Vergewaltigung und Missbrauch von Frauen in Indien und Pakistan: Für eine proletarische Frauenbewegung im Kampf gegen Unterdrückung!

Shazia Shahzad, Pakistan, Infomail 669, 15. Februar 2013

Die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Studentin im Bus nach Delhi im Dezember 2012 hat eine massive Bewegung in Indien aufflammen lassen. Hunderttausende, wenn nicht Millionen schlossen sich zusammen, um gegen den alltäglichen Missbrauch von Frauen zu demonstrieren, gegen die weit verbreitete sexistische und patriarchalische Struktur und das Verhalten innerhalb der Gesellschaft und die Mitschuld von politischen Behörden, der Polizei, der Kapitalisten und der Großgrundbesitzer.

Vergewaltigung und Frauenunterdrückung in Indien

Die junge Frau wurde auf dem Weg nach Hause vergewaltigt, nachdem sie und ihr Freund einen Film angeschaut hatten und in den Bus in der Munirka-Gegend von Delhi eingestiegen waren, um  nach Dwarka im Südwesten der Stadt zu fahren. Sechs Männer fingen an, die Frau anzumachen, dass sie abends allein mit einem Mann sei und beschlossen, ihr „eine Lektion“ zu erteilen. Sie wurde fast eine Stunde lang vergewaltigt und sie wie auch ihr Freund wurden mit Eisenstangen geschlagen und aus dem fahrenden Bus auf die Straße geworfen. Daran ist sie zwei Wochen später gestorben.

Indien ist das Land mit der höchsten Zahl von Vergewaltigungen in der Welt; sogar die offiziellen Statistiken besagen, dass alle 20 Minuten eine Frau in Indien vergewaltigt wird. In Delhi wurden 660 Fälle von Vergewaltigungen im Jahr 2012 bekannt, die Situation auf nationaler Ebene ist noch viel schlimmer. Es ist zudem allgemein bekannt, dass die tatsächliche Zahl der Vergewaltigungen noch viel höher liegt als die Zahl der offiziell berichteten Fälle. Höchstens einer von fünf Fällen wird bekannt, da die Frauen sich vor der Schande in ihrer Familie und der Nachbarschaft fürchten.

Auch Polizei und Justiz diskriminieren Frauen. Pakistan sieht sich den gleichen Problemen wie Indien gegenüber – ja sogar schlimmer, weil es in Pakistan zusätzlich noch regressive Gesetze gegen die Gleichstellung der Frau im Namen von Sharia und „pakistanischer Kultur“ gibt.

Aber das Schlimmste – sowohl in Indien wie in Pakistan – ist, dass vergewaltigten Frauen unterstellt wird, selbst Schuld zu sein, da sie sich provokant kleiden würden oder weil sie nachts nicht draußen sein sollten.

Dies stigmatisiert nicht nur die Frauen, sondern schafft auch einen starken reaktionären Druck für ihren Ausschluss aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben. Das Ergebnis ist eine massive, unglaubliche Beschränkung für die Frauen und ihre Mobilität, auch dabei, was sie zu ihrer eigenen „Sicherheit“ anziehen dürfen. Es ist „normal“, dass Frauen, die Opfer von Vergewaltigung wurden, beweisen müssen, dass sie „nicht schuldig“ sind und keine „problematische“ Vergangenheit haben.

So hat im Fall von Mukhtar Mai und anderen Massenvergewaltigungen in Pakistan, der damalige Präsident, General Musharraf, der ein enger Verbündeter des amerikanischen Imperialismus war, die vergewaltigten Frauen beschuldigt, Geld verdienen zu wollen, wenn sie ihre Vergewaltigung an die Öffentlichkeit bringen.

Massenbewegung in Indien

Der neueste schockierende Vorfall mobilisierte die Menschen in Indien über die Bedingungen rund um Vergewaltigung u.a. Übergriffe auf Frauen. Abertausende wütende DemonstrantInnen gingen auf die Straße und forderten Gerechtigkeit für die Opfer und mehr Sicherheit und Schutz für Frauen. Vor allem viele Frauen demonstrierten gegen eine Kultur, die Vergewaltigung rechtfertigt und den Frauen die Schuld dafür gibt, „Männer zur Vergewaltigung zu provozieren“. Auf einem Plakat stand: „Bringt mir nicht bei, wie ich mich anziehen soll, bringt euren Söhnen bei, keine Vergewaltiger zu sein“.

Das Argument, dass diese Proteste nur deshalb zustande kamen, weil das Opfer aus der Mittelschicht kam, ist falsch. Tatsache ist, dass die junge Frau nicht aus der „Mittelschicht“ kam. Sie war die Tochter eines Flughafenarbeiters mit einem Monatslohn von 7.000 Rupien und sie arbeitete nachts, um ihre Ausbildung als Studentin der Psychotherapie zu finanzieren. Aber dies ist nicht der Punkt – normalerweise würde der Missbrauch einer Mittelschichtfrau nicht zu so einem öffentlichen Aufschrei führen.

Zweifellos hat die Tatsache, dass solch eine brutale Gruppenvergewaltigung in der Hauptstadt von Indien passiert ist, zur Auslösung der Proteste beigetragen, auch wenn die Situation auf dem Land ist noch weit schlimmer ist. Dort sind Frauen aus den unterdrückten niederen Kasten, religiösen Minderheiten, aus unterdrückten Nationalitäten und Frauen aus der Arbeiterklasse mit einer noch brutaleren Situation konfrontiert. Die Berichte von Vergewaltigungsfällen zeigen, dass der Staat und die kapitalistische Klasse die Situation benutzen, um die Kontrolle über die Menschen zu haben, die sich zur Wehr setzen gegen die Politik des Neoliberalismus, gegen Unterdrückung und Ausbeutung durch die Kapitalisten und Großgrundbesitzer oder jene, die gegen nationale Unterdrückung kämpfen, wie in Kaschmir.

Die Proteste und Bewegungen werden durch die Kombination von mehreren scharfen Widersprüchen erzeugt. Gewiss entstanden sie in solchen Ausmaßen, weil der Staat nicht einmal in der Lage ist, die Frauen selbst in Städten zu schützen. Zugleich drücken sie auch die Wut aus gegen die Position der Frauen in der Gesellschaft. So wie in anderen Ländern wirken sich die Belastungen der ökonomischen Krise, wie steigende Preise, sinkende soziale Leistungen oder schlechte Wohnverhältnisse auf Frauen am stärksten aus.

Diese Proteste sind ein Hoffnungsschimmer nicht nur im Kampf gegen sexuelle Übergriffe und die schreckliche Situation der indischen Frauen; sie sind auch ein Hoffnungsschimmer, dass die pakistanische Arbeiterbewegung sich der Frage der Frauenunterdrückung stellt, dieses Problem als ein zentrales Thema aufnimmt und dagegen kämpft.

Weg in die Zukunft

Die Massenbewegung in Indien zeigt, dass Millionen von Frauen nicht bereit sind, die „Normalität“ ihrer täglichen Unterdrückung in der Gesellschaft zu akzeptieren. Diese Bewegung wurde zwar von einem besonders brutalen Ereignis ausgelöst, aber der Grund, weshalb die Frauen auf die Straßen gingen, ist das Ergebnis der Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung in einem halbkolonialen Kapitalismus wie Indien oder Pakistan.

In Indien wurden Millionen von Frauen in den Arbeitsmarkt geworfen, wurden Teil des Proletariats unter verheerenden Ausbeutungsbedingungen. Dies trifft nicht nur für die dynamische kapitalistische Entwicklung in Indien zu. Auch in Pakistan wurden Frauen während der fieberhaften Entwicklung vor der großen kapitalistischen Krise in die Produktion einbezogen.

Zur gleichen Zeit sind beide Länder und auch viele andere Länder in Asiens „sich entwickelndem Kapitalismus“ geprägt von vorkapitalistischen Erscheinungen wie den feudalen Formen der Ausbeutung und das Kastensystem. All zu oft haben Frauen noch nicht einmal die formale Gleichberechtigung erreicht.

Die Rolle der Polizei, die Benutzung der Vergewaltigung als Waffe gegen unterdrückte Nationalitäten (wie in Kaschmir) und niedrige Kasten, die Verwendung von Einschüchterung und Misshandlung von den Bossen in der Fertigung sind tägliche Beispiele, die aufzeigen, dass keine Gerechtigkeit für Frauen von der herrschenden Klasse und dem Staat erwartet werden kann. Auch wenn die sechs Vergewaltiger ernsthaft verurteilt werden, sollte niemand Illusionen haben über den patriarchalen Charakter der staatlichen Institutionen und ihre Mitschuld, wenn nicht sogar Beteiligung, an den schlimmsten Formen der Unterdrückung.

Frauenbewegung

Als RevolutionärInnen kämpfen wir gegen die Unterdrückung der Frauen in jeder Form. Dies bedeutet, dass wir für vollständige Gleichberechtigung kämpfen müssen. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass die Schuldigen der Unterdrückung oder Vergewaltigung von Frauen und jungen Mädchen vor Gericht gebracht werden, aber nicht vor eine ungewählte Justiz der reichen Männer, sondern vor Gerichte, die von der Masse der Bevölkerung, der Armen, der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der unteren Kasten und national Unterdrückten gewählt sind. Mindestens die Hälfte dieser gewählten Gerichte sollte von Frauen besetzt sein.

Im Kampf gegen Unterdrückung und Missbrauch müssen wir permanent gegen alle Formen von Sexismus im öffentlichen Leben, auf der Arbeit und in der Familie kämpfen. Wir fordern öffentliche Mittel für Frauenzufluchtsorte und die Aufhebung aller Beschränkungen des Rechts auf Scheidung. Eine Ausbildung in Selbstverteidigung sollte für alle Frauen möglich sein.

Sicherlich ist das Selbstbewusstsein der Frauen und ihre demokratische Gleichberechtigung nicht genug. Um es Frauen zu ermöglichen, eine vollwertige Rolle in der Gesellschaft, bei der Arbeit, in der Politik und in der Arbeiterbewegung zu spielen, müssen wir für gleiche Bezahlung, für staatliche Bereitstellung von Kinderbetreuung, für menschenwürdige Behausung und ein Minimum an Einkommen für Arbeitslose, für geschiedene Frauen mit wenig oder gar keinem Einkommen oder für Rentner kämpfen, für ein Grundeinkommen, um den Lebensstandard zu erhalten, der von der Arbeiterbewegung festgesetzt wird und an Preissteigerungen angepasst wird.

Um ein solches Programm durchzusetzen, müssen Frauen an vorderster Front aller sozialen und politischen Bewegungen stehen. Dies bezieht auch den Kampf gegen den weit verbreiteten Chauvinismus und Sexismus innerhalb der Arbeiterbewegung und der Bewegungen der Unterdrückten selbst ein. Um in der Lage zu sein, dies zu tun, müssen die Frauen das Recht auf einen Caucus, d.h. auf eigene Treffen und Versammlungen haben.

Frauenunterdrückung in Indien und Pakistan – wie in allen Ländern – ist eng mit der kapitalistischen Ausbeutung selbst verknüpft, wo Frauen wie Waren oder Haussklavinnen behandelt werden. Es wird kein Ende der Frauenunterdrückung insgesamt geben, ohne den Kapitalismus zu stürzen – ohne soziale Revolution.

Um diese Kämpfe zu vereinen und die Frauen in den Vordergrund zu stellen, brauchen wir eine Massenbewegung der am meisten ausgebeuteten Frauen, eine Massenbewegung der Frauen der Arbeiterklasse.




Massenproteste in Brasilien: Alles auf die Straße!

Rico Rodriguez, Sao Paulo, 19. Juni, Infomail 690. 21. Juni 2013

artikel_brasilien2Was mit kleinen Demonstrationen in Sao Paulo und Rio de Janeiro begann, wuchs sich binnen zwei Wochen zum größten Protest in Brasilien seit zwei Jahrzehnten aus. Die Demonstrationen explodierten an Umfang und zeigten die wachsende Unzufriedenheit großer Teile der brasilianischen Gesellschaft, besonders der Jugend, mit der herrschenden Politik.

Auslöser der Bewegung war die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr von Sao Paulo, Rio de Janeiro u.a Städten. Zwar betrug diese nur 20 Centavos (etwa 7 Cent), dennoch zeigt ein Vergleich mit anderen Großstädten der Welt, dass die brasilianischen Fahrpreise im Verhältnis zu den Durchschnittslöhnen zu den höchsten gehören. Hinzu kommt, dass das Verkehrswesen sehr schlecht in Ausstattung und Betrieb ist und die Städte gewaltig belastet.

Es zeigte sich aber bald, dass das Anwachsen der Demonstrationen nicht nur den 20 Centavos geschuldet war. Diese scheinbar unbedeutende Summe war vielmehr der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und sich im Zorn einer Protestbewegung entlud, die nun die Straßen bevölkert. Viele andere Aspekte wie Korruption, Inflation und die riesige Geldverschwendung für die Fußballweltmeisterschaft kamen hinzu und heizten die Stimmung gegen die Regierung an, die zudem verschiedene öffentlichen Ausgaben kürzt.

Beginn der Bewegung und deren Unterdrückung

Die Demonstration in Sao Paulo wurde von einer Gruppe namens „Movimento Passe Live“ (Bewegung für einen Freipass) organisiert. Die Gruppe ist anarchistisch orientiert und hat eine offene Bündnisstruktur. Ihre Hauptforderung heißt „Kostenloser öffentlicher Nahverkehr“. Sie haben schon seit 2009 Demos gegen Fahrpreiserhöhungen organisiert, aber selbst sie waren überrascht von der Dynamik dieser Demonstrationswelle im Juni 2013.

