Skandal in Dortmund – Arbeitsamt geht gegen BettlerInnen vor

Tobi Hansen, Infomail 974, 24. November 2017

Während in Deutschlands Medien das Scheitern der Sondierung und damit eine drohende „Unregierbarkeit“ diskutiert werden, fallen wirkliche Skandale unter den Tisch – keine Sondersendung, kein Brennpunkt, kein ZDF spezial, die für einen Fall, der die realen Probleme und Missstände in diesem Land zeigt, auch nur eine Minute Sendezeit aufwenden.

Dass für Hartz-IV-EmpfängerInnen oft die Unterstützung nicht zum Leben reicht, setzen wir als bekannt voraus. Dass es mit den meisten anderen Sozialleistungen auch nicht leicht ist, „über die Runden“ zu kommen, wissen selbst die bürgerlichen ClaqueurInnen des Privatfernsehens. Nur in den Arbeitsämtern gibt es dazu wohl andere Ansichten.

Betteln als Gewerbe?

Wegen ihrer Armut sind sie auf Tafeln angewiesen. Ohne diese hätten viele Menschen nicht einmal das Notwendigste. Oder sie müssen Pfandflaschen sammeln oder betteln. Dies tat ein Hartz-IV- Empfänger in Dortmund.

Einige Medien haben darüber berichtet, wie das Arbeitsamt auf ihn aufmerksam wurde. Egal ob ihn ein Sachbearbeiter gesehen hat oder ob er angeschwärzt wurde, Fakt bleibt, dass die „Agentur für Arbeit“ (Arge) daraufhin das Betteln als zusätzliches Einkommen angesehen hat.

Michael Hansen wurde aufgefordert, seine „Einnahmen“ aufzuführen, ein Einnahmebuch vorzulegen. Außerdem soll auch seine Bedarfsgemeinschaft ihre Ausgaben offenlegen. Die Arge Dortmund wertet Betteln somit als Gewerbe, der Hartz-IV-Empfänger wird dadurch als „Selbstständiger“ betrachtet, der seine Einnahmen verrechnen soll. Das heißt, seine Bezüge werden gekürzt.

Das Zwangssystem Hartz IV zeigt sich hier wieder einmal von seiner realen Seite. Während die BezieherInnen oft als faul dargestellt werden, zeigt dieser Fall, dass Armut mit Sanktionen belegt wird. Die Arge Dortmund ist der Meinung, dass 409 Euro als Regelsatz ein „auskömmliches Einkommen“ sind. Gut zu wissen, dass dies SachbearbeiterInnen feststellen, von denen niemand mit weniger als 1800 Euro netto aus der Arge nach Hause geht. Die Bedarfsgemeinschaft erhält als Regelsatz 760 Euro plus Miete. Von diesem Satz wurden Michael Hansen seit August monatlich 300 Euro abgezogen. Damit ist die Bedarfsgemeinschaft jetzt auf das Betteln angewiesen, so läuft der Armutskreislauf des Hartz-IV-Systems.

In Niedersachsen führte ein ähnlicher Fall 2009 zu größeren Protesten. Die Arge in Göttingen handelte ähnlich wie die Dortmunder. Durch Proteste war das dem Landesministerium jedoch zu peinlich und die Behörde wurde zurückgepfiffen. Dieses Verhalten der Armutsverwaltung zeigt auf, zu welchem asozialen Vorgehen dieses System fähig ist. Werden künftig auch PfandsammlerInnen verfolgt und gezwungen, Quittungen für ihre „Erlöse“ vorzulegen? Sollen die Besuche der Tafel mit Hartz IV verrechnet werden?

Agieren

Währenddessen zeigen „Panama“ und „Paradise Papers“, wie einfach die Besitzenden und Reichen ihr Geld verstecken können, wie sie selbst versuchen, jeden Cent Steuern zu vermeiden. So wurden beim „Cum-Ex“-Skandal vor allem von Banken und Konzernen satte 31 Mrd. Euro am Fiskus vorbeigeschleust. Der Organisator dieser Operation, Hanno Berger, wird jetzt vom FDP-Spitzenfunktionär Kubicki vor Gericht verteidigt. Wer den Hartz-IV-Empfänger Hansen verteidigen wird, steht in den Sternen. Klar ist aber, wer sich für ihn einsetzen sollte.

Die Linkspartei, die Gewerkschaften, die SPD können hier Farbe bekennen, statt die „soziale Gerechtigkeit“ bloß auf Wahlplakaten und im luftleeren Raum zu beschwören. Schließlich sollten sie in der Lage sein, das Vorgehen der Dortmunder Arge nicht nur zu skandalisieren, sondern wenigstens in diesem Fall die Armutsverwaltung in ihre Schranken zu weisen.

Ansonsten droht der Volksmund recht zu behalten, heißt es so treffend doch: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“

  • Solidarität mit Michael Hansen! Weg mit den Sanktionen der Arge!
  • Weg mit Hartz IV! Für ein Mindesteinkommen von 1600 Euro für alle!

 




Österreich: Frauenpolitik von FPÖ und ÖVP

Aventina Holzer, Infomail 974, 24. November 2017

Die Wahlen sind ausgegangen wie erwartet. Was hingegen immer wieder eine Überraschung darstellt, ist, wie viele Menschen eigentlich komplett entgegengesetzt zu ihren Interessen wählen. Man sollte glauben, dass die ÖVP mit ihren offenen Versprechen an die obersten Zehntausend, sie besserzustellen auf Kosten der restlichen Bevölkerung, nicht an Popularität dazugewinnen könne. Aber anscheinend braucht es nur ein neues Label, eine Person, die lange selbst an der Regierung beteiligt war und jetzt gegen eben diese alte Regierung mit Konzepten vorgehen will, die genauso aus dem Wahlprogramm Rechtsradikaler stammen könnten. Das führt uns zu den Drittplatzierten dieser Wahl: den Freiheitlichen, die im Wahlkampf hauptsächlich darauf aufmerksam machten, dass sie (und nicht Kurz) die rückschrittlichen Ideen hatten, mit denen sie den „Flüchtlingsstrom“ stoppen wollen. Unzählige Menschen werden aufgrund der kommenden Politik von Schwarz-Blau schlechtergestellt werden. Wer auch nur manchmal in die Nachrichten sieht, wird außerdem wissen, dass sowohl bei ÖVP und FPÖ die Rolle der Frau als Mutter die primäre ist, die sie fördern wollen. Wie schlecht dann erst der weibliche Teil der Bevölkerung dasteht, kann anhand vergangener Positionen und Regierungen erahnt werden.

„Frauenförderung“?

Ein Thema, das von konservativer Seite gerne umgangen oder schwammig behandelt wird, ist die Frage des Schwangerschaftsabbruchs. In Österreich ist dieser keineswegs legal. Es existiert vielmehr eine Frist von drei Monaten, innnerhalb derer die Abtreibung „straffrei“ ist. Folglich wird der Schwangerschaftsabbruch auch nicht in irgendeiner Form „gefördert“.

ÖVP und FPÖ wollen diesen Zustand der Semi-Legalität nur zu gerne beibehalten bzw. verschlechtern. Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln, die ungewollte Schwangerschaften enorm reduzieren könnten, lehnen sie genauso ab. Stattdessen plädieren sie für mehr „Bedenkzeit vor der Abtreibung“ und unterstützen Kampagnen wie die „Aktion Leben“. Schwangerschaftsabbrüche werden nicht weniger, wenn man sie illegal oder unerschwinglich macht, Das Einzige, was sich damit verändert, ist die Anzahl der Frauen, die an unprofessionellen Eingriffen sterben oder Verletzungen davontragen.

Der „Schutz von ungeborenem Leben“, welches meistens mehr wert ist als das der Frauen selber, passt auch gut in das Familienbild von FPÖ und ÖVP. Die Frau, deren Ziel die Mutterschaft sein sollte und nicht die Karriere, gilt immer noch als Ideal. Dinge wie Ganztagsschulen oder längere Öffnungszeiten für Kinderbetreuungseinrichtungen sind damit auch keine Option für Schwarz-Blau. Damit würde es nämlich mehr Möglichkeiten für Frauen geben, in Vollzeit zu arbeiten.

Bei der FPÖ spielt in der Familie zusätzlich die Nationalität eine wichtige Rolle. Plötzlich etablieren sich die „Retter des Abendlandes“ als einzige BeschützerInnen der weißen Frau vor der „muslimischen Invasion“. Den RassistInnen zufolge wären sexuelle und sexualisierte Übergriffe eigentlich immer das Werk von migrantischen Menschen, vor allem von Geflüchteten. Tatsache ist, dass die meisten Fälle sexueller Belästigung und Missbrauchs im eigenen Umfeld passieren, das heißt im Bekanntenkreis oder in der Familie.

Dennoch ist die Abschaffung von Frauenhäusern immer noch ein großer Punkt im Programm der FPÖ. Tatsächliche Hilfe für Frauen in Notlagen ist nicht vorgesehen, egal ob in Form von Schutz vor gewalttätigen Partnern oder durch finanzielle Unterstützung z.B. für Alleinerziehende. Auch die ÖVP hat ähnliche Forderungen, bei denen Frauen finanziell kaum Unterstützung bekommen.

Vor der Wahl, nach der Wahl

Man könnte jetzt argumentieren, dass das alles Schnee von gestern ist. Fehler werden gemacht und korrigiert. 2017 könne doch keine Partei mit solchen Forderungen in den Wahlkampf gehen und damit auch noch erfolgreich sein. Leider ist die Realität eine andere. Der Bezug, der auf Frauen genommen wird, setzt wirklich nicht dort an, wo in der Realität die Probleme liegen. Es gibt de facto kein Konzept der beiden rechten Parteien, aktiv gegen Diskriminierung und sexuelle Grenzüberschreitungen vorzugehen und sich auch nur für Gleichberechtigung einzusetzen. Im Wahlkampf mussten sie das auch gar nicht. Das Feindbild des muslimischen Flüchtlings und „rückschrittlicher Kulturen“ reicht vollkommen aus, um ganze Bücher über den Schutz „unserer Mädchen und Frauen“ zu füllen, wobei die ÖVP der FPÖ hier in fast nichts nachstand.

Der Kampf für eine fortschrittliche, inkludierende Frauenpolitik ist eine Sisyphusarbeit. Kaum hat man einen Teil Frauenrechte verbessert, werden andere Aspekte wieder den Berg hinuntergeworfen und man muss wieder von vorne anfangen. Wie weit uns Schwarz-Blau zurückwerfen wird, bleibt noch offen; klar ist aber eines: Die Regierung beweist, wie unmöglich es ist, in diesem System eine tatsächliche Befreiung der Frau zu erringen. Gleichberechtigung kann in diesem Wirtschaftssystem nicht oder nicht ausreichend durchgesetzt werden. Zu groß sind Profit und Vorteile daraus, Unterdrückte gegeneinander auszuspielen. Aber wir lassen uns nicht spalten!




