Geschichte des feministischen Streiks in der Schweiz

Rosa Favre, Was Tun Schweiz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

In der Schweiz wurden Frauenrechte immer etwas später errungen als in anderen europäischen Ländern. Wir haben das Wahlrecht auf nationaler Ebene erst 1971 erhalten, während es in Deutschland und Österreich 1918 und in Italien 1945 eingeführt wurde. Dies sind sechs Jahre, nachdem selbst die USA das Wahlrecht ohne Diskriminierung verallgemeinerten, also endlich schwarzen Frauen erlaubten zu wählen.

Hintergrund

Diese Schweizer Verzögerung kann durch unzählige komplementäre Faktoren erklärt werden. Während der imperialistischen Kriege mussten die kriegführenden Länder massenhaft weibliche Arbeit anstellen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Es gab wegen der Schweizer Neutralität nicht denselben erzwungenen Einbezug in den Arbeitssektor. Der Widerspruch zwischen ihrer erhöhten Ausbeutung und dem Mangel an bürgerlichen Rechten trat so in der Schweiz weniger und später ins Massenbewusstsein und wurde auch nicht aufgelöst. Ein anderer Faktor ist, dass sich wegen der föderalen Struktur des Landes viele Aktivist:innen für das Frauenwahlrecht auf die kantonale Ebene fokussiert haben. Daher haben drei Kantone, alle in der französischsprachigen Schweiz (Waadt, Neuenburg und Genf), schon 1960 das Frauenwahlrecht eingeführt. Bevor weitere Kantone nachzogen, mussten allerdings noch sechs Jahre vergehen.

In ähnlicher Weise wurde die Gleichheit zwischen Männern und Frauen erst am 14. Juni 1981 in der Verfassung verankert. In den Nachbarländern geschah dies schon 1946 in Frankreich bzw. 1949 in Deutschland. Wie es jedoch bei solchen Gesetzen üblicherweise der Fall ist, scheitern sie an der wirklichen Umsetzung. Am schockierendsten ist dabei, wie manche Kantone es geschafft haben, Frauen bis 1991 das Wählen de facto zu verbieten. Erst 20 Jahre, nachdem das Wahlrecht auf nationaler Ebene errungen und 10 Jahre nachdem die Gleichheit unter den Geschlechtern gesetzlich verankert worden war, erzwang die Eidgenossenschaft die Umsetzung auch im Kanton Appenzell Innerrhoden.

Geschichte des Frauenstreiks

1991, zehn Jahre nach der Einführung der Gleichheit unter den Geschlechtern in der Verfassung, organisierte der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) zum Jahrestag einen Streik namens „Frauenstreik“. Der Slogan lautete „Zehn Jahre der Gleichheit … auf dem Papier!“ Die Wirkungslosigkeit der Autoritäten, das Gesetz konkret umzusetzen, wurde verurteilt und es wurden einige Lösungen vorgeschlagen: Lohnungleichheit verbieten, Frauen vor sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz schützen, bezahlbare Kinderbetreuung und Männer zur Teilnahme an reproduktiver Arbeit im gleichen Maße zwingen, wie sie Frauen ausüben. Da der Aufruf zum Generalstreik der Frauen weit über einen einfachen Umzug während der Freizeit hinausging, wurde er von den bürgerlichen Ideolog:innen in Medien und Parlament vehement bekämpft. Sie bezeichneten die Aktion als „exzessiv“. Ein Mitglied des Parlaments maßte sich sogar an, den Aufruf als „dumm“ zu bezeichnen. Aber es waren nicht nur Männer, die gegen einen Streik waren: Auch liberale und konservative sogenannte Feministinnen hatten keine Solidarität oder Empathie für die Sache übrig.

Der Grund für die erfolgreiche Mobilisierung, die nur von zwei anderen Aktionen in der Schweizer Geschichte übertrumpft werden konnte, liegt in der Arbeiter:innenbewegung. Ausgangspunkt war der Streik von Uhrenarbeiter:innen in Vallée de Joux, einem abgeschlossenen Hochtal im Jura, die sich gegen die exorbitanten Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern einsetzen wollten und unterschiedliche Gewerkschafter:innen für ihr Anliegen begeistern konnten, unter ihnen zentral Christiane Brunner. Die Erfolge davon waren aber nicht nur abhängig von dieser erfolgreichen gewerkschaftlichen Mobilisierung, sondern die Bewegung schaffte es, in einen sehr speziellen internationalen Kontext zu treten, wo auch in Amerika und Europa große Streiks stattfanden und die Aktionen und Mentalitäten ineinander überschwappten.

Der 14. Juni 1991 markiert noch immer einen der größten Tage für soziale Bewegungen in der Schweiz. Denn 100.000 Frauen streikten für die Gleichheit unter den Geschlechtern, und insgesamt 500.000 beteiligten sich in der einen oder anderen Weise. Es war die größte Arbeitsniederlegung, die die Schweiz seit dem Generalstreik 1918 gesehen hatte. Die Schockwelle spürt man bis heute noch in der Arbeiter:innengeschichte nach und die bloße Erwähnung des Streiks sorgt für Angst und Schrecken in der Bourgeoisie, obwohl er von der Sozialdemokratischen Partei (SP) und den sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften koordiniert wurde, die ja auch gut eingebettet ins bürgerliche System sind, und unmittelbar letztlich sehr wenige Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Kritischer Überblick über den Status des feministischen Streiks

Obwohl sich der kämpferische Streik 1991 gegen das bürgerliche Anti-Streik-Dogma stellte, wurden nur wenige Forderungen formuliert. Für tatsächliche Rechte zu kämpfen, die der Staat einer unterdrückten Gruppe zu gewähren vorgibt, ist zwar eine großartige Taktik für Bürger:innnenrechtsaktivist:innen, hat aber seine Grenzen. Es trabt nämlich dem Kapitalismus auf seinem Terrain hinterher.

