 2.Wahlgang
votierten letztlich 16.000 Mitglieder mehr für das Duo Walter-Borjans/Esken,
die 114.995 Stimmen gegenüber 98.246 Stimmen für Scholz/Geywitz erhielten. Mehr
Mitglieder als 54 % konnte die entscheidende Runde jedoch
nicht mobilisieren, sicherlich
dem scheintoten Zustand der
Partei geschuldet, auch wenn die Stimmen für
Walter-Borjans/Esken als ein womöglich letztes Lebenszeichen gedeutet werden
können.

Für die gesamte
Parteiführung der SPD stellt das Ergebnis eine schallende Ohrfeige, eine
weitere Niederlage dar. Schließlich hatten sich in der Stichwahl fast alle
„prominenten“ und „erfahrenen“ SozialdemokratInnen für Scholz/Geywitz
ausgesprochen. Fast niemand aus dem Kabinett hielt sich an die interne
„Verabredung“, keine Wahlempfehlungen auszusprechen. Vielmehr positionierten
sich fast alle für Scholz/Geywitz. Die Parlamentsfraktion war erst recht
deutlich gegen Walter-Borjans/Esken aufgestellt. Für
diese Kräfte ging es nicht nur um die Parteiführung, sondern zugleich auch um das Weiterleben der
Großen Koalition, in die sie die Partei nach der verheerenden Niederlage bei
den Bundestagswahlen 2017 manövrierte hatten.

Die dritte
CDU/CSU/SPD-Koalition unter Merkels Kanzlerschaft stand nie unter einem guten
Stern, jetzt könnten ihre letzten Wochen angebrochen sein.
Die Krise der Union wie auch
eine mögliche Neuausrichtung der SPD lassen Neuwahlen 2020 wahrscheinlicher
werden.

Auch die bürgerlichen Medien hatten in den letzten Wochen Vizekanzler Scholz äußerst wohlwollend begleitet, würdigten selbst seine Steuerfahndungsabteilung
für Reiche. Zahlreiche bürgerliche
ExpertInnen und JournalistInnen
stellten der Großen Koalition gar eine
„sozialdemokratische Handschrift“ aus – so als hatte die SPD von der
Öffentlichkeit unbemerkt Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse
umgesetzt.

Trotz aller
Schönfärberei verloren der „Scholzomat“ und damit auch die aktuelle
Regierungsmannschaft und Führung der SPD.

Die Wahl kommt
durchaus einer Zäsur in der Partei
gleich: Das
Führungspersonal, das die Bundesregierungen seit 1998 mitgestaltet hat, das
verantwortlich ist für Jugoslawienkrieg und Agendapolitik, wurde 20 Jahre
später endgültig abgewählt.
Die Frage bleibt nur: Kämpfen die neu
gewählten Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen für einen wirklichen Bruch
mit dieser Politik und damit mit der Großen
Koalition oder werden selbst ihre linkeren reformistischen Versprechen und der
von ihnen geforderte Bruch mit
dem Neo-Liberalismus auf dem Altar
der „Parteieinheit“ geopfert, wird der Regierung und der Parlamentsfraktion unter
linkeren Vorsitzenden praktisch eine Fortsetzung ihrer Politik gestattet?

Wofür stehen
Walter-Borjans und Esken?

Für die
Boulevardmedien und das aufgeschreckte BürgerInnentum Deutschlands stellt die Wahl eine Katastrophe dar. „Der SPD ging es doch schon schlecht, jetzt stürzt sie sich ins Chaos“, titelte die
„Süddeutsche Zeitung“ am 30. November, die FPD zitierend.
HinterbänklerInnen und Unerfahrene würden nicht nur die SPD in den Ruin,
sondern auch die Republik in die Neuwahlen treiben.
So wettern diejenigen, die sich stets gut auf die RegierungssozInnen
verlassen konnten und nun Zweifel daran haben, dass der neue Vorstand ähnlich
willfährig ist.

Auch der
ehemalige NRW-Finanzminister
Walter-Borjans (2010–2017) wie auch die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken nährten diese „Befürchtung“, schließlich wollten sie zumindest den
aktuellen Koalitionsvertrag neu verhandeln. Der Frage nach der Zukunft
der Großen Koalition wichen sie jedoch schon im Wahlkampf um den Vorsitz aus –
und tun es weiter. Es gibt kein explizites Ja oder Nein. Dies wollen sie von
Nachverhandlungen abhängig machen.

Wie fast alle
zur Wahl stehenden KandidatInnen wollten sie die programmatische und politische
Erneuerung der SPD betreiben, diese wieder zur linken „Volkspartei“ machen.
Walter-Borjans selbst strebt Wahlergebnisse von 30 % + x an. Beide spielten besonders die soziale und ökologische
Karte, versprachen einen Mindestlohn von 12 Euro, die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer und höhere Steuern für Reiche sowie ein
Ende der „schwarzen Null“, also eigentlich klassisch sozialdemokratische
Politik.

Beide stehen
zweifellos weit weniger links als der britische Labour-Vorsitzende Corbyn. Sie sind klassische
UmverteilungsreformistInnen, wobei MdB Esken einen linkeren Akzent wählt
als der ehemalige Landesfinanzminister Walter-Borjans.

Vor dem
Parteitag

Vom 6–8.12 findet der Bundesparteitag der SPD
statt. Dieser soll eine Bilanz der Bundesregierung ziehen und entschieden, ob
die Partei die Koalition fortführen soll. Derzeit sieht es vor allem nach
unklaren Machtverhältnissen aus. Nicht nur die beiden Vorsitzenden sollen gemäß
der Urabstimmung gewählt werden. Große Teile des Bundesvorstands wie auch die
stellvertretenden Vorsitzenden werden neu bestimmt. Hier wird sich zeigen, wer die neue
Parteiführung dominiert, wer über reale Mehrheiten verfügt. So kündigte
Bundesarbeitsminister Heil seine Kandidatur zum stellvertretenden Vorsitzenden
an. Zur Zeit versucht er, in seinem Ministerium doch noch höhere
Hartz-IV-Sanktionen als vom Verfassungsgericht genehmigt durchzusetzen. Heil
und andere BefürworterInnen der Bundesregierung aus Kabinett und Fraktion
werden versuchen, den neuen Vorsitz
„einzurahmen“, ihn quasi
politisch kaltzustellen durch Mehrheiten im Vorstand. Den Parteiapparat wissen
sie ohnedies auf ihrer Seite.

Um Esken und Walter-Borjans zu stützen, erklärte sich auch der Juso-Vorsitzende Kühnert bereit, „Verantwortung“ zu übernehmen und als stellvertretender Vorsitzender zu kandidieren. Zugleich relativierte er – ganz auf Beschwichtigung des rechten Flügels und der Zentrums der Partei setzend – die Forderung nach einem Bruch der Koalition. Man müsse, so Kühnert, die Sache schließlich vom Ende her denken. So äußerte er gegenüber dem Bonner Generalanzeiger: „Wer eine Koalition verlässt, gibt einen Teil der Kontrolle aus der Hand, das ist doch eine ganz nüchterne Feststellung. Auch das sollten die SPD-Delegierten bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.“

Hier kommt die
Furcht des linken Flügels der Partei vor dem eigenen Sieg, vor den Konsequenzen
der eigenen Forderung und Kritik an der Großen Koalition deutlich zum Ausdruck.
Noch schwerer als die Fortsetzung der
arbeiterInnenfeindlichen, imperialistischen Politik an der Regierung wiegt die
„Einheit der Partei“, denn die wollen auch die „Linken“
in der SPD nicht riskieren. So droht der Sieg der GroKo-KritikerInnen und
GegnerInnen der Parteiführung bei der Wahl zum Parteivorsitz durch eine Reihe
von Zugeständnissen, „Sondierungen“, Formalkompromissen zu versanden.

Selten waren die
innerparteilichen Machtverhältnisse so unklar vor einem Bundesparteitag, selten
war die Lage so offen wie jetzt. Die neuen
Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen wollen aber einer
Klärung dieser Fragen ausweichen, zunächst am besten eine direkte Entscheidung zu Fortsetzung oder Bruch der Koalition vermeiden. Vielmehr
soll es ein – möglichst vage
formuliertes – Mandat für
Neuverhandlungen mit den Schwerpunkten Investition, Klima, Soziales und
Digitales geben, das die Entscheidung über die GroKo vom Parteitag praktisch
auf Vorstand, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion verlagert.