Parlamentswahlen in Tschechien: Ein Siegeszug des Kapitals

Michal Deckard, Infomail 974, 24. November 2017

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Tschechien fielen für die ArbeiterInnenbewegung am schlechtesten in ihrer Geschichte aus, zumindest seit 1920. Mit 7,3 Prozent, einem Verlust von 13,1 Prozentpunkten, erlebt die ausgehende Regierungspartei, die Tschechische Sozialdemokratische Partei (ČSSD) das drittschlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte. Die Kommunistische Partei der Tschechischen Republik und Mährens (KSČM), Nachfolgerin der stalinistischen Partei, erzielte mit 7,8 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis. Ähnlich wie im Rest Europas bedeutet auch die tschechische Wahl einen weiteren Sieg fürs Kapital, erreicht durch Rassismus für den Klassenkampf von oben und eine historische Niederlage der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien.

Rechtsruck

Ahnlich wie viele andere sozialdemokratischen Parteien beteiligte sich die ČSSD an der Regierung und machte darin Politik gegen die Interessen der ArbeiterInnenklasse. Außerdem passte sie sich einer Welle des Rassismus in der Tschechischen Republik an. Ins Parlament zieht mit 10,6 Prozent auch eine neue bürgerliche reaktionäre Partei, die „Partei der Freiheit und direkter Demokratie“ (SPD) ein. Sie ist die Nachfolgerin der „Morgendämmerung“, geführt durch den gleichen Vorsitzenden, Tomio Okamura, die 2013 auf 6,9 Prozent kam. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Anstiegs von Rassismus als Reaktion auf die „Flüchtlingskrise“, die die vier Visegrád-Staaten (bis auf Ungarn) kaum betroffen hat, passten sich auch die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien diesem Rechtstrend an.

Während die KSČM bereit für offen reaktionäre Politik war und dafür mit der rechten SPD konkurrierte, versuchte die Sozialdemokratie, zwischen bürgerlich-liberalem Antirassismus und offenem Rassismus zu manövrieren, und war dadurch innerparteilich zerstritten. Der nur leichte Stimmenzuwachs der SPD im Vergleich zum Ergebnis der „Morgendämmerung“ zeigt, dass deren Abschneiden nicht den entscheidenden Grund für den Einbruch der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien darstellen kann.

Die verlorenen 20 Prozent gingen vor allem an zwei Parteien: an die bürgerlich populistische Partei ANO (Ja) 2011 des reichsten Kapitalisten Tschechiens, Andrej Babiš, die sich um 11 Prozentpunkte auf insgesamt 29,6 Prozent verbesserte, und an die Piratenpartei, die ein bürgerlich-liberales Programm vertritt, z. B. für Legalisierung von Cannabis, wie auch die Forderung nach mehr „direkter Demokratie“. Mit 10,8 Prozent ist sie die erfolgreichste neu eingezogene Partei.

Ein Milliardär gegen das System?

Dieses Ergebnis ist nicht auf eine verschlechterte ökonomische Situation zurückzuführen. Löhne, die Beschäftigungsrate und das BIP steigen. Es liegt vor allem an der Unfähigkeit der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien, mit einem weit verbreiteten populistischen und „antisystemischen“ Klima umzugehen. Babiš führte während der Regierung und der Wahl eine äußerst geschickte und effektive populistische Kampagne, in der er als Juniorpartner der Regierung zugleich ihre angebliche Korruption verurteilte – wobei er selbst seinen Reichtum während der Regierungsbeteiligung verdoppeln konnte. Außerdem verurteilte er die ganze Parteipolitik der beiden ehemals großen Parteien (ČSSD und ODS) als Mist der Vergangenheit.

Ein großer Teil der Attraktivität Babiš’ beruht auf seiner Rolle als erfolgreicher Unternehmer sowie Ideologie des „Bürgers als Aktionär“ im Staatsgeschäft, das wie ein Privatunternehmen geführt werden soll. Die Wahlen sind also ein Symbol des Bruchs mit dem „traditionellen“ Parteiensystem; 50 Prozent der Stimmen entfallen auf Parteien, die jünger als 10 Jahre sind. Die Gegner Babiš’ konnten dem nur den Diskurs der „demokratischen Kräfte“ entgegenhalten, wobei nicht einmal in der außerparlamentarischen Linken eine klare antikapitalistische und revolutionäre Kritik an der oligarchischen Politik zu finden war.

Trotz des guten Ergebnisses wird es für Babiš nicht einfach sein, eine Koalition zu bilden. Mit 78 Sitzen im Parlament bräuchte er noch mindestens 23 Sitze, wovon die einzige Partei, die so viel Sitze hätte, die bürgerliche ODS, abgelehnt hat, eine Regierung mit ihm zu bilden. Die anderen vier offen bürgerlichen Parteien, die Piraten, die christlich-soziale KDU-ČSL, die konservative TOP 09 und die regionalistische STAN haben ebenfalls eine Regierungsbildung mit Babiš abgelehnt. Diese ablehnende Haltung ist vor allem auf seine Berlusconi ähnelnden autoritären Züge, seine oligarchische Staatsführung und seine Herkunft aus der stalinistischen Bürokratie zurückzuführen. Nur die rechte SPD hat sich hinsichtlich einer Koalition nicht ablehnend geäußert.

Eine Regierungsbildung wird somit nur mit der Unterstützung der beiden bürgerlichen ArbeiterInnenparteien und/oder der SPD möglich sein. Die ersten Anzeichen nach dem Debakel deuten darauf hin, dass ČSSD und KSČM weiterhin den Kurs von Rassismus und Opportunismus einschlagen wollen und somit weiterhin die Interessen der ArbeiterInnenklasse verraten werden. Dies und die Stärke der offen bürgerlichen Kräfte ermöglichen zugleich einen entscheidenden Angriff auf ArbeiterInnenrechte und das Sozialsystem.

Für eine klare proletarische Opposition

Das Versagen liegt auch an der radikalen Linken, die von anarchistischen Kräften dominiert wird, die sich entweder aus opportunistischen Gründen auf eine liberale, moralistisch antirassistische und antinationalistische Kritik stützen und keine eigene Partei aufbauen wollen oder nicht klar antistalinistisch auftreten. Manche fokussieren ihre Kräfte sogar auf die Grüne Partei, die nicht einmal ein linksreformistisches Programm hat. Die Grünen haben zudem das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erlebt, obwohl sie nur zweimal im Parlament saßen, was vor allem auf ihre schlechte Wahlkampagne zurückzuführen ist.

In der Linken ist die Überzeugung vorherrschend, dass eine Anpassung an das reformistische und antikommunistische Bewusstsein notwendig und der ideologische Kampf nur mit Worthülsen wie „Solidarität“, moralischem Antirassismus und Antisexismus zu führen sei. Eine linksliberale Partei ist oft das angestrebte Ziel. Die Wahlen zeigen aber vielmehr, dass systemkritische und radikale Rhetorik bei den WählerInnen ankommt. Bei der von ANO und SPD hingegen, die von „Dieben“ in der Regierung sprechen, die den SteuerzahlerInnen Geld stehlen würden, was scheinbar auch die ArbeiterInnen anspricht, handelt es sich aber um eine Mischung aus rassistischen und sozial-chauvinistischen Forderungen.

Die Aufgabe der Linken in dieser Situation, wo bürgerliche Kräfte auf Rassismus und Populismus setzen, um ihre Profite zu steigern, ist es, die eigentlichen Feinde der ArbeiterInnenklasse aufzuzeigen und ihre ökonomischen und politischen Interessen als entgegengesetzt zu denen der Bourgeoisie zu formulieren. Auf diese Weise kann der Kampf für die unmittelbaren Interessen der ArbeiterInnenklasse mit einem Kampf für die Schaffung einer revolutionären Partei verbunden werden.




Kahlschlag bei Siemens: Kampf allen Entlassungen, Kampf allen Werksschließungen!

Gegenwehr!, Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 973, 22. November 2017

Bei Siemens droht der nächste soziale Kahlschlag. 6900 Beschäftigte sollen weltweit entlassen werden, ganze Werke in der Kraftwerks- und Antriebssparte sollen umstrukturiert und geschliffen werden.

Die Werke in Görlitz, Leipzig und Offenbach sollen plattgemacht werden – und mit ihnen rund 1600 Beschäftigte und ganze Regionen. In Berlin und Mülheim stehen über 700 Jobs auf der Kippe, andere Standorte sollen ebenfalls entweder hunderte ArbeiterInnen und Angestellte feuern oder – wie Erfurt – verkauft werden.

Dies ist ein neuer Höhepunkt der permanenten Umstrukturierungen, Verlagerungen und des Personalabbaus bei Siemens, die andere Seite von zunehmender Verdichtung und Flexibilisierung der Arbeit der Beschäftigten.

Rekordgewinn und der Kampf um die höchste Marge

Dabei fährt Siemens zugleich einen Rekordgewinn von 6,5 Milliarden Euro ein. Für das Management und die AktionärInnen Grund zum Feiern – und Grund, die nächsten Pläne zur Erhöhung der Rendite zu verkünden.

Die Beschäftigten, Betriebsräte, die IG Metall können ein Lied von den falschen Versprechungen, „Beschäftigungsgarantien“ und „Investitionszusagen“ geben. Pacta non sunt servanda – Verträge sind nicht einzuhalten – , so lautet offenkundig die Maxime der Siemens-ManagerInnen und -Vorstände.

Hier hilft freilich kein Klagen. Die Bosse des Konzerns haben nun einmal vor allem die Profitmaximierung im Auge. Was den kurzfristigen Verwertungsinteressen im Wege steht, wird abgestoßen oder gestrichen in einem immer härteren, globalen Wettbewerb. Ob die Produkte nützlich sind, ob Knowhow zerstört wird oder die Beschäftigten, ihre Familien und Angehörigen und ganze Regionen dabei auf der Strecke bleiben, ist egal.

Doch es wäre zu kurz gegriffen, die ganze Schuld nur den profitgierigen und an der Industrie, an Produkten und Menschen nicht interessierten Vorständen und ManagerInnen anzulasten. Im Kapitalismus ist die Suche nach dem Höchstprofit, nach immer größeren Renditen der Zweck der Produktion. Damit verfolgen Kaeser und Co. einen Kurs des sozialen Kahlschlags, daher wollen sie selbst nach einem Rekordjahr die Profite weiter nach oben treiben.