Ein prägnantes Argument ist, dass der Kapitalismus unfähig ist, uns die Rechte zu gewähren, welche er uns verspricht. Tatsächlich ist die geschlechtsspezifische Unterdrückung in die grundsätzliche Funktionsweise des kapitalistischen Systems eingewoben, welches es sich beispielsweise nicht leisten kann, die Hausarbeit und damit die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen der privaten Sphäre zu entreißen. Daher kann im Kapitalismus zwar die formale, rechtliche Gleichheit der Geschlechter errungen werden, aber keine faktische Gleichstellung. Für ein tatsächliches Ende der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, für wahrhaftige Gleichstellung, muss daher die kapitalistische Produktionsweise überhaupt gestürzt werden!

Die Forderungen des Streiks von 1991 waren alle inhaltlich gut und wichtig, allerdings nicht ausreichend, und die Organisator:innen glaubten, Forderungen nach Abtreibungsrechten und Mutterschaftsurlaub wären zu ehrgeizig für die Bewegung! Außerdem wurden keine Anstalten unternommen, die spezifischen Bedürfnisse von People of Colour oder LGBTQ+-Personen aufzunehmen. Ihr Feminismus war daher nicht nur reformistisch, sondern auch ausschließend. Es ist daher auch nicht überraschend, dass einige der prominentesten Führerinnen des Streiks 1991, wie Martine Chaponnière, später immer islamophober wurden.

Neuauflage

2011 wurde eine Neuauflage des Streiks initiiert, die jedoch eine starke Einbuße an Kampfkraft zu verzeichnen hatte. Die Frauen der bürgerlichen Parteien, welche 1991 die Idee eines Streiks verabscheut hatten, haben die Notwendigkeit eines Streiks nun verteidigt. Dieses Mal waren aber nur einige tausend Frauen auf den Straßen.

Als Reaktion auf die #MeToo-Bewegung entschied sich der SGB 2019, eine erneute Version des Streiks zu organisieren, wieder am 14. Juni. Dieser wurde sowohl „Frauenstreik“ als auch „feministischer Streik“ genannt. In der deutschsprachigen Schweiz war er größtenteils unter ersterer Bezeichnung bekannt. Dieses Mal waren 500.000 Menschen auf der Straße. Im Gegensatz zu 1991 fokussierten sich die Forderungen auf den intersektionalen Feminismus. Spezifische Forderungen für rassifizierte Frauen wie auch für LGBTQ+-Personen wurden aufgestellt. Der Aufruf, diesen Streik zu organisieren, war aus der Frauenversammlung des SGB entstanden, durch den Impuls von Frauen aus dem Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Nach einem Aufruf über Facebook trafen sich im Juni 2018 ca. 200 Frauen, nicht alle davon gewerkschaftlich oder anderweitig organisiert, um den Streik 2019 zu initiieren. Im Anschluss bauten diese in der ganzen Schweiz Strukturen zu seiner Organisation auf.

Am Streiktag schließlich fanden viele spontane Aktionen statt: Manifeste wurden geschrieben und spezifische Forderungen für gewisse Wirtschaftssektoren (vor allem im öffentlichen Dienst) wurden erhoben. Frauen, die im privaten Sektor arbeiteten, hatten es grundsätzlich schwieriger zu streiken, wegen der noch größeren Gefahr von Repressionen seitens des Kapitals. Dies hielt Frauen im öffentlichen Dienst aber nicht davon ab, Solidarität zu bekunden und Forderungen für ihre Schwestern im privaten Sektor aufzustellen. Zum Beispiel stellten Angestellte und Student:innen der Universität Lausanne Forderungen für das Reinigungs- und Cafeteriapersonal auf, welches von privaten Firmen angestellt war.

Folgen

Eine solche Masse an arbeitenden Frauen auf der Straße zu sehen, war eine Inspiration für arbeitende Frauen in anderen westlichen Ländern. Der Streik war in den Nachrichten in Großbritannien, Deutschland, Österreich, in den USA und in weiteren Ländern, stets begleitet von einem Kommentar zur Geschichte des außergewöhnlichen Tages, an welchem die Schweizer Frauen streik(t)en.

Wie in Spanien bildeten diese Streiks ein Beispiel dafür, wie der Kampf um Frauenbefreiung die Grenzen des kleinbürgerlichen und bürgerlichen Aktivismus überwinden kann. Tatsächlich ist der Streik voll und ganz eine Kampfform des Proletariats. Auch wenn nicht jede so betitelte Aktion auch wirklich ein Streik ist, so waren die Aktionen in der Schweiz stark verbunden mit betrieblichen Aktionen und standen unter gewerkschaftlicher Anleitung.

Wie bereits erwähnt, stellen sich bürgerliche Frauen gegen das Kampfmittel des Streiks. Dieselben Frauen aber schämen sich nicht, den Feminismus als Werkzeug zu missbrauchen, um ihre Dominanz über arbeitende Frauen zu verstärken. Vor allem anderen kämpfen sie für Quoten in Spitzen- und Führungspositionen und gegen alltägliche sexistische Handlungen, während die permanente strukturelle Unterdrückung von Frauen im Kapitalismus unangetastet bleibt.