Mit ein paar tausend vornehmlich jugendlichen TeilnehmerInnen fing es an. Die Zusammensetzung beschränkte sich zunächst v.a. auf AnhängerInnen der anarchistischen sowie der linken Gruppen in Brasilien wie PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit), PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei) oder LER-QI (Liga Revolutionäre Strategie – 4. Internationale). Die Aufmärsche waren ziemlich militant, blockierten oder besetzten Straßen. Dagegen ging die Polizei mit äußerster Härte vor, die den Protest mit ‚Bomben mit moralischer Wirkung’, wie es in Brasilien genannt wird, d. h. mit laut detonierenden Sprengkörpern, die Einschüchterung und Verwirrung stiften sollen, mit Tränengas und Gummigeschossen bekämpfte.

Die erste Protestwoche verlief bei steigender DemonstrantInnenzahl (von 3.000 auf 15.000) und Zusammenstößen mit der Militärpolizei, die neben der regulären Polizei eine Sondereinheit bildet. Sie wird v.a. zur offenen Repression eingesetzt. Die Presse ihrerseits hetzte gegen die Protestaktionen. Die Polizei infiltrierte die Bewegung, verübte Akte von Vandalismus gegen Banken und Läden, zündete Busse an und demolierte Metro-Stationen. Ein nicht geringer Teil der anarchistisch gesinnten Jugend zollte den Provokationen aus Naivität Beifall, weil sie über die Polizeiwillkür empört waren.

Am Donnerstag, dem 13.Juni, benutzte Geraldo Alckmin, der Gouverneur der Provinz Sao Paulo und Mitglied der rechten Partei PSDB, die Bilder von angeblicher Gewalt und Zerstörung durch die DemonstrantInnen in der Presse und verkündete, er würde diesen ‚Vandalismus’ nicht länger dulden. Der Bürgermeister von Sao Paulo Fernando Haddad von der brasilianischen Regierungspartei PT (Arbeiterpartei), die für die Fahrpreiserhöhungen verantwortlich ist, deckte den Einsatz der Polizei voll.

Die Demo am Donnerstag, bis dahin die größte, versammelte 15.000 im Zentrum von Sao Paulo und 7.000 in Rio de Janeiro. Beide waren von großer Begeisterung getragen, weil sich nun eine echte Bewegung abzeichnete. Leute winkten aus den Fenstern. Die idyllische Atmosphäre trog jedoch. Kurz nachdem der Zug das Stadtzentrum verließ, wurde er brutal von drei Seiten durch die Polizei attackiert. Sie setzte ohne Vorwarnung Tränengas und Gummigeschosse ein. Auch jene, die bereits die Straße in Richtung Roosevelt-Platz verlassen hatten, wurden weiter durch die Polizei verfolgt, geprügelt und beschossen. Eine regelrechte Hetzjagd setzte gegen DemonstrantInnen und sogar unbeteiligte PassantInnen ein. Alle AktivistInnen, derer der Repressionsapparat habhaft werden konnte, wurden festgenommen.

Die Polizei verwundete über 100 Menschen und verhaftete mehr als 200, die wegen ‚Bandenbildung’ angeklagt wurden und dabei keinerlei Rechte auf anwaltlichen Beistand bekamen. Sie mussten eine Kaution von fast 7.000 Euro für ihre Freilassung  hinterlegen. Auch mehrere Presseberichterstatter waren unter den Verletzten.

Massenbewegung

Es drängen sich Parallelen zu den Erhebungen der letzten beiden Jahre in Nordafrika und aktuell in der Türkei auf. In Brasilien zeigt sich ein Gemisch aus einem tiefen Unbehagen über die Regierungspolitik, unpopuläre staatliche Maßnahmen und die brutale Polizeirepression gegen die ersten Proteste. Die Unterdrückung der Demonstration am 13.Juni goss Öl ins Feuer der aufflammenden Revolte. Plötzlich konnte eine kleine anarchistisch beeinflusste Gruppe den Unmut von Tausenden im Land mit ihren Demonstrationen kanalisieren. Als Resultat kamen am 17. Juni die größten Demonstrationen in Brasilien seit 1992 zustande, als damals eine Kampagne zur Amtsenthebung gegen den damaligen Präsidenten Fernando Collor entfacht wurde.

Mehr als 230.000 Menschen demonstrierten am Montag in 12 großen Städten Brasiliens. In Sao Paulo gingen 65.000, in Rio de Janeiro sogar 100.000 Menschen auf die Straße. Die Hauptforderung der Bewegung ist zwar noch die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung, aber daneben gibt es eine Reihe von gesellschaftlichen Forderungen, die bei vielen in einen etwas diffusen Ruf nach einem ‚besseren Brasilien’ münden.

Die Bewegung hat die meisten Menschen in Brasilien überrascht. Wie alle Kräfte, die zu Massenbewegungen geworden sind, haben sie viel verändert. Der Führung der Bewegung für kostenlosen Nahverkehr, MPL, ist die Kontrolle bereits entglitten. Die Entwicklung nimmt aber auch eine besorgniserregende Richtung an.

Bei der Massendemonstration gingen Teile dazu über, die offene Teilnahme von (linken) Parteien und Gruppen zu unterdrücken. Diese Idee stammt ursprünglich von den AnarchistInnen, die starken Zulauf während der beiden letzten Wochen erhielten. Einer der verbreitetsten Slogans am Montag in Sao Paulo hieß ‚Keine Parteien’. Organisationen wurden aggressiv daran gehindert, Fahnen und Transparente mitzuführen und deswegen sogar tätlich  angegriffen.

Schon bei der Nachfolgedemo am Dienstag waren unter den 10.000 so gut wie keine Partei- und Gruppenfahnen zu sehen. An ihre Stelle traten nun brasilianische Nationalfahnen. Was also mit erkennbar linken Demonstrationen begann, könnte durchaus in eine nationalistische Richtung abgleiten. Am 19. Juni schwollen die Demonstrationen zahlenmäßig wieder gewaltig an.

Eine Orientierung für die Bewegung

Die Idee der ‚nicht parteigebundenen Repräsentation’ hat sich in der ganzen Bewegung verbreitet. Nun werden ‚Anti-Parteien-Kundgebungen’ propagiert. Obwohl das Gefühl, von keiner Partei wirklich vertreten zu werden, bei großen Teilen der Jugend durchaus nachvollziehbar ist, muss jedoch die reaktionäre anarchistische Idee des Partei- und Gruppenauftrittsverbots innerhalb der Bewegung zurückgewiesen werden. Die Freiheit der politischen Organisierung und die offene Teilnahme am Geschehen ist eine der demokratischen Grundrechte der Arbeiterklasse. Dieses Recht in einer Bewegung zu unterdrücken, ist ultrareaktionär.

Die Rücknahme der Fahrpreissteigerung ist in den kommenden Tagen und Wochen denkbar, wurde von den Regierenden jedenfalls schon versprochen. Welchen politischen Ausdruck sucht sich die heterogene Massenbewegung darüber hinaus? Sie vertritt eine starke Unzufriedenheit mit der politischen Repräsentanz, insbesondere mit der PT, die ja selbst dereinst ein Ergebnis von Massenprotest und der Arbeiterbewegung war. Sie ist jetzt erstmals seit der Regierungsübernahme 2002 Zielscheibe einer Protestbewegung  Das eröffnet die große Möglichkeit des Aufbaus einer politischen Formation links von der PT. Wenn aber die Linke keine Antwort darauf findet, wenn ihre organisierten Kräfte daran gehindert werden, offen am Protest teilzunehmen, so ist es nicht unmöglich, dass die politische Rechte Kapital daraus schlagen kann. Diese Gefahr besteht unmittelbarer, da die Demonstrationen auch nationalistischen Charakter anzunehmen drohen.

Absolut notwendig ist augenblicklich eine offene Konferenz, auf der die wichtigen Fragen der Bewegung diskutiert und beschlossen werden. Die Konferenz muss die Idee des Teilnahmeverbots von Parteien und Organisationen eindeutig verwerfen und das freie Recht zur Beteiligung an der Bewegung festlegen und sie muss Beschlüsse fassen zu den Hauptforderungen der Bewegung.

Die Bewegung muss sich mit den ArbeiterInnen zusammenschließen, sie für gemeinsame Forderungen und einen Generalstreik des Verkehrswesens gewinnen. Das würde nicht unbedingt eine Lahmlegung des öffentlichen Nahverkehrs bedeuten, der ja auch die Arbeiterklasse träfe, sondern v.a. die Fahrgastbeförderung ohne Kontrolle.

Mit der Erreichung des ursprünglichen Ziels des Fahrpreisstopps ist das Problem aber noch nicht gelöst. Der Bürgermeister von Sao Paulo hat bereits gesagt, wenn die Fahrpreise nicht erhöht würden, müssten die Subventionen fallen. D.h. die Profite der Privatfirmen müssen garantiert werden und die Arbeiterklasse müsste dafür zahlen, entweder durch Fahrpreissteigerung oder durch Besteuerung. Deshalb ist die vollständige Verstaatlichung jeglichen öffentlichen Verkehrs unter Kontrolle der Arbeiterklasse und der NutzerInnen erforderlich. Nur so kann der öffentliche Verkehr demokratisch überwacht und gewährleistet werden.

Um das zu erreichen, dürfen diese Maßnahmen nicht der PT o.a. etablierten Parteien überlassen werden. Die Bewegung kann und sollte die Rücknahme der Preiserhöhung durch Druck auf der Straße erlangen. Deshalb muss die Bewegung weiter ausgebaut werden für einen politischen Horizont, der über dieses Nahziel hinausweist.

Deshalb muss sich die Bewegung – statt alle Formen von politischer Organisation abzulehnen – im Gegenteil den Aufbau einer neuen Partei als Ziel stecken: eine wirkliche Partei der ArbeiterInnen und Unterdrückten – eine revolutionäre Partei!

  • Für die Verstaatlichung des öffentlichen Verkehrs unter Kontrolle der ArbeiterInnen und NutzerInnen mit massiv ermäßigten Fahrpreisen, finanziert durch die progressive Besteuerung von Reichtum und Kapital!
  • Für einen Generalstreik im öffentlichen Verkehrswesen, um diese Forderung und zugleich eine Lohnerhöhung für die Beschäftigten durchzusetzen!
  • Für die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und die Niederschlagung aller Anklagen gegen sie! Gegen die Repression der Bewegung!
  •  Für einen landesweiten Aktionstag, an dem die verschiedenen Kämpfe in Brasilien unter einem Banner und einer Bewegung vereint werden!
  •  Für die Organisations- und Redefreiheit innerhalb der Bewegung. Gegen alle Unterdrückung von linken Parteien und Organisationen!
  • Für den Aufbau einer neuen revolutionären Partei, landesweit und international!

Bild: AP / Felipe Dana




Her Yer Taksim, Her Yer Direnis! Überall ist Taksim – überall ist Widerstand!

Wie kann Erdogan gestürzt werden?

Flugblatt der Gruppe Arbeitermacht, Infomail 688, 13. Juni 2013

artikel_heryertaksimHunderttausende, ja Millionen ArbeiterInnen, Jugendliche, Männer und Frauen, TürkInnen und KurdInnen kämpfen seit Anfang Juni auf den Straßen und Plätzen Istanbuls, Ankaras, Izmirs und vieler anderer Städte.

Was als Mobilisierung gegen die Räumung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls begann, hat sich zu einer Massenbewegung entwickelt, die sich mittlerweile gegen das gesamte reaktionäre Regime von Erdogans AKP, gegen die nur notdürftig parlamentarisch verhüllte autoritäre Herrschaft des Premierministers richtet.

Erdogan und seine Regierung stehen für den Abbau demokratischer Rechte, nationale Unterdrückung (v.a. der KurdInnen) und die Einführung religiöser Zwangsgesetze. Das türkische Regime stützt sich dabei auf einen starken, zentralisierten Staatsapparat und mehr oder weniger dekorative Elemente parlamentarischer Demokratie, es kombiniert also Formen bürgerliche Herrschaft mit Bonapartismus.

Zugleich steht es für die brutale Umsetzung der neoliberalen Agenda des türkischen Kapitals und des Imperialismus und die Ambition, die Türkei zu einer Regionalmacht im Nahen Osten auszubauen. Und nicht zuletzt steht sie auch für die Abwälzung der Kosten der kapitalistischen Krise auf die Bevölkerung. Die Rezession war 2009 in der Türkei tiefer als in anderen „aufstrebenden Schwellenländern“ und der Aufschwung ist fragil. Die offizielle Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 22 Prozent.

Erdogan steht für die Interessen einer kleinen Schicht von Kapitalisten, Staatsfunktionären, religiösen Führern, welche Religion, Nationalismus, Lüge, Demagogie und die Bedienung der reaktionärsten Vorstellungen in der türkischen Gesellschaft als Kitt gebrauchen, um sich einen Massenanhang zu sichern.

Das Regime wankt

Die VerteidigerInnen des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks stehen heute an der Spitze einer Massenbewegung, die das Regime Erdogans und der AKP erschüttert hat – so wie zuvor die Arabischen Revolutionen ihre Despotien.