Gewerkschaftsbürokratie

Schon am 1.
Dezember machte die Spitze der DGB-Gewerkschaften ihre Position deutlich. Nach
der Entscheidung verkündete DGB-Chef Hoffmann via Bild-Zeitung, was er vom
neuen Vorstand verlange: „Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sollten die
Regierung in der zweiten Halbzeit nach Kräften unterstützen, um die offenen
Projekte aus dem Koalitionsvertrag erfolgreich umzusetzen.“

Ganz ähnlich äußert sich ver.di-Vorsitzender Wernecke: „Die Halbzeitbilanz der Regierung kann aus Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnensicht sowie gesamtgesellschaftlich in mehreren Punkten Positives vorweisen. Dazu gehören die Stabilisierung des Rentenniveaus, Investitionen in Kitas und aktuell die Nachunternehmerhaftung bei Paketdiensten sowie der Ausbildungsmindestlohn und die Schaffung der Voraussetzung für tarifliche Bezahlung in der Altenpflege.“ (https://www.jungewelt.de/artikel/366373.verdi-zur-halbzeitbilanz-der-gro%C3%9Fen-koalition.html)

Wer an der GroKo
so viel Positives zu finden weiß, der lebt offenkundig in einer anderen Welt.
Die DGB-Bürokratie stellt jedenfalls
klar, wofür sie in den
nächsten Wochen und Tagen eintritt – für den Erhalt der Koalition.
Dass dafür auch die SPD endgültig geschreddert werden kann, deuten zumindest
Umfragen an. Die Gewerkschaftsführung ignoriert das geflissentlich. Zusammen
mit dem Kabinett, der übergroßen Mehrheit der Fraktion, den meisten regierenden
SPD- MinisterpräsidentInnen und BürgermeisterInnen sind die DGB-Führung wie
auch jene der Einzelgewerkschaften eindeutig gegen den neu gewählten Vorstand
aufgestellt.

Dass die
Gewerkschaftsführungen und -apparate ihre Augen vor dem Selbstmordkommando
GroKo für die Sozialdemokratie verschließen, entspring freilich kaum mangelnder
Sorge um ihre Partei. Die Politik der Sozialpartnerschaft und der Klassenzusammenarbeit
ist über Jahrzehnte zur politischen Natur dieser Bürokratie geworden, so dass
ihnen eine Politik ohne „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit dem Kapital und deren
direkten politischen Vertretungen als Unding, Unsinn, ja als Unmöglichkeit
erscheint. So wie selbst SPD-Linke wie Kühnert im Falle eines Koalitionsbruchs
einen „Kontrollverlust“ in Rechnung stellen, so erscheint der
Gewerkschaftsbürokratie – von den sozialdemokratischen ParlamentarierInnen ganz
zu schweigen – Einfluss nur über Kabinette, Institutionen und
sozialpartnerschaftliche Gremien möglich.

Allen, die sich
von dieser Denke nicht einseifen lassen wollen, soll außerdem die mögliche
Verantwortung für Niederlagen bei Neuwahlen und für das Zerbrechen der Partei
in die Schuhe geschoben werden.

Seit der
Wahlentscheidung werden alle nicht müde zu erwähnen,
dass die SPD ja „eine Partei“ sei und alle zusammen weitergehen wollten
und müssten. Diese Floskeln
sind zum einen ein gutes Anzeichen für den Kampf,
der hinter den Kulissen stattfindet. Schließlich kann sich der Regierungsflügel
nicht sicher sein, am
Parteitag überhaupt eine
Abstimmung zu gewinnen.
Schließlich war schon 2017 die
Entscheidung für die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen knapper als beim Mitgliederentscheid.

Zum anderen gebrauchen
gerade der rechte Flügel, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion das
Gerede von der Einheit demagogisch, ja stellen es auf den Kopf. Würden der
Parteitag oder die neuen Vorsitzenden einen Bruch der Koalition betreiben, so
würde sie das womöglich aus der Partei drängen. Einige HinterbänklerInnen,
womöglich gar die Mehrheit der Parlamentsfraktion könnte sich gar weigern, die
GroKo zu beenden. Mit anderen Worten, der rechte Flügel droht unter der Hand
mit Bruch von etwaigen „harten“ Parteitagbeschlüssen – und stellt es so dar,
als wären solche Mehrheitsbeschlüsse unzumutbare Gewalttaten gegen das
großkoalitionäre „Gewissen“. Es ist zu befürchten, dass sich
Walter-Borjans/Esken und ihre UnterstützerInnen auf solche Erpessungsmethoden
einlassen – damit würden sie aber nicht nur einen weiteren Zerfall der SPD,
sondern auch den Anfang vom Ende ihres eigenen Parteivorsitzes vorbereiten.

Reaktion der
Union

Nachdem AKK
„ihren“ Parteitag überstanden hat, will sie ihrerseits
den neuen Vorstand der SPD unter
Druck setzen. Wenn die GroKo
in Gefahr sei, gäbe es keine Grundrente – das zeigt zum einen,
wie egal Altersarmut real in Deutschland ist. Der Wirtschaftsrat der Union hat
selbst schon abgeschlossen mit der Koalition und legt nach –
die ganzen „Geschenke“ an die SPD wie die Grundrente bspw. hätten schließlich nichts gebracht. Die
Botschaft an den SPD-Parteitag ist klar: Entweder ihr nehmt die Krumen vom
Koalitionstisch oder ihr kriegt gar nichts!

Diese Drohung
sollte eigentlich alle verzagten und halb-entmündigten SPD-Delegierten und Aktiven
ermuntern, zumindest sich eben nicht erpressen zu
lassen. Auf deren
„Festigkeit“ sollte sich freilich keiner verlassen.

Perspektive für
einen Linksruck?

Die Wahl von
Esken und Walter-Borjans hat immerhin gezeigt, dass es noch ein gewisses politisches Potenzial gibt. Die 114.995
Stimmen waren solche für
einen Bruch mit GroKo und
der Agenda-Politik, eine Fortsetzung der No-GroKo-Stimmung in Teilen der
Partei. Jetzt stellt sich die Frage, ob sich diese anti-neoliberale reformistische Strömung
formiert und tatsächlich den
Kampf gegen den „Agenda 2010“-Flügel, die RegierungssozialistInnen, die
Parlamentsfraktion und den Parteiapparat
aufnimmt. Alle wichtigen Bestandteile ihrer „Erneuerung“ hätten das Potenzial, die DGB-Mitgliedschaft, also die organische
Verbindung der SPD zur Klasse zu mobilisieren und politisch zu erneuern, gerade
auch gegen die dortige
bürokratische Führung, den verlängerten Arm der Großen Koalition in die
ArbeiterInnenbewegung hinein.

Auch wenn großen Teilen der Linken in Deutschland wenig bis nichts
zu dieser Lage einfällt, so kann dies eine zentrale politische Auseinandersetzung werden.

Während die DGB-Spitze vor allem die Koalition und damit ihren vermeintlichen
Einfluss auf die Regierung
retten will, wäre es doch sehr interessant,
was denn eigentlich die sechs Millionen DGB-Mitglieder von den Forderungen und Vorschlägen der neuen SPD-Führung
halten. Das Ende der Schuldenbremse als strategisches Ziel für mehr
Investitionen in die öffentlichen Güter, die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer, höhere Besteuerung der Reichen und einen höheren Mindestlohn
von 12 Euro wie auch das reale Ende von Hartz IV,
all diese „neu“ entdeckten Positionen könnten auch Mittel sein, die Basis der SPD und die
Gewerkschaftsmitglieder zu mobilisieren. Auf dieser Grundlage wäre auch eine
gemeinsame Aktion aller Kräfte der Linken und der ArbeiterInnenbewegung
möglich. Genau diesen Kurs müssten die UnterstützterInnen von
Esken/Walter-Borjans einschlagen.