Dieser liberale Feminismus stellt Männer gegen Frauen und erlaubt es proletarischen Frauen in keinster Weise, die Kontrolle über ihre eigene Emanzipation zu erhalten. Daher wird er auch von den meisten proletarischen Frauen abgelehnt. Was die Streiks in der Schweiz und Spanien Frauen auf der ganzen Welt gezeigt haben, ist, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem Kampf für mehr Frauenrechte und dem für bessere Arbeitssituationen, kurz,  dass die Frage nach Gleichberechtigung eben auch eine Klassenfrage ist.

Daher war der Streik 2019 ein realer Erfolg, welcher fähig war, arbeitende Frauen zu mobilisieren. Daher hat er das Vertrauen der Arbeiter:innen erhalten und eine Plattform für Veränderung geboten. Logischerweise sollten wir also erwarten, dass die Bewegung deswegen anwächst. Doch die Führungsrolle des Reformismus der SP und Gewerkschaftsbürokratie sowie der Einfluss des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feminismus sollten sich in den folgenden Jahren als Barriere erweisen, die zu Stagnation und Rückschlägen der Bewegung führte.




100. Todestag Lenins: „Leninismus“ contra Lenin

Rex Rotmann, Infomail 1242, 21. Januar 2024 (Ursprünglich veröffentlicht 2004)

Am 21. Januar 1924 starb Lenin. Aufgrund schwerer Krankheit – teilweise gelähmt, konnte er kaum noch schreiben und sprechen – war sein aktives politisches Leben jedoch schon Monate vorher beendet.

Es blieb nicht aus, dass der Umgang mit Lenins politischem Erbe wesentlich vom Schicksal der internationalen Revolution beeinflusst wurde. In Russland hatte die Arbeiter:innenklasse die Macht übernommen, doch Russland war isoliert und rang schwer mit dem Erbe von Zarismus, Rückständigkeit und Krieg. Die Weltrevolution war nach mehreren gescheiterten Versuchen stecken geblieben. Ohne die Ausweitung der Revolution, ohne die Nutzung der immensen wirtschaftlichen Ressourcen vor allem Deutschlands standen Sowjetrussland schwere Jahre bevor.

Aufgrund von Isolation, Rückständigkeit, allgemeinem Mangel und der Erschöpfung der Arbeiterklasse formierte sich eine bürokratische Kaste, die immer mehr Einfluss erlangte und sich schließlich Staat und Partei unterordnete. Die lebendige Struktur der Sowjets (Räte) war vielerorts nur noch eine leere Hülle, u.a. deshalb, weil viele revolutionäre Arbeiter:innenkader im Bürgerkrieg gefallen waren. Das erleichterte es der Bürokratie, die Sowjet- und Parteidemokratie vollends auszumerzen und die Machtorgane der Arbeiter:innen und der Dorfarmut in bürokratische Vollzugsorgane der allmächtigen Zentrale umzuformen.

Aufstieg Stalins

Während die bürgerlichen Kritiker:innen Lenins „die Partei“ selbst und die Revolution für die Übel des danach folgenden Stalinismus verantwortlich machen, waren es die sozialen Bedingungen, war es das Steckenbleiben der Weltrevolution, welche Partei, Staat und Gesellschaft deformierten. Gerade die Sozialdemokraten, die in Deutschland selbst die Revolution abgewürgt hatten, werden nicht müde, die russische Revolution – eine wahrhafte Massenbewegung – als bolschewistischen „Putschismus“ zu verurteilen.

Die sozialen Konflikte in der jungen Sowjetunion schlugen sich in heftigen Debatten und Tendenzkämpfen in der Partei nieder. Die politischen Pole waren einerseits Stalin als Zentrum und Bonaparte der Bürokratie, andererseits Trotzki als Führer der „Linken Opposition“.

Stalins – gänzlich „unleninistisches“ – Konzept des „Sozialismus in einem Land“, zielte darauf ab, die politische Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiter:innenklasse auf Basis nichtkapitalistischer Eigentumsverhältnisse zu sichern.

Dieses Projekt war mit einem Zickzackkurs verbunden: zuerst langsame Entwicklung auf Basis der Landwirtschaft, dann plötzliche Wendung Richtung forcierte bürokratische Industrialisierung. Die soziale Folge von bürokratischen Projekten wie der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft waren Hungersnöte und tiefe soziale Verwerfungen.

Die „Begleitmusik“ dazu waren Terror und Schauprozesse. Jede Demokratie innerhalb von Staat und Partei wurde erstickt, jede politische Opposition zerschlagen und die gesamte bolschewistische Führung ausgelöscht. Nicht die Revolution fraß ihre Kinder – die Totengräber der Revolution entledigten sich der Verteidiger der Revolution.

Demgegenüber verteidigten Trotzki und die Linke Opposition die Strategie der Weltrevolution und der planmäßigen Industrialisierung Sowjetrusslands.

Die politischen Differenzen zwischen Lenin und Trotzki einerseits und Stalin andererseits, die sich schon Monate vor Lenins Tod bezüglich der nationalen Frage Georgiens entzündet hatten, waren nur die Vorzeichen für jene grundsätzliche strategische und methodische Differenz, die sich seit Mitte der 1920er Jahre immer mehr zuspitzte.