In dieser Situation sind IG Metall, Betriebsräte und Vertrauensleute gefordert. Appelle an die „soziale Verantwortung“ der Konzernchefs werden gegen den geplanten Kahlschlag nicht helfen. Auch Hoffung auf „die Politik“ wird die Arbeitsplätze und Werke nicht retten, bringt diese doch gerade eine neue Regierungskoalition auf den Weg, die Siemens und andere noch wettbewerbsfähiger, die Arbeit noch flexibler machen soll. Statt Appellen und routinemäßiger Verwaltung ist jetzt die Grundaufgabe der Gewerkschaft gefordert: Die Einheit innerhalb der Belegschaften und unter den verschiedenen Werken herzustellen! Nur so kann der Vorstand geschlagen werden! Wenn einzelne Beschäftigte, Beschäftigtengruppen und Standorte auf Einzellösungen hoffen, werden nachher alle verlieren.

Streik und Besetzung – die einzige Sprache, die sie verstehen!

Im Kampf gegen Schließungen und Personalabbau können wir – Beschäftigte bei Siemens, GewerkschafterInnen und Arbeitende in anderen Branchen – uns nur auf uns selbst verlassen.

Die Protestaktionen der letzten Tage haben gezeigt, dass die Kolleginnen und Kollegen der verschiedenen Standorte die Schließungen nicht kampflos hinnehmen wollen. In manchen Betrieben getrauen sich ManagerInnen und WerksleiterInnen nicht unter die Belegschaft, weil sie feige sind, aber auch Angst vor der Wut der Beschäftigten haben.

Diese Wut, dieser Zorn muss zu Widerstand werden. Dazu sollen in den Betrieben der gesamten Siemens AG, die von Schließungen und Kürzungen betroffen sind, wie auch in allen andern, Belegschaftsversammlungen einberufen werden, um über Aktionen zu beraten.

Die Demonstrationen und Kundgebungen sollten fortgesetzt werden. Aber Siemens muss vor allem dort getroffen werden, wo es Vorständen, ManagerInnen und AktionärInnen wirklich weh tut, dort wo der Profit geschaffen wird. Auf den Versammlungen muss auch die Frage von Arbeitsniederlegungen, von Streiks und Betriebsbesetzungen diskutiert und in Angriff genommen werden.

Die Forderungen sind dabei klar und einfach: Kampf gegen jeden Personalabbau, gegen jede Entlassung, gegen jede Schließung oder Outsourcing!

Dazu sollten Belegschaftsversammlungen, IG Metall, die Vertrauensleute und die Betriebsrätekonferenz einen Aktionsplan diskutieren und in den Betrieben beschließen, um die Konzernführung zu stoppen – durch einen unbefristeten, konzernweiten Streik! Dieser sollte nicht nur landesweit, sondern auch international koordiniert werden. Dazu sollen in den Betrieben Streikkomitees gewählt werden, die konzernweit, über die Standort- und Landesgrenzen hinaus verbunden werden.

Die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie und die Abwehrkämpfe gegen Entlassungen und Schließungen in anderen Betrieben (z. B. bei Ledvance, ehemals Osram und Teil von Siemens) sollten mit dem Kampf verknüpft werden.

Die drohende Vernichtung tausender Arbeitsplätze geht uns alle an. Die IG Metall, die DGB-Gewerkschaften und alle Parteien, die vorgeben, die Interessen der Lohnabhängigen zu vertreten, also SPD und Linkspartei, sollten den Kampf und die Aktionen unterstützen.

Um die Bevölkerung und KollegInnen anderer Betriebe einzubeziehen, sollten Solidaritätskomitees für den Abwehrkampf gebildet werden.




Kahlschlag bei Siemens: Eigentumsfrage stellen!

Gegenwehr!, Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 973, 22. November 2017

In der laufenden Tarifrunde stellt die IG Metall erstmals seit Jahren die Frage der Arbeitszeitverkürzung – zu Recht.

Wenn die Arbeit immer produktiver und immer intensiver, härter wird, so helfen nur eine deutliche Verkürzung der Arbeitszeit (bei vollem Personal- und Lohnausgleich), das Verbot von Überstunden und ständig prekärerer Arbeitszeitmodelle.

Doch die Jagd nach immer mehr Profit, immer rascheren „Umstrukturierungen“ nach Einschätzung wirklicher oder vermeintlicher Marktentwicklungen ist damit noch nicht beendet. Von einem kapitalistischen Management ist nicht zu erwarten, dass es den Gewinn gerecht oder „weitsichtig“ gemäß den Interessen von Beschäftigten oder gesellschaftlich nützlicher Produktion verwendet.

Daher müssen wir auch die Eigentumsfrage aufwerfen. Wenn die Vorstände und AktionärInnen ständig nur ihren Profit im Auge haben, wenn sie die Existenz Tausender zu vernichten drohen, an deren Ausbeutung sie erst reich geworden sind, so müssen wir die Profitmacherei selbst in Frage stellen. Dazu gibt es nur ein Mittel: die Enteignung von Siemens. Mit Ausnahme von Belegschaftsangehörigen und KleinaktionärInnen sollte kein/e KapitaleignerIn entschädigt werden.

Doch selbst in Staatshand ist natürlich nicht garantiert, dass ein solches Unternehmen nicht Kapitalinteressen bedient. Ein verstaatlichter Betrieb sollte daher unter Kontrolle der Beschäftigten, von gewählten VertreterInnen der Belegschaften fortgeführt, die Geschäftsbücher, Finanzen und Pläne des Unternehmens diesen gegenüber offengelegt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass niemand entlassen wird und etwaige Veränderungen der Produktion (oder die Entwicklung neuer Produkte) nicht zulasten der Beschäftigten gehen. Darüber hinaus könnte die Produktion so kontrolliert werden, dass sie an den Bedürfnissen der Bevölkerung und nachhaltigem, umweltverträglichem Wirtschaften ausgerichtet ist.

Natürlich würde die Enteignung von Siemens die Frage nach weiteren Enteignungen und einer nicht-kapitalistischen, demokratischen und planwirtschaftlichen Reorganisation der gesamten Wirtschaft aufwerfen. Die KapitalistInnen und die Regierung werden den Teufel von Kommunismus und Planwirtschaft an die Wand malen. Planen muss Siemens (wie jeder Großkonzern) auch schon heute. Aber es plant nur zum Zweck der Profitmaximierung auf unsere Kosten. Eine demokratische, sozialistische Planwirtschaft, die sich an den Bedürfnissen der Menschen und Erhaltung der Umwelt orientiert, wäre da allemal vernünftiger.

 




Abbruch der Jamaika-Verhandlungen – Politische Krise in Berlin

Susanne Kühn, Infomail 973, 20. November 2017

Gescheitert! Schwarz-Gelb-Grün wird vorerst keine Regierung bilden. Kurz vor Mitternacht verließ die FDP die Sondierungsgespräche – laut Union und Grünen just zu einem Zeitpunkt, als eine Einigung nahe schien.

Das mag durchaus der Fall sein. Die Begründung der FPD, dass ihr erst Sonntagnacht auffiel, dass das „Gesamtpapier“, das schon am Freitag vorlag, ihren Überzeugungen und „Prinzipien“ widerspreche, mag glauben, wer will. Die „Rekonstruktion“ und Rechtfertigung des Scheiterns der Verhandlungen überlassen wir an dieser Stelle getrost anderen. Es ist auch nicht notwendig, die Differenzen auf einzelnen Politikfeldern zu wiederholen, die über die Wochen immer wieder v. a. zum Migration, Klima, aber auch zu Finanzen und Zukunft der EU hervortraten.

Bemerkenswert ist vielmehr, dass Union und Grüne anscheinend vor einer Einigung standen, als die FDP für alle überraschend die Verhandlungen platzen ließ. Die Grünen warfen ihr vor, eine gemeinsame Regierung ohnedies nicht gewollt zu haben. CDU-Vertreterin Klöckner sprach von einer schlechten „spontanen Inszenierung“. In selten trauter Einigkeit lobten Seehofer und die Grünen Angela Merkel. Ob nun die FDP die Hauptverantwortung für das Platzen der Jamaika-Koalition trägt oder ihr „nur“ ebendies in die Schuhe geschoben werden soll, ist letztlich zweitrangig. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sie scheiterte, obwohl die Grünen der CSU anscheinend noch weitere Zugeständnisse gemacht haben. Ob die FDP nun aus rein taktischem Eigeninteresse motiviert die Koalition platzen ließ und plötzlich ihre Werte, freien Markt kombiniert mit Nationalismus, „entdeckte“ – hinter diesen Formeln offenbart sich auch eine tiefe politische Krise im gesamten bürgerlichen Lager.

Unwahrscheinlich war das Scheitern der Gespräche nicht, dessen konkrete Form aber schon. Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dass Jamaika an „zu wenig Vertrauen“, am Mangel an „staatspolitischer Verantwortung“, an „mangelnder Kompromissfähigkeit“, an der „angeschlagenen Autorität“ Merkels, am Machtkampf in der CSU, am „Unwillen“ der FDP gescheitert sei. Diese Faktoren spielten natürlich eine Rolle. Es scheinen nebensächliche, triviale Faktoren zu sein, die maßgeblich das Scheitern herbeiführten. So sehr die handelnden Personen auch Banalität, Egomanie, unterschiedliche „Kultur“ verkörpern, so erklärt das aber letztlich nichts.

Widersprüche

Vielmehr gilt es, die tieferen Ursachen, die inneren Widersprüche des deutschen Kapitalismus zu verstehen, die in einem immer einigermaßen wahrscheinlich gebliebenen, in der Form jedoch überraschenden, ja zufälligen Ende der Sondierung hervorgetreten sind. Dies ist umso wichtiger, als die AkteurInnen selbst jede Menge Nebelkerzen über ihr eigenes Handeln, ihre Motive, den Stand der Verhandlungen in die Welt setzen – und selbst wesentlich an oberflächlichen Fragen hängenbleiben.

Hinter dem Zusammenbruch der Sondierungsgespräche steht eine tiefe strategische Krise der herrschenden Klasse. Unter den Regierungen Merkels vermochte der deutsche Imperialismus zwar Ländern wie Griechenland seine Austeritätspolitik aufzuzwingen, seine Krise auf Kosten der anderen Länder der EU abzufangen, die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt zu halten, wenn nicht zu stärken. Aber er konnte die EU nicht als Block unter seiner Führung oder einer deutsch-französischen Achse weiter einen. Im Gegenteil, in der internationalen Konkurrenz und im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt sind die EU und Deutschland als geo-strategische Akteure gegenüber den USA und China, ja auch Russland zurückgefallen. Der Hauptgegensatz zwischen den imperialistischen Großmächten ist mittlerweile der zwischen den USA und China, während die EU in ihrem aktuellen Zustand weiter zurückbleibt.

Brexit, die sog. „Flüchtlingsfrage“, die zunehmenden nationalistischen Gegensätze, die ungelösten Konflikte über die Finanzpolitik, die militärische wie politische Schwäche gegenüber den globalen Konkurrenten, die inneren Widersprüche der EU-Institutionen – all das bedeutet, dass der deutsche Imperialismus in einer widersprüchlichen Situation steckt. In den letzten Jahren wurde zwar offenbar, dass es einer neuen, klaren europapolitischen Strategie zu einer Vereinheitlichung der EU unter deutscher Führung (z. B. in Form eines Kerneuropa) bedarf, um zu verhindern, dass die EU weiter hinterhertrabt oder Euro und Staatenbund überhaupt auseinanderfliegen.

Aber der „geschäftsführende Ausschuss“ der herrschenden Klasse und die deutschen Think-Tanks haben keine einheitliche Antwort auf die Frage, ja sie wird in der Regel nicht einmal offen diskutiert. Das „System Merkel“, das die deutsche Vormachtstellung „moderierend“ in Europa einführen wollte, das sich vor allem auf das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und auf die Dominanz von EU-Institutionen verließ, ist praktisch gescheitert. Das ist die eigentliche Ursache seines „Autoritätsverlustes“. Das hat zugleich reaktionäre Antworten gestärkt – insbesondere in Form der AfD, aber auch im gesamten bürgerlichen Lager.

 

Dieses fundamentale Problem, das alle anderen „großen Themen“ und „Zukunftsfragen“ wie Klimaschutz, Flüchtlingspolitik, Digitalisierung überschattet, erscheint in der deutschen „offiziellen“ Politik als mehr oder minder über den Parteien stehend. Nur Linkspartei und AfD beziehen hier offen und zumindest partiell Gegenpositionen aus reformistischer oder rechter Sicht. Ansonsten erschien das EU-Thema in den Koalitionsverhandlungen allenfalls als „Zahlungsfrage“ – die strategische Zielsetzung wurde öffentlich nicht angesprochen.

Die Regierungen unter Merkel haben – gerade weil sie auch Erfolge des deutschen Kapitals verwalteten und die Exportindustrie befeuerten – die strategischen Probleme zunehmend vor sich hergeschoben oder sind an den inneren Gegensätzen der EU, ihren Widersprüchen an Grenzen gestoßen.

Fragmentierung des Parteiensystems

Auch wenn die EU-Frage nach außen hin relativ wenig Erwähnung fand, so machte sie sich nichtsdestotrotz bei den Verhandlungen geltend. Alle „PartnerInnen“ fürchteten, dass ein „Weitermachen“ unter Merkel IV mit denselben politischen Zielen und Methoden nicht nur kein Problem lösen, sondern sie selbst auch politisch schwächen würde. Zudem sitzt der CSU die AfD im Nacken und die FDP fürchtet, in einer neuen Regierung wieder über den Tisch gezogen zu werden. Die Grünen erwiesen sich als die „Beweglichsten“ – nicht nur wegen ihres Opportunismus und Rechtsrucks, sondern auch weil sie politisch-inhaltlich Merkel und dem Teil der CDU, der hinter ihr steht, tatsächlich näher als CSU und FDP stehen.

Die Verhandlungen fanden zudem vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Polarisierung im Inneren statt, die die Bindekraft von CDU/CSU und SPD bei ihren „traditionellen“ Milieus schwächte. Da die SPD ohnedies die Politik der herrschenden Klasse administrierte und die Linkspartei zu keiner kämpferischen, sichtbaren Oppositionspolitik fähig war, verschob sich das politische Spektrum nach rechts. Nicht nur die SPD verlor Millionen Lohnabhängige. Die Krise der CDU/CSU führte dazu, dass sie ihre Funktion als vereinheitlichende bürgerliche „Volkspartei“ nicht mehr erfüllen kann. Das offen bürgerliche Spektrum ist heute de facto auf fünf Parteien (AfD, CDU, CSU, Grüne, FDP) im Parlament zersplittert, was objektiv die Bildung von Regierungen erschwert.

Das Scheitern der Sondierungsgespräche bedeutet eine tiefe politische Krise nicht nur in Deutschland. Auch als EU-Führungsmacht wird die Bundesrepublik wenig bis gar nicht in Erscheinung treten können. Natürlich werden „Reformen“ und Gesetze auf den Weg gebracht. Natürlich dominiert Deutschland weiter. Aber die grundlegenden Fragen liegen auf Eis – und damit wird sie weiter gegenüber USA und China an Boden verlieren.

Das Scheitern der Sondierung bringt alle diese Probleme in Form einer Regierungskrise auf den Tisch. Katerstimmung und Ratlosigkeit herrschen vor. Alle möglichen Kombinationen werden aufgezählt – von einer Minderheitsregierung über das Weichkochen der SPD bis hin zu Neuwahlen.

In dieser Situation wird, gewissermaßen als Nebenprodukt, unwillkürlich die Rolle des Bundespräsidenten gestärkt, der lange Zeit als eine bloß „moralische“ Instanz, als eine Art Grüßdirektor des deutschen Imperialismus erschien. Auch wenn von Steinmeier keine politischen Abenteuer zu erwarten sind, so wird seine Präsidentschaft wohl damit einhergehen, dass sich die Rolle des Amtes, ihre Bedeutung für die Regierungsbildung verändert. Ein „aktiver“ Präsident wird gestärkt, mag er sich vorerst auch nur auf moralische Appelle beschränken, die Parteien an ihre „Verantwortung für das Land“ zu erinnern. Damit werden autoritäre Tendenzen und Institutionen hoffähig gemacht, die zum Einsatz kommen können, falls auf parlamentarischem Wege oder durch das Handeln der Parteien die Probleme der Regierungsbildung nicht gelöst werden können.

In den nächsten Monaten müssen wir uns auf eine Fortsetzung der Regierungskrise einstellen. Wahrscheinlich wird die Große Koalition noch bis weit ins Jahr 2018 „übergangsweise“ im Amt bleiben. Das könnte selbst bei Neuwahlen zutreffen, da diese wahrscheinlich zu einem ähnlichen Ergebnis – und damit zu erneuten Schwierigkeiten bei der Koalitionsbildung – führen würden. Auch wenn sich die Kräfte deutlich verschieben, so erleichtert das keinesfalls notwendig die Regierungsbildung.

Hinzu kommt, dass es in mehreren politischen Parteien zu größeren personellen Änderungen und Machtkämpfen kommen kann. So erscheint eine Verschärfung der inneren Krise der CSU unvermeidlich. Auch die Grünen werden ihr Führungsduo in Frage stellen. Ebenfalls kann bei Neuwahlen eine Ablösung Angela Merkels zum Thema werden. Schon heute hält sich sich vor allem, weil ein sofortiger Rücktritt Deutschland weiter schwächen würde und die CDU über keine/n unumstrittene/n NachfolgekandidatIn verfügt. Es ist aber klar, dass Merkel von der ewigen Kanzlerin zum Auslaufmodell mutiert ist.

Eine Neuauflage der Großen Koalition – unwahrscheinlich, wenn auch nicht ganz auszuschließen – käme nicht nur einem politischen Selbstmord der SPD gleich. Es ist auch fraglich, ob sie ohne tiefe Krise der Sozialdemokratie überhaupt zu haben wäre – und somit ebenfalls eine instabile Regierung bedeuten würde.

Schließlich bleibt eine Minderheitsregierung, die jedoch nur Bestand haben könnte, wenn sie nicht nur von CDU/CSU (eventuell einschließlich der Grünen) getragen würde, sondern vermittelt über den Präsidenten, Bundestag und Bundesrat auch eine indirekte Stütze in der SPD z. B. bei Europafragen hätte.

Wie man es auch dreht und wendet, für die herrschende Klasse wird die Krise nur schwer lösbar sein. Für die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften, die Unterdrückten eröffnet das auch eine Chance. Damit diese genutzt werden kann und nicht zu einer Stärkung der AfD führt, bedarf es aber einer politischen Neuausrichtung der ArbeiterInnenbewegung selbst, eines Bruchs mit der Politik von Klassenzusammenarbeit und Sozialpartnerschaft sowie der Bildung einer Aktionseinheit gegen die Angriffe des Kapitals, die Maßnahmen der „geschäftsführenden“ Regierung und gegen den Rechtsruck.




Kundgebung von 1300 Siemens-Beschäftigten in Berlin: Kampf gegen alle Entlassungen nötig!

Martin Suchanek, Infomail 972, 18. November 2017

Es geht um alles für 6900 Beschäftige bei Siemens. Zum Auftakt des Protestes versammelten sich am 17. November über 1000 ArbeiterInnen und Angestellte vor der Berliner Siemens-Zentrale zu einer Kundgebung der IG Metall.

Von den Kürzungsplänen sind auch Berliner Werke, allen voran das Dynamowerk besonders betroffen. Hier soll die Produktion geschleift werden, 570 Arbeitsplätze sollen wegfallen.

Wie die Kundgebung deutlich zeigte, stehen die Siemens-Beschäftigten keineswegs allein da. In Berlin und bundesweit droht die Vernichtung tausender Industriearbeitsplätze, wie VertreterInnen von Ledvance (ehemals Osram) zu berichten wussten. Deren Berliner Werk soll geschlossen werden. 700 Menschen droht die Arbeitslosigkeit.

Bei der 90-minütigen Kundgebung griffen die VertreterInnen der IG Metall wie z. B. der erste Bevollmächtigte Klaus Abel, Betriebsräte und Vertrauensleute das Management und vor allem den Konzernvorstand um Joe Kaeser scharf an.

Diese würden das Unternehmen ruinieren, Berlin, die umliegende Region und ganz Deutschland industriell kaputtmachen und ihrer „sozialen Verantwortung“ nicht nachkommen. Die Beschäftigten sind über die Führung der ehemaligen „Siemens-Familie“, deren Bande untereinander längst zerschnitten sind, zu Recht empört.

Provokation

Zweifellos: Der drohende Kahlschlag ist eine Provokation. Die Beschäftigten sollen Managementfehler und Veränderungen des Marktes ausbaden. Gerüchte gab es natürlich schon lange, schließlich ist es nicht die erste „Umstrukturierung“, Verlagerung oder Schließung, die droht.

Erfahren haben die Beschäftigten vom geplanten Personalabbau jedoch erst über die Pressekonferenz des Konzernchefs Kaeser. In 2 Jahren sollen die Maßnahmen über die Bühne gegangen sein.

Auf derselben Pressekonferenz verkündete Kaeser auch einen Rekordgewinn von 6,5 Milliarden Euro für das letzte Geschäftsjahr. Die AktionärInnen und KapitaleignerInnen freut es. Der Run um noch mehr Profit und höhere Renditen geht weiter.

Im Turbinengeschäft, so die Siemens-Spitze, haben sich zur Zeit riesige Überkapazitäten aufgebaut. Angeblich könnten Siemens, General Electric und andere ein Vielfaches der Nachfrage bedienen.

Daher will sie, der es eben nicht um „Verantwortung“ und „Zukunftssicherung“, sondern ausschließlich um Profit geht, die Sparte loswerden – industriellen Kahlschlag inbegriffen. Ob das Knowhow der Beschäftigten, deren Zukunft dabei verloren geht, interessiert in der Marktwirtschaft, die auf Profitmaximierung ausgerichtet ist, interessiert die KapitaleignerInnen nicht.

Für die Beschäftigten ist das existenzbedrohend, für die Gesellschaft darüber hinaus auch eine gigantische Verschwendung. Selbst wenn die aktuellen Produkte umgestellt werden müssten, so könnten ArbeiterInnen und IngenieurInnen zweifellos sehr Nützliches z. B. zu einer ökologischen Umrüstung im Energiesektor beitragen.

Darum geht es aber im Kapitalismus schlichtweg nicht. Die Befriedigung von Bedürfnissen ist hier nur ein Mittel zum eigentlichen Zweck – der Jagd nach immer mehr Profit.

Hoffen auf Sozialpartnerschaft und soziale Marktwirtschaft?

Hier liegt der Pferdefuß der Kritik, die von Gewerkschaft, Betriebsräten wie auch den anwesenden PolitikerInnen von SPD, Union und Linkspartei unisono vertreten wurde. Die „Finanz“ hätte die Kontrolle über die Industrie übernommen, daher würde ohne langfristigen Sinn und Verstand gekürzt und rationalisiert. Die Vorschläge von Gewerkschaft und Beschäftigten, Konkurrenzfähigkeit und Arbeitsplätze gleichzeitig zu sichern, würden ignoriert. Der Siemensvorstand wurde pathetisch zu einer Rückkehr zur „Sozialpartnerschaft“ aufgefordert.

Kai Wegner von der CDU tat so, als würden die KoalitionärInnen von Union, Grünen und FDP zur Zeit nicht darum schachern, wie der Standort Deutschland, also die großen Monopole, noch wettbewerbsfähiger werden könnten, wie sie also noch besser aus Kapital mehr Gewinn schöpfen können. Jens Schulze von der SPD drohte Siemens gar, indem er eine Streichung von Subventionen und anderen Fördermaßnahmen in Aussicht stellte – als ob der Berliner Senat nicht wie andere Landesregierungen gerade versucht, den Standort für Investoren besonders attraktiv zu gestalten. Katina Schubert (Linkspartei) forderte schließlich eine Abkehr vom „Turbo-Kapitalismus“ und eine Rückkehr zur „sozialen Marktwirtschaft“.

Diese Hoffung ist zweifellos weit verbreitet – illusorisch bleibt sie jedoch allemal, wie auch die Erfahrung verdeutlicht. Die „Verantwortung“ für den Standort, die Menschen, die Zukunft und alles Mögliche wurde bei so ziemlich allen Protesten, Aktionen, ja selbst Arbeitsniederlegungen der letzten Jahre angemahnt. Geholfen hat es etwa so viel wie das Amen in der Kirche.

Die Beschwörung der „sozialpartnerschaftlichen“ Vergangenheit verklärt nicht nur die alles andere als soziale Geschichte des Siemens-Konzerns. Sie hilft erst recht niemandem, der Entlassungen und Schließungen verhindern will.

Natürlich wird niemand ablehnen, dass sich PolitikerInnen von SPD, Linkspartei oder auch der Union gegen die Pläne des Siemens-Vorstandes wenden. Verlassen sollte sich auf deren warmen Worte allerdings niemand. Das Hoffen auf Union und Merkel, auf Bundesregierung und Senat wird die Betriebe nicht retten. Erst recht nicht die illusorische Hoffnung auf produzierende UnternehmerInnen, die sich dem Finanzkapital entgegenstellen würden – als ob der Zweck der Produktion im Industriebetrieb nicht auch die Profitmaximierung wäre. Von den Parteien, die sich auf die organisierte ArbeiterInnenbewegung stützen, als Linkspartei und SPD, die trotz aller gebrochenen Versprechen und ständigen Paktierens mit dem Kapital immer noch das Vertrauen der Masse der organisierten KollegInnen genießen, müssen diese fordern, für den Kampf gegen Betriebsschließungen und Entlassungen zu mobilisieren. Auf ihre Führung verlassen, dürfen sie sich jedoch ebenso wenig wie auf die der Gewerkschaftsbürokratie.

Worauf bauen?

Es gibt aber auch einen Grund zur wirklichen Zuversicht. Die über 1000 Beschäftigten von Siemens und anderen Betrieben wissen, dass es ums Eingemachte geht. Die Stimmung, die Gesichter, der Applaus bei den Reden drückten alle eine Mischung aus Besorgnis, Wut und Kampfbereitschaft aus. Selten haben die TeilnehmerInnen einer solchen Kundgebung 90 Minuten so aufmerksam zugehört. Der Werksleiter kann sich im Betrieb momentan nur mit Begleitschutz durch Security-SöldnerInnen blicken lassen.

Viele werden sich wohl an den nächsten Aktionen in Berlin beteiligen, so am Montag, dem 20.11., um 12.00 Uhr vor dem Gasturbinenwerk in der Huttenstraße, so am Donnerstag, dem 23.11., um 12.00 Uhr vor dem Hotel Estrel in Berlin-Neukölln, wo eine bundesweite Betriebsrätekonferenz der IG Metall über den weiteren Widerstand beraten wird. Die IG Metall ruft dort zu einer Solidaritätskundgebung auf. Wie Medienberichte zeigen, rumort es nicht nur in Berlin, sondern auch an den anderen Siemens-Standorten,

Die Schlacht ist also noch keinesfalls entschieden. Noch kann der Personabbau, noch können Schließungen und Kahlschlag verhindert werden.

Dazu braucht es aber mehr als Appelle an „die Politik“. Es braucht zweifellos weitere Aktionen, Demonstrationen, Kundgebungen, die in den nächsten Wochen stattfinden werden.

Bei den Reden hat die IG Metall das Ziel der nächsten Wochen deutlich formuliert: Keine Schließungen, keine Verlagerungen, keine Kündigung, kein Arbeitsplatzabbau!

Um diese Ziele zu erreichen und die Konzern-Spitze in die Knie zu zwingen, braucht es aber jene Aktionsformen, die auf der Kundgebung nicht angesprochen wurden: Streiks und Besetzungen!

Diese Fragen müssen jetzt bei den Belegschaftsversammlungen, bei Aktionen, auf der Betriebsrätekonferenz aufgeworfen werden. Die IG Metall sollte zu einem konzernweiten, unbefristeten Streik aufrufen. Betriebe, die vor der Schließung oder Massenentlassungen stehen, sollten besetzt werden. Dazu sollten auf den Belegschaftsversammlungen Streik- und Aktionskomitees gewählt werden. Diese sollten bundesweit und international koordiniert werden. Ziel sollte die entschädigungslose Verstaatlichung des Gesamtkonzerns und sein Weiterbetrieb unter ArbeiterInnenkontrolle sein.

Die drohende Entlassungs- und Schließungswelle bei Siemens und in anderen Unternehmen hat jedoch auch eine weiter über die Gewerkschaft hinausgehende Bedeutung. Daher sollten auch die DGB-Gewerkschaften, Vertrauensleute, die Gewerkschaftslinke und alle linken Organisationen den Abwehrkampf unterstützen und Solidaritätskomitees mit den kämpfenden ArbeiterInnen in Zusammenarbeit mit IG-Metall, Betriebsräten und Vertrauensleuten aufbauen.

Die Tarifrunde der IG Metall muss genutzt werden, um sie mit dem Kampf gegen Entlassungen bei Siemens zu verknüpfen. Alle IG Metall-KollegInnen müssen nicht nur für die Tarifforderungen streiken, sondern Solidarität zeigen: durch Arbeitsniederlegungen und Unterstützungskomitees und –aktionen (gemeinsame Streikposten und Besetzungen) für die berechtigten Forderungen der SiemensianerInnen.




Dilma Rousseff an der FU Berlin: Reformistische Traumwelten

Martin Suchanek, Infomail 971, 15. November 2017

Der Hörsaal war überfüllt, 400 ZuhörerInnen wollten die weggeputschte Präsidentin Brasiliens sehen und hören. Mit Standing Ovations wurde Dilma Rousseff im Hörsaal A des Henry-Ford-Baus empfangen. Die Mehrzahl des Publikums bildeten studierende, lehrende und andere AnhängerInnen der Präsidentin, darunter ein guter Teil von in Berlin lebenden BrasilianerInnen. Darüber hinaus waren viele SPD-Mitglieder anwesend, hatte doch die Friedrich-Ebert-Stiftung die Reise organisiert und trat die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin als Co-Referentin auf.

Eingeladen hatten neben der SPD-Stiftung die FU Berlin und das Forschungszentrum Brasilien. Der akademische Background sorgte wohl auch für den sperrigen Titel „Von der Verrechtlichung der Politik zur Politisierung der Justiz?“, was jedoch das Publikum nicht abschreckte. Schließlich waren die Menschen nicht wegen „akademischer“ Untersuchungen dieses „Spannungsfelds“ gekommen, sondern um sich mit den Ursachen und Folgen des reaktionären Putsches und den politischen Perspektiven auseinanderzusetzen.

VorrednerInnen

Die einladende Professorin Barbara Fritz gab zwar noch vor, dass sich die Referate und Diskussion weniger auf Politik, sondern mehr auf das Spannungsfeld zwischen Justiz und Politik beziehen sollten – zum Glück hielt sich Dilma Rousseff nicht daran.

Einzig Däubler-Gmelin – ihres Zeichens auch Gastprofessorin an der FU – langweilte das Publikum mit einer Co-Rede zum Thema, wie man Korruption bekämpfen könne. Dabei bemühte sie alle möglichen Allerweltsweisheiten und führt lange aus, dass es – welch Wunder! – überall Bestechlichkeit gebe. In einigen Ländern eben mehr, in anderen weniger, um schließlich Deutschland ein vergleichsweise gutes, Brasilien ein sehr viel schlechteres Zeugnis auszustellen. Immerhin bezeichnete sie die Korruptionsvorwürfe gegen Dilma und Lula als manipulierte Vorwände für einen anderen politischen Zweck.

Die Korruptionsvorwürfe hat sie jedoch nicht als das entlarvt, was sie sind: ein Mittel im Klassenkampf, um eine Regierung, die ihre Schuldigkeit getan hat, loszuwerden, um das Land geo-strategisch neu auszurichten und die bestehenden Rechte der Lohnabhängigen und Armen zu schleifen. Und ganz fern lag ihr die Schlussfolgerung, dass „Missbrauch“ und „Anmaßung“ der Justiz nicht durch die Suche nach ständigen neuen rechtsstaatlichen Reformen, sondern nur durch den Kampf auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden können.

Diese Schlussfolgerung fürchtete die Sozialdemokratin offenkundig wie der Teufel das Weihwasser. In ihrem Vortrag suchte sie vielmehr nach der fünften Dimension der Rechtsstaatlichkeit, nach einer über den Klassen stehenden Justiz, die nicht nur die Korruption und Verbrechen bekämpft, sondern auch „die“ Demokratie gegen alle Krisen, Kämpfe, Unsicherheit sichert.

Auch wenn Däubler-Gmelin eine wenig politische Rede hielt, so gab sie insofern den Ton für den Abend vor, als sie deutlich machte, worin die RednerInnen und VeranstalterInnen die Lösung für die Probleme Brasilien sehen – in einer „echten“ Reform der bestehenden Institutionen, im „Rechtsstaat“.

Noch vor der Ex-Ministerin hielt Michael Sommer, ehemaliger DGB-Vorsitzender und nun stellvertretender Leiter der Ebert-Stiftung, ein Grußwort. In diesem brachte er die Sache immerhin so weit auf den Punkt, als er von einem „politischen Putsch“ gegen Dilma sprach. Die Reaktion habe zurückgeschlagen, weil die PT in den Augen von Michael Sommer fast schon ein sozialdemokratisches Musterland errichtet hatte. Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Erfolg gehören eben für den Sozialpartner Sommer zusammen – dumm nur, dass das die brasilianische Bourgeoisie nicht so sieht.

Rousseff über Putsch und Politik

In ihrer Rede begann Rousseff damit, dass sie auf die Neuartigkeit des Putschs von 2016 verwies. Dieser war kein Militärputsch, der unmittelbar mit Massenverhaftungen, Folter, Ausnahmezustand und der Errichtung einer offenen Diktatur einherging. Es handelte sich vielmehr um einen „parlamentarisch-justiziellen“ Putsch. Es ging darum, eine vom Volk gewählte und legitimierte Regierung mittels formaljuristisch legitimierter Verfahren und an den Haaren herbeigezogener Vorwürfe zu stürzen.

Der Putsch richtete sich nicht nur gegen die Präsidentin, die Regierung und die „ Partido dos Trabalhadores“ (PT = Partei der ArbeiterInnen). Ihr Sturz war gewissermaßen nur der Auftakt.

Unter tosendem Applaus erklärte sie, dass das eigentliche Ziel des Staatsstreichs neuer Art die Gesellschaft, genauer die ArbeiterInnenklasse, die Armut, die Landbevölkerung, die rassistisch Unterdrückten, die Frauen gewesen sind und weiterhin bleiben.

Innerhalb weniger Monate hat die Putschistenregierung um Temer, den ehemaligen Koalitionspartner der PT, das Arbeitsrecht dereguliert, die Privatisierungen vorangetrieben, die Ausgaben für den Öffentlichen Dienst massiv gekürzt und Personal abgebaut. Ebenso wurden zahlreiche Beschränkungen für die Abholzung des Amazonas-Regenwalds und Investitionen internationalen Kapitals aufgehoben. Zugleich habe sich die wirtschaftliche Krise des Landes verschärft. Die Putschisten würden nicht nur die Armen entrechten und ausbluten, sie würden auch das Land ruinieren, so Dilma, indem sie die Bildungsinstitutionen und die Grundversorgung der Massen angreifen, indem sie Millionen in die Armut stürzen.

Die PT-geführten Regierungen unter Lula (2003-2011) und Dilma (2011-2016) hätten einen anderen Kurs verfolgt. Sie hätten ein alternatives Modell zum Neo-Liberalismus umzusetzen versucht, die Privatisierungen wichtiger Banken und Unternehmen verhindert und mit dem Bolsa Familia ein Programm zur Verbesserung der Lage von Millionen Verarmter auf den Weg gebracht. Damit und mit dem Mindestlohn hätten sie zugunsten der ArbeiterInnenklasse umverteilt.

Außerdem hätte Brasilien ein anderes Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten und den USA etabliert. Den USA hätte man sich nicht mehr bedingungslos unterworfen, den Ländern Lateinamerikas freundschaftlich zugewandt.

Immer wieder verglich Dilma die Regierungen vor Lula und unter den Putschisten mit 13-Jahren PT-geführter Politik – und diese schneidet regelmäßig gut ab und wird geschönt, als hätte die Regierung immer nur zum Wohl aller gehandelt.

Fortgesetzte Repression, die Zustände auf dem Land, die Räumung von städtischen Wohnvierteln der Armen z. B. im Zuge der Großprojekte WM und Olympia verschwieg sie. Dass Export und wichtige Kapitalgruppen gestärkt wurden, war ihr keine Erwähnung wert. Dabei agieren Konzerne wie Petrobras (Petróleo Brasileiro S. A.) oder Odebrecht gegenüber anderen Ländern genauso aggressiv wie US-amerikanisches, deutsches oder chinesisches Kapital. Von der Stationierung brasilianischer Truppen in Haiti war „selbstverständlich“ auch keine Rede.

Wenn sie über die Außenpolitik sprach, verklärte Dilma die Expansionsinteressen des brasilianischen Kapitals und die geo-strategischen hegemonialen Interessen des Landes in Lateinamerika zur Sorge um einen „netten Umgang“ mit allen. Ganz so „nett“ empfanden jedoch die bolivianische Regierung und Bevölkerung die Ausbeutung der dortigen Ölvorkommen durch den halb-staatlichen brasilianischen Konzern Petrobras nicht, so dass dessen Handlungsfreiheit 2009 per Gesetz etwas eingeschränkt wurde.

Dass am Land nach wie vor die Großgrundbesitzer herrschen, gestand Dilma zwar zu. Die PT hätte eben noch nicht „alles“ erledigen können.

Auch die Bolsa Familia, ein Grundprogramm für die Armen, ist keineswegs nur ein Rechtsanspruch. Lassen wir einmal beiseite, dass sie zu gering ausfällt, so verwies Dilma auch darauf, dass Teile der Familienförderung auch an Leistungen der Armen (Schulbesuch der Kinder von 86 %) gebunden sind, also eine brasilianische Variante des Schröder’schen „Förderns und Forderns“ darstellen.

Reform und Kapital

Zweifellos haben diese Reformen – so ungenügend sie vom Standpunkt der Lohnabhängigen und sozialistischer Politik aus auch sind – zu einer Verbesserung der Lage von Millionen beigetragen. Sie konnten aus zwei Gründen umgesetzt werden. Erstens weil sich die PT noch immer auf eine Massenbasis in den Gewerkschaften und bei Bewegungen stützen konnte. Zweitens weil diese begrenzte Umverteilung mit den Expansionsbedürfnissen und Profitinteressen des brasilianischen Kapitals und ausländischer Investoren vereinbar war. Unter Lula erlebte das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung. Trotz des von den imperialistischen Zentren abhängigen Charakters des brasilianischen Kapitalismus vermochte es sich, ähnlich wie andere Regionalmächte, stärker eigenständig zu positionieren.

Bis zu einem gewissen Grad erforderte die Expansion des Kapitals sogar eine Politik zur Stärkung der Kaufkraft, die Sicherung von Mindestlöhnen und die Erhöhung des Bildungsniveaus der ArbeiterInnenklasse. Diese mussten – auch das ist in der Geschichte des Kapitalismus nichts Neues – einzelnen UnternehmerInnen durch den Staat und gesellschaftlichen Druck aufgezwungen werden, selbst wenn sie im Interesse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals lagen oder jedenfalls damit vereinbar waren.

Dass die Politik der PT – auch in ihrer Selbsteinschätzung – durchaus kapitalverträglich war, stellte auch Dilma nicht in Abrede. Sie warf den Putschisten vielmehr vor, das Land – und darunter versteht sie auch die brasilianische Industrie – zu ruinieren, wenn sie die Kaufkraft und das Bildungssystem auf die Elite und traditionellen Mittelschichten (lt. Dilma rund 35 Millionen Menschen) beschränken wollen. Damit würde der Binnenmarkt schrumpfen, die für Industrie, Dienstleistungen und die Herausforderungen der Digitalisierung nötigen, qualifizierten Arbeitskräfte könnten nicht herangebildet werden, rechnete die gestürzte Präsidentin den Putschisten vor. Fazit: Unter der PT war eigentlich auch das brasilianische Kapital besser dran.

Dumm nur, dass auch beim „brasilianischen Modell“ die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Führung der PT oder ihre politischen Zwillinge vom Schlage eines Michael Sommer mögen gerade darin ein besonderes Verdienst sehen, Sozialpolitik mit dem Kapitalinteresse in Einklang zu bringen. Das ändert aber nichts daran, dass diese „Partnerschaft“ immer nur für bestimmte Schichten und begrenzte Zeit möglich ist und nur, wenn sie die grundlegenden Interessen des Kapitals nicht berührt.

Indes sind Bourgeoisie und Großgrundbesitz nicht nur in Brasilien undankbare Klassen. Der Lakai hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen.

Traditionelle Eliten und Apparat

An eine längerfristige Umstellung des „Modells“ der Herrschaftsausübung, an die Aufgabe ihres Machtmonopols haben die alten Eliten im Land, ihre US-imperialistischen Verbündeten und die mit ihnen verbundenen, traditionellen, weißen und reaktionären Mittelschichten nie gedacht. Hinzu kommt, dass in einer Periode der tieferen Krise, niedergehender Profitraten die Gewinne des Kapitals zu ihrer Sicherung einer Umverteilung von unten nach oben bedürfen. Bestehende Schranken der Ausbeutung müssen beseitigt, nicht mehr oder minder sozial verträglich gestaltet werden.

Und hier zeigt sich eine grundlegende Grenze der „Reformpolitik“ der PT-geführten Regierungen. Das Eigentumsmonopol und den Machtapparat der herrschenden Klasse hat sie nie angriffen, ja nicht einmal angerührt.

Die Reformprogramme der PT-Regierungen wie Bolsa Familia und Fome Zero (Kein Hunger) wurden zu einem großen Teil aus Steuereinnahmen der ArbeiterInnenklasse und Mittelschichten finanziert. Das Kapital und die Reichen mussten unter 13 Jahren PT-Regierung keinen Cent Vermögens- und Erbschaftssteuer zahlen.

Die Regierung mag zwar langsamer privatisiert haben. Das Großkapital, die zunehmende Unternehmenskonzentration, den Filz von Staat und Kapital, also die viel beklage Korruption, hat sie nie angegriffen. Die großen Monopole wurden nicht beschränkt, sondern als Speerspitze des „Landes“ in der Weltmarktkonkurrenz gefördert. Das Medienmonopol, das fest in den Händen der Reaktion liegt, wurde nicht gebrochen, sondern hat sich auf noch weniger Unternehmen konzentriert.

All das zeigt, dass die PT-Führung nie eine wirkliche Konfrontation mit dem Kapital und Großgrundbesitz wollte. Das hat sie auch dadurch deutlich gemacht, dass sie immer im Bündnis mit offen bürgerlichen Parteien regiert hat. Die wichtigste „Partnerin“, die „Partido do Movimento Democrático Brasileiro“ (PMDB, Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung), organisierte maßgeblich den Putsch und stellt nun mit Temer den Staatspräsidenten.

Doch nicht nur auf Regierungsebene hat die PT ihre Bündnistreue mit dem Kapital deutlich gemacht. In ihrem Schlusswort verwies die ehemalige Präsidentin darauf, dass eine Reform über das Parlament in Brasilien nie gelingen könne, weil die Machtbasis der Reaktion, vor allem des Großgrundbesitzes in den Regionalparlamenten und -regierungen noch viel größer sei. Notwendig, so Rousseff, sei daher eine verfassunggebende Versammlung. Da ist sicher etwas daran. Was aber hat die PT in 13 Jahren an der Regierung getan, um diese Machtbasis zu brechen? Die Frage stellen, heißt (leider) auch schon, sie zu beantworten.

Nach dem Putsch gibt sich der Reformismus reuig und radikal. Während man 13 Jahre die Institutionen schöngeredet hat, wird nun eine „verfassunggebende Versammlung“ aus dem Hut gezaubert.

Besonders deutlich wird das Versagen der Reformpolitik der PT, wenn es um den Staatsapparat des Landes geht. Selbstredend wurde das Militär nie angetastet. Dilma rechnete ihrer Regierung außerdem hoch an, dass sie Polizei und Staatsanwaltschaft finanziell und personell ausgebaut hat. Dummerweise und zu ihrer größten Überraschung waren es StaatsanwältInnen und RichterInnen, die unter der PT-Regierung ernannt wurden, die das Amtsenthebungsverfahren gegen sie selbst und die Ermittlungen gegen Lula durchgeführt haben. Wie war das möglich, wurde Dilma nach ihrem Vortrag vom Moderator gefragt: „Das konnten wir uns nicht vorstellen,“ antwortete sie.

Logik des Reformismus

Solche Naivität erstaunt wohl jede/n, erscheint unglaubwürdig. Sie hat jedoch auch eine innere Logik, die aus sozialdemokratischer Reformpolitik folgt. Der bestehende bürgerliche Staatsapparat muss als Mittel zur Reform im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten unterstellt werden – mag er auch eine noch so blutige Geschichte der Repression und Herrschaftsausübung haben.

Diese Illusion wird zusätzlich dadurch genährt, dass der bürgerliche Staat und seine Institutionen nicht unmittelbar von der herrschenden Klasse personell gestellt werden, sondern von gewählten oder ernannten FunktionärInnen. Dieser Apparat ist jedoch durch tausende Kanäle institutionell wie auch historisch eng mit der herrschenden Klasse verbunden. Im Gegensatz zu den Hoffungen des Reformismus trifft das auch in seiner „perfekten“ rechtsstaatlichen Form zu – in gewisser Weise sogar mehr, weil der Staat des Kapitals solcherart seiner scheinbar über den Klassen stehenden Funktion besser nachkommen kann. Diese geht einher mit einer historischen Tendenz zur immer engeren Verbindung von Staat und Großkapital in der imperialistischen Epoche. Gewaltenteilung und Rechtsstaat stellen dazu keine Gegentendenz dar, sondern nur eine Form ihrer Durchsetzung, die für westliche imperialistische Länder nach dem Zweiten Weltkrieg zur Norm wurden, für die halbkolonialen Länder aufgrund ihre ökonomischen Rückständigkeit hingegen immer nur eingeschränkt möglich waren und sind.

Wie eng diese Verbindung zwischen dem formal unabhängigen Apparat und der herrschenden Klasse wirklich ist, verdeutlicht die Tatsache, dass Dilma und Lula von „ihren“ StaatsanwältInnen und RichterInnen der Prozess gemacht wurde. Selbst wenn die ReformistInnen das Personal bestimmen können, so ist es eben nicht „ihr“ Personal, sondern in letzter Instanz immer noch das der herrschenden Klasse.

In Brasilien dominiert ein historisch gewachsener Block aus Großkapital, Grundbesitz und einer weißen, aus der Sklavenhaltergesellschaft hervorgegangenen Mittelschicht diesen Apparat konkret. Sie ist historisch mit dem US-Imperialismus verbunden und will das Land nicht nur ökonomisch, sondern auch geo-strategisch neu ausrichten.

Aber – und darin besteht das Dilemma der herrschenden Klasse – sie befindet sich trotz Putsch in einer eigenen tiefen Krise. So liegt trotz Medienmonopol, Hetze, Repression Lula in den Umfragen für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 vorn. Auch wenn die Mobilisierungen der Bewegung gegen den Putsch deutlich schwächer wurden, so konzentrieren sich die Hoffnungen der Massen auf die Wahl Lulas. Seine Versammlungen werden von Zehntausenden besucht. In den Umfragen liegt er bei rund 35 Prozent, in den Bundesländern des Nordostens mit einem weit größeren Anteil an Armen sogar bei 70 Prozent.

Die traditionellen bürgerlichen Parteien haben keine/n veritablen GegenkandidatIn. Sie zerfleischen sich entweder selbst oder sind, wie Präsident Temer, so unbeliebt, dass sie keine Chance haben, überhaupt nur auf 10 Prozent zu kommen.

Zugleich radikalisiert sich zur Zeit die Reaktion, die extrem Rechte um Jair Bolsonaro. Der Vorsitzende der „Christlich-Sozialen Partei” liegt in Umfragen bei rund 17 Prozent und damit vor allen „respektablen“ bürgerlichen KandidatInnen. Er verteidigt nicht nur offen die Militärdiktatur, er fordert auch offen die Errichtung einer neuen. Zugleich steht er auch an Spitze der rechts-radikalen, sexistischen, homophoben, rassistischen Bewegung „Freies Brasilien“, deren AnhängerInnen sich aus Großgrundbesitzern, FaschistInnen und Evangelikalen zusammensetzen. Diese Kräfte agitieren nicht nur für extrem reaktionäre Ziele, ihre Mitglieder greifen auch Transsexuelle, Homosexuelle, Afro-BrasilianerInnen und Angehörige religiöser Minderheiten an, bis hin zum Mord.

All das deutet auf eine weitere Zuspitzung der Lage, in deren Zeichen die Präsidentschaftswahl 2018 steht. Die PT setzt dabei auf die Karte „Lula“ und auf eine rein elektorale Strategie. Sie bastelt auch wieder an einer möglichen Koalition mit bürgerlichen Verbündeten, auch wenn diese schwer zu finden sind. Zweifellos hoffen auch Millionen ArbeiterInnen auf Lula und die PT und darauf, dass er die Konterreformen Temers rückgängig machen kann.

Doch der Pferdefuss liegt in der Strategie der PT. Selbst wenn Lula antreten kann und gewinnen sollte: Was würde die PT tun, um eine neuerliche Offensive von Seiten der Elite oder gar einen Militärputsch zu verhindern? Wie will sie den bürokratischen Staatsapparat unter Kontrolle bringen? Wie soll dessen Macht gebrochen werden? Warum soll es nach der Erfahrung von 13 Jahren PT-geführter Koalitionsregierung bei einem Wahlsieg 2018 klappen?

Wenn Dilma und die PT keine Antwort auf diese Fragen haben, so sollte sich die brasilianische ArbeiterInnenklasse nicht auf das Prinzip Hoffnung verlassen. Sie bedarf trotz aller Solidarität mit Dilma und Lula gegen die Angriffe der Putschisten eines politischen Bruchs mit der Strategie der PT und einer neuen ArbeiterInnenpartei, die den Kapitalismus nicht besser verwalten, sondern stürzen will.




Solidarität mit Kerem Schamberger!

Tobi Hansen, Infomail 971, 15. November 2017

Meinungsfreiheit?

Nur wenn Du nicht allzu kritisch über die Türkei berichtest, keine Fahnen auf „sozialen“ Medien teilst – schon gar nicht solche von syrischen KurdInnen, die gegen den IS kämpfen!

Der Münchener Aktivist und Wissenschaftler Kerem Schamberger ist dem bayrischen Staatsschutz ein Dorn im Auge. Zunächst wollte man ihn seinen Job an der Uni als Kommunikationswissenschaftler nicht antreten lassen, jetzt gab’s eine Hausdurchsuchung. Der Grund dafür ist das wiederholte „Posten“ von Fahnen und Symbolen der kurdisch-syrischen Organisationen PYD und deren militärischem Arm YPG in den „sozialen“ Medien. Zur Schlacht um den Kanton Kobanê (Kobanî, Ain al-Arab) 2014 waren die syrischen KurdInnen noch beliebter in Deutschland. Selbst bürgerliche Medien veröffentlichten größere Storys z. B. von den weiblichen Selbstverteidigungskräften YPJ.

Doch danach gab´s einen Putsch in der Türkei und die Bundesregierung schloss den sog. „Flüchtlingsdeal“ mit Erdogan. Seither gab es zwar hier und da ein diplomatisches Scharmützel, doch sollte das Verhältnis zur Türkei zumindest nicht schlechter werden.

So werden die Organisationen der syrischen KurdInnen inzwischen als „Unterorganisationen“ der verbotenen PKK bezeichnet, was wiederum erlaubt, diese mit den gleichen Mitteln zu verfolgen, obwohl weder USA noch EU die PYD als Terrororganisation eingestuft haben.

Kerem Schamberger hat sich in dieser Gemengelage behauptet, hat als Aktivist unzählige Nachrichten über die Türkei, über die KurdInnen verbreitet, die sonst wahrscheinlich nie die deutsche Öffentlichkeit erreicht hätten. Er ist auch überaus parteiisch, was wir nur unterstützen können – er denunziert den türkischen Polizeistaat, die willkürliche Gewalt gegen die KurdInnen und steht für das Recht auf Widerstand!

Während wahnsinnige Erdogan-Fans Mordaufrufe gegen ihn ins Internet stellen, hat er weiterhin seinen Job gemacht, dafür verdient er Solidarität und Unterstützung!

  • Weg mit den Verfahren gegen Schamberger!
  • Weg mit dem Verbot der PKK!
  • Weg mit den Terrorparagraphen 129a und b!
  • Gegen die Kriminalisierung der PYD und YPG/YPJ!



Bruchlandung: das Ende für Air Berlin

Jürgen Roth, Infomail 971, 10. November 2017

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sprach von einem „tiefen Einschnitt im Berliner Luftverkehr“ und dankte den MitarbeiterInnen für ihre jahrelange Arbeit. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di lud zu einer Abschiedsveranstaltung auf die Besucherterrasse des Flughafens Berlin-Tegel ein, um den letzten Landeanflug der Luftverkehrslinie Air Berlin zu beobachten. Es war der 27. Oktober 2017. Im Terminal C, der 2007 extra für die Airline gebaut worden war, herrschte gespenstische Leere. Unklar bleibt das Schicksal des Personals, nachdem die Bildung einer großen Transfergesellschaft am Bund und den beteiligten Ländern gescheitert ist.

Geschichte

Direkt nach dem 2. Weltkrieg garantierte der Viermächtestatus Berlins den Luftlinien PanAm, British Airways und Air France Landerechte auf dem Flughafen Tempelhof. 1946 gesellte sich noch Modern Air dazu, die im Auftrag von Pauschalreiseveranstaltern flog. Das Millionen-Urlauber-Geschäft vermochte jedoch ihren wirtschaftlichen Sinkflug nicht aufzuhalten. 1975 verlor die Gesellschaft ihre Betriebserlaubnis. Ihre Geschäfte mit dem Reiseveranstalter Berliner Flugring übernahm die Charterfluggesellschaft Aeroamerica aus Seattle. Doch auch deren Laden lief flau. Der gerade wegen der Ölkrise bei der PanAm entlassene Pilot Kim Lundgren überredete seinen Vater und Sägewerksbesitzer zur Gründung einer neuen Linie, in die auch der alte Modern-Air-Chef John McDonalds einstieg. Ab 1979 flog Air Berlin USA UrlauberInnen aus Westberlin nach Mallorca, stieg ein Jahr später auch ins Charterfluggeschäft ein. Der Linienbetrieb wurde ihr allerdings auf Intervention von PanAm verwehrt.

Als die Mauer fiel, war der Vorteil des Verkehrsmonopols von Air Berlin USA dahin. Der deutsche Manager Joachim Hunold kauft 82,5 % ihrer Anteile. Fortan entwickelte sich der Betrieb der in Air Berlin GmbH & Co. Luftverkehrs KG umbenannten Gesellschaft flott. In Spitzenzeiten führte sie täglich 800 Flüge durch. Der 2002 eingeführte „City Shuttle“ verband Europas Metropolen. 2004 übernahm man knapp 25 % der Anteile an Österreichs Niki Air, ging an die Börse und erwarb die Deutsche BA mit Landerechten in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt/Main und München. 2007 kamen Interkontinentalverbindungen durch den Erwerb des Ferienfliegers LTU hinzu. In Erwartung auf rosige Zeiten, wenn das Luftdrehkreuz BER fertiggestellt wäre, holte sich Air Berlin Etihad Airways aus den Vereinigten Arabischen Emiraten als Partnerin an Bord..

Doch es kam anders. Schlechte Wirtschaftszahlen zwangen nach Hunolds Rücktritt 2011 seine NachfolgerInnen nach und nach zur Aufgabe. Die staatliche Luftverkehrsgesellschaft Etihad schoss immer wieder Geld nach und erhöhte ihren Anteil von 2,99 auf 29,21 %.

Im 1. Halbjahr 2017 stieg der Verlust auf fast 450 Millionen Euro, über 160 Millionen mehr als im Vorjahreszeitraum. Zugleich fiel der Umsatz von 1,7 auf 1,5 Mrd. Euro. Ein Überbrückungskredit der Bundesregierung in Höhe von 150 Millionen Euro hielt die Luftverkehrsgesellschaft für InteressentInnen wie Lufthansa (LH), Easyjet, Niki Lauda und Condor im Rennen. LH bekam den Zuschlag mit Rückenwind durch das Bundeskabinett wie schon zu Wendezeiten bei der Zerschlagung der DDR-Linie Interflug.

Arbeitsplätze

In Bezug auf die Übernahme der Beschäftigten sehen sich weder der Bund noch die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen, wo es gleichfalls Air-Berlin-Standorte gibt, in der Pflicht gegenüber einer vom Land Berlin begrüßten Transfergesellschaft. Der Kranich-Konzern verlangt eine neue Bewerbung für seine Tochter Eurowings. PilotInnen müssen mit erheblichen Lohneinbußen rechnen, für 4000 MitarbeiterInnen aus Verwaltung und Technik droht sogar die Arbeitslosigkeit. Ein Betriebsübergang nach BGB, den LH als nicht gegeben ansieht, hätte hingegen für mindestens ein Jahr vollständige Übernahme und Besitzstandswahrung bedeutet.

So aber ließ der Konzern einen Großteil der 140 Air-Berlin-Jets am Boden. Der Erwerb von zusätzlichen Fluglizenzen ist in Zeiten von Überkapazitäten und Verdrängungswettbewerb im Lufttransport das, was die Konzernmutter interessiert, nicht zwangsläufig die Betriebsausdehnung ihrer Tochter. Während die Düsenflugzeuge am Boden bleiben, heben Ticketpreise und Aktienkurse ab.

Bis jetzt werden nur die vergleichsweise wenigen Angestellten der beiden Air-Berlin-Töchter Niki Air und Walter im Rahmen eines Betriebsübergangs durch Verkauf übernommen. Die Techniktochter von Air Berlin wird vom Berliner Logistikunternehmen Zeitfracht und der Wartungsfirma Nayak geschluckt. Doch nur rund 300 MitarbeiterInnen werden weiterbeschäftigt, rund 550 sollen in eine Transfergesellschaft wechseln. Das Schicksal des Rests der einst 8000 Jobs steht in den Sternen, Pardon: Wolken!

Nach dem Insolvenzantrag im August eröffnete das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg am 1. November das Insolvenzverfahren. Im Januar 2018 soll dann voraussichtlich eine erste Gläubigerversammlung folgen.

Ver.di betreibt Seelenmassage

Bundesvorstandsmitglied Christine Behle bekräftigte in VER.DI PUBLIK 7/2017 den Standpunkt ihrer Gewerkschaft, dass die Übernahme der MitarbeiterInnen von Deutschlands einst zweitgrößter Airline durch das Bürgerliche Gesetzbuch als Betriebsübergang geregelt sei. Doch leider sähen LH und andere InteressentInnen wie z. B. Easyjet dies anders. Eine Klage gegen deren Sichtweise werde ver.di juristisch unterstützen.

Viele Angestellte hätten durch ihr Engagement in den letzten Wochen das Einstellen des Flugbetriebes (Grounding) bei Air Berlin verhindert und müssten zum Dank dafür einen langen, mühsamen Weg gehen, der bis zum Europäischen Gerichtshof führen könne. Außerdem habe ihre Gewerkschaft mit allen in Frage kommenden PolitikerInnen gesprochen, um durchzusetzen, dass das Bundesdarlehen an Bedingungen wie die Übernahme der Beschäftigten geknüpft werde. Nach der Wahl sei deren Interesse jedoch schlagartig zurückgegangen und würde es wohl nach dem Verkauf der Luftverkehrsgesellschaft noch weiter tun. Natürlich unterstütze ver.di auch ihre Mitglieder bei der Suche nach neuen Arbeitsplätzen, bei Azubis bereits mit Erfolg.

„Ende September haben wir gemeinsam den Sozialplan unterschrieben, dazu gehört als Kernstück die Einrichtung einer Transfergesellschaft für mindestens sechs Monate…Wir wollen, dass die Lufthansa und die anderen Käufer von Air Berlin die Beschäftigten übernehmen – ohne neue Bewerbungen und unter Anrechnung der Zeiten, die sie schon bei Air Berlin gearbeitet haben. Bisher zeigen sich die Erwerber aber hartleibig. Wir können sie zu nichts zwingen, nur argumentieren. Air Berlin hat die Beschäftigten und die Öffentlichkeit getäuscht, als die Geschäftsführung erklärt hat, sie habe für 80 Prozent der Mitarbeiter Arbeitsplätze. Gemeint war nur: Sie dürften sich bewerben…Das ist zynisch.“ (Ver.di Publik, 7/2017, Seite 4).

Wie dumm nur, dass der ver.di-Bundesvorstand in Person Behles das Geschäft der Rosstäuscherei selber betreibt – gegenüber den eigenen Mitgliedern! Den Sozialplan unterzeichnen, auf die Schwüre der Geschäftsführung vertrösten, zum Kadi rennen und ihre Machtlosigkeit bekennen: Das ist das typische Kerngeschäft einer DGB-Bürokratie. Hierin ist sie den Methoden des „Wortes zum Sonntag“ im ZDF seelenverwandt.

Internationale Fluggäste wunderte sich noch am letzten Betriebstag von Air Berlin, dass keine Angestellten streikten, wie sie es in ihren Heimatländern garantiert getan hätten. Statt v. a. vor der Unterzeichnung des Sozialplans einen Arbeitskampf auszurufen, statt jetzt zum Streik zu mobilisieren für die Weiterbeschäftigung aller Luftfahrtbediensteten zu ihren alten Konditionen, für die Rücknahme der LH-Privatisierung und die Verstaatlichung aller anderen in der BRD ansässigen Flugbetriebe zu einem einheitlichen Branchenmonopol tritt Christine Behle vors Publikum wie der legendäre Fernsehpfarrer Adolf Sommerauer und seine NachfolgerInnen: mit nichts in der Hand als Vertröstung aufs Jenseits!