Juso Chef
Kühnert hatte an anderer
Stelle sogar den stellvertretenden BMW-Betriebsrat
daran erinnert, dass sogar die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien in der
Gewerkschaftssatzung stehe. Hier kam sogar etwas „Corbynismus“ zum Vorschein.

Das Forum
Demokratische Linke 21 (DL21) um die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, eine Art Pro-Corbyn-Strömung in der
SPD, hat dazu
aufgerufen, die Partei möge sich
hinter dem Vorstand „sammeln“.
Doch was heißt das? Hinter
welchem Vorstand? Einem, der für einen Bruch mit Scholz und Heil steht, oder
einem, der in- und außerhalb der GroKo, Regierung und Opposition gleichzeitig
zu sein verspricht?

Nur ersteres
würde wirklich einen Schritt vorwärts darstellen. Es würde zugleich heftigsten
Widerstand und Hetze nicht nur der bürgerlichen Presse und der Unionsparteien
mit sich bringen –es könnte auch zu einem Bruch mit dem rechten Flügel der SPD
führen und würde einen politischen Kampf um die Gewerkschaften erfordern. Wie
selbst das Beispiel des weit linkeren Corbyn und seiner Massenunterstützung in Labour
zeigt, werden sich der rechte Parteiflügel, die strikt sozialpartnerschaftliche
Gewerkschaftsführung durch Kompromisse und Entgegenkommen nicht besänftigen
lassen. Sie wird solche allenfalls annehmen, wenn sie sich zu schwach fühlt,
die SPD unmittelbar wieder unter ihre Kontrolle zu kriegen.

Die Frage der
Großen Koalition spielt dabei eine Schlüsselrolle. Jede Form der Fortsetzung
oder auch „ergebnisoffenen Überprüfung“ wird letztlich den Rechten und
RegierungssozialistInnen in die Hände spielen. Daher sollten die linken, gegen
die Fortsetzung der Großen Koalition eingestellten Delegierten zum Parteitag
jedes Rumeiern um die Koalitionsfrage ablehnen und die GroKo offen zu Grabe
tragen. Damit hätten sie – nach Jahren der Unterordnung unter Kapital und Unionsparteien
– etwas Positives für die ArbeiterInnenklasse getan.




Pakistan: Solidarität mit den OrganisatorInnen des Marsches der Studierenden!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1079, 5. Dezember 2019

Die Beteiligung
am Solidaritätsmarsch der Studierenden am Freitag, den 29. November, war sehr
beeindruckend mit Demonstrationen in 55 Städten. Zu den wichtigsten Forderungen
gehörten die Beendigung der Schikanen gegen StudentInnen, die Entfernung von
Militärpersonal vom Campus und das Recht, Studierendenverbände und -gewerkschaften
zu organisieren.

Bezeichnenderweise
wurden auch Losungen erhoben, die sozialistische Lösungen fordern.

Pakistan
befindet sich derzeit in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Vereinbarung mit
dem Internationalen Währungsfonds hat zu Inflation und Arbeitslosigkeit sowie
zu einem Anstieg von Hunger und Armut geführt. Mit zunehmender Verschlechterung
der Bedingungen nimmt die Zahl der Revolten zu und die Bewegungen nehmen Fahrt
auf. Bildungseinrichtungen sind von Vetternwirtschaft und Korruption,
schlechter Bildung und selbst dem Mangel an grundlegenden Einrichtungen wie
sauberem Trinkwasser und Toiletten geprägt. Die Schwere der Probleme verschärft
sich, wenn man den Geschlechteraspekt betrachtet. Die Mehrheit der Mädchen aus
ArbeiterInnenfamilien findet sich nicht nur der höheren, sondern oft sogar der
elementaren Bildung beraubt.

Darüber hinaus
streiten die herrschenden Klassen nicht nur untereinander, sondern versuchen
auch, sich mit der größeren Wirtschaftskrise herumzuschlagen, die durch die
Rettungsaktion des IWF verschärft wurde. Kurz gesagt, es existiert eine große
Regierungskrise, und in dieser Situation reift das Potenzial für einen
Massenaufstand. Der Solidaritätsmarsch der Studierenden, die Streiks der Großen
Gesundheitsallianz und der EnergiearbeiterInnen von WAPDA (Wasser- und
Strombehörde), unter anderen, sowie die Mobilisierungen der
PaschtunInnenschutzbewegung, PTM, sind Ausdruck dieses Potenzials.

Repression

In dem Maße wie
die Regierung schwächer wird, nehmen ihre Aktionen einen zunehmend defensiven
und barbarischen Charakter an. Zuerst vertrieben GesetzeshüterInnen Alamgir
Wazir, einen ehemaligen Studenten der Punjab University, der auch als
Vorsitzender des PaschtunInnenrates fungierte, aus den Räumlichkeiten der
Universität. Er ist auch der Neffe des Nationalratsmitglieds und PTM-Chefs Ali
Wazir. Er war auf den Campus gekommen, um seinen Bachelor-Abschluss in
Geschlechterforschung von der Universität zu holen, und übernachtete in der
Campus-Herberge im Zimmer seines Cousins. Er richtete sich auch an den Solidaritätsmarsch
der Studierenden am 29. November und kritisierte den Staat dafür, Urdu als
gemeinsame Sprache im ganzen Land durchzusetzen und militärische Operationen
durchzuführen, die zur Ermordung von PaschtunInnen führten. Nachdem Alamgir
Wazir abgeholt worden war, organisierte der PaschtunInnenrat einen Protest vor
dem Haus des Vizekanzlers der Punjab Universität. Die Polizei stellte ihn am 2.
Dezember vor ein Gericht, und er wurde für 14 Tage in Untersuchungshaft
genommen.

In Lahore hat
die Polizei auch ein Verfahren gegen die OrganisatorInnen des studentischen
Solidaritätsmarschs eingeleitet, darunter Alamgir Wazir, Ammar Ali Jan, Tariq
Farooq, Iqbal LaLa (der Vater von Mashal Khan, einem Schüler der Abdul Wali
Khan Universität in Mardan, der wegen Blasphemievorwürfen gelyncht wurde),
sowie „250-300 nicht identifizierte TeilnehmerInnen“. Die Polizei hat den Fall
im Namen des Staates aufgenommen, weil die StudentInnen provokante Reden und
Slogans gegen den Staat und seine Institutionen gehalten hätten. Die Polizei
sagte, dass sie auch die anderen an dem Fall beteiligten Personen festnehmen
werde.

Darüber hinaus
gibt es Berichte, dass die Punjab Universität die Zulassung einer Studentin aus
Wasiristan, die eine Cousine eines Studentenaktivisten ist, aufgehoben hat. Die
Aufhebung ihrer Zulassung und die willkürliche Verhaftung von Alamgir Wazir
zeigen den rassistischen Charakter eines Staates, in dem PaschtunInnen zu den
häufigsten Zielen rassistisch motivierter Kontrollen gehören. Der Staat macht
jedoch nicht bei der Erstellung von rassistischen Profilen Halt, sondern
richtet sich gegen jede/n, der/die den Status quo in Frage stellt, unabhängig
von Rasse/Ethnizität.

Tage vor dem Marsch
der Studierenden beendete die Punjab University das Aufbaustudium eines der
OrganisatorInnen, Hasnain Jameel, der Master-of-Philosophy-Student der
Politikwissenschaft ist (MPhil: Abschluss eines Forschungsstudiums auch
außerhalb der Philosophischen Fakultät). Er wurde darüber informiert, dass sein
Abschluss aberkannt wurde und ihm der Zugang zur Universität untersagt ist.
Ebenso verbot die Regierung vor dem Marsch alle politischen Aktivitäten der
StudentInnen in der belutschischen Provinz und verlieh den Sicherheitsbehörden
umfassende Befugnisse, um die Teilnahme der StudentInnen an jeder Art von
öffentlicher Versammlung zu verhindern.