Um Terror und politische Manöver zu rechtfertigen, bediente sich Stalin der Mystifizierung Lenins – des „Leninismus“. Stalin wurde zu Lenins „Ziehkind“ und engstem Kampfgefährten stilisiert. Das war Teil einer groß angelegten Umdeutung und Verfälschung der Geschichte der Revolution und der Rolle, die Stalin dabei spielte. Zugleich diente es der Stigmatisierung und Verleumdung Trotzkis, des neben Lenin anerkannt wichtigsten Führers der Bolschewiki und der Revolution.

Stalins „Leninismus“ brach methodisch mit allem, was Lenins politisches Wirken und was den Marxismus überhaupt ausmachte.

Aus der Einheitsfrontpolitik der frühen Kommunistischen Internationale (Komintern) wurde die Volksfront. Aus dem Konzept der Zerschlagung des Staates und dessen Ersetzung durch die Demokratie der Arbeiter:innenräte machte Stalin die Installierung modifizierter, der Form nach bürgerlicher Staatsapparate unter der Alleinherrschaft der Partei. Alles, was nach Eigenständigkeit der Arbeiter:innenklasse roch und nach Räten ausschaute, wurde ausgemerzt. Aus der Perspektive der internationalen Revolution wurde in den 1930ern schließlich die friedliche Koexistenz mit dem Kapitalismus als Strategie.

Internationale

Was vielen Kommunist:innen damals nicht bewusst war, ist leider eingetreten. Drapiert mit den „Prinzipien des Leninismus“, aufgebauscht durch einen monströsen Personenkult und abgesichert durch Lügen und Terror missbrauchte Stalin das Ansehen der russischen Revolution in der Weltarbeiter:innenklasse, um die Komintern aus einer Weltpartei der Revolution zu einem moskautreuen Werkzeug Stalinscher Außenpolitik umzuformen – bis sie schließlich 1943 von ihm selbst aufgelöst wurde.

Der Kontrast könnte nicht größer sein: als klar war, dass der Faschismus geschlagen werden würde, als klar war, dass sich damit wie 1917 in etlichen Ländern revolutionäre Situationen ergeben würden, löste Stalin die Komintern, den internationalen Generalstab der Revolution auf, während Trotzki für den Aufbau einer neuen, der Vierten Internationale, stritt.

Es ist eine historische Tatsache, dass die Länder des „Ostblocks“ zusammengebrochen und die herrschenden „kommunistischen“ Parteien gestürzt worden sind. Trotz aller Unterschiede und politischen Friktionen zwischen den „führenden Genossen“ der jeweiligen Länder waren die von Stalin erdachten und erzwungenen Grundstrukturen dieser Gesellschaften – kein Rätesystem, Herrschaft der Bürokratie – gleich.

Trotzkis These, dass die Herrschaft der Bürokratie entweder durch eine politische Revolution der Arbeiter:innenklasse gestürzt wird oder aber die Bürokratie ihren „Sozialismus“ so weit ruiniert, bis er wieder in den Kapitalismus zurück fällt, hat sich leider vollauf bestätigt.

Wenn revolutionäre Marxist:innen von „Leninismus“ reden, dann meinen sie damit die Leistungen und Beiträge Lenins zur Weiterentwicklung und Anwendung des Marxismus. Dazu zählt der Kampf Lenins für eine revolutionäre Kaderpartei, sein konsequentes Beharren auf dem Primat des revolutionären Pogramms und sein unversöhnlicher Kampf gegen alle nichtrevolutionären Ideologien in der Arbeiter:innenbewegung.

Dazu zählen insbesondere auch Lenins Kampf für den Aufbau der Kommunistischen Internationale und seine Beiträge zur politisch-programmatischen Entwicklung der Komintern.

Es ist kein Zufall, dass die Stalinist:innen sich heute zwar in dutzenden Parteien organisieren, keine einzige von diesen oft höchst obskuren Organisationen jedoch ernsthaft den Aufbau einer Internationale anstrebt oder gar zu einer solchen gehört. Mehr als alle Phrasen zeigt das, wie weit entfernt ihr selbstgenügsames politisches Dasein und ihr als „Marxismus-Leninismus“ bezeichnete inhaltsleere und fruchtlose „Theorie“ von den Intentionen Lenins entfernt sind.

Aprilthesen

Das Zerrbild, das Stalins „Leninismus“ aus Lenin machte, ist so lächerlich wie abstoßend. Ganz im Gegenteil zum Götzenbild von Lenin, war dieser als Theoretiker, Revolutionär und Parteiführer Teil eines kollektiven Mechanismus und kein „Halbgott in Rot“. Lenins Schriften zeugen davon, wie er selbst ständig darum rang, seine politischen Konzepte zu präzisieren – und gegebenenfalls zu korrigieren.

So zeigte die russische Revolution, dass Lenins ursprüngliche „arithmetische“ Formel von der „revolutionär-demokratischen Diktatur“ hinter der Dynamik der Revolution zurückblieb.

Lenin änderte sie – in den Aprilthesen, wo klar das Ziel der proletarischen Machtergreifung, der Schaffung der Diktatur des Proletariats ausgesprochen wird. Die Stalinist:innen leugnen diese programmatische Weiterentwicklung, weil sie ihr mechanisches Etappen-Konzept der Revolution retten und zugleich die methodische Kongruenz der Aprilthesen mit Trotzkis Permanenter Revolution leugnen wollen. Der „Leninismus“ zerrte den toten Lenin theoretisch wieder auf seine von ihm selbst überwundene frühere Ansicht zurück.

Menschewismus

Trotzki, der profundeste und konsequenteste Kritiker der Politik und der Verbrechen Stalins, wies theoretisch nach, wie viele Elemente des Menschewismus, d.h. jener Politik, die Lenin bekämpft und von der er sich theoretisch losgearbeitet hatte, Stalin in seine Konzeption übernommen hatte. Wobei von „Konzeption“ angesichts des Eklektizismus` Stalins kaum gesprochen werden kann.

Es ist äußerst bezeichnend, dass Stalin und seinen servilen „Theoretiker:innen“ keine Lüge und keine Verleumdung groß genug waren, um sie nicht gegen den „Trotzkismus“ – oder besser: was man darunter verstand – zu gebrauchen. Wenn die „Argumente“ dabei nicht ausreichten – der Galgen war immer effektiv. Stalins Kampf gegen Trotzki war in Wahrheit eine Kampf um das Erbe Lenins, war ein Kampf um die Revolution und ihre programmatischen Grundlagen.

Lenin war ein herausragender, schöpferischer politischer Geist. Doch sein Wirken beim Aufbau der bolschewistischen Partei und der Kommunistischen Internationale wie als Führer der Revolution blieben nur ein mystisches und unerklärliches individuelles „Wunderwerk“, wenn sie nicht im Zusammenhang gesehen wird mit einem lebendigen marxistischen Diskurs, der nichts zu tun hat, mit „leninistischen“ Dogmen; wenn sie nicht in den Kontext einer lebendigen, revolutionär kämpfenden Arbeiterbewegung gestellt wird.

Vermächtnis

Beides – Lenins Politik und die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung und ihre Partei – hat Stalin fast ausradiert.

Lenin starb 1924. Seitdem wurde er tausendmal umgebracht durch die stalinistischen Leichenfledderer und missbraucht durch jene Linke, die sich mit seinem Bild schmücken, sich aber weigern, Lenins theoretisches Vermächtnis zu studieren, für den Klassenkampf nutzbar zu machen und weiter zu entwickeln.

Im Moskauer Mausoleum liegt ein toter Lenin. Doch dort, wo Menschen gegen den Kapitalismus kämpfen, wo sie für den Aufbau einer neuen, revolutionären Internationale kämpfen – dort ist Lenin lebendig.




„Zwei Staaten“ in Palästina: Geschichte einer reaktionären Idee

Robert Teller, Infomail 1239, 14. Dezember 2023

Dass „Zwei Staaten“ in Palästina niemals Wirklichkeit werden, bedeutet nicht, dass die Idee nicht auch einen eigenen Zweck erfüllen kann. Während Israels Bombenteppiche in Gaza Wohnviertel, Bäckereien, Justiz- und Regierungsgebäude in Schutt und Asche legen – und damit nebenbei auch jeden realen Ansatz palästinensischer Staatlichkeit pulverisieren – geistert die „Zweistaatenlösung“ wieder durch die Köpfe vor allem jener unter den Freund:innen Israels, die es für moralisch geboten halten, auch an eine „Zeit nach dem Krieg“ zu denken.

UN-Teilungsplan und Nakba

Ursprung der „Zweistaatenlösung“ ist der Teilungsplan von 1947, der nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung aufgrund des von Britannien angestrebten Rückzugs aus Palästina durch eine eingesetzte Kommission erarbeitet wurde. Obwohl damals bereits die Schaffung eines einzigen föderalen und demokratischen Staates in ganz Palästina diskutiert wurde, entschied sich die Kommission schließlich für einen Teilungsplan, der mehr als die Hälfte der Fläche Palästinas für einen „jüdischen“ Staat vorsah, während Jerusalem unter UN-Verwaltung gestellt werden und auf der verbleidenden Fläche ein „arabischer“ Staat geschaffen werden sollte. Beide Staaten sollten politisch souverän, jedoch in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verbunden sein.

Diese Aufteilung des Landes stand bereits damals in keinem Verhältnis zur demographischen und territorialen Realität der 32 % jüdischen Einwander:innen. Die große palästinensische Bevölkerungsmehrheit erstreckte sich auch auf etwa 400 palästinensische Dörfer innerhalb der vorgeschlagenen Grenzen eines „jüdischen“ Staates. Die Palästinenser:innen lehnten die Abtretung von Territorien an eine koloniale Siedler:innenbewegung ab, was nicht überrascht. Der Teilungsplan enthielt auch von Beginn an einen Verstoß gegen den Souveränitätsgedanken, mit dessen Anspruch die UNO gegründet wurde.

Der durch nichts demokratisch legitimierte Teilungsplan trug nicht dazu bei, die Spannungen zwischen einer kolonialen Siedler:innenbewegung und der indigenen Bevölkerung Palästinas zu entschärfen. Vielmehr verlieh er 1948 der gewaltsamen Vertreibung von 700.000 (und Ermordung von Tausenden) Palästinenser:innen politische und moralische Rückendeckung. Die Nakba endete in der militärischen Eroberung eines deutlich über den Teilungsplan hinausgehenden Territoriums und dessen ethnischer Säuberung. Diese gewaltsam geschaffenen Grenzen wurden 1949 durch Waffenstillstandsabkommen und die Aufnahme Israels in die UNO international anerkannt. Der in UN-Resolution 194 auferlegten Pflicht, allen palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen, kam Israel bekanntlich nie nach – und dies stand auch bei den vielen Verhandlungsrunden des „Friedensprozesses“, der zu einer Zweistaatenlösung hätte führen sollen, nie ernsthaft zur Debatte. Vielmehr war deren Voraussetzung gerade die Anerkennung der 1948 geschaffenen Verhältnisse, die seither Generationen von Palästinenser:innen zu Flüchtlingen im eigenen Land oder in den Nachbarstaaten machen.

Folgen des Sechstagekriegs

In die politische Debatte kam die „Zweistaatenlösung“ erst Jahrzehnte später wieder – und zwar nicht als Lösung für die nationale Frage Palästinas, sondern für das israelische „Problem“ der 1967 neu eroberten Gebiete, die sich für den zionistischen Staat als zweischneidiges Schwert herausstellten. Nach den Erfahrungen, die die Palästinenser:innen (und die Weltöffentlichkeit) 1948 gemacht hatten, konnten die Westbank und Gaza nicht in der gleichen Weise ethnisch gesäubert werden, um sie den Expansionsbestrebungen Israels zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der dort verbliebenen großen palästinensischen Bevölkerung konnte sich Israel diese Gebiete weder einfach einverleiben noch an die unterlegenen arabischen Staaten abtreten oder gar eine palästinensische Selbstverwaltung zulassen, die es der PLO erlaubt hätte, sich entlang der Grenzen von 1948 zu formieren. Die „Lösung“ eines dauerhaften Besatzungsregimes erwies sich mit Beginn der ersten Intifada 1988 als nicht nachhaltig. Kollektive Kampfformen der Palästinenser:innen wie Streiks, Kauf- und Steuerboykott versetzten der israelischen Ökonomie schwere Schläge. Die nach 1967 verfolgte Strategie einer ökonomischen Integration und Entwicklung der eroberten Gebiete – bei gleichzeitiger Vorenthaltung jeglicher demokratischer Rechte – erwies sich als Bedrohung für das zionistische Projekt.

Oslo-Prozess

Das zentrale Versprechen der Osloer Abkommen 1993 beinhaltete Israels Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen. Dies sollte jedoch erst als Endergebnis in einem Friedensabkommen vereinbart werden, als Abschluss eines 5 Jahre langen Prozesses, der in kleinen Schritten Verantwortung hin zur neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde verlagern würde. Bis dahin sollte die palästinensische Seite unter Bewährung stehen und demonstrieren, dass sie „zum Frieden bereit“ sei.

Auf Seite Israels lag ein wichtiger Gesichtspunkt darin, die Armee zunehmend von ihrer Funktion als Polizei der besetzten Gebiete zu entbinden, also ihre militärischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Im zionistischen Lager umstritten war die Frage der ökonomischen Integration. Die alleinige Kontrolle der Grenzen und des Außenhandels durch Israel seit 1967 ermöglichten der israelischen Ökonomie Extraprofite durch Überausbeutung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse und durch Zölle und Handelsprofite. Obwohl die Wirtschaftsunion und auch die Bewegungsfreiheit für palästinensische Arbeiter:innen in den Osloer Abkommen vertraglich vereinbart wurde, setzte sich in Israel letztlich der Flügel im Sicherheitsapparat durch, der einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Wirtschaftsraum als inakzeptable „Sicherheitsbedrohung“ sah. Die zunehmende Abriegelung der Westbank und des Gazastreifens war ein klarer Verstoß gegen den Wortlaut des Oslo-Abkommens, aber Israel betrieb diese aus genau der Logik heraus, mit der es in die „Friedensverhandlungen“ gegangen war: der angestrebten Minimierung der „Gefahr“, die mit der Verantwortung für das besetzte Volk einhergeht. Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen nach 1967 war zwar seit Beginn der Besatzung dem israelischen Militärregime in den Gebieten unterworfen, doch erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Abriegelung von Dörfern, Städten bzw. der gesamten Westbank oder die Verhängung von Ausgangssperren durch militärischen Befehl ein alltäglicher Normalzustand.

Eine weitere wichtige Folge des Oslo-Abkommens war die Zerstückelung der Westbank in einen Flickenteppich mit abgestufter Aufgabenteilung zwischen dem israelischen Militär und der Autonomiebehörde. Dem anfänglichen Versprechen nach sollte der israelische Rückzug aus den A- und B-Gebieten nur der erste Schritt hin zu einer wachsenden palästinensischen Selbstbestimmung werden, und bis Ende 1999 sollte die gesamte Westbank der Autonomiebehörde übergeben werden. Umgesetzt wurde letztlich nur der Abzug aus den großen palästinensischen Bevölkerungszentren der Westbank (A- und B-Gebiete), die seither großteils Enklaven unter Verwaltung einer Israel treu ergebenen palästinensischen Hilfspolizei darstellen. Selbst hier behält sich Israel das Recht auf militärische Interventionen vor, die ggfs. höchstens durch die Auslieferung von Israel gesuchter Personen durch die palästinensische Polizei verhindert werden können. In Einzelvereinbarungen setzte Israel in jedem Teilrückzug Konditionen durch, die dem langfristigen Ziel der Kolonisierung der Westbank Rechnung tragen. So wurde etwa beim israelischen Abzug aus Hebron 1997 eine verbleibende dauerhafte Militärpräsenz zum „Schutz“ der damals 400 israelischen Siedler:innen vereinbart. Eine Folge dieses Abkommens ist, dass in der israelisch besetzten H2-Zone dieser Stadt seither 20.000 Palästinenser:innen ihr Leben den militärischen Bedürfnissen der innerstädtischen Siedler:innenkolonie unterordnen müssen. Die daraus entstandene Lebensrealität von Ausgangssperren, „sterilisierten“ (d. h. ethnisch gesäuberten) Straßen, Checkpoints und elektronischer Überwachung wurde zum Paradebeispiel des von Israel errichteten Apartheidsystems.

Die „Zweistaatenlösung“ der 1990er setzte auf Seiten der PLO zwei Bedingungen voraus: Einerseits die Anerkennung allen vor 1967 begangenen Unrechts als unverrückbare Tatsache, andererseits die Demobilisierung der Intifada und Entwaffnung der PLO. Damit wurden Fakten zugunsten Israels geschaffen. Die interessanten Fragen hingegen wurden vielsagend auf ein „endgültiges“ Abkommen in unbestimmter Zukunft vertagt – wie die des Rückkehrrechts, der israelischen Siedlungen, der Außenbeziehungen des palästinensischen Staates und des zukünftigen Status von Jerusalem (welches 1980 von Israel völkerrechtswidrig annektiert worden war). So unbestimmt das Abkommen in allen wesentlichen Fragen war – den Palästinenser:innen forderte es nicht nur handfeste Zugeständnisse ab. Es sollte auch in der Folgezeit dazu dienen, die Äußerung jeder nur denkbaren palästinensischen Forderung als „Sabotage des Friedensprozesses“ zu delegitimieren. Die palästinensische Seite war in der Pflicht, sich als „Partnerin“ Israels zu bewähren, bevor sie einer „echten“ Einigung würdig war.

Die israelische Seite hingegen interpretierte die getroffenen Abkommen so, dass sie jeden kleinen Schritt hin zur palästinensischen Unabhängigkeit unter Verweis auf „Sicherheitsbedenken“ blockieren konnte, während die palästinensischen Zugeständnisse – insbesondere die territoriale Aufteilung der Westbank – aber endgültig blieben. Als diskussionswürdig gilt seitdem nur noch die Rückgabe einzelner Landfetzen der Westbank, auf die Israel selbst nach Meinung seiner westlichen Schutzmächte keinen territorialen Anspruch besitzt. Die Souveränität über Grenzen, Luftraum und Küstengewässer, ja selbst das Recht palästinensischer Flüchtlinge aus den Nachbarländern auf Rückkehr in diese palästinensischen Bantustans – all das verletzt kategorisch israelische „Sicherheitsinteressen“.

Spätestens mit Beginn der 2. Intifada im Jahr 2000 war klar, dass eine endgültige Vereinbarung über Israels Abzug aus der Westbank unerreichbar ist. Die von einer politisch gebrochenen PLO unter Jassir Arafat unterzeichneten Abkommen dienen seither als politische Legitimation für die zeitlich unbegrenzte Besatzung der C-Gebiete und den massiven Transfer von Siedler:innen dorthin als menschliche Schutzschilde der Besatzung. Statt eine begrenzte palästinensische Selbstbestimmung zu erreichen, wurden die Palästinenser:innen zu Fremden in einem Gebiet, das sich vom israelischen Kernland nur durch die umfassenden Privilegien unterscheidet, mit denen der israelische Staat die Siedler:innen für ihre Funktion als zivile Besatzer:innen belohnt. Durch diese De-facto-Annexion der C-Gebiete wird vermieden, die israelische Verantwortung für die Palästinenser:innen (rassistisch als „demographische Gefahr“ bezeichnet) zu vergrößern.

Für die Unterstützer:innen des Staates Israel legitimiert eine angenommene Bedrohung der Siedler:innen jede denkbare Schikane gegen Palästinenser:innen. Ungeachtet der v. a. im Westen verbreiteten scheinheiligen Hoffnung, nach Oslo irgendwie mit den palästinensischen Forderungen abschließen zu können – reale Folge der Abkommen war ihre systematische Einzäunung durch eine nun tödliche Sperranlage um Gaza und ein System von Mauern, Checkpoints und Apartheidstraßen, das die Westbank durchzieht und eingrenzt. Der einzige palästinensische Flughafen, der ein Symbol für neu gewonnene Freiheiten der Palästinenser:innen sein sollte, wurde nur drei Jahre nach Eröffnung durch die israelische Luftwaffe zerstört. Die Autonomiebehörde sollte nach der Abnabelung Israels zur lokalen Verwalterin des Status quo der Besatzung werden. Außerdem bietet der von ausländischen „Hilfsgeldern“ abhängige Apparat allen möglichen „Freund:innen der Palästinenser:innen“ die Möglichkeit, ihre Komplizenschaft mit Israel finanziell zu kompensieren.

Obwohl es in Folge der Oslo-Abkommen einen Rechtsruck in Israel gab, der jede Illusion über die Möglichkeit einer friedlichen Lösung zerstreute – die für die Palästinenser:innen desaströsen Folgen des „Friedensprozesses“ liegen nicht in dessen Scheitern begründet, sondern wohnen diesem von Beginn an inne. Der nach seiner Ermordung 1995 vielfach zum Friedensstifter verklärte Premierminister Jitzchak Rabin ließ selbst keinen Zweifel daran, dass die von ihm ausgearbeiteten Abkommen keine palästinensische Souveränität zur Folge haben sollten und die „Sicherheitsgrenze“ Israels immer am Fluss Jordan liegen würde.

Eine weitere wichtige Erkenntnis aus Oslo ist aber, dass auch die vollständige politische Kapitulation der einst selbstbewussten PLO nicht ausreichte, um die palästinensische Frage ad acta zu legen. Die Zweite Intifada ab 2000 bewies, dass die Palästinenser:innen weiterhin zu massenhaftem Widerstand fähig waren. Die Reaktion Israels – der erneute militärische Vorstoß in die A- und B-Gebiete, die Belagerung von Jassir Arafats Hauptquartier in Ramallah und die Zerstörung der bis dahin aufgebauten zivilen palästinensischen Verwaltung in der Westbank, die routinemäßige Verhängung von Kollektivstrafen wie Ausgangssperren, Abriegelungen oder Hauszerstörungen – führte auch vor Augen, dass der Kern des Konflikts eben nicht der Unwille zum friedlichen Ausgleich ist, sondern die Fähigkeit und der Wille Israels, gewaltsam den Status der Palästinenser:innen als Vertriebene und Rechtlose durchzusetzen.

Die Intentionen der israelischen Regierung wurden vor dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 sehr klar durch Dov Weissglass, damals Berater von Premierminister Ariel Scharon, formuliert:

„Die Bedeutung des Rückzugsplans liegt darin, dass wir den Friedensprozess einfrieren. Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates und verhindert eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Das ganze Paket namens palästinensischer Staat mit allem, was es mit sich bringt, wurde auf unbestimmte Zeit von unserer Tagesordnung gestrichen.“

Wie bei jedem Einsatz militärischer Mittel ist das real herrschende Gewaltverhältnis der Maßstab für jeden „Friedensplan“. Die 2002 von den USA neu aufgelegte „Roadmap for Peace“ machte der israelischen Seite erhebliche Zugeständnisse. Von Israel wurde die Roadmap so interpretiert, dass als ihre Vorbedingung ein Ende der Intifada, die Entwaffnung des palästinensischen Sicherheitsapparates und die politische Entmachtung von Jassir Arafat erfolgen müsse. Die Roadmap hatte daher für Israel die Funktion, die Niederschlagung der Intifada mit politischer Legitimität zu versehen.

Deal of the Century

Der Trump-Plan von 2019 („Deal of the Century“) war letztlich für fast alle Beobachter:innen nur der Versuch, die Realität zu legalisieren und in eine dauerhafte Rechtsform zu gießen. Teil des Plans war die einseitige Annexion aller Siedlungen in der Westbank sowie des Jordantals, die lediglich von den USA „bewilligt“ werden müsste. Der palästinensische „Staat“ dürfte keinerlei bewaffneten Organe unterhalten, müsste alle rechtlichen Schritte gegen Israel vor internationalen Tribunalen unterlassen und dürfte nicht in eigener Verantwortung internationalen Organisationen beitreten. Bei Verstoß gegen irgendwelche Vereinbarungen würde Israel automatisch das Recht auf militärische Intervention erhalten, vorbehaltlich nur der Zustimmung durch die US-Administration. Der Plan enthält die Möglichkeit der Ausbürgerung von Palästinenser:innen mit israelischem Pass und die weitergehende Annexion von Gebieten der Westbank im „Tausch“ gegen Gebiete in der Negev-Wüste. Die Annexion Jerusalems würde unverrückbar anerkannt, alle Grenzen würden ausschließlich von Israel kontrolliert und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge selbst in diesen „Staat“ Palästina würde unter den Vorbehalt israelischer Zustimmung gestellt. Durch die „Hilfe“ von Investor:innen aus den Golfstaaten sollten die palästinensischen Kantone zu einer florierenden Sonderwirtschaftszone ausgebaut werden. Der Rest der Welt sollte auf diese Weise von der finanziellen Last befreit werden, einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung über das UNRWA-Hilfswerk mit dem Nötigsten zu versorgen, was seit 1948 eine zentrale Voraussetzung der dauerhaften Ghettoisierung der palästinensischen Flüchtlinge und damit der israelischen „Sicherheitsinteressen“ ist.

Die „Zweistaatenlösung“ hat für Israel ihren Zweck erfüllt – die politische Unterwerfung der PLO. Zugleich hat sie 3 Jahrzehnte lang deutschen, US-amerikanischen und anderen Regierungen als Feigenblatt gedient, um ihre fortgesetzte Rückendeckung für den Kolonialstaat Israel politisch zu flankieren. Das erklärt auch, dass sie nicht so einfach aus den Köpfen verschwinden wird, wie es der zionistischen Rechten in Israel lieb wäre.

Resultat der Oslo-Abkommen ist auch der Apparat der Autonomiebehörde, der als Auftragnehmer des Besatzungsregimes für Israel unverzichtbar geworden ist. Dies unterstreicht auch die von Präsident Abbas und Premierminister Schtajjeh demonstrierte Bereitschaft, nach Ende von Israels Krieg in Gaza dort als Statthalter über die Trümmerwüste einzuspringen. Dass dies von Israel bislang ausgeschlossen wird, erklärt sich gerade aus der wichtigen Funktion, die die Behörde für Israel besitzt. Es ist nicht nur fraglich, woher diese die notwendige Autorität für die Neuordnung Gazas nehmen soll. Die politische Vereinigung von Gaza mit der Westbank würde auch den palästinensischen Massen die längst diskreditierte Autonomiebehörde als gemeinsame Gegnerin präsentieren und den Widerstand