Proteste gegen Gewalt an Frauen in der Türkei: „Wir trauern nicht, wir rebellieren“

Svenja Spunck, Infomail 800, 16. Februar 2015

Die Leiche der jungen alevitischen Kurdin Özgecan Aslan wurde am Mittwoch in einem Fluss in Mersin gefunden, einer Stadt im Südosten der Türkei. Sie wurde erst erstochen und dann verbrannt, weil sie sich gegen einen Vergewaltiger wehren wollte. Der Haupttäter ist zwar verschwunden, aber einige Männer aus seiner Familie, die an der Tat beteiligt waren, haben bereits gestanden. Sie kommen wohl aus dem Umfeld der faschistischen Bozkurt, der Grauen Wölfe. Auf Facebook hatten sie angekündigt, eine türkische Serie zu schauen, deren Plot damit beginnt, dass eine junge Frau vergewaltigt wird.

Zunahme von Gewalt gegen Frauen

Özgecan war auf dem Weg nach Hause und saß als letzte im Kleinbus, als der Fahrer sie angriff. Auf Grund ihrer Herkunft war sie in der Türkei ohnehin sozial benachteiligt. Doch an dieser Stelle möchten wir darauf eingehen, warum brutale Gewalt gegen Frauen in der Türkei kein Einzelfall ist. Seit der Regierung der AKP hat sie außerdem rasant zugenommen. Zwischen 2002 und 2009 stieg die an Anzahl der registrierten Fälle um 1.400 Prozent!

Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist eine konservativ-islamistische Partei, die seit 2002 die Türkei regiert. Ihre Politik gegen die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, gegen Nicht-Muslime und gegen ethnische Minderheiten wird autoritär durchgesetzt, wobei sie großen Rückhalt in der stark religiösen und wirtschaftlich-rückständigen Landbevölkerung hat. Schon am Beginn seiner politischen Karriere hat der ehemalige Bürgermeister von Istanbul und heutige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan verkündet „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Seit seine Partei an der Regierung ist, hat sich die Rhetorik noch verschärft. Seitdem Frauen auch nach bezahlter Arbeit suchen, würde die Arbeitslosigkeit steigen. Stattdessen sollten sie lieber zu Hause bleiben, schließlich gäbe es im Haushalt und mit den Kindern genug zu tun. Laut Erdogan solle jede Frau mindestens drei Kinder bekommen. Schwangere Frauen sollen auch nicht aus dem Haus gehen. Zu viel Gleichberechtigung würde dem Zusammenhalt der Familie schaden. Die Gewalt gegen Frauen hätte gar nicht zugenommen, das sei nur falsche Wahrnehmung.

Es sollen also nicht nur die Frauen selbst, sondern auch die Debatte um ihre Unterdrückung aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Mit einem neuen Gesetzespaket wurde auch das Strafmaß für Gewalt gegen Frauen gesenkt, aber über die allgemeine Einführung der Todesstrafe wird beraten.

Widerstand regt sich

Nach Özgecans Tod sind in vielen Städten mehrere tausend Frauen auf die Straße gegangen, mit dem Slogan „Wir trauern nicht, wir rebellieren!“. Das ist der richtige Ansatz. Natürlich ist diese Tat so unfassbar furchtbar, dass jedeR darüber traurig sein sollte, aber den vielen Frauen, die weiter unter dieser Gewalt leiden, ist durch Mitgefühl allein nicht geholfen.

Die gegenwärtige Wut und Mobilisierung sollte vielmehr Ausgangspunkt für eine starke Frauenbewegung werden, die gegen ihre strukturelle Unterdrückung kämpft. In der Türkei, in der v.a. die Familie nach wie vor eine sehr wichtige Rolle spielt, ist politische Organisierung für Frauen schon die erste große Hürde, die sie überwinden müssen. In den Gewerkschaften z.B. ist der Anteil von Frauen sehr gering, viele Männer verstehen nicht, warum sie sich mit Frauen gemeinsam organisieren sollen, schon gar nicht, wenn diese mit ihnen vermeintlich um den Arbeitsplatz konkurrieren. Doch zu diesem reaktionären Verständnis, das sich hinter vermeintlicher „Tradition“ versteckt, die man nicht hinterfragen soll, muss eine Alternative her!

Eine neue Frauenbewegung sollte sich von Beginn an als Teil der ArbeiterInnenbewegung, als proletarische Frauenbewegung verstehen. Die aktuellen Kämpfe der Gewerkschaften bieten einen Ansatzpunkt zur gemeinsamen Aktion. Aber es ist auch klar, dass eine solche Bewegung nicht nur in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch unter den Lohnabhängigen  gegen Chauvinismus, Sexismus und reaktionäres Gedankengut und Verhalten angehen muss.

Dazu ist es in erster Linie wichtig, dass sich Frauen untereinander treffen können, über ihre Unterdrückung sprechen und lernen, sich zu wehren. Özgecan hatte versucht, sich mit Pfefferspray zu wehren, doch sie war allein und hatte keine Chance. Gerade auf dem Land ist es wichtig, dass sich Frauen Selbstverteidigungsstrukturen schaffen.

Auf den Demonstrationen in den letzten Tagen wurde auch immer wieder betont, dass die Regierung maßgeblich Schuld daran sei, dass die Gewalt gegen Frauen zunimmt, dass die Täter nicht verurteilt werden und dass es als Normalität erscheint, dass Frauen erniedrigt und unterdrückt werden.

Der Anstieg von Gewalt gegen Frauen, die reaktionären Angriffe von Seiten der Regierung und der extremen Rechten sind auch eine Reaktion auf eine Veränderung in der Gesellschaft, die sich in den Protesten zeigt. Frauen werden in die Produktion, ins wirtschaftliche Leben gezogen, was oft mit Doppelbelastung und Überausbeutung einhergeht. Aber es unterminiert auch deren traditionelle Rolle in der patriarchalen Familie.

Die Parole „Wir trauern nicht, wir rebellieren!“ bringt zum Ausdruck, dass sich viele Frauen nicht mehr mit ihrer Rolle aus Dienerinnen, Unterdrückte und Opfer abfinden wollen. Damit kann aber auch der Grundstein gelegt werden für die Entstehung einer neuen proletarischen Frauenbewegung.




Brasilien: Reaktionäre Proteste gegen Dilma und die PT

Rico Rodrigues, Infomail 806, 18. März 2015

brasilien-reaktionaere-protesteAm 15. März gingen in Brasilien Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Regierung Dilma Rousseff und die Arbeiterpartei PT zu demonstrieren. Nach Angaben der Militärpolizei waren 1,4 Millionen in über 70 Städten in ganz Brasilien auf der Straße. In Sao Paulo waren 42.000, in Brasilia 35.000, in Rio 20.000, in Curitiba 40.000. Die Demonstrationen haben es auch in die internationale Presse geschafft. Doch was steckt hinter dem Protest?

Vorspiel

Dilma Rousseff von der PT hatte die Wahlen im Oktober knapp gegen den Herausforderer Aécio Néves von der neoliberalen PSDB gewonnen (51,6% zu 48,4%). Es war die härteste Wahlauseinandersetzung seit über zehn Jahren. Seitdem gilt das Land als gespalten: auf der einen Seite die Anhänger der PT, die vorgeben, für eine Fortführung der sozialen Programme und eine keynesianische Politik einzutreten, auf der anderen Seite die Unterstützer von Néves, die für eine Rückkehr zu einer offen neoliberalen Politik stehen.

So weit die offizielle Version. In Wahrheit ist die Situation um einiges komplexer, aber richtig ist, dass es zunehmend eine Polarisierung um die zwei großen Parteien PT und PSDB gibt. Nach der Wahl äußert sich diese auch im Ruf der Verlierer „Dilma raus“.

Nach anfänglichen Anti-Dilma Protesten Ende 2014 hatte sich die Lage beruhigt – bis die Proteste vom 15.3. im Internet angekündigt wurden. Die Presse hat kräftig mitgeholfen, die Nachricht zu verbreiten. Als Reaktion darauf haben der Gewerkschaftsverband CUT und die Landlosenbewegung MST, beide der PT nahestehend, zusammen mit „linken“ Bewegungen am 13.3. demonstriert. Auf der Paulista in Sao Paulo waren es 50.000, im Rest des Landes war der Erfolg aber eher bescheiden. Obwohl auch diese Mobilisierung beeindruckend war (zumindest in Sao Paulo), blieb sie weit hinter dem Anti-Dilma Protest vom 15.03. zurück.

Die Regierung Dilma

Dabei gibt es sicherlich genug Gründe, um gegen die PT-Regierung auf die Straße zu gehen. Bevor der frühere Präsident Lula 2003 zum ersten Mal gewählt wurde, hatte er bekanntlich versprochen, die Auflagen des IWF zu erfüllen und brav die Schulden zu bezahlen – Syriza läßt grüßen. Und so war eine der ersten „Reformen“ der neuen Regierung die Rentenreform, die den Zugang zu Renten für Millionen ArbeiterInnen erschwert und deren Höhe herabsetzt. Seitdem ist die Regierung konsequent immer weiter nach rechts gegangen. Der Tradition folgend, hat Dilma nun bei ihrem Amtsantritt im Januar den als neoliberal bekannten Banker Joaquim Levy als Finanzminister ins Kabinett geholt – um „die Märkte zu beruhigen“. Dazu kam noch die Lobbyistin der Agrokapitalisten Katia Abreú als Landwirtschaftsministerin. Levy hat angekündigt, die „Haushaltskorrektur“ konsequent durchzuziehen – Schäuble läßt grüßen. Anstatt den Reichen und Mächtigen in die Tasche zu greifen, greift die PT ihre eigene Basis an. Zum Start der zweiten Amtszeit wurden zwei „provisorische Maßnahmen“ verabschiedet, die den Zugang zu Arbeitslosengeld, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Gehaltszuschüsse u.a. erschweren. Damit sollen im nächsten Jahr 5,3 Mrd. Euro eingespart werden. Im Wahlkampf hatte Dilma noch versprochen, an den ArbeiterInnenrechten nicht zu rütteln.

Die Proteste

Dilma betreibt die Politik der Rechten, die Bourgeoisie kann also zufrieden sein. Auch die  Oppositionspartei PSDB ist moderat, was die Aussicht eines „Amtenthebungsverfahrens“ anbelangt.

Das war aber die Hauptforderung bei den Protesten am 15.3. Die Führung der Bewegung ist mehr oder weniger klar in drei verschiedene Richtungen gespalten. Den radikalsten Teil bildet die Organisation „SOS Forcas Armadas“ (SOS-Streitkräfte), die einen neuen Militärputsch fordern. Sie waren gestern in Sao Paulo mit mehreren Lautsprecherwagen vertreten. Ein Banner zeigte ihre Losung: „Idioten fordern Amtsenthebung – Patrioten fordern konstitionelle Intervention“; damit ist ein Militärputsch gemeint (was daran „konstitutionell“ sein soll, wissen sie vermutlich selbst nicht. Die mittlere Position nimmt die „Bewegung für ein freies Brasilien“ (MBL) ein, welche die Amtsenthebung und den „Sturz der PT“ als zentrale Losungen aufstellen. Die MBL ist eine akademisch und studentisch verankerte neoliberale Organisation. Laut The Economist wurde die Organisation 2014 gegründet „um die Antworten des freien Marktes für die Probleme des Landes zu propagieren“. In Sao Paulo buhten die MBL und Anhänger gestern die „SOS Forcas Armadas“ aus, als diese die Demonstration verließen, und riefen ihnen zu: „Wir brauchen euch nicht!“. Zu dieser Richtung gehört auch die neue Partei „Solidariedade“ von Paulo Pereira da Silva, dem Vorsitzenden des rechten Gewerkschaftsverbandes „Forca Sindical“. Paulo sprang auf den Zug mit auf und stellte einen Lautsprecherwagen auf der Demo (auf dem auch Ex-Weltfußballer Ronaldo mitfuhr). Aber er wurde am Reden gehindert und von der Menge augebuht. Eine dritte Richtung bildet die Gruppe „Vem para Rua“ (Komm auf die Strasse). Laut Renan Santos, Organisator der MBL, ist diese Gruppe der PSDB angegliedert: „Die Leute von denen sind älter, haben mehr Geld und die PSDB im Rücken“. Sie wollen die Opposition gegen die Regierung stärken, lehnen aber einen Rücktritt Dilmas ab.

Die Forderungen

Was will also die Bewegung? Hauptkritikpunkt ist die Korruption. Die PT habe Brasilien in die Korruption geführt und müsse daher schnellstmöglich abgesetzt werden. Die Korruption tauchte als Thema schon im Juni 2013 bei den Protesten auf, und hat die Bewegung damals schnell nach rechts getrieben.

Die PT ist nach ihrem historischen Schmiergeldskandal „Mensalao“ von 2005 jetzt in einen zweiten großen Skandal verwickelt, der Operation „Lava Jato“. Über Jahre wurden große Schmiergeldsummen vom staatlichen Ölkonzern „Petrobras“ abgezweigt und an Konzerne, Staatsbedienstete und Parteien ausgezahlt.

Die Empörung über die Korruption, sicherlich legitim, ist aber nur ein Vorwand für die Bewegung, eine reine Farce. Erst letzte Woche wurde die „Liste“ veröffentlicht, die nach ca. einem Jahr Ermittlungen die Hauptbeschuldigten im Korruptionsskandal benennt. Es sind vier Namen der PT auf der Liste, aber niemand aus den oberen Reihen. Dagegen wird auch der Senator Antonio Anastasia von der PSDB genannt – Berater von Aécio und dessen Nachfolger im Amt des Governeurs von Minas Gerais. Die meisten Namen sind von einer kleinen Partei, der PP, die die Regierungskoalition unterstützt. Die prominentesten Namen sind allerdings von der Partei PMDB: Eduardo Cunha, Präsident der Abgeordnetenkammer, und Renan Calheiros, Präsident des Senats.

Sollte die Abwahlforderung gegen Dilma erfolgreich sein, würde laut Verfassung ihr Stellvertreter das Amt übernehmen: Michel Temer, von der PMDB. Würde auch dieser „gestürzt“, würde der Präsident der Kammer, Eduardo Cunho, übernehmen.

So viel zur Frage der Korruption als Vorwand. Zudem haben die Ermittlungen enthüllt, dass die Korruption im Konzern schon unter PSDB-Präsident Fernando Henrique Cardoso begonnen hat. Davon ist aber auf den Demos kein Wort zu hören. Weder die PSDB, noch die PMDB, noch die PP erscheinen in der Kritik. Stattdessen wird die PT mit einer Wut angegriffen, als habe sie die Korruption in Brasilien erfunden. Sicher ist Korruption in Brasilien ein Problem und die PT darin verwickelt, seit sie vor 15 Jahren als Regierungspartei angefangen hatte, offen das kapitalistische Spiel mitzuspielen, weil sie sich genau auf die gleiche Ebene begeben hat wie PMDB, PSDB und Co. – wie diejenigen also, die sie jetzt von rechts stürzen wollen.

Die PSDB selbst hat in ihrer Amtszeit die Privatisierung aller großen Staatsbetriebe durchgezogen. Dabei wurden Milliarden verdient, eine riesige legale Korruption. Der noch staatliche Ölkonzern Petrobras ist jetzt natürlich im Visier. Als Ergebnis der acht Jahre neoliberaler PSDB-Regierung waren Millionen arbeitslos, der Mindestlohn auf einem historischen Tief, die soziale Ungleichheit stieg.

Und so waren am 15.3. zum Großteil diejenigen auf der Strasse, die von dieser Politik des Sozialkahlschlags profitiert haben und die PT verabscheuen. Sicherlich waren auch viele dabei, die zurecht empört sind. Aber das ändert nichts an der Führung und der Ausrichtung der Proteste.

Die Stoßrichtung der Bewegung kann auch an deren Verhältnis zur Militärpolizei erahnt werden. Normalerweise ist diese selbst ein Hauptziel von Demonstrationen. Sie ist eine der gewalttätigsten Polizeieinheiten der Welt und hat laut UN zwischen 1993 und 2011 22.500 Menschen umgebracht. Die meisten davon in den Favelas und der „Peripherie“, wo die Armen leben. Die DemonstrantInnen am 15.3. haben der PM zugejubelt, bedankten sich und machten „Selfies“ mit ihnen. Sie leiden nicht unter der Polizeigewalt. Am 15.3. war der Teil der brasilianischen Gesellschaft auf der Strasse, der sagt: Gut so, PM, weiter so!

Die reaktionären Proteste sind nicht nur für die PT an der Regierung, sondern für die gesamte ArbeiterInnenbewegung eine Warnung. Natürlich müssen Fälle von Korruption untersucht und offengelegt werden. Doch diese Untersuchungen müssen von Komitees der ArbeiterInnen und Bauern und der Gewerkschaftsbasis durchgeführt werden – nicht von denen, die selbst schon immer bis zum Hals im Korruptionssumpf gewatet sind.

In Brasilien zeigt sich aber auch, dass die – noch dazu überaus selektive – Schwerpunktsetzung auf „die Korruption“ – oft genug ein Markenzeichen rechter kleinbürgerlicher und bürgerlicher Demagogen und Populisten ist, um so die von der Krise bedrohten „Mittelschichten“ der Gesellschaft und das Kleinbürgertum zu mobilisieren. Wir dürfen daher auch nicht bei der „Korruptionsfrage“ politisch nicht stehen bleiben! Der Angriff auf Dilma und die PT muss vielmehr selbst vor dem Hintergrund der Krisenhaftigkeit und der riesigen Widersprüchen des brasilianischen Kapitalismus gesehen werden. Wer wirklich die Korruption bekämpfen will, darf mit seiner Kritik nicht an dem kapitalistischen System Halt machen, deren unvermeidliche „Begleiterscheinung“ sie ist.

Bild: https://www.flickr.com/photos/ouseja/16810542976




Tarifabschluss Metall: Selbstgerechte Bürokratie – unzufriedene Basis

Frederik Haber, Infomail 683, 17. Mai 2013

Während die IG Metall-Spitze mit großen Worten den Abschluss in Bayern feiert, kracht es wenigstens an Teilen der Basis gewaltig – so in den kampfstarken und gut organisierten Zentren der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg. Dort hatten sich die ArbeiterInnen ein „forderungsnahes“ Tarifergebnis erhoffte – keinen weiteren Rohrkrepierer des Apparats. Die Unzufriedenheit spiegelt sich selbst in der Tarifkommission Baden-Württemberg wieder, bei deren erster Sitzung nach dem Abschluss in Bayern es nur einen einzigen Fürsprecher gab.

Im Einzelnen: Zum 1. Juli sollen die Entgelte um 3,4%, zum 1. Mai 2014 um weitere 2,2% erhöht werden. Für Mai und Juni dieses Jahres gibt es nichts.

Gemessen an der Forderung von 5,5% für ein Jahr ist das beschämend. 3,4% für zehn Monate entsprechen 2,8% für zwölf. Nur wenig mehr als die Hälfte der Forderung also. Für das folgende Jahr ist die Berechnung schwieriger, aber es ist klar, dass es in 2014 keine weitere Erhöhung geben kann und 2,2% das letzte Wort ist.

Was sich nach der so offen wie nie gesteuerten Forderungsaufstellung – alle Tarifkommissionen forderten die gleichen 5,5% – abzeichnete, hat dieser Abschluss bestätigt. Die IG Metall Spitze wollte jeden längeren Konflikt mit Teufelsgewalt verhindern. Die Exportchancen der deutschen Metallindustrie und die Wahlchancen der SPD sollten auf keinen Fall geschmälert werden. Die Unternehmen müssen weitere Marktanteile erkämpfen und die SPD unter Beweis stellen, dass sie immer noch die Arbeiterklasse – über die Gewerkschaften – unter Kontrolle hat.

Die massenhaften Warnstreiks sollten Dampf ablassen, aber sie haben auch Hoffnungen geweckt. Ein besseres Ergebnis wäre möglich gewesen, die Einsatzbereitschaft war da. Es wäre auch nötig gewesen. Letztes Jahr wurde die Forderung von 6,5% auch mit „der nachholenden Erwartung“ der MetallerInnen begründet. Diese wurde nicht erfüllt. Auch diese Mal bedeutet das Ergebnis gerade mal den Inflationsausgleich und die allgemeine Produktivitätssteigerung. Diejenige der Metallindustrie liegt höher, so wird die Lohnquote in der dieser Industrie weiter sinken.

Ökonomisch wie politisch stellt dieser Abschluss einen weiteren Ausverkauf dar. Es ist eine Einladung an das Kapital in den nächsten Monaten anzugreifen, bei Löhnen und Gehältern, bei Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen. Zurecht feiern sie die „Berechenbarkeit“.

Dass der Unmut über diese Gewerkschaftsführung bis in die Großen Tarifkommissionen schwappt, ist ein gutes Zeichen. Aber dennoch ist die Geschlossenheit des Apparates in der IG Metall weiter stark. Die dort vertretenen Betriebsratsvorsitzenden werden am Ende die Basis genauso im Stich lassen, wie sie es täglich im Betrieb tun.

Wir rufen dazu auf, in den Betrieben Versammlungen der Gewerkschaftsmitglieder und der Vertrauensleute durchzuführen, um den Abschluss und die Empfehlung des IG-Metallvorstandes zurückzuweisen und die Mitglieder der Tarifkommissionen aufzufordern, gegen das Verhandlungsergebnis zu stimmen. Sollte es dafür eine Mehrheit geben – sicherlich ein unwahrscheinlicher Fall – so müsste der Arbeitskampf aufgenommen und von unten organisiert und kontrolliert werden. Im Falle, dass nur eine Minderheit gegen den Abschluss stimmt, gilt es alle Mitglieder, die betriebliche Basis zu organisieren, die gegen den Abschluss sind.

Nötig ist eine klassenkämpferische, anti-bürokratische Basisbewegung. Drei Tage Schimpfen reicht nicht. Für eine andere Politik, eine andere Führung, letztlich eine andere IG Metall muss man kämpfen.