Trotz all dieser
Hürden stellte der studentische Solidaritätsmarsch immer noch einen Erfolg dar.
Die Reaktion des Staates auf die Forderung der StudentInnen nach nichts anderem
als ihrem demokratischen Recht auf gewerkschaftlicher Organisierung und auf ein
Ende von Belästigung und Militarisierung bestätigt diesen Erfolg. Die
Organisation im Vorfeld des Marsches zeigte auch, wie viel Energie in der
pakistanischen Jugend gegen die Frustrationen eines zerfallenden
kapitalistischen Systems steckt. Die Beteiligung und der Umfang der Proteste
waren weitaus größer als im Marsch des Vorjahres. Mit Ausnahme des
Sektierertums einiger weniger, wie der International Marxist Tendency,
unterstützten fast alle großen linken Gruppen den Marsch und nahmen daran teil.

Perspektive

Ein Kontingent
von proletarischen und der unteren Mittelschicht angehörenden Menschen mit
Flaggen der Pakistanischen Volkspartei (PPP) nahm ebenfalls am Marsch teil. Es
ist wichtig zu überlegen, wie wir mit solchen Entwicklungen umgehen sollten,
denn trotz ihrer Unterstützung für eine bürgerliche Partei haben sich diese
Schichten eindeutig mit den Zielen des Marsches identifiziert. Wir brauchen ein
sozialistisches Programm, das diesen Teilen angeboten wird, wenn sie an unseren
Veranstaltungen teilnehmen. Sein Zweck wäre es, ihnen zu zeigen, wie das
Programm ihrer jetzigen Partei ihre Interessen nicht verteidigt und verteidigen
kann. Wir kämpfen für die Führung der ArbeiterInnenklasse in der
regierungsfeindlichen Bewegung auf der Grundlage unseres sozialistischen
Programms, und das kann nicht geschehen, ohne die rivalisierenden
KonkurrentInnen für dieselbe Führung zu kritisieren. Mit der richtigen Art von
Politik können wir diejenigen Schichten gewinnen, deren historisches Interesse
im Sturz des Kapitalismus liegt, was die PPP nie erreichen kann.

Eine der
wichtigsten Errungenschaften des diesjährigen Marsches war, dass die StudentInnen
zeigten, wie wichtig es ist, wieder zu lernen, wie man organisiert. Sie hielten
öffentliche Versammlungen auf dem Campus ab. Sie hängten Poster auf den Straßen
auf. In Lahore mobilisierten sie beim Faiz-Festival (Musik-, Kunst- und
Literaturfest) und ließen sich nicht von absurder Kritik aus den reaktionären
Teilen der Gesellschaft abschrecken. In vielen Bereichen versuchten die
StudentInnen, in ArbeiterInnenviertel und Quartiere der unteren Mittelschicht
zu gehen und sprachen mit den Menschen dort, um sie zum Protest einzuladen.

Kurz gesagt, die
Mobilisierungen haben gezeigt, dass große Proteste entstehen, wenn wir lernen,
wie man sie organisiert. Die Menschen schwärmen nicht einfach zu Protesten in
Massenzahlen, weil jemand ein Facebook-Event erstellt oder darüber getwittert
hat. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, Menschen twittern, twittern zurück
und teilen Dinge, weil sie sehen, wie andere vor Ort organisieren.

Gleichzeitig
sahen wir, wie der Premierminister und andere MinisterInnen der derzeitigen von
der PTI (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) geführten Regierung
versuchten, die augenblickliche Gelegenheit zu ergreifen, indem sie scheinbar
zugunsten von studentischen Gewerkschaften twitterten. Wir haben auch gesehen,
wie Bilawal Bhutto Zardari von der PPP die Anstrengung eines Prozesses gegen
die VeranstalterInnen des studentischen Marsches verurteilt hat. Murtaza Wahab,
Rechtsberater  des
Ministerpräsidenten im Sindh, Murad Ali Shah, sagte Anfang der Woche, dass er
die Wiederherstellung der StudentInnenschaftsgremien in der Provinz genehmigt
hat. Er sagte weiter, dass die Regierung von Sindh im Prinzip beschlossen hat,
studentische Verbände in Bildungseinrichtungen der Provinz wieder in Kraft zu
setzen. Auch wenn dies nur ein Versuch ist, die Unterstützung der Bevölkerung
zu gewinnen, verkörpert es einen wichtigen Sieg für die studentische Bewegung.

Die PTI ist im
Zentrum in der Regierung, während die PPP seit langem die Leitung der
Sindh-Versammlung innehat. Auf typische neoliberale Weise versuchen beide
bürgerlichen Parteien, eine Bewegung zu kooptieren, die aus der Mobilisierung
an der Basis entstanden ist. Dies wirft die Frage auf, in welche Richtung sich
die StudentInnenbewegung sowohl unter den Bedrohungen des Staates als auch
unter den Versuchen von Teilen der Bourgeoisie und der Mittelschichten
entwickeln wird, die gegenwärtige Gelegenheit beim Schopf zu packen? Wenn wir
die Wünsche derjenigen StudentInnen, die Losungen für ein „Surkh Asia“ (Rotes
Asien) skandiert haben, wirklich wahr machen wollen, dann müssen wir uns dieser
Frage bewusst sein und eine eigene Strategie entwickeln.

Wir fordern:

  • Alamgir Wazir muss sofort und bedingungslos freigelassen sowie öffentlich der Fehler durch die für die Verhaftung verantwortliche Behörde eingestanden werden.
  • Alle rechtlichen Schritte gegen die OrganisatorInnen des studentischen Marsches, einschließlich Alamgir Wazir, werden unverzüglich eingestellt.
  • Alle StudentInnen, deren Zulassungen storniert worden sind, werden sofort wieder aufgenommen.
  • Versammlungs- und Protestfreiheit  für alle, unabhängig von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, BürgerInnenstatus, Religion usw.
  • Die rassische Profilerstellung von PaschtunInnen, BelutschInnen, Sindhi, Muhadschiri (Urdu-sprachige multiethnische MuslimInnen, die nach der Teilung Indiens 1947 nach Pakistan flohen) und allen unterdrückten Nationalitäten, die unter pakistanischer Herrschaft leben, muss beendet werden.
  • Alle Forderungen des StudentInnenmarsches sollen akzeptiert werden.



AfD-Parteitag in Braunschweig: Rechte Kräfte in Partei gestärkt – 20.000 protestieren draußen

Martin Eickhoff. Infomail 1079, 5. Dezember 2019

Schon am frühen Morgen des 30. November versuchten hunderte
DemonstrantInnen und  Gruppierungen
der radikalen Linken, darunter auch GenossInnen der Gruppe ArbeiterInnenmacht,
den Zugang zum AfD-Bundesparteitag zu blockieren. Die Blockierenden wurden
jedoch sehr schnell von den Bullen gekesselt, so dass bis auf verbale
Auseinandersetzungen nicht mehr an Protest möglich war.

An der Protestdemonstration und Kundgebung beteiligten sich
knapp 20.000 Menschen. Getragen und politisch dominiert wurden sie von reformistischen,
gewerkschaftlichen und bürgerlichen Organisationen. Die Reden der VertreterInnen
von Gewerkschaften, Parteien, verschiedenster Verbände und Gruppen sowie der
Kirchen gingen freilich über moralische Empörung nicht hinaus, blieben inhaltsleer
und in der Regel auf einzelne Phrasen beschränkt. Nicht Klassenkampf, sondern
die „Einheit der Demokratie“, von CDU bis zur Linkspartei, bildete den
Grundtenor.

Parteitag der AfD – Rechte konsolidieren Positionen

Zunächst mag ein falscher Eindruck entstehen. Mit Andreas
Kalbitz wurde zwar nur einer der führenden VertreterInnen des „Flügels“ in den
neuen Bundesvorstand gewählt, aber die Macht des rechts-nationalistischen,
völkischen Lagers zeigte sich mehr als nur durch die Wahl eines ihrer
ExponiertInnen. Beispielsweise wurde Alice Weidel ohne eine/n GegenkandidatIn
mit 76 Prozent der Stimmen zur stellvertretenden Sprecherin gewählt, was
unmöglich gewesen wäre ohne den Burgfrieden, den sie mit Höcke schloss. Darüber
hinaus trat auch sie schon bei der neurechten Kaderschmiede, dem Institut für
Staatspolitik von Götz Kubitschek in Schnellroda, auf.