Trotz der brutalen und rücksichtslosen Polizeieinsätze, trotz mindestens drei von den Bullen getöteter AktivistInnen, trotz tausender Verletzter und Festgenommener haben sie den Taksim-Platz u.a. Plätze immer wieder heldenhaft zurück erobert. Erdogan diffamiert sie als eine „kleine Minderheit von Terroristen“ – doch schon heute stehen hinter ihnen Millionen.

Entscheidend wird freilich sein, diese Millionen aktiv und dauerhaft in den Kampf zu ziehen, die Kampfformen der Bewegung über Besetzungen und Demonstrationen hinaus zu einem unbefristeten politischen Generalstreik auszuweiten. Der Streik der KESK Anfang Juni, an dem sich 240.000 Menschen beteiligten, und die für Mitte Juni angekündigten Streiks in zahlreichen Großbetrieben der Metallindustrie zeigen, welches Potential vorhanden ist. Eine Verbindung des Kampfes um demokratische Rechte mit den  sozialen Forderungen der Arbeiterklasse und dem Kampf für die Freiheit des kurdischen Volkes könnte nicht nur zum Sargnagel für Erdogan und die AKP werden, sondern auch den autoritären türkischen Staatsapparat in seinen Grundfesten erschüttern.

Genau das fürchten die Herrschenden in der Türkei; das beunruhigt die Börsen des Landes und den Kurs der Lira.

Es geht ums Ganze

Mit seinen Angriffen auf die BesetzerInnen, mit immer neuen Provokationen und Drohungen zeigt Erdogan, was er wirklich will. Seine „Verhandlungsangebote“ wie jene anderer Führungsleute aus der AKP sind reiner Hohn und nichts weiter als die verlogene Begleitmusik zum täglichen Polizei-Einsatz. Dem Regime geht es um den eigenen Machterhalt. Dazu ist es bereit, eine Bewegung in Blut und Tränengas zu ersticken.

Sie muss daher, ob sie will oder nicht, den Fehdehandschuh aufgreifen. Es geht tatsächlich ums Ganze. Doch wie kann die Bewegung siegen?

Indem sie sich auf ihre eigene Stärke – und nicht auf falsche Freunde wie Präsident Gül oder westliche Diplomaten vom Schlage Westerwelles – verlässt. Diese wollen mäßigend auf Erdogan einwirken, fordern „Verhältnismäßigkeit“ von Bulleneinsätzen und einen „Dialog“ – doch nicht, weil sie das Herrschaftssystem der AKP und der türkischen Bourgeoisie stürzen, sondern es retten wollen. Sie fürchten, dass die Sache der Kontrolle Erdogans entgleitet, das Land – und somit auch die „Ordnung“ in einem geostrategisch wichtigen Gebiet – weiter destabilisiert wird. Falsche Freunde der Bewegung sind aber auch die türkischen Nationalisten aus der CHP, die Jahrzehnte die blutige Unterdrückung der KurdInnen unterstützten, ja forderten, deren FührerInnen selbst tief in Korruption, Unterdrückung und Profitmacherei des türkischen Kapitalismus verstrickt waren und sind.

Worin aber besteht die Stärke der Bewegung? Darin, dass sie Hunderttausende, wenn nicht Millionen ArbeiterInnen, Jugendliche und Frauen, Menschen verschiedener Glaubensrichtungen und Nationalitäten in Bewegung gesetzt hat. Diese Einheit der ausgebeuteten und unterdrückten Schichten muss und kann vertieft werden, wenn die Bewegung selbst ein mutiges und klares Programm entwickelt, das in der Lage ist, die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen zu bündeln und ihnen eine politische Stoßrichtung zu geben.

Politischer Generalstreik!

Um die Regierung Erdogan in die Knie zu zwingen, braucht es einen politischen Massenstreik: einen Generalstreik. Diese Forderung muss an die Führung und die Mitglieder der Gewerkschaften gestellt werden. Sie müssen dazu aufgefordert werden, mit jeder Unterstützung für Erdogan zu brechen und für die Bewegung Partei zu ergreifen. Zugleich müssen in den Fabriken und Unternehmen, an den Unis und Schulen, in den Stadtteilen öffentliche und betriebliche Massenversammlungen organisiert werden, die Aktionsräte wählen, um die Bewegung zu koordinieren und einen Generalstreik zu tragen – und wenn nötig auch ohne die bestehenden Führungen erzwingen und organisieren können.

Ein solche Bewegung müsste daran gehen, Selbstverteidigungseinheiten der ArbeiterInnen und die Massen in den Stadtteilen aufzustellen, die die Kämpfenden vor der Polizei schützen und in der Armee unter den einfachen Soldaten agitieren, sich jedem Einsatz gegen die Bewegung zu widersetzen und Soldatenräte zu bilden.

Ein Generalstreik würde die Machtfrage stellen. Er würde die Frage aufwerfen, wer herrschen soll: die AKP (mit oder ohne Erdogan), die bürgerlich-nationalistische Opposition – oder eine Arbeiter- und Bauernregierung, die sich auf Räte stützt, die Konterrevolution entwaffnet, die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen erfüllt (insbesondere die Rücknahme aller religiösen, antidemokratischen und frauenfeindlichen Gesetze, Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes) das Großkapital unter Arbeiterkontrolle enteignet und eine demokratische Planung einführt.

Doch um in die Arbeiterklasse und die Bewegung für eine solche Perspektive zu gewinnen, braucht es auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiterpartei, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen stützt, welches die Massen zur sozialistischen Revolution führt.

Solidaritätsbewegung aufbauen!

Die BesetzerInnen vom Gezi-Park, von Taksim, die gesamte Massenbewegung in der Türkei braucht die Unterstützung aller linken Organisationen, ja der gesamten Arbeiterbewegung der Welt.

Die Politik der deutschen u.a. imperialistischer Regierungen ist ein heuchlerischer Skandal. Über Jahrzehnte war und ist die Türkei ein wichtiger Verbündeter der westlichen Regierungen, eine riesige Aufmarschbasis der NATO.

Westliche Konzerne profitieren milliardenschwer von den neoliberalen Angriffen der AKP-Regierung, von Privatisierungen der türkischen Wirtschaft, von Outsourcing von Arbeitskräften und Billigjobs, von Immobilien- und Börsenboom, von Waffenkäufen des türkischen Staates, die gegen das kurdische Volk oder heute gegen die demokratische Bewegung eingesetzt werden.

Sie profitieren von der Unterdrückung unabhängiger Gewerkschaften, von der Unterdrückung des kurdischen Volkes und der nationalen Spaltung der Arbeiterklasse – allein schon, weil das die Widerstandskraft der Lohnabhängigen schwächt.

Die Empörung deutscher Politiker ist pure Heuchelei. Bis vor kurzem galt die Türkei noch als „Demokratiemodell“, das in Ländern wir Ägypten oder Libyen kopiert werden sollte.

Auf den „Terrorlisten“ der EU befinden sich bis heute eine Reihe linker türkischer Organisationen sowie die kurdische PKK. Linke AktivistInnen werden bis heute in der BRD u.a. westlichen Ländern verfolgt, vor Gericht gestellt oder abgeschoben. Solidarität mit den Kämpfenden in der Türkei muss auch Solidarität mit diesen GenossInnen hier bedeuten:

  • Sofortiger Abzug der Polizei und aller Sondereinheiten von Taksim u.a. Plätzen! Freilassung aller politischen Gefangenen, aller von der Polizei in den letzten Tagen Festgesetzten!
  • Untersuchung aller Angriffe auf die DemonstrantInnen, Aburteilung der politisch nd polizeilich Verantwortlichen durch von den Massen gewählte, öffentliche Tribunale!
  • Aufhebung aller antidemokratischen, frauenfeindlichen und religiösen Gesetze, die politische Rechte, Freizügigkeit im öffentlichen Leben und das Selbstbestimmungsrecht der Frau einschränken!
  •  Schluss mit jeder diplomatischen und politischen Unterstützung der türkischen Regierung! Schluss mit allen Waffenlieferungen!
  •  Aufhebung aller Vorbote linker und fortschrittlicher türkischer und kurdischer Organisationen in Deutschland und der EU! Weg mit dem PKK-Verbot!

Bild: http://everywheretaksim.net/tr/taksimdeki-miting-icin-binlerce-insan-meydana-akti/, Fotoğraf: Serkan OCAK




Frankreich: Faschistische Bedrohung zurückschlagen!

Marc Lassalle,  Infomail 689, 17. Juni 2013

artikel_faschistischebedrohung_frankreichClément Méric, ein 18jähriges Mitglied der Antifaschistischen Aktion von Paris-Banlieue, einer anarchistischen Gruppe, wurde am 6. Juni 2013 von einer faschistischen Bande mitten in Paris ermordet. Die Nachricht hat die radikale Linke in Frankreich schockiert. Am nächsten Tag wurden Kundgebungen in dutzenden Städten organisiert, die größte in Paris mit 1.000 TeilnehmerInnen. Am 8. Juni marschierte ein Zug von 10.000 Leuten zu Mérics Gedenken und skandierte ‚No pasaran’.

Kein isoliertes Ereignis

So schockierend der faschistische Mord ist – er darf er nicht als Einzelereignis betrachtet werden. Seit letztem Herbst trat die Arbeiterbewegung nur in kleiner Zahl und sporadisch in Erscheinung. Während Präsident Hollande und seine Sozialistische Partei die Arbeiterschaft, die Jugend und die MigrantInnen angreift, haben die Gewerkschaften und linken Parteien kaum darauf reagiert. Eine größere Offensive gegen die Arbeiterrechte wurde nur mit symbolischer Opposition von Seiten des größten Gewerkschaftsverbandes, der CGT, quittiert, der sich die andere große Gewerkschaft, CFDT, anschloss.

Die Aulnay-ArbeiterInnen befanden sich mehrere Monate im Streik, um ihr Peugeot-Werk im Norden von Paris zu verteidigen, beendeten jedoch vor kurzem ihre Kampfmaßnahme. Sie mussten nahezu völlig auf sich allein gestellt kämpfen und blieben ohne Beistand von anderen Fabriken. Auch von der CGT wurden sie allein gelassen. Wie üblich, wenn die ‚linken’ ReformistInnen an die Regierung gelangen, können sie sich darauf verlassen, dass ihre vielen Verbündeten und Freunde an der Gewerkschaftsspitze den Widerstand gegen die Regierung und v.a. eine landesweite Mobilisierung ersticken.

Mehrere Monate lang hatte eine vollkommen reaktionäre Koalition aus der rechten UMP-Partei und der katholischen Kirche die Straßen dominiert mit Aktionen gegen die Freigabe der ‚Ehe für alle’ per Gesetz, das auch gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt. Die Reaktion brachte mehrere Hunderttausend auf die Beine. Die meisten kamen aus katholischen Mittelschichtsfamilien, dazu kamen etliche reaktionäre und faschistische Gruppierungen, u.a. „Bloc Identitaire“, „Civitas“ (katholische Faschisten) oder „Jeunesse Nationaliste Revolutionnaire“, die auch für den Mord an Méric verantwortlich war.

Die Spitze dieses reaktionären Blocks träumt davon, die Regierung durch die Organisierung eines ‚französischen Frühlings’ zu stürzen. Mit von der Arbeiterbewegung geklauten Parolen und Liedern wollen diese Gruppen eine soziale Opposition gegen die Regierung etablieren. All dies bedeutete Energiezufuhr für die radikale Rechte. In den ersten Monaten des Jahres steigerten sich homophobe Attacken um 30 Prozent. Weder die linken Parteien oder Gewerkschaften noch die äußerste Linke gaben den Anstoß, sich organisiert gegen das reaktionäre Pack zu erheben und es zurück zu schlagen.

Mehrere Jahre lang stieg ständig der Stimmenzuwachs für die rassistische reaktionäre Front National (FN). Die Ideen dieser Partei weiten sich auch auf neue Schichten aus, v.a. in ländlichen Gegenden, die am härtesten von der Krise betroffen sind. Zwar ist die FN bei den rechten Märschen nicht offiziell aufgetreten, könnte jedoch von diesen Bewegungen als Partei profitieren.

Die radikale Linke muss den Worten Taten folgen lassen

Besonders bedauerlich: auch die „Neue Antikapitalistische Partei“ (NPA) blieb im wesentlichen nur passive Beobachterin dieser wachsenden Gefahr. Die wiederkehrende Formel in den Reden ihrer FührerInnen „Wir stehen im Wettlauf mit der FN“ hat sie bislang nicht in politische Strategie oder konkrete Abwehr gegen faschistische Gruppen oder die FN umgemünzt.

Die Erklärung der NPA zu dem faschistischen Mord lautete: „Der Tod von Clément ist eine Warnung. Wir müssen alle gemeinsam mit größter Einheit handeln, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, den Abwehrkampf in Gang setzen und sie davon abhalten, Schaden anzurichten.“

Die NPA und die  französische Arbeiterbewegung müssen in der Tat schnell handeln und eine antifaschistische/antirassistische Bewegung ins Leben rufen, um diese rassistischen und reaktionären Parteien und Gruppen zu stoppen. Gemeinsame Verteidigungseinheiten sollten gebildet werden zum Schutz von Demos, Einwandererwohngebieten und Homosexuellen-Treffs vor faschistischen und Polizei-Attacken. Das Ziel sollte die Blockade von faschistischen Märschen sein, um sie daran zu hindern, ihre rassistischen und homophoben Lügen zu verbreiten.

Die Krise des europäischen Kapitalismus bereitet den Boden auch für das Anwachsen faschistischer Gruppierungen wie die Goldene Morgenröte in Griechenland, Joblik in Ungarn oder die English Defence League in Britannien. Es ist lebensnotwendig für die europäische Arbeiterklasse, sich gegen die Attacken der Bourgeoisie zusammenzuschließen, aber auch starke internationalistische Verbindungen aufzubauen, um der nationalistischen und rassistischen Demagogie erfolgreich entgegenzutreten.

Bild: http://www.flickr.com/photos/kunirosawa/ (CC BY-NC-ND 2.0)




Bericht aus Brasilien: São Paulo in Bewegung

Rico Rodriguez, Infomail 689, 17. Juni 2013

artikel_saopaulo_bewegungIch bin kaum einen Monat in Sao Paulo und schon mitten in einer Bewegung gegen die Fahrpreis-
erhöhung des öffent-
lichen Verkehrs in Sao Paulo. Die Bewegung ist richtig gut, ich bin begeistert – aber zugleich empört über die Repression und die Berichterstattung in den Medien. Deshalb habe ich mich entschieden, diesen Bericht über die heutige Demonstration zu schreiben.

Es war heute, am 14. Juni, die dritte Demonstration, an der ich teilgenommen habe. Die Bewegung gefällt mir – und sie wächst. Das erste Mal, als ich teilnahm, kamen vielleicht 2.000 Leute. Das zweite Mal, letzten Dienstag, 8.000 und heute 15.000. Ich denke, die Bewegung hat eine gute Chance, die Rücknahme der Erhöhung zu erreichen, denn die regierende PT (Partido dos Trabalhadores, Arbeiterpartei) in Sao Paulo bekommt Probleme damit. Sie hat die Bewegung unterstützt, als sie noch in der Opposition war. Heute stellt sie den Bürgermeister und hat die Preiserhöhung selbst durchgesetzt. Diese Woche hat die Jugend der PT dazu aufgerufen, an den Demonstrationen teilzunehmen – gegen den eigenen Bürgermeister? Die PT hat sich beeilt zu erklären, dass Mitglieder der Partei als „Einzelpersonen“ teilnehmen könnten.

Heute waren zwei Fahnen der PT in der Demo zu sehen. Die DemonstrantInnen antworteten darauf mit: „Raus mit der PT!“ und „Hey, PT, fick dich!“ Außer der PT nahmen auch fast alle anderen bekannten linken Parteien und Gruppen an der Demo teil.

Beginn

Die Demo begann um 17.00 Uhr im Zentrum von Sao Paulo, vor dem Teatro Municipal. Als ich ankam, war der Platz bereits brechend voll. Die Stimmung war super, kämpferisch, entschieden, aber auch diszipliniert. Ich war begeistert. Nach über einer Stunde „aufwärmen“ – Sprechchöre rufen und singen – ging die Demo los in Richtung Praca República, auch im Zentrum von Sao Paulo gelegen. Alle waren gut drauf, die Leute winkten aus den Fenstern der Büros und der Wohnungen. Das ist schon nicht mehr nur eine Demo der Linken, das ist schon eine Bewegung. Es geht auch nicht mehr nur um 20 Centavos (der Fahrpreis wurde von 3 Reais auf 3,20 Reais erhöht; ein Euro = 2,6 Reais). Später habe ich mit einem Demonstranten gesprochen. Er meinte zu mir, die 20 Centavos sind „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“ So ist es bei vielen Bewegungen, sei es bei S21, dem Arabischen Frühling oder jetzt in der Türkei. Es gibt viele Gründe, aber den Anlass kennt man vorher nicht.

Ich rannte an die Spitze der Demo, um sie von vorn zu sehen. Ein tolles Bild. Als die Demo an der Kreuzung zur großen Straße „Consolação“ kam, war es super voll. Vielleicht sogar mehr als 15000. Die Demo machte an der Kreuzung halt, hielt eine Weile inne und rief Sprechchöre. Dann machte sie sich auf den Weg in die „Consolação“.

Der Gouverneur des Bundesstaates Sao Paulo, Alckmin (von der rechten Partei PSDB), hatte bereits angekündigt, dass die Demonstration unterdrückt werden würde. In den Zeitungen war zu lesen, dass die Polizei „hart durchgreifen“ werde. Als ich die Demo und die Masse sah, dachte ich noch, die Polizei wird sich das nicht trauen. Aber weit gefehlt.

Ich habe schon viele Demos erlebt, in mehreren Ländern. Aber das heute waren Szenen, wie ich sie aus dem Fernsehen aus Kriegen kenne. Als wir ein Stück gegangen waren, hörte ich die ersten Bomben (die Polizei wirft Bomben, um die Menschen zu erschrecken). Ich dachte, dass wäre eine Warnung. Aber direkt danach kam schon die Polizei von vorn und begann, Tränengas zu verschießen.

Die Polizei hatte den Befehl, die Demonstration zu unterdrücken – und sie machte ernst damit. Die Mehrheit der Demo floh von der Straße zu einer Tankstelle an der Seite. Die Polizei beließ es nicht dabei und attackierte sie auch dort noch mit Tränengas. Ein Teil, unter anderem ich, wollten zurück auf die Straße, um die Demo fortzusetzen. Wir kehrten zurück und riefen Slogans. Die Mehrheit musste von der Tankstelle fliehen und rannte zum nahegelegenen Platz, der „Praça Roosevelt“. Dann kam die Polizei auch von hinten und attackierte weiter. Ich war noch auf der Straße, und das Gas begann zu brennen. Ich wollte in die andere Richtung fliehen, als ich sah, dass die Polizei auch von dort kam. Jetzt schossen sie Tränengas von allen Richtungen. Ich drehte mich um und blickte auf die Straße. Die Leute rannten in alle Richtungen, zwischen dem Rauch konnte ich die Menge auf der anderen Seite der sehr breiten Straße erkennen. Ich blickte nach rechts: Polizei; nach links: Polizei. Ich dachte: Was jetzt? Der einzige Ausweg war der Platz auf der anderen Straßenseite. Ich begann zu rennen. Ich konnte kaum noch etwas sehen, meine Augen tränten, der Mund brannte, ich konnte kaum atmen. Ich musste unbedingt auf die andere Seite – koste es, was es wolle. Also rannte ich.

Doch die Polizei war auch schon auf diesem Platz. Tausende Menschen waren nun dort zusammengepfercht, es gab keinen Ausweg mehr – und die Polizei schoss weiter Tränengas – und inzwischen auch Gummigeschosse.

Plötzlich spürte ich etwas an meiner Hand. Ein irrer Schmerz. Nun erst merkte ich, dass es ein Gummigeschoss gewesen war. Ich sah einen blutigen Abdruck und fühlte meine Hand taub werden. Zum Glück hatte ich Wasser für mein Gesicht mit, das immer noch brannte. Viel Wasser. Welche Erleichterung! Ich schrie: „Verdammt, ist die Regierung hier von der Arbeiterpartei oder von einer faschistischen Partei?“ Ich bekam die Antwort, dass die Regierung von der PT ist, was ich natürlich wusste.

Wir schafften es, auf die andere Seite des Platzes zu fliehen, die Polizei verfolgte uns. Doch mir passierte (außer einer Kontrolle auf dem Heimweg) weiter nichts. Ich ging weiter mit ein paar anderen Leuten und zeigte meine Hand einigen schockierten PassantInnen mit dem Hinweis, dass diese Bilder nicht in der Zeitung kommen. Aber bald verließ mich der Mut, noch weiter zu gehen, meine Hand schmerzte. Den Rest des Abends verbrachte ich in einer Bar, wo im Fernsehen die restlichen „Kriegs-Szenen“ – live vom Helikopter gefilmt – gezeigt wurden.

Vorbereitete Repression

Die Medien und die Politik hatten diese Repression wohl vorbereitet. Während der Demo letzten Dienstag war ich direkt vor einem der Busse, die angeblich von den DemonstrantInnen angezündet worden waren. Doch ich glaube das nicht. Wir liefen auf der Straße, als da plötzlich dieser einsame Bus stand: verlassen, kein Fahrer, kein anderes Auto, nichts. Plötzlich fing der Bus Feuer. Alle um mich herum waren schockiert und wir machten, dass wir Abstand gewannen. Sofort war die Presse zur Stelle und lieferte die entsprechenden Bilder.

Heute passierte solch ein Vorfall noch einmal. Als ich vor der Polizei floh, sah ich wieder einen Bus, der brannte. Plötzlich sah ich Rauch vom Bus aufsteigen. Doch – der Rauch kam von innen. Es war niemand im Bus, der das in diesem Moment gemacht haben könnte. Das waren nicht wir. Das war vorher vorbereitet, das war die Polizei selbst.

Mittwoch brachten alle Zeitungen, dass die Demo am Dienstag super gewalttätig gewesen sei, dass sogar ein Bus angezündet und Polizisten angegriffen worden waren. Das Bild des brennenden Busses war groß in allen Zeitungen. Am Donnerstag kündigte der Gouverneur Alckmin dann an, dass diese Demos nicht mehr unter die Meinungsfreiheit fielen, sondern „Vandalismus“ seien, und dass er das nicht weiter zulassen werde. Der Bürgermeister Haddad (PT) widersprach dem nicht und bestätigte, dass die Polizei „angemessen“ gehandelt habe.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass auch Leute an der Demo teilnehmen, die sauer sind und Sachen kaputt schlagen, die ihren Frust raus lassen. Aber einen Bus anzünden, bei einer Demo gegen die Erhöhung der Fahrpreise des öffentlichen Verkehrs? Welchen Sinn sollte das denn für Demonstranten, ja selbst für den verrücktesten Abenteurer machen? Ich sah aus nächster Nähe, wie die Busse Feuer fingen – zwei Mal, ich habe an der Bewegung teilgenommen, ich sah die Reaktion in den Medien, des Gouverneurs, und ich war heute dort.

Die Regierung, sowohl der Stadt (PT) als auch des Staates (PSDB), wollen diese Bewegung unterdrücken, bevor sie zu einem Problem wird. Aber sie haben sich mit dieser Taktik heftig verzockt. Das Fass ist übergelaufen. Es geht längst nicht mehr nur um die 20 Centavos.

Bild: EPA




Türkischer Frühling: Taksim den ArbeiterInnen! Nieder mit Erdogan!

Georg Ismael, Infomail 687, 6. Juni 2013

Seit fast einer Woche wird die Türkei von den größten Massenprotesten seit mehr als einem Jahrzehnt erschüttert. Was am vergangenen Freitag als friedlicher Protest gegen den Bau eines Hotels am Taksim-Platz begann, ist mittlerweile zu einer landesweiten Revolte gegen den Ministerpräsidenten Erdogan und die regierende AKP geworden. Mehr als das: die aktuellen Massenproteste in der Türkei schlagen Wellen weit über die Türkei hinaus.

Vom Protest am Gezi-Park …

Als in der Nacht vom Sonntag, dem 26. Mai, die Bulldozer am Taksim-Platz rollen, um im nahegelegenen Gezi-Park Bäume zu roden, formiert sich der erste Protest. Der Park, der in Istanbuls Innenstadt liegt, soll einem Neubau weichen. Er soll Platz für ein Hotel und ein Einkaufszentrum schaffen, ein Symbol der AKP-Politik. Bereits jetzt wird prognostiziert, dass mehr als 11 Einkaufszentren in Istanbul Fehlbauten sind. Trotzdem sollen allein in den nächsten Jahren weitere 110 große Einkaufzentren errichtet werden, davon insgesamt 80 in Istanbul und der Hauptstadt Ankara.

Für die Herrschenden sind sie ein Zeichen der „Modernisierung“ und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Für die arbeitende Klasse und viele Arme sind sie ein Ausdruck der neoliberalen Politik der konservativ-islamischen AKP-Regierung unter Erdogan, von dem viele behaupten, er wolle sich „Denkmäler“ mit diesen Bauten schaffen. Doch der Kompromiss der herrschenden Klasse mit Teilen des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse, der Wirtschaftswachstum im Gegenzug für politische Ruhe versprach, scheint nicht länger zu halten.

Der Krieg gegen die KurdInnen, das brutale Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung bei Streiks wie vor kurzem in der Tabakindustrie sowie der immer schärfere Abbau von Pressefreiheit und demokratischen Rechten war der Boden, auf dem sich türkisches und ausländisches Kapital bereichern. Bereits im vergangenen Jahr gab es immer wieder vereinzelte Proteste – auch in nicht-kurdischen Gebieten – gegen diese Umstände.

Der Kampf um den Gezi-Park, der eine der wenigen Grünflächen Istanbuls und darüber hinaus ein wichtiger Bezugspunkt für die Arbeiterbewegung im türkischen Staat darstellt, war daher Auslöser, nicht Grund für aktuellen Massenproteste.

… zur landesweiten Revolte

Die ganze Woche über gibt es immer wieder Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Abholzung des Gezi-Parks mit allen Mitteln durchsetzen will. Sie benutzt Pfefferspray, nutzt Knüppel und brennt Zelte nieder. Nach kurzer Zeit kommen die DemonstrantInnen jedoch immer wieder zurück – mit mehr TeilnehmerInnen als zuvor. Zwischenzeitig sah es so aus, als könne das Vorhaben, den Gezi-Park zu roden, gestoppt werden, nachdem Parlamentarier der BDP, einer kurdischen Partei und der CHP, der nationalistisch-kemalistischen Oppositionspartei, nach der Baugenehmigung fragten.

Doch der Schein trügt. Am Freitag, als sich bereits über 5.000 AktivistInnen, v.a. Jugendliche, im Park versammelt haben, greift die Polizei an. Die Gewalt ist derart massiv, dass nach Aussagen der AktivistInnen Menschen sterben. Die Polizei verschießt gezielt Tränengas  – so dass die Projektile die Köpfe und Unterleiber der DemonstrantInnen treffen. Wasserwerfer, die mit Pfefferspray versetzt sind, werden eingesetzt. Doch der Rubikon ist überschritten. Die Gewalt, die vom Erdogan-Regime ausgeht, um den Park zu räumen, ist wie Öl im Feuer – es kommt zur sozialen Explosion.

Der Solidarisierungseffekt ist gewaltig. Innerhalb kürzester Zeit drängen Massen von Menschen aus den Arbeitervierteln Istanbuls auf die Straßen, insbesondere Jugendliche und Frauen sind in den ersten Reihen der Kämpfe zu sehen. Auch Teile des Kleinbürgertums solidarisieren sich. Clubs bleiben geschlossen, kleine Händler und AnwohnerInnen öffnen ihre Türen, um den Verwundeten zu helfen – selbst ein bekannter Fernsehmoderator lässt seine Sendung ausfallen und ruft offen zum Protest auf.

In stundenlangen Straßenschlachten, die von der Polizei mit unglaublicher Härte geführt werden, versuchen die DemonstrantInnen, den Park zu erobern und die verhasste Polizei zu vertreiben. So ist es ihnen am Samstag möglich, den Taksim-Platz zurückzuerobern. Mittlerweile hat sich der Protest auf rund 70 Städte ausgeweitet. Auch die Forderungen sind radikaler geworden. Immer öfter hört man Slogans, die den Sturz der Regierung fordern.

Doch auch die Gewalt seitens der Regierung nimmt zu. Auch wenn die Polizei vom Taksim-Platz fliehen muss, verlagert sie den Kampf in andere Stadtviertel. Hunderte werden verhaftet, viele sind schwer verletzt. Erdogans Ansprache war eine weitere Provokation, die klar machte, dass er keinen Kompromiss schließen will, sondern ein offenes Kräftemessen mit der Arbeiterklasse provoziert.

„Marodeure, Terroristen und Extremisten“ nennt er die Menschen auf den Straßen. Er hingegen sei ein „Diener des Volkes“. Kurz bevor er seine Auslandsreise antritt, lässt er zwar verlauten, dass untersucht werde, ob die Gewalt der Polizei „unverhältnismäßig“ sei, für die politischen Forderungen hat er allerdings nur Hohn übrig. Zu den Protesten am Gezi-Park sagt er folgendes: „Ihr wollt Bäume? Ihr könnt Bäume haben. Vielleicht können wir sogar welche in eure Gärten pflanzen.“ An dem Bau des Projektes will er aber auch nach tagelangen Emeuten nicht rütteln. Zugute kommt ihm zwar die Pressezensur und die Regierungstreue der meisten großen Medien, aber bei dem Ausmaß, dass die Proteste zu diesem Zeitpunkt angenommen haben, lässt sich nur noch wenig verheimlichen.

Falsche Freunde

Das liegt vor allem an der unglaublichen Solidarisierung mit dem Widerstand, der um sich greift. Auch den Informationsfluss kann Erdogan nur begrenzt stoppen, will er nicht das gesamte Internet lahmlegen, ein Schritt, der eine „Alles oder Nichts“-Situation provozieren könnte.

Das wollen auch Andere nicht – allen voran die heuchlerischen PolitikerInnen der USA und der EU. Nach Tagen blutiger Auseinandersetzungen beginnen sie anzumerken, dass die Gewalt „beunruhigend sei“, dass die „Verhältnismäßigkeit eingehalten“ werden müsste. So ließ die deutsche Bundesregierung über die Menschenrechtsbeauftragte Löning verkünden, dass sie „die  Entwicklungen in Istanbul und anderen Städten in der Türkei mit Sorge“ verfolge. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit seien in einer Demokratie „zentrale Grundrechte, die es zu wahren und zu schützen gelte. Besonnenheit und Deeskalation auf allen Seiten“ seien das Gebot der Stunde.

Vor allem sehen sie die Gefahr einer Destabilisierung der Regierung, die auch und besonders im Interesse der zentralen Imperialisten innerhalb der EU-Privatisierungen und der neoliberalen Politik durchgesetzt werden. Nicht die Gewalt des Staates an sich wird verurteilt. Sondern die Unverhältnismäßigkeit, die zu massivem Widerstand geführt hat, werden mit Sorge betrachtet. Doch Ähnliches passierte auch in Deutschland bei den Protesten in Frankfurt, wo mit massiver Polizeigewalt das Versammlungsrecht aufgehoben wurde.

Aber auch innerhalb der Bewegung gibt es falsche Freunde, namentlich die kemalistische Partei CHP. Sie mag zwar mit ihrem sekulären Anspruch als progressive Alternative gegenüber der AKP und Erdogan erscheinen, sozial gesehen ist diese Partei aber eine mindestens genauso große Bedrohung für die Bewegung, wie die aktuelle Regierung. Denn die CHP ist konsequente Verfechterin des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung. Auch gegen die Privatisierungen und die Politik der AKP im Namen des türkischen Kapitals hat sie nichts einzuwenden, sie will sie nur auf anderem Wege erreichen – kurz: sie will selbst die Politik für das Kapital machen, anstatt dies der AKP zu überlassen.

Doch es gibt durchaus einen nicht unbedeutenden Fakt, der die CHP und die AKP unterscheidet. Die CHP hat durchaus starke Verbindungen in das Militär und die Generalität, die von der Beschneidung ihrer Befugnisse durch das Erodgan-Regime sicher nicht erfreut ist. So lange sich der Protest also gegen die AKP richtet, versucht sich die CHP als Opposition zu profilieren. Sollte es allerdings zum Sturz der Regierung kommen, würde sich die CHP unmittelbar, an der Seite des Militärs an die Spitze des Staates drängen – zumindest, wenn die Arbeiterklasse nicht selbst eine Alternative anzubieten und zu erkämpfen vermag.

Ein anderer falscher Freund ist der türkische Präsident Gül. Während Erdogan die Polizei gegen die DemonstrantInnen brutal vorgehen lässt, diese verhöhnt und jeden Kompromiss ablehnt, gibt sich Gül als der volksnahe Präsident. Er kritisiert die Polizei, fordert zum „Überdenken“ von Regierungsmaßnahmen auf und verklärt sich zum Verteidiger der „Demokratie“. Davon sollte sich niemand täuschen lassen. Gül kommt nicht nur aus derselben Partei wie Erdogan. Auch die Rollenteilung – hier der „harte“ und „böse“ Erdogan, dort der „verständnisvolle“ Gül – wurde in den letzten Jahren immer wieder geübt, um Protest gegen Regierungsmaßnahmen zu unterlaufen, indem durch Gül Kompromissbereitschaft signalisiert, die Maßnahmen der Regierung in der Substanz aber trotzdem umgesetzt wurden.

Für einen Türkischen Frühling der ArbeiterInnen und der Jugend!

Momentan ist die Bewegung in der Offensive, sie ist im Wachsen und erobert Positionen. Doch schon bald wird sie an ihre Grenzen stoßen, wenn sie nicht eine klare Perspektive und eine organisierte Gegenmacht aufzeigen kann, die nicht nur Protest gegen die Polizeigewalt und die AKP darstellt, sondern beide auch ersetzen kann. Beides ist nicht mit Parteien wie der CHP, noch mit den „UnterstützerInnen aus dem demokratischen Westen“ möglich.

Auch wenn die Arbeiterbewegung sowohl organisatorisch, als auch politisch stark zersplittert ist, so bietet die aktuelle Situation eine historische Gelegenheit, diese Schwäche zu überwinden.

So befinden sich seit Mittwoch, dem 5. Juni, etliche Gewerkschaften im Streik und haben zu Demonstrationen aufgerufen. Es ist aber unbedingt erforderlich, dass diese Streiks zu einem umfassenden und unbefristeten Generalstreik ausgedehnt werden. Dass auch viele Gewerkschaftsbürokraten das nicht wollen, ist nicht verwunderlich, aber kann gebrochen werden, sollte die türkische Linke unmittelbar für Versammlungen in den Betrieben und innerhalb der Streiks aufrufen, die Streikleitungen wählen, die der Basis verpflichtet sind.

Das gleiche ist unbedingt in den Stadtbezirken notwendig. Die Bewegung muss sich Organe schaffen, die sowohl dazu in der Lage sind, ihre Viertel gegen die Übergriffe der Polizei zu verteidigen, als auch Diskussionen zu führen und den weiteren Widerstand politisch zu organisieren. Ebenso unerlässlich ist es auch für die Arbeiterbewegung, unter den einfachen Soldaten Propaganda gegen das Regime zu betreiben, sie aufzufordern, sich nicht für Repression einsetzen zu lassen, und für Forderungen einzutreten, die einen Keil zwischen sie und die Generalität treiben, sowie mit den sozialen und politischen Forderungen der Arbeiterklasse verbinden.

Damit die Bewegung eine Perspektive hat, braucht sie klare politische Forderungen, die über jene nach Rückzug der Polizei und demokratische Reformen hinausgehen. Die mehr und mehr erhobene Forderung nach dem Sturz Erdogans muss auch mit politischem Inhalt gefüllt werden – nämlich mit der Frage, wer denn Erdogan ersetzen soll und mit welchem Programm. Eine CHP-Regierung würde nur bedeuten, vom Regen in die Traufe zu kommen.

Ein politischer Generalstreik, um die Polizeigewalt zu stoppen, die Bildung von Räte-ähnlichen Organen in den Stadtteilen und die Schaffung von Selbstverteidigungseinheiten, wären eine wichtige Basis für die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die sich auf diese Organe stützen würde, denn eine Verschärfung des Kampfes und ein politischer Generalstreik würden die entscheidende Frage aufwerfen, wer herrscht – die türkische Bourgeoise oder die Arbeiterklasse. Die Beendigung des Krieges gegen die KurdInnen, der Privatisierungswellen und der sozialen Angriffe auf die Arbeiterklasse und die Mittelschichten sind auch mit einer noch so demokratischen kapitalistischen Türkei unvereinbar. Auch die Macht des Militärs lässt sich wohl unmöglich ohne revolutionäre Umwälzung brechen.

Sollte dies gelingen, sollte die Arbeiterklasse in der Türkei dazu in der Lage sein, sich auf Grundlage eines revolutionären Programms zu einer Partei zu formieren, dann würde das nicht nur die türkische Bourgeoisie hinwegfegen und unterdrückten Völkern wie den KurdInnen die Freiheit schenken. Es wäre auch ein mächtiges Leuchtfeuer für den Kampf in Europa – insbesondere in Griechenland – gegen die Krise. Im Nahen Osten wäre es ein Vorbild dafür, wie die Macht einer herrschenden Clique gebrochen werden kann.

Beteiligt Euch an den Solidaritätsdemonstrationen und Kundgebungen und Protestaktionen vor den türkischen Botschaften und Konsulaten! Die Massenrebellion in der Türkei braucht unsere Solidarität!




Blockupy: That is what bourgeois democracy looks like

Martin Suchanek, Infomail 686, 4. Juni 2013

artikel_blockupy_bourgeoisdemocracyDas Demonstrationsrecht wurde am 1. Juni zur Farce. Unter fadenscheinigen Vorwänden wurden hunderte GenossInnen im ersten Block der Demonstration nach nur einem Kilometer eingekesselt. Die Seitentransparente wären „zu lang“ und Sonnenbrillen, gar Regenschirme wären zur Vermummung (!) mitgeführt worden. Andere wiederum sollen gar einen Farbbeutel geworden haben.

Selbst die bürgerliche Presse fand diesen „Schutz der BürgerInnen“ „unverhältnismäßig“. Laut „Frankfurter Allgemeiner Zeitung“ – sicher keiner großen Sympathien für die Linke verdächtig – hätten sogar einige Polizeibeamte den „Einsatz nicht nachvollziehen“ können.

Bei Blockupy gehört dieses Vorgehen offenkundig zur Norm. Während im letzten Jahr die Blockaden untersagt, Hunderte festgehalten und auch kein Camp zur Übernachtung genehmigt wurden, zeigte sich die Repression in diesem Jahr an anderen „Schwerpunkten“. So wurden Berliner Busse mit DemonstrantInnen 6 (!) Stunden lang bei der Anreise durchsucht und die Flüchtlinge, die an den Aktionen teilnehmen wollten, zur Rückfahrt gezwungen. Bei der Aktion gegen Abschiebungen am Frankfurter Flughafen ging die Polizei überaus provokant vor, nachdem zuvor schon die Demonstration im Flughafen auf 200 Menschen eingeschränkt wurde.

Warum die Provokation?

Viele wundern sich, warum wurde dieses Jahr eine kämpferische Demonstration mit rund 15.000 TeilnehmerInnen – die Hälfe davon aus verschiedenen Spektren der radikalen Linken (Interventionistische Linke, Ums Ganze, A3-Bündnis, Migrantenorganisationen, kommunistische Organisationen, darunter Arbeitermacht und REVOLUTION, Gruppen aus dem NAO-Prozess), Gruppen aus dem Spektrum des Reformismus (Linkspartei, attac, Gewerkschaften) – nach nur rund einem Kilometer gestoppt wurde?

Die Abschlussdemonstration „endete“ so nach kurzer Strecke, aber erst nach vielen Stunden, weil sich die Bullen weigerten, den Kessel aufzulösen – und weil sich 15.000 DemonstrantInnen weigerten, auf das „Angebot“ der Bullen einzugehen, auf einer anderen Route weiter zu ziehen, und die Eingekesselten nicht im Stich ließen.

Dieser Akt der Solidarität und Einheit machte die Demonstration trotz der Provokation und Repression zu einem politischen Erfolg. Die Polizei und mit ihr die politischen Verantwortungsträger in Frankfurt und darüber hinaus wollten Blockupy und allen, die am Aufbau eine kämpferischen Bewegung gegen das kapitalistische Krisenmanagement arbeiten, eine Niederlage zufügen.

1. Sie wollten uns spalten in „Friedliche“ und „Krawallmacher“. Damit erlitten sie Schiffbruch. Selten wurde ein solcher Versuch von den DemonstratInnen so einhellig und entschlossen zurückgewiesen, als sie stundenlang ausharrten, Solidarität mit den Einkesselten zeigten und den „Rest“ der Demonstration gegen heftige Polizei-Angriffe, gegen Pfefferspray und Knüppel verteidigten.

2. Sie wollten DemonstrantInnen und AktivistInnen demoralisieren, in dem die Demonstration nicht nur nicht zum Endpunkt kommt, sondern ungeordnet auseinander strömt. Es sollte eine Gefühl der Ohnmacht, der Vereinzelung und des Misserfolgs erzeugt werden. Auch das gelang nicht, weil die gemeinsame Weigerung, ohne die Einkesselten nicht weiter zu ziehen, ein Gefühl des Zusammenhalts und der Solidarität erzeugte, die weit über Blockupy hinaus bedeutsam sein könnte.

3. Sie wollen zeigen, dass wir uns nicht wehren können – und doch haben wir die Demonstration stundenlang verteidigt. So hatte die Polizei nach mehreren Stunden Verhandlung, die Demonstration „aufgelöst“ und den nach dem Kessel folgenden Abschnitt mit Pfefferspray und Knüppeln angegriffen. Aber sie konnten das nicht durchsetzen. Die Ketten hielten – und damit die Manifestation.

Dieser Ausgang führte dazu, dass Blockupy trotz unbestreitbarer Schwächen letztlich ein politischer Erfolg wurde. Wir haben Solidarität gezeigt, wir haben gezeigt, dass wir unser Demonstrationsrecht verteidigen wollen – und auch dazu bereit und in der Lage sind.

Eine weitere Stärke von Blockupy war in diesem Jahr, dass neben der symbolischen Blockade der EZB am Morgen des 31. Mai auch Aktionen in der Stadt durchgeführt wurden. Zudem fand eine Demonstration am Frankfurter Flughafen statt, um gegen das rassistische Abschieberegime der BRD und der EU zu protestieren. Vor Banken und Immobilienbesitzern wurden wichtige Profiteure der Krise gebrandmarkt. In der Zeil, eine zentralen Einkaufsstraße, wurde vor Läden gegen die Überausbeutung der ArbeiterInnen in den Sweatshops der „Dritten Welt“ protestiert und Solidarität mit Beschäftigten bekundet, die ihrerseits mit immer geringeren Löhnen und immer mieseren Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. Wir – Arbeitermacht und REVOLUTION – beteiligten uns aktiv an diesen Aktionen, v.a. an der Blockade von Karstadt, um den dort Streikenden unsere Solidarität in der aktuellen Tarifrunde im Einzelhandel zu bekunden.

Aber auch die zentralen Schwächen von Blockupy, die wir schon in unseren Beiträgen in der letzten Ausgabe der „Neuen Internationale“ (Strategische Fragen der BewegungWie radikal ist die „radikale Linke“?) angesprochen haben, sind evident. Es fehlt an einer gemeinsamen, über die Aktion hinaus gehende Kampfperspektive. Es fehlt sowohl an konkreten Forderungen wie an politische Strategie. So ist Blockupy – wie auch andere, ähnlichen Manifestationen – zwar in der Lage, in Deutschland 10 bis 20.000 Menschen zu mobilisieren. Aber es ist bislang nicht fähig, eine dauerhafte Bewegung aufzubauen, die mit den Arbeiterkämpfen in Südeuropa verbunden ist und hier gegen die Angriffe von Kapital und Kabinett mobilisiert.

Angriff auf demokratische Rechte

Frankfurt hat hier gezeigt, dass die bürgerliche Demokratie im Kapitalismus eine Schönwetterveranstaltung ist. Auch wenn die ökonomische Misere hier längst nicht so ausgeprägt ist wie in Südeuropa, so zeigen selbst Tarifkämpfe wie jene im Einzelhandel und bei Amazon, dass auch hier längst nicht Schluss ist mit Angriffen auf die Arbeiterklasse, dass ein Billiglohnsektor längst etabliert ist. Auch wenn die Gegenwehr hier – nicht zuletzt mit partnerschaftlicher Hilfe der Gewerkschaftsführungen – weit zurück blieb, so verschärfen sich auch hier die Anzeichen einer weiteren Verschlechterung der sozialen Lage nach der Bundestagswahl.

Diese kommende Verschärfung des Klassengegensatzes und die sozialen Zuspitzungen, die unvermeidlich auch Abwehrkämpfe hervorbringen werden und neue Möglichkeiten zum Anschluss an eine wirklich europaweite Bewegung, sind der herrschenden Klasse, den KapitalistInnen, wie ihren politischen und polizeilichen Funktionsträgern nur allzu bewusst.

Wenn es jetzt im gegnerischen Lager auch Kritik an der Polizei gibt, wenn sich kaum noch ein bürgerlicher Politiker findet, der das Vorgehen der Polizei vollauf verteidigen will, so geht es ihnen aber v.a. darum, dass der Polizeieinsatz ein „unerwünschtes“ Ergebnis hatte – die Solidarisierung auf Seiten der DemonstrantInnen. Das ist, was bürgerliche PolitikerInnen und Presse stört, wenn sie von einem „unverhältnismäßigen“ Einsatz sprechen.

Allerdings steht die herrschende Klasse hier vor einem Dilemma. Die DemonstrantInnen gewähren lassen, kann und will sie erst recht nicht. Welches „Signal“ wäre es schließlich, wenn die EZB einfach blockiert werden könnte?, fragt ein Leitartikler in der FAZ. Der weitere Abbau demokratischer Rechte, auf dass die bürgerliche Demokratie vollends zur Farce wird, ist zur Durchsetzung des Krisenmanagements des deutschen und europäischen Großkapitals, zur Lösung der EU-Krise im Interesse des deutschen und französischen Imperialismus unvermeidlich. Wer dazu bereit ist, „Expertenregierungen“ in Griechenland, Italien und jedem anderen Land Südeuropas einzusetzen, um die Politik von Troika, EU und EZB zu exekutieren, der macht natürlich auch im eigenen Land nicht Halt vor weiterer Entdemokratisierung.

Der Polizeiapparat mag dabei in Frankfurt – vom Standpunkt einer möglichst friktionsfreien Herrschaftsausübung betrachtet – über die Stränge geschlagen haben. Das ist aber nur das unvermeidliche Resultat der Tatsache, dass ein autoritäreres Krisenmanagement noch mehr Befugnisse, noch weniger Kontrolle über den  polizeilichen Repressionsapparat erfordern würde.

Es ist daher von größter Wichtigkeit, dass wir in den nächsten Mobilisierungen den Kampf um die Verteidigung demokratischer Rechte mit dem Kampf um unsere politischen und sozialen Forderungen verbinden. Einschränkungen des Demonstrationsrechts, willkürliche Durchsuchungen, Schikanen aller Art, Ausweitung von Polizeibefugnissen und Überwachungsmöglichkeiten sind letztlich präventive Akte gegen das Entstehen organisierter Gegenwehr. In der imperialistischen Epoche und zumal in einer Periode der historischen Krise des Kapitalismus wird selbst in den reichsten Ländern die bürgerliche Demokratie mehr und mehr zu einer leeren Hülle. Die Verteidigung demokratischer wie sozialer Rechte wird nicht nur überaus dringlich, sie muss zugleich geführt werden im Rahmen einer Perspektive, die über das bestehende kapitalistische System hinaus weist – im Rahmen des Kampfes für den Sturz des Kapitalismus und die Errichtung einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Nach Blockupy ist vor Blockupy

In jedem Fall müssen solche Fragen nun in unserer Bewegung offen diskutiert werden. Im Februar 2014 steht die Eröffnung der „neuen“ EZB in Frankfurt an. Dort werden wir wieder und hoffentlich weitere Zehntausende demonstrieren und blockieren.

Doch wir müssen uns diesmal anders vorbereiten. Die Frage der politischen Ausrichtung der Bewegung, ihrer internationalen, v.a. europäischen Koordinierung, wie von lokalen Handlungsstrukturen und Aktionskomitees ist jetzt akut. Im Herbst 2013 – möglichst rasch nach der Bundestagswahl – sollte daher eine bundesweite Aktionskonferenz aller linken Organisationen und Parteien, von Gewerkschaften, Blockupy-Bündnissen, Anti-Krisenbündnissen, Solidaritätskomitees mit Südeuropa usw. organisiert werden! Einerseits muss Blockupy 2014 eine internationale Massenaktion werden. Andererseits muss es einen wichtigen Schritt zum Aufbau einer Bewegung in Deutschland und einer internationalen Koordinierung über Blockupy hinaus leisten.

Bild: http://www.flickr.com/photos/juancarlosgarcialorenzo/ (CC BY-NC-ND 2.0)




Pakistan: Wahlniederlage der Kriegsparteien

Shahzad Arshad, Herausgeber der Zeitschrift „Revolutionary Socialist“ und Aktivist der „Awami Workers Party“, Infomail 686, 4. Juni 2013

artikel_pakistanwahlDie Wahlen in Pakistan am 11. Mai 2013 endeten mit einer Erdrutschniederlage für die Partei des amtierenden Präsidenten Asif Ali Sardari, die PPP. Sie waren insgesamt eine Abfuhr für alle Parteien, die offen den ‚Krieg gegen den Terror’ seitens der USA unterstützten. Mit 55,02% stimmte die Mehrheit der Bevölkerung noch deutlicher als bei früheren Wahlen gegen die Unterordnung ihres Landes unter die USA und die westlichen Verbündeten. Viele Parteien fühlten sich bemüßigt, die ständigen Verletzungen der Souveränität und die Tötungen der Staatsbürger durch Drohnen-Attacken zurückzuweisen, um nicht alle Wahlchancen einzubüßen.

Doch obwohl die eilfertigsten Agenten der westlichen Imperialisten abgestraft wurden, waren die Wahlen keineswegs ein Sieg für die ArbeiterInnen, BäuerInnen und Armen auf dem Lande. Die Resultate stellen innerhalb des siegreichen bürgerlichen Lagers eher noch einen Rechtsruck dar, zumal konservative und religiöse Parteien große Gewinne erzielten.

Es darf nicht vergessen werden, dass das pakistanische Wahlsystem nicht unbedingt die politischen Anschauungen der Stimmberechtigten zum Ausdruck bringt. Es funktioniert eindeutig zu Gunsten der politischen Vertretung der halbfeudalen Großgrundbesitzer, der reichen Industriellen, Banker und Geschäftsleute. Eingefädelt wird deren Einfluss durch Bestechung von Stammes- und Sippenältesten. Das ist entscheidend, wenn ein Wahlbezirk zu über zwei Dritteln ländlich geprägt ist und die Mehrheit gar keine freie Wahl hat. Die Reichen können sich auf lokaler und regionaler Ebene mit der größten Gewinnerpartei arrangieren und brauchen sich nicht um Programm oder Ideologie zu kümmern.

Die herrschenden Klassen und die Mittelschichten feiern die Wahlen als ‚Sieg für die Demokratie’ oder gar als ‚historische Errungenschaft’, weil sie scheinbar einen demokratischen Übergang ermöglicht haben, weil die Armee nicht mit einem Putsch eingegriffen hat. Der Sieg von Nawas Scharif bedeutet jedoch nichts anderes als die Ersetzung eines korrupten millionenschweren Ausplünderers des Landes durch einen anderen und trotz seiner Wahlrhetorik die Ersetzung eines Agenten des US-Imperialismus durch einen anderen.

Die pakistanische Moslemliga Nawas (PML-N) gewann 126 Sitze. 18 ‚Unabhängige’ schlossen sich ihr sofort nach den Wahlen an. Weitere 32 Sitze stehen ihnen als Frauenquote und 5 Sitze von nationalen Minderheiten zu. Diese verschaffen der PMLN mit Unterstützung anderer Parteien mehr als die für die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse benötigten 172 Sitze.

PPP (Volkspartei) dezimiert

Bei diesen Wahlen errang die regierende Volkspartei Pakistans nur 39 Mandate. Sie verlor etwa 9 Millionen Stimmen und 79 Parlamentssitze. Ihr früherer Koalitionspartner, die Awami Nationalpartei (ANP) erhielt nur noch einen Sitz. Das war die Quittung für ihre 5jährige Tätigkeit in der Regierung, ihre kriecherische Unterstützung für den ‚Krieg gegen den Terror’ und die Militäroperationen gegen die Paschtun-Bevölkerung im Namen der Bekämpfung der Taliban, wodurch mehr als 3,5 Millionen Menschen zur Flucht im eigenen Land gezwungen wurden. Die ländlichen Armen sind ständig erniedrigt und Tausende getötet worden, obwohl sie gar nicht gegen die Truppen gekämpft oder terroristische Akte verübt haben.

Hinzu kommt die neoliberale Politik der Regierung, die den Bankensektor, die Medienmillionäre, Textilkapitalisten, Baugroßunternehmer, Börsenspekulanten und Vertragsfirmen begünstigt. All diese Parasiten strichen den Löwenanteil an Profiten aus der Ausbeutung der städtischen und ländlichen ArbeiterInnen ein. Die Regierung strich die Subventionen für Benzin, Gas und Elektrizität und erhöhte damit die Preise auf Bedarfsgüter für die ArbeiterInnen und Armen.

Die Stromversorgung in Stadtgebieten ist 16 Stunden, in ländlichen Gegenden bis zu 20 Stunden am Tag unterbrochen. Die neoliberale Entkopplung von Netz und Betrieb des Stromkonzerns WAPDA Anfang der 90er Jahre führte zum Krisenzyklus, der Pakistans dramatischen Stromengpässen zu Grunde liegt.

Sieg der Moslem-Liga Nawas

Die Pakistanische Moslem-Liga Nawas PMLN konnte von der massenhaften Unzufriedenheit mit Sardari und der PPP profitieren. Die PLMN wurde stärkste Partei bei den Wahlen und bildet nun die Regierung auf Bundesebene sowie in den Landesteilen Pandjab und Belutschistan. Nawas Scharif wird zum dritten Mal Premierminister.

Dieser Sieg spiegelt auch die veränderte Stimmungslage der herrschenden Klasse wider. Anstelle von Sardari und Konsorten will sie einen neuen Herrscher, der nicht nur ihre Interessen in der sich ändernden geopolitischen Lage schützt, sondern auch die neoliberale Wirtschaftspolitik fortsetzt. Nawas Scharifs Wahlsieg legitimert diese politische Linie wieder stärker, die unter der Regierung der PPP deutlich geschwächt worden war. Die beiden Hauptparolen von Scharifs Wahlkampagne waren ‚Gute Regierung’ und ‚Handel mit Indien’. ‚Gute Beziehungen zu Indien’ bedeuten, dass sich das Kräfteverhältnis innerhalb der etablierten Machtfaktoren Zivil und Militär wahrscheinlich zu Gunsten der Zivilinstanzen verschiebt und die Handelsbedingungen für die einheimischen Kapitalisten erleichtert werden.

Für sie bedeutet ‚Gute Regierung’ keinen Angriff auf die Korruption, die die Lebensgrundlage für die herrschenden Cliquen und deren Klientel darstellt, sondern eine Attacke auf die gesamte Arbeiterklasse und die Armut. Es bedeutet Privatisierung, kapitalgerechte Einschränkung und ein Ende der materiellen Leistungen für die Arbeiterklasse, wohingegen die Kapitalisten und Reichen keine Steuererhöhungen zu fürchten brauchen, um ausländische Investitionen anzuziehen und vermeintlich eine starke Nationalökonomie aufzubauen.

Die Unterredungen mit den Taliban bedeuten ein Friedensabkommen mit ihnen im Klasseninteresse der Reichen. Scharif will Fremdkapital nach Pakistan holen und mit demselben Entwicklungskonzept fortfahren. Im Wahlkampf legte die PML-N den Schwerpunkt auf den Bau neuer Autobahnen, Bus- und Schnellzugprojekte als Bausteine im Rahmen dieses Konzepts. Viele ArbeiterInnen, kleine Gewerbetreibende und Berufstätige waren von diesen Vorhaben und dem Versprechen angetan, dass dies Wohlstand und Dynamik für das ganze Land bringen könnte. Aber in Wahrheit wird nur das Großkapital in seinen verschiedenen Formen davon profitieren.

In der gegenwärtigen Lage und Pakistans schrumpfender Ökonomie sind sich weiter steigernde heftige Attacken auf die arbeitende und arme Bevölkerung ein Muss für diese Regierung.

Neu-Pakistan

Imran Khans Gerechtigkeitspartei PTI war der zweite Wahlgewinner. Ihre Parole ‚Neu-Pakistan’ bewog die städtischen jugendlichen Mittelschichten und v.a. Frauen, zur Wahlurne zu gehen – nicht nur die Wohlhabenderen, sondern auch die unteren Mittelschichten und tw. sogar ArbeiterInnen und Arme, die die PTI in der Hoffnung auf einen Politikwechsel wählten.

In Punjab z.B. bedeutete ein Wechsel für sie ein Ende der Korruption. Die Mittelschichten und Fachkräfte sehen Korruption als ein Haupthindernis im Weg ihrer eigenen Fortentwicklung und begreifen auch, dass das Großkapital den Löwenanteil an Profiten durch ihre Kontrolle über die Staatsmacht einsteckt und glauben, dass ihnen ‚ihr Anteil’ vorenthalten wird, selbst wenn sie noch härter arbeiten und noch so gut ausgebildet sind. In Karatschi wiederum ist neben dem Korruptionsproblem die Friedensfrage zentral für kleine Gewerbetreibende und Fachkräfte.

Die PTI repräsentiert das Klasseninteresse genau dieser Schichten. Ihr Programm zielt auf deren Rettung vor der Krise, auch wenn ihre Losungen behaupten, einen Systemwechsel gleichfalls zu Gunsten der Arbeiterklasse und Armut herbeiführen zu wollen. Ihre Parolen vom ‚pakistanischen Nationalismus’ und die Rettung des Staats vor dem Zusammenbruch sowie das Konzept eines „Sozialstaats“ sind eng mit neoliberalen Vorstellungen verbunden. Sie hat sich zwar auch an die Arbeiterklasse und die Armut gewandt, um Stimmen bei ihnen zu erhalten, in Wirklichkeit jedoch ist ihr Programm für das Kapital und dessen Dominanz bestimmt und steht in unmittelbarem Gegensatz zu den Bedürfnissen der Arbeiterklasse und soll den Vorteil der Mittelschichten den arbeitenden und armen Massen gegenüber stärken.

Wahlen in Kriegsgebieten

In Khaiber Paschtun Khawa an der Grenze zu Afghanistan sind die Militäroperationen und der Terrorismus das beherrschende Thema. Hier ist die Awami Nationalpartei fast vollständig weggefegt worden, sowohl auf Bundes- wie auf Regionalebene. Das war die Quittung für 5 Jahre Misswirtschaft an der Regierung und v.a. für den Kurs, den Krieg gegen den Terror und die repressiven Militäroperationen gegen die zivile Bevölkerung zu unterstützen.

In Belutschistan hat sich in den vergangenen Jahren die staatliche Unterdrückung verschlimmert, die sich im Wahlkampf sogar noch gesteigert hat. Tausende junger BelutschInnen sind ‚verschwunden’. Etliche von ihnen wurde entlang der Straßen tot aufgefunden. Die BelutschInnen werden durch Sicherheitskräfte erniedrigt und eingeschüchtert. Die ‚demokratischen’ Wahlen waren hier ein vollständiger Fehlschlag. Die Beteiligung lag bei weniger als 3%; damit zeigte sich, wie fern der Staat und die nationalistischen Belutschen-Parteien den Sorgen und Interessen der normalen Bevölkerung stehen, die den Kampf um nationale Selbstbestimmung der belutschischen Jugend und Massen unterstützen. Der Wahlboykottaufruf war erfolgreich, der Staat konnte den Kampf nicht durch ‚Demokratie’ und Parlamentswahlen ersticken.

Proteste gegen Wahlfälschung

Die Lage in Belutschistan steht nicht nur in schroffem Gegensatz zu Medienbehauptungen über ein „neues Zeitalter“ für die pakistanische Demokratie, Fairness im Wahlkampf und über einen demokratischen Prozess mit friedlichem Übergang zu einer neu gewählten Regierung. Es gibt auch bedeutende Protestbewegungen, die die Behörden der Wahlfälschung bezichtigen. Die Proteste in Lahore z.B. zeigen, dass die städtischen Mittelschichten, Jugend und Frauen das von der Wahlkommission verkündete Ergebnis so nicht anerkennen wollen.

Aber die wichtigsten Ereignisse vollzogen sich in Karatschi. Dort ist die Antwort auf die vermutete Wahlfälschung durch die Muttahida Quami Movement (MQM) bemerkenswert. Viele politische Beobachter und junge AktivistInnen sagen, dass sich der Vorwurf spontan über Nachrichten auf facebook, twitter und Textportalen zu einer Bewegung ausbreitete. Dies zeigt den tiefen Hass gegen die MQM und ihr Gangstertum und die mutige Überwindung von Furcht vor den faschistischen Organisationen in Karatschi.

Das ist nicht einfach ein Protest von privilegierten Schichten, wie viele meinen. Auch eine große Anzahl von Protestierenden aus der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse ist in der Bewegung zu finden. Selbst die MQM-Basis in der Muhajir-Gemeinde ist gespalten. Viele ihrer Mitglieder haben sich den Protesten gegen die hegemoniale Position der MQM in Karatschi angeschlossen  Die Lage wächst sich anscheinend zu einem Albtraum für die herrschende Klasse und ihre Medien aus, die nun die Wahlkommission dazu aufruft, einzuschreiten und die Situation zu beruhigen, damit die Regierung ihr Programm durchsetzen kann. Die PTI-Führung will ihrerseits die Proteste kontrollieren, damit sie mit dem Staat verhandeln und sich als Alternative in Karatschi präsentieren kann.

Auf jeden Fall bezeugt die Lage in Karatschi: die Hoffnungen der herrschenden Klasse, dass die Wahlen eine Grundlage für eine stabile Regierung abgeben, die nicht von Protesten und Mobilisierungen begleitet sind, haben sich nicht erfüllt. Es gibt viele Menschen aus Arbeiterklasse und Kleinbürgertum, die nicht bereit sind, sich zurückzuziehen, sondern zu Vorboten von politisch fortschrittlichen Bewegungen werden könnten.

Demokratie, Wahlen und Sozialismus

Die Wahlen haben jedoch auch die Schwächen der pakistanischen Linken offenbart. Die im Herbst 2012 gegründete Awami Workers Party (Arbeiterpartei, AWP) kandidierte erstmals in 38 Wahlbezirken. Sie traten um 12 Mandate für das Nationalparlament und um 10 für das Provinzparlament im Grenzgebiet Khaiber Paschtun Khawa an. 10 Kandidaten bewarben sich außerdem in Punjab und zwei in der Provinz Sindh. In einem KPK-Bezirk konnte der Parteivorsitzende Fanus Gujar immerhin über 10.000 Stimmen erringen. Der AWP-Generalsekretär Faruq Tariq kam auf etwa 1.800 Stimmen, umgerechnet etwas über 2%. In Faisalabad stimmten über 3% für einen von der AWP unterstützten Weberei-Arbeiter.

Im ganzen jedoch waren die Wahlergebnisse der AWP ernüchternd; nicht so sehr, weil sie keinen Sitz erobern konnten, denn das war eher unwahrscheinlich beim ersten Versuch, der zudem von undemokratischen Wahlgesetzen, dem Riesenaufwand der bürgerlichen Parteien und deren Medienunterstützung behindert war. Vielmehr gelang es nicht, einen fundierteren Stimmenanteil in einem Wahlbezirk zu erhalten und die Bedeutung der Partei für die Lösung der Probleme der Arbeiterklasse in den Wahlen klar zu machen.

Die Linke in Pakistan hat sich noch nicht tiefer in der Arbeiterklasse, bei den unterdrückten Nationalitäten oder der städtischen und ländlichen Armut verankert. Selbst dort, wo die AWP bekannte Aktivisten wie den Führer der Weberei-Arbeiter aufstellte, blieben die Wählerstimmen mit etwa 1.000 weit unter den Erwartungen. Ein wichtiger Grund ist ferner, dass die Linke, darunter auch große Teile der AWP, schwach und verwirrt in der Frage des Imperialismus, der Militäroperationen oder der demokratischen Forderungen auftritt.

Statt auf einem kühnen sozialistischen Programm zu kandidieren und dafür einzustehen, wollten viele Kandidaten Wahlkampf betreiben, der vermeintlich Sitze einbringt, d.h. als reine Wahlpartei agieren, und verstanden es nicht, dass sie mit kapitalistischen Parteien nicht auf reformistischer, d.h. letztlich kapitalistischer Basis konkurrieren können. Sie müssen stattdessen ganz auf die Arbeiterklasse, die unterdrückten Nationen und die Stadt- und Landarmut setzen.

Große Teile der Massen stimmten weiterhin für bürgerliche Parteien, aber das bedeutet keineswegs, dass es grundsätzlich falsch wäre, Arbeiterpolitik zu betreiben, wie manche der pakistanischen intellektuellen Linken nun meinen. Der Fehler liegt daran, dass die Linke die Arbeiterklasse nicht von den bürgerlichen Parteien losbrechen kann, wenn sie deren Reformismus und Elektoralismus nachäffen. Wir müssen ein revolutionäres sozialistisches Programm entfalten, um auf die Krise der Arbeiterpolitik zu antworten. Für die Politik des gesellschaftlichen Wandels müssen wir klare Aussagen über den Charakter des Imperialismus treffen und wie wir dagegen zu kämpfen gedenken, wie den Aktionen des Staates begegnet und wie den demokratischen Forderungen der Massen und dem Kampf um Selbstbestimmung für die unterdrückten Nationalitäten zum Durchbruch verholfen werden kann.

RevolutionärInnen müssen das scheinheilige Wesen der bürgerlichen Politik nicht nur anhand von offenem Wahlbetrug aufdecken, sondern auch dort, wo es formal demokratisch zugeht. Ein bürgerliches Parlament ist immer ein Mittel zur Klassenherrschaft und nie eine neutrale Einrichtung. Sie müssen klar machen, dass für sie Wahlkampf und Abgeordnetensitze im Parlament kein Selbstzweck sind, sondern nur Plattformen, von denen aus sie ihre Politik darstellen, die herrschende Klasse und ihre Parteien entlarven, die ArbeiterInnen, die Unterdrückten, die Jugend mobilisieren.

All das bedeutet aber, dass wir innerhalb der AWP und in der breiteren pakistanischen Linken  die Fragen, welche Art Organisationen, welche Art Partei wir brauchen, erörtern und klären müssen. Die Unterstützer der Liga für die 5. Internationale in Pakistan sagen sehr deutlich: wir brauchen eine revolutionäre Arbeiterpartei, die sich für militante demokratische Gewerkschaften und Organisationen der Land- und Stadtarmut, Frauen und Jugend einsetzt, eine Partei, die in den Arbeiterbezirken und den Alltagskämpfen verankert ist.

Bild: Awami Workers Party, https://www.facebook.com/AwamiWorkersParty




Unruhen in Stockholm: Eine Reaktion auf Verelendung, Rassismus und Polizeigewalt

Jens-Hugo Nyberg, Arbetarmakt, Schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 686, 4. Juni 2013

Boulevardzeitungen, TV-Shows und politische Kommentatoren in Schweden konzentrierten sich voll auf die Unruhen in den Vororten Ende Mai. Sorgfältig wurde über jedes ausgebrannte Auto oder Kämpfe mit der Polizei berichtet. Die einwöchigen nächtlichen Ausschreitungen verbreiteten sich schließlich in mehreren Vororten Stockholms, v.a. in jenen mit hohem Migrantenanteil und in geringerem Ausmaß in einigen anderen schwedischen Städten.

Hinrichtung eines Rentners

Am Montag, dem 13. Mai, hatten bewaffnete Polizisten einen 68jährigen Mann, der ein Messer hatte, im Stockholmer Vorort Husby erschossen. Sie gaben an, in Notwehr gehandelt zu haben, und reichten einen Bericht ein, nach welchem das Opfer in einem Krankenwagen starb. Dass dies eine Lüge war, sickerte jedoch schnell durch. Es kam kein Krankenwagen, sondern die Leiche wurde tatsächlich erst mehrere Stunden später mitgenommen.

Mitglieder von „Megafonen“, einer radikalen Stockholmer Organisation der Jugend aus den Vorstädten, waren bei dieser Situation vor Ort und berichteten schnell von den Ungereimtheiten in dieser Polizei-Version der Ereignisse. Schließlich war die Polizei gezwungen zuzugeben, dass ihr Bericht falsch war. Die Berichte von Megafonen hatten Recht. Die Polizei entschuldigte sich mit Nachlässigkeit und menschlichem Versagen, aber ihre bereits geringe Glaubwürdigkeit erhielt einen weiteren Schlag.

Megafonen nannte die tödlichen Schüsse eine Hinrichtung und fordert eine unabhängige Untersuchung. Sie organisierten einen Protest vor der Polizeiwache in Tensta ein paar Tage nach den tödlichen Schüssen, aber die Polizei hat lediglich angekündigt, die übliche interne Untersuchung durchzuführen. Es gibt wenig Grund, nicht zu glauben, dass das Ergebnis bereits feststeht.

In der Nacht von Sonntag, dem 19. Mai, wurde die Polizei noch einmal nach Husby gerufen. Diesmal, sagten sie, wurden sie von Steine werfenden Jugendlichen empfangen und sie wären gezwungen gewesen, Verstärkung anzufordern, um die Ordnung wiederherzustellen.

Und wieder schildern die Bewohner von Husby ein komplett anderes Bild. Nach ihren Berichten startete die Polizei ihren Einsatz, nachdem anfangs ein paar Steine von örtlichen Jugendlichen geworfen worden waren, durch Angriffe auf umstehende Personen mit abfälligen Worten, darunter auch rassistischen Beleidigungen, mit Schlagstöcken und Hunden. Eine Mutter, die ihren Sohn überreden wollte, nach Hause zu kommen, wurde von einem Polizeihund gebissen.

Sprecher von Megafonen, die zu Beginn versucht hatten zu vermitteln und die Kämpfe auf friedliche Weise zu lösen, berichten, dass auch sie von der Polizei angegriffen wurden.

Erst eine Weile später, nachdem die Polizei völlig die Kontrolle über die Ereignisse verloren hatte, ließ sie die Gewalt eine Weile ruhen und begann einen Dialog mit den BewohnerInnen.

Natürlich waren die jüngsten tödlichen Schüsse nur der Funke im Pulverfass. Die von MigrantInnen dominierten Vororte haben eine lange Erfahrung mit Polizeipräsenz, die, wie in Husby an diesem Sonntagabend, alles andere als vernünftig und sensibel ist.

Es ist üblich, dass schon bei geringfügigen Verstößen mit Gewalt reagiert wird. Selbst bevor etwas passiert ist, verhält sich die Polizei oft abfällig und rassistisch. Dazu kommt natürlich, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft steigt und z.B. Jugendtreffs dichtgemacht werden, dass Arbeitslosigkeit, Kürzungen von Leistungen und sozialer Verfall zunehmen. 38% der 20 bis 25jährigen in Husby haben weder Arbeit noch eine Bildungsmöglichkeit. „Illegale“ ImmigrantInnen werden deportiert.

All das liefert das Szenario für eine Situation, in der die Wut sich wahllos auf jede Vertretung des repressiven Staatsapparats richten kann und das auch tut.

Eine weitere Bedrohung kommt in Form der „Buy-to-let“-Gentrifizierung, der Art von „Stadtsanierung“, die nicht die Lebensbedingungen für die dort lebenden Menschen, sondern – aus Sicht der neuen Hausbesitzer – die Mieter „verbessern“ will. Es sollen wohlhabendere Bewohner gefunden werden, die die Mietsteigerungen verkraften können und denen bestenfalls egal ist, dass die „Kräfte des Marktes“ die ursprünglichen Bewohner vertreiben.

Eine zweite Variante mit ebenso negativen Folgen ist, dass private Vermieter, die absolut nichts zum Unterhalt oder zur Verbesserung der Wohnqualität tun, versuchen, so lange wie möglich Geld aus der Gegend zu ziehen, indem sie die Kosten auf ein Minimum drücken.

Die Unruhen in Husby sollten daher insgesamt als eine Reaktion gegen rassistische Polizei, Lügen, Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit gesehen werden. Die Frage ist nicht, warum die Wut ausgebrochen ist, sondern warum diese Ereignisse nicht häufiger auftreten.

Der Gegenschlag der Rechten

Die Antwort von der rechten Seite war, wie vorherzusehen, böse. Während SozialdemokratInnen und alle links davon sich zumindest verpflichtet gefühlt haben, auch wenn sie Gewalt und Zerstörung verurteilten, auf die soziale Basis der Unruhen hinzuweisen, so geht es den Liberalen und allen rechts davon nur um gewalttätige und kriminelle Individuen.

„Hört auf, die Schuld der Gesellschaft zu geben!“, ist bei ihnen ein gängiges Muster. Einige haben die Vertreibung der Familien derer gefordert, die beschuldigt werden, an Ausschreitungen beteiligt gewesen zu sein – obwohl diese Position immer noch zu unpopulär für die „respektablen“ bürgerlichen Politiker ist. Rassisten und Reaktionäre haben sich in den sozialen Medien ausgetobt, mit Aufrufen, die Polizei solle jeden Ungehorsamen als Zielscheibe benutzen, und offen rassistischen „Erklärungen“ für Gewalt. Von den etablierten Parteien, gingen die Schwedischen Demokraten, wie vorherzusehen war, am weitesten mit der Forderung nach mehr Befugnissen für die Polizei, einschließlich der Ausrufung des Ausnahmezustand – und „natürlich“ sind die Einwanderer schuld.

Inzwischen haben die faschistischen Gruppen ihre Chance für die Anstiftung zum „Krieg der Rassen“ erkannt. In den vergangenen Nächten haben sie einen „Bürgerwehr“ genannten Mob organisiert, um in einigen Vororten auf Jagd nach „Randalierern“ zu gehen. In der Tat haben sie natürlich versucht, einfach alle Einwanderer, die sie finden konnten, anzugreifen. Glücklicherweise ist die schwedische Nazi-Bewegung nicht mehr das, was sie vor 5-10 Jahren einmal war, so dass es scheint, dass sie jeweils nur maximal 60 Leute auf einmal zusammenbekamen – aber das ist natürlich schlimm genug. Sie haben mehrere Leute verprügelt, einige ziemlich schwer. In Reaktion darauf haben die Jugendlichen in einigen Vororten sich klug vorbereitet, um ihre Gebiete zu verteidigen und Antifaschisten haben sich organisiert, um die Nazis zu vertreiben.

Unsere Antwort

Wir wollen auf ein paar Dinge hinweisen. Erstens: Die Unruhen sind im Grunde eine Reaktion gegen polizeiliche Belästigung, Rassismus und Mangel an Perspektiven. Kommentatoren haben behauptet, dass viele der Randalierer gerade auf der Suche nach einem Abenteuer waren. Das mag sein – wenn eine solche Einstellung auch mit der Entfremdung von der Gesellschaft steigt. Unruhen ziehen immer Menschen aus verschiedenen Gründen an, die nicht alle bewusst politisch sind. Das widerspricht in keiner Weise dem Fakt, dass es in der Tat rechte Politik war, die sich verschlechternden sozialen Bedingungen und der Rassismus, die die Unruhen herbeigeführt haben.

Wenn die schwedische Arbeiterbewegung, die Sozialdemokraten, die Linke Partei und die Gewerkschaften tatsächlich für wirkliche Verbesserungen der Lebensqualität, für Arbeitsplätze und den „Sozialstaat“ kämpfen würden, die Jugend aus den Vorstädten ihre Kampfbereitschaft anders demonstrieren könnte.

Auch wenn die Wut der Jugendlichen auf den Staat berechtigt war, haben die Ausbrüche natürlich negative Folgen. Viele Menschen in den betroffenen Vorstädten haben entweder gegen die Gewalt und die Zerstörung von Eigentum protestiert oder zumindest versucht, diese zu begrenzen. Viele Bewohner, vermutlich genauso Arme und Unterdrückte sehen die Zerstörung des kommunalen und privaten Eigentums in ihren Gebieten als sinnlos an, die  ihre Situation nur noch verschlimmert. Es ist daher auch notwendig, nicht alles zu romantisieren nach dem Motto: Je mehr, desto besser. Auch Steinwürfe auf Feuerwehr und Ambulanz stoßen nicht unbedingt auf Verständnis und Zustimmung in der eigenen Klasse.

Wir weisen aber jede „moralische“ Kritik zurück. Der Widerstand gegen Polizeirepression wird nicht ohne Schäden und Gewalt abgehen. Natürlich wollen wir, dass Rebellion so organisiert wie möglich stattfindet, dass Schäden am Eigentum von Arbeiterinnen gering gehalten werden, aber wir stehen eindeutig auf der Seite der Opfer von rechten Regierungen, der Polizei und den Medien und für das Recht auf Rebellion.

In der Tat brauchen wir mehr und nicht weniger Widerstand! Am besten sind Selbstverteidigungsteams der ArbeiterInnen und Jugendlichen aus den Vororten, die sich der Polizeibrutalität widersetzen und die Knüppelbullen zum Abzug zwingen können. Damit könnten die ständigen Übergriffe auf die Bevölkerung eingeschränkt werden.

Mit der Einhaltung von Gesetzen und Regeln ist nichts zu erreichen. Friedliche Proteste und gelegentliche Stimmabgabe bei Wahlen – was haben sie uns gebracht? Einen zertrümmerten Wohlfahrtsstaat, unsichere und schlechtere Arbeitsverhältnisse, Vertreibungen und eine Nazi-Partei (die Schweden-Demokraten) im Parlament.

Die Leute aus den Vororten haben – wie alle Arbeitslosen und Prekären, die Arbeiterklasse insgesamt und alle unterdrückten Schichten – das Recht, ihre Wut auszudrücken. Entscheidend ist, dass die berechtigte Rebellion solche Formen wählt, die es ihr erlauben, nicht nur die deklassierten Vororte zu vereinen, sondern sich mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten zu verbinden. Hier ist es auch die Aufgabe der Linken und der Arbeiterbewegung, sich an die Seite der MigrantInnen-Jugend zu stellen, die überausgebeutet und mehrfach unterdrückt ist. So kann die Wut der Jugend zu einer wirklichen Änderung führen.

Die Reichen und diejenigen, die von den Missständen profitieren, müssen zahlen. Die Schuld liegt bei den bürgerlichen Politikern, den Kapitalisten und den rassistischen Polizeieinheiten. Die Arbeiterbewegung und die Linke sollten Solidaritäts-Demonstrationen mit folgenden  Forderungen organisieren:

  •  Bereitschaftspolizei raus aus Husby und den anderen Vororten! Für organisierte Selbstverteidigung gegen Polizei, faschistische und rassistische Banden!
  • Für eine unabhängige öffentliche Untersuchung und Anklage gegen die Mörder des 68jährigen Mannes!
  • Für eine Kampagne für Arbeit, Wohnungen, Bildung und Sozialeinrichtungen!
  •  Enteignung aller Hausbesitzer, die Mieten erhöhen, Sanierung der Häuser mit öffentlichen Mitteln unter Kontrolle der BewohnerInnen und örtlichen Arbeiterschaft!