Auch der weit rechts stehende Bundstagsabgeordnete Stephan
Protschka aus Niederbayern hat seine Wiederwahl als Beisitzer im Bundesvorstand
den Stimmen des „Flügels“ zu verdanken. Welch Geistes Kind Protschka ist, zeigt
allein schon, dass er in Polen – gemeinsam mit der NPD-Jugendorganisation – ein
geschichtsrevisionistisches Denkmal für Wehrmachtssoldaten und Freikorpskämpfer
mitfinanzierte.

Freuen konnten sich Höcke und seine rechten KameradInnen
über den Erfolg von Stephan Brandner. In Braunschweig hetzte der
Bundestagsabgeordnete, der vor kurzem seinen Posten als Sprecher des Bundestagsrechtsausschusses
verlor, gegen „SozialfaschistInnen“ in Richtung der SozialdemokratInnen. Für
seine Abwahl machte er eine angebliche „Nationale Front“ aller Parteien gegen
die AfD verantwortlich. Eine weiterer „Opfermythos“ wurde so geboren.
VertreterInnen des scheinbar gemäßigten Lagers wie z. B. Albrecht Glaser
oder Kay Gottschalk fielen bei den Wahlen durch. So manche Karrierepläne von
„Gemäßigten“ endeten abrupt.

Am Parteitag hat sich einmal mehr gezeigt, wie tief im Rechtsextremismus
die Parteibasis mittlerweile angekommen ist. Vor der Wahl des Vorstands ging es
um die Besetzung des Bundesschiedsgerichts. Die Parteigerichte sind Mittel des
Machtkampfes in der AfD – erst recht, seit immer häufiger Ausschlussverfahren
angestrengt werden, die dem rechten Lager suspekt sind.

Beim ersten Wahlgang ließen die Delegierten Ines Oppel, die
bisherige Parteischiedsgerichtsvorsitzende, durchfallen. Sie wurde allerdings
später mit mageren 52,1 Prozent doch noch gewählt.

An den Kräfteverhältnissen in der Partei hat sich seit dem
letzten Parteitag vor zwei Jahren in Hannover nicht viel verändert. Die AfD ist
in Braunschweig nicht weiter nach rechts gerückt – aber der bereits 2017
vollzogene Rechtsruck hat sich konsolidiert. Alleine kann der offen völkische  „Flügel“ zwar nichts durchsetzen, jedoch
kann er teilweise benötigte Zweidrittelmehrheiten kippen und so vermeintlich „zu
liberale“ Positionen ausbremsen.

AfD und Regierungsfrage

Betont wurde einerseits die Bereitschaft weiter Teile der
Partei, mit dem „Flügel“ zusammenzuarbeiten, und auch bei den vorgeblich
„Moderaten“, über mögliche „Verfehlungen“ derjenigen im eigenen Lager großzügig
hinwegzusehen, die sich öffentlich „entschuldigten“. Andererseits soll sich die
AfD „gemäßigter“ geben, um sich als mögliche Koalitionspartnerin der CDU/CSU
ins Spiel zu bringen – eine Ausrichtung, die nicht nur rechtspopulistische
Elemente, sondern letztlich auch „Der Flügel“ teilen.

Bei der Wahl zum Parteivorsitzenden (Bundessprecher) setzten
sich Jörg Meuthen aus Baden-Württemberg und der sächsische Malermeister Tino
Chrupalla durch; Überraschungen blieben aus. Mit großer Mehrheit wurde
Alexander Gauland zum Ehrenvorsitzenden gewählt – und bleibt somit weiter Mitglied
des Bundesvorstandes und Strippenzieher.

Nicht minder wichtig als die Verschiebungen in der AfD
selbst werden freilich die politischen Entwicklungen im bürgerlichen Lager für
die Zukunft der Partei sein. Die Krise der EU, die inneren Gegensätze und der
Niedergang der Unionsparteien können und werden – siehe den Vorstoß etlicher
sächsischer ParteifunktionärInnen – bei Teilen der Union den Ruf nach einer
Änderung der Haltung gegenüber der AfD lauter werden lassen. Die öffentliche
„Mäßigung“ der RechtspopulistInnen entspricht daher nicht nur einer politischen
Vorleistung, sie soll auch den Druck auf CDU/CSU erhöhen, so dass die AfD als
einzige Möglichkeit zur Bildung einer aggressiven, konservativ geführten und
neo-liberal ausgerichteten Regierung verbleibt.

Daher ist auch die Fokussierung auf den „Flügel“ in der
Kritik an der AfD politisch verkürzt, ja problematisch. Von der AfD geht eine
Gefahr nicht nur durch ein erstarkendes rechtes, völkisches und teilweise
faschistisches Element aus. Eine nicht minder große, angesichts der tiefen
Krise der EU womöglich viel unmittelbarere Gefahr geht von den „Gemäßigten“
aus. Sie stehen als JuniorpartnerInnen einer CDU-geführten Bundesregierung für
eine politische Neuausrichtung des deutschen Imperialismus parat.

Im Kampf gegen die rassistische rechtspopulistische Partei
dürfen wir daher nicht nur auf den „Flügel“ achten, sondern wir müssen die AfD
als Ganze sehen. Gegen deren Angriffe, Aufmärsche ist antifaschistischer
Selbstschutz notwendig, um sich zu organisieren.

Es kommt aber vor allem darauf an, die Ursachen für das
Wachstum und die Konsolidierung der AfD selbst in Blick zu nehmen, um
ArbeiterInnen und Arbeitslose aus ihrer WählerInnenschaft herauszubrechen. Dazu
reichen Mobilisierungen gegen die AfD nicht aus. Es bedarf einer glaubwürdigen
und entschlossenen Politik der Gewerkschaften und der gesamten
ArbeiterInnenbewegung in den Betrieben und auf der Straße gegen die drohenden
und laufenden Angriffe, für Mindestlohn, Rente, gegen Mietwucher und
Massenarmut. Nur so kann die soziale und chauvinistische Demagogie der Partei
wirksam bekämpft werden.




Ende Gelände – der militante Teil der Umweltbewegung?

Wilhelm Schulz/Martin Suchanek, Infomail 1079, 4. Dezember

Zwischen Freitag, dem 29. November, und Sonntag, dem 1.
Dezember 2019, fanden erneute Aktionstage des Bündnisses „Ende Gelände“ (EG)
statt. Diesmal führten sie ins Lausitzer Braunkohlerevier. An den vielfältigen
Aktionen und Blockaden beteiligten sich rund 4.000 Menschen, denen es für
einige Stunden gelang, in die Kohlegruben einzudringen, Bagger zu besetzen und
Bahngleise zu blockieren. Der Abbau wurde so zeitweilig gestoppt oder
wenigstens verringert.

Auf dieser symbolischen Ebene waren die Aktionen trotz
massiver Hetze der regionalen und lokalen Medien, Politik,
WirtschaftsvertreterInnen und auch der Gewerkschaften ein politischer Erfolg.

In den Kohlerevieren im Rheinland begrüßte, ja unterstützte
die Mehrheit der Bevölkerung die Besetzung des Hambacher Forstes. Letztlich war
es diese Bewegung, die sich immer wieder in Massendemonstrationen äußerte und
eine zeitweilige Aussetzung der Rodung des „Hambi“ erzwang.

Vorfeld

Anders in der Lausitz. Die Mehrheit steht dort EG,
wie allen anderen Kräften der Umweltbewegung, skeptisch bis offen
feindlich gegenüber – was sich auch im Vorfeld auf verschiedene Weise äußerte.

Es ist kein Zufall, dass sich in der Lausitz mehr und mehr die
AfD als angebliche Verteidigerin einer Heimat breitmacht, die von den Baggern
abgetragen werden soll. In ihr und ihrem Umfeld tummeln sich offen Nazi und
RassistInnen, die mit physischen Angriffen auf AktivistInnen von EG
drohten und drohen.

Die Bilder und Postings von Bullen unter dem Motto „Stoppt
Ende Gelände“ stießen nicht nur auf weitere Verbreitung unter Rechten und
mediales Aufsehen. Sie verdeutlichen einmal mehr, wie verbreitet rechtes und
rechtsradikales Gedankengut bei den „Sicherheitskräften“ nicht nur in
Brandenburg und Sachsen sind.

Bei
den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen verbuchten zwar die Grünen
den Einzug in die Koalitionsregierung mit CDU und SPD als „Erfolg“, der
freilich auf Kosten der Bewegung erkauft wurde. Beide Landesregierungen
sprachen sich klar und deutlich gegen EG aus. Die Grünen distanzierten sich
offen von ihren WählerInnen. Sie verteidigen den sog. „Kohlekompromiss“, der
ein Ende der Kohleverstromung bis 2038 (!) vorsieht. An dem soll nicht
gerüttelt werden – auch nicht von der einstigen WählerInnenschaft.

Von der SPD erwartet in Brandenburg und Sachsen ohnedies
niemand, dass sie sich mit Kapitalinteressen anlegt. In Cottbus einigte sich
auch die „oppositionelle“ Linkspartei mit allen Fraktionen des Stadtparlaments
(außer den Grünen) auf eine gemeinsame Entschließung. Am Mittwoch, den 27.
November, votierten sie gemeinsam mit der AfD für ein Papier, das mit  „Kohlekompromiss umsetzen, Meinungen
respektieren, gewaltfrei debattieren“ überschrieben ist und die „Gewalt“
verurteilt, die von EG ausginge. Die nachträgliche Distanzierung von
VertreterInnen der Brandenburger Linkspartei kann hier nicht darüber
hinwegtäuschen, dass sich ihre Cottbusser „GenossInnen“ mit dem
Rechtspopulismus gemein machten.

Und natürlich darf auch die kapitalhörige IG BCE nicht
fehlen, wenn es darum geht, für den vermeintlich „eigenen“ Konzern die Kohlen
nicht nur aus der Grube zu holen, sondern sich auch schon für deren Profite
stark zu machen, so dass noch einige Jahre „Zusammenarbeit“ abfallen.

All dieses zeigt, wie sehr sich reformistische und grüne
Parteien, aber auch die Gewerkschaften dem Rechtsruck und „ihren“ Unternehmen
unterordnen und anpassen. Sie mögen damit hoffen, die Basis in der Bevölkerung
nicht zu verlieren – in Wirklichkeit erreichen sie genau das nicht.

Eine klassenpolitische Antwort müsste auf Forderungen wie
die entschädigungslose Enteignung der Energiekonzerne, Umbau der
Industrie unter ArbeiterInnenkontrolle, Aufteilung der Arbeit auf alle Hände
durch radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und
ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, finanziert aus Profiten und
Großvermögen, konzentrieren. So könnte auch eine Brücke zur Umweltbewegung, zu
antikapitalistischen AktivistInnen von EG geschlagen und diese auch dafür
gewonnen werden, in den ArbeiterInnen Verbündete zu sehen und nicht bloß
passive Betroffene, denen auch bestenfalls geholfen werden soll.

Auch wenn dieses Händeschütteln, ähnlich wie im Hambi, von beiden
Seiten nicht stattfindet – all das verdeutlicht die qualitativ anderen
Voraussetzungen des Protests in der Lausitz. Das spricht keineswegs gegen EG
und andere Protestierende aus der Umweltbewegung. Der Kampf gegen die Klimakatastrophe
sowie für das schnellstmögliche Ende der Braunkohleverstromung samt einer Energieproduktion,
die sich auf fossile Träger stützt, muss auch dort thematisiert werden. Es war
daher richtig, auch in der Lausitz ein Zeichen zu setzen und vor dem
öffentlichen Druck, der Hetze und selbst physischen Drohungen Rechter nicht
einzuknicken.

Vor Ort

Als REVOLUTION und ArbeiterInnenmacht entschieden wir uns, zu
den Protesten zu mobilisieren. So nahmen GenossInnen aus Berlin, Hessen,
Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen an den Aktionen teil. Hier beteiligten wir
uns vor allem an der von Fridays for Future und einigen NGOs ausgerufenen
Demonstration in Jänschwalde. Ebenfalls schickten wir ein Kontingent von
AktivistInnen zu den zentralen Protestaktionen von EG, somit in die Tagebaue.

Die Blockadeaktionen von EG wurden aus drei Städten
organisiert (Berlin, Dresden, Leipzig). Von hier aus sollten unterschiedliche
Orte in und um die vier aktiven Braunkohleabbaugebiete im Revier organisiert
werden. Neben den jeweils lokalen Fingern, die in verschiedene Unterstrukturen
aufgeteilt waren, gab es auch einen inklusiven (bunten) und einen
feministischen (lila) Finger. Kurz zuvor wurde ein weiterer Finger, die
sogenannten AntiKohleKidz (Slogan „AKK positiv besetzen“), der sich scheinbar
stärker aus SchülerInnen aus FFF zusammensetzte, ausgerufen. Dieser war rund um
das Kraftwerk Jänschwalde aktiv. Allein der rote Finger aus Berlin, neben dem
noch Teile von AKK, der bunte und der lila Finger anreisten, teilte sich in
drei Teile auf.

Auch die Polizei war vor Ort. Diese griff zwar vereinzelt
AktivistInnen an – insgesamt war es jedoch leicht, an den PolizistInnen vorbei
auf das Gelände zu kommen. Offenkundig wollten Landesregierungen und LEAG/MIBRAG
Bilder prügelnder PolizistInnen und Massenfestnahmen vermeiden – und nahmen
dafür einen kurzzeitigen Produktionsausfall und einen symbolischen Erfolg von EG
in Kauf. So wurden insgesamt 29 Strafanzeigen gestellt. Auch versuchte die
Polizei schnellstmöglich, Gewalt darstellende Bilder auf ihre Echtheit zu
überprüfen. Was nicht bedeutet, dass unsere Delegation nicht eindeutig
unterschiedliche Formen der Polizeigewalt vor Ort sehen und erleben musste.

Schwäche

Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch
einer selbstkritischen Bilanz von EG selbst bedarf.

Anders
als bei den Aktionen im Rheinland und der letzten Besetzungsaktion in der
Lausitz wurde diesmal kein Camp organisiert, von dem aus die Aktionen
vorbereitet oder koordiniert wurden. Ein möglicher Grund dafür war jedoch nicht
fehlende Logistik oder finanzielle Ressourcen, sondern scheinbar die Angst vor
Nazis und noch schlimmer vor der lokalen Bevölkerung. Diese war deutlich auch
bei der Aktion spürbar. So appellierten viele von EG bei der Abfahrt aus der
Kohlegrube in den LEAG-Bussen (!) zum Bahnhof an die Polizei, dass diese
DemonstrantInnen vor etwaigen rechten Übergriffen schützen müsse. Hier kippte
der „staatskritische“ Protest in den Hilferuf an die Staatsgewalt um.

Dies spiegelt das Fehlen einer politischen Konzeption, von
Forderungen wider, wie die Beschäftigten und die Bevölkerung einer
krisengeschüttelten, benachteiligen Region für einen gemeinsamem Kampf gewonnen
werden können.

Ohne eine solche Orientierung, die Klimaschutz und den Kampf
für die Klasseninteressen der Beschäftigen zu verbinden versucht, müssen notwendigerweise
alle Erklärungen an die Beschäftigen in der Kohleindustrie, an die lohnabhängige
Bevölkerung, an Hartz-IV-EmpfängerInnen, ArmutsrenterInnen oder perspektivlose
Jugendliche als rein moralisierende Kritik rüberkommen.

Statt die Masse der Bevölkerung als Menschen anzusprechen, deren soziale Sorgen, deren Ausbeutung und Deklassierung erst genommen wird, erscheinen bei vielen AktivistInnen der Umweltbewegung noch die BewohnerInnen der Lausitz oder die im Tagebau und in Kraftwerken Beschäftigten als „Privilegierte“. Den Menschen in der Lausitz „Verzicht“ zu predigen, wird von den EinwohnerInnen einer durch den Kahlschlag nach der Wende weitgehend de-industrialisierten Region verständlicher Weise als Zynismus aufgefasst.

Es ist unsere
Aufgabe, den Beschäftigten eine Perspektive aufzuzeigen, indem wir die soziale
Frage fest in unsere Klimaforderungen integrieren. Floskeln vom
„sozialverträglichen Kohleausstieg“, den die Menschen der Region seit 30 Jahren
als Begleitmusik zu Arbeitsplatzvernichtung zu hören bekommen und die leider
auch bei EG üblich sind, werden da nicht helfen. Ebenso nicht der Verweis auf
die weitaus schlimmeren Folgen des Klimawandels für Menschen im globalen Süden,
verglichen mit den sozialen Folgen einer Schließung der Tagebauten für die
LausitzerInnen.

EG steht zwar – und darin unterscheidet es sich positiv von anderen Teilen der Umweltbewegung – für Antikapitalismus. Aber dieser scheint ohne Klassensubjekt auskommen zu wollen. Das drückt sich auch in der Aktionsform des zivilen Ungehorsams aus. Anders als z. B. der Streik stellt der zivile Ungehorsam keine Form der kollektiven Selbstorganisation von Ausgebeuteten dar, der die Produktion selbst lahmlegt, sondern trägt selbst als Massenaktion vorwiegend symbolischen Charakter. Daher geht sie – ob bewusst oder notgedrungen – oft mit dem Appell an den bürgerlichen Staat einher.

Auch wenn von Massenblockaden die Rede ist, so wird sich der Aufbau der Bewegung als Addition von Individuen und Kleingruppen (Bezugsgruppen) vorgestellt. Es ist natürlich durchaus sinnvoll, sich in Aktionen in Bezugsgruppen aufzuteilen – aber eine Klassen- und damit eine Massenbewegung kann nie eine von Kleingruppen oder eine bloße Addition von Individuen sein. Sie stützt sich immer auch auf politische Organisationen, gewerkschaftliche oder soziale Massenorganisationen oder Kampforgane wie Räte, Aktionskomitees, die die Integration, Repräsentation und koordinierte Aktion großer Massen ermöglichen.

Ihre Demokratie muss daher notwendigerweise eine sein, die
sich auf Massenversammlungen, Entscheidungen, Wahl, Abwählbarkeit und
Rechenschaftspflicht stützt.

Das System der Bezugsgruppen, der Delegiertenplena wie der
Pseudo-Klandestinität von EG hingegen entspricht nicht einer Massenbewegung,
sondern einer größeren Ansammlung entschlossener EinzelaktivistInnen, wie es in
radikaleren Formen des „zivilen Ungehorsams“ zum Ausdruck kommt. Aus dieser
Perspektive erklärt sich auch, wieso eine derartige Geheimhaltungspolitik
bezüglich der konkreten Blockadepunkte existierte. Diese sind, bis auf einen
unbekannten Kreis, bis zur konkreten Blockadeaktion geheim geblieben. Eine
Unterstützung dieser war nur für Anreisende aus den jeweiligen Städten möglich.

Perspektive der
Bewegung

Die Aktionen von EG, der Aktionswoche von XR wie auch die
Streiks von Fridays for Future verdeutlichen die Notwendigkeit einer
politischen und strategischen Diskussion in der Umweltbewegung. Gerade
angesichts der kommenden Wirtschaftskrise erlangt die Verbindung von
Klimaschutz, Antikapitalismus und ArbeiterInnenklasse gegen die Krise eine
strategische Bedeutung. Gelingt der Schulterschluss in der gemeinsamen Aktion
nicht, so droht die Umweltbewegung in eine Sackgasse zu geraten und die Kluft
zwischen ihr und gewichtigen Teilen der Lohnabhängigen vertieft zu werden.

Zweifellos bringen die Bündnisse und Bewegungen wie EG, FFF
und XR dabei auch enorme Stärken ein, allen voran einen grenzübergreifenden
Charakter. Es mangelt jedoch an verbindlicher globaler Vernetzung zum
koordinierten Widerstand, der über einzelne Aktionstage hinausgeht. Zweitens
muss die Klassenfrage mit der Umweltbewegung verbunden, genauer, der Kampf
gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit als
integraler Teil des Klassenkampfes begriffen werden.

Um all dies zu leisten, benötigen wir ein Aktionsprogramm,
das an Schulen und Unis, vor allem aber auch in Betrieben und das heißt auch in
den Gewerkschaften verankert ist. Dafür müssen AntikapitalistInnen aktiv
werden, dazu bedarf es Aktionskonferenzen und Foren des Austausches und
Beschlussfassung, ähnlich den Sozialforen zu Beginn des Jahrhunderts. So kann
die Bewegung gestärkt aus einer strategischen Diskussion hervorgehen.




Nach dem globalen Aktionstag – welche Perspektive für Fridays for Future?

Martin Suchanek, Infomail 1079, 2. Dezember 2019

Am 29. November gingen wieder Millionen Jugendliche auf die
Straße. Das Datum für den „globalen Klimastreik“ wurde bewusst gewählt, um
Druck auf die UN-Weltklimakonferenz (COP 25) auszuüben, die vom 2.–13. Dezember
in Madrid stattfinden wird.

An Mobilisierungskraft mangelt es auch weiter nicht. In
2.400 Städten und 158 Ländern beteiligten sich Jugendliche, SchülerInnen und
StudentInnen, aber auch zunehmend Menschen aller Altersgruppen an den
Demonstrationen und Protestaktionen. Weltweit folgten diesmal rund 2 Millionen
Menschen dem Aufruf von Fridays for Future zum globalen Klimastreik.

Nach wie vor lässt sich eine starke Konzentration der
Mobilisierung auf die westlichen imperialistischen Länder feststellen. In
Deutschland ging mit über 600.000 die größte Anzahl auf die Straße. Laut
Fridays for Future marschierten rund 60.000 in Berlin, 55.000 in Hamburg,
33.000 in München und 20.000 in Köln, um nur die größten Demos zu nennen. In
einigen Städten wie Frankfurt/Main fanden auch Blockaden von 5 Läden, darunter
Primark statt, deren Produkte oft unter extremen Formen der Ausbeutung der
Lohnarbeit und ohne Rücksichtnahme auf die Umwelt entstehen.

In den USA fanden Aktionen in mindestens 80 Städten statt.
In Paris blockierten Protestierende Amazon-Lagerhäuser. Eine der weltweit
größten Demonstrationen marschierte durch Madrid.

Neben dem westlichen Europa, Nordamerika und Australien
schlossen sich aber auch mehr Menschen in asiatischen Ländern wie Indien oder
Pakistan den Aktionen an.

Die globale Klimastreikbewegung lebt. Aber sie stößt
Millionen AktivistInnen auch immer deutlicher auf die Fragen: Wie kann die
Bewegung erfolgreich sein? Wie kann die drohende Katastrophe verhindert, wie
ein wirkliches Umlenken in der Klimapolitik erzwungen werden?

Strategisches Dilemma

Hier zeigt sich das politisch-strategische Dilemma von Fridays for Future wie auch anderer Teile einer neu entstehenden globalen Bewegung. Einerseits brandmarken die führenden VertreterInnen die Untätigkeit und das Versagen der StaatschefInnen der großen kapitalistischen Länder. In dem Artikel „Why we strike again“ greifen Greta Thunberg (FFF Schweden), Luisa Neubauer (FFF Deutschland) und Angela Valenzuela (FFF Santiago de Chile) die Verantwortlichen aus dem Establishment hart an:

„Streiken ist keine Wahl, die wir mögen; wir tun sie, weil wir keine anderen Möglichkeiten sehen. Wir haben beobachtet, wie sich eine Reihe von Klimakonferenzen der Vereinten Nationen entwickelt hat. Unzählige Verhandlungen haben zu vielbeschworenen, aber letztlich leeren Verpflichtungen der Regierungen der Welt geführt – die gleichen Regierungen, die es den Unternehmen der fossilen Brennstoffe ermöglichen, nach immer mehr Öl und Gas zu bohren und unsere Zukunft für ihren Profit zu verbrennen.

PolitikerInnen und Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft wissen seit Jahrzehnten vom Klimawandel. Und doch lassen die PolitikerInnen die Profiteure weiterhin die Ressourcen unseres Planeten ausbeuten und seine Ökosysteme zerstören, auf der Suche nach schnellem Geld, das unsere Existenz bedroht.“

Andererseits offenbart derselbe Text auch die Schwächen der
Bewegung. Es bleibt beim Appell an die Herrschenden:

„An die FührerInnen, die nach Madrid reisen, ist unsere Botschaft einfach: Die Augen aller zukünftigen Generationen sind auf Euch gerichtet. Handelt entsprechend.“

Dass auch COP 25 wenig mehr als heiße Luft produzieren wird, lässt sich schon heute voraussehen. Von der Weltklimakonferenz erwartet seit Jahren niemand mehr, dass von ihr noch irgendwelche Impulse ausgehen werden. Die USA haben unter Trump den illustren Kreis verlassen. Andere wie die deutsche Regierung unter Merkel präsentieren sich gern als „Klimachampions“ – und vertreten vor allem die Interessen der deutschen Großindustrie.

Keine der alten imperialistischen Mächte, seien es die USA
oder die Länder der EU, keine der konkurrierenden Mächte wie China oder
Russland, keines der „Schwellenländer“ wie Indien oder Brasilien will die
Kosten wirksamer globaler Maßnahmen gegen den Klimawandel übernehmen. Alle sind
zwar für den Klimaschutz – doch zahlen sollen ihn die anderen. Und darüber
hinaus soll er auch noch profitabel sein. Dagegen ist die Quadratur des Kreises
ein leichtes Unterfangen.

Systemfrage

Der Weltklimagipfel wird allenfalls einmal mehr zeigen, dass
die gesamte ökologische Frage untrennbar mit der Systemfrage verbunden ist,
dass sie nur im Rahmen einer klassenpolitischen Strategie der sozialistischen
Umwälzung lösbar ist. Ein „grüner“ Kapitalismus ist nicht minder unmöglich als
ein „sozialer“ oder „friedlicher“. Überall sind es die ausgebeuteten,
unterdrückten Teile der Bevölkerung, die ArbeiterInnenklasse, die Bauern und
Bäuerinnen, die städtische Armut sowie die unteren Mittelschichten, die von der
ökologischen und sozialen Krise am stärksten betroffen sind. Schon heute sind
Millionen auf der Flucht, vertrieben von den Verwüstungen des Klimawandels.
Gleichzeitig sollen die Armen und Ausgebeuteten weltweit auch die gesamte Last
einer neuen Runde der Weltwirtschaftskrise, einer sich anbahnenden Rezession
tragen. Die Revolten und Klassenkämpfe in Lateinamerika sind nur ein Vorbote
dieser Entwicklung.

Die aktuelle Situation verweist also darauf, dass der Kampf
gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, gegen die
drohenden ökologische Katastrophe integraler Teil dessen für eine andere,
sozialistische Gesellschaftsordnung, für eine Welt, in der nicht für Profit,
sondern für die Befriedigung der Bedürfnisse der großen Masse produziert wird,
sein muss. Nur auf dieser Basis kann eine globale Planung entwickelt werden,
die es erlaubt, menschliche Bedürfnisse und Nachhaltigkeit in Einklang zu
bringen.

Um dahin zu kommen, muss sich die Bewegung bewusst werden,
gegen welches System sie ankämpft. Appelle an die Regierungen, „das Richtige zu
tun“, werden nichts fruchten. In einer Klassengesellschaft bestimmen nicht über
den gesellschaftlich herrschenden Interessen stehende „Vernunftgründe“ die
Politik, sondern die Pläne der herrschenden Klasse – und diese sind mit einer
rationalen, nachhaltigen Wirtschaft unvereinbar, selbst wenn sich diejenigen,
die an den Schaltzentralen der Konzerne und großen Staaten sitzen, der
drohenden Umweltkatastrophe vollauf bewusst wären. Letztlich sind sie
Charaktermasken, FunktionsträgerInnen des Kapitals.

Es geht nicht darum, diese zu überzeugen, sondern darum,
eine Bewegung aufzubauen, die der herrschenden Klasse und ihren Regierungen das
Handwerk legen kann. Dazu muss sie jedoch selbst die Eigentumsfrage und die mit
ihr untrennbar verbundene der Macht aufwerfen.

Um eine solche Kraft zu entfalten, reicht es freilich nicht
aus, System und GegnerInnen zu benennen. Um eine Bewegung aufzubauen, die
Millionen nicht nur auf die Straßen bringen kann, sondern wirklich die
Machtfrage stellen kann, braucht es wirkliche Klimastreiks, die die Produktion
lahmlegen, die nicht nur wenige Stunden andauern, sondern bis zur Durchsetzung
konkreter Forderungen geführt werden. Kurzum, die globale Klimabewegung muss
sich auf die ArbeiterInnenklasse als zentrale Kraft stützen. Nur sie vermag es,
die Fabriken, die Betriebe und damit die Quelle der Profitmacherei lahmzulegen,
also die Reichen und KapitalbesitzerInnen dort zu treffen, wo es weh tut. Nur
sie kann im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft auf dem Land die
Produktion so reorganisieren, dass die Befriedung der Bedürfnisse der Massen
und ökologische Nachhaltigkeit gewährleistet werden.

Um eine solche Bewegung aufzubauen, helfen unverbindliche
und folgenlose Appelle an Regierungen und Unternehmen, „ihrer Verantwortung
nachzukommen“ oder den „Klimanotstand“ zu erklären, nichts.

Unsere Forderungen müssen vielmehr konkret sein und sich
gegen die großen Konzerne und VermögensbesitzerInnen richten. So wird es keine
Wende weg von einer Wirtschaft, die auf fossilen Energieträgern fußt, geben,
ohne die großen Konzerne in dieser Branche wie auch im Bereich von Transport
und Verkehr zu enteignen. Alle wichtigen industriellen Sektoren müssen der
Verfügungsgewalt des Kapitals letztlich entzogen werden, um z. B. eine
Verkehrswende hin zur Schiene und zum öffentlichen Nahverkehr durchzusetzen.
Nur wenn die großen Agrarkonzerne enteignet werden, kann eine ökologische
Umstellung der Landwirtschaft erfolgen. Daher stellt die entschädigungslose
Enteignung der großen Konzerne und Banken eine Schlüsselfrage auch für die Umweltbewegung
dar. Auch eine enge Verzahnung von Industrie, Dienstleistungen und Wissenschaft
kann nur dann nutzbringend, nachhaltig und effektiv erfolgen, wenn sie nicht
unter dem Diktat der Profitmacherei steht.

Damit ist jedoch die Frage nicht erledigt. Dem bürgerlichen
Staat, selbst ein Instrument der herrschenden Klasse, kann die Kontrolle über
ökologische Umstellung der Produktion und des Konsums nicht überlassen werden.
Daher sollte die Bewegung für die Enteignung unter ArbeiterInnenkontrolle durch
betriebliche wie politisch-gesellschaftliche Kontrollorgane eintreten, die bis
hin zu Räten der ProduzentInnen und KonsumentInnen entwickelt werden können.

Für die notwendigen Maßnahmen zum ökologischen Umbau müssen
die Reichen, die Kapital- und VermögensbesitzerInnen sowie die wohlhabenden
imperialistischen Staaten aufkommen. Den Ländern der sog. „Dritten Welt“ müssen
ihre Schulden erlassen, alle Zwangsdiktate durch IWF und andere
imperialistische Agenturen gestoppt werden. Zur Finanzierung der Umweltmaßnahmen
braucht es die Enteignung der Banken und Finanzinstitutionen, des Großkapitals
und eine massive Besteuerung der Reichen.

Gleichzeitig müssen wir alle Versuche bekämpfen, die
Beschäftigten in den Industrien wie Bergbau, Automobil usw. die Kosten einer
Umstellung der Produktion ausbaden zu lassen. Wir kämpfen gegen alle
Entlassungen und für die Umstellung der Produktion unter
ArbeiterInnenkontrolle. Die ArbeiterInnen und TechnikerInnen in diesen
Industrien können eine zentrale Rolle bei der ökologischen Umstellung der
Wirtschaft spielen, wenn ihr Wissen und ihre Erfahrung dementsprechend genutzt
werden.

Die Umweltbewegung braucht daher nicht mehr und nicht
weniger als ein globales Aktionsprogramm, ein Programm von
Übergangsforderungen, das Sofortmaßnahmen in einzelnen Ländern mit dem Kampf
für eine demokratische Planwirtschaft verbindet. So kann der Slogan „System
change not climate change“ mit Leben erfüllt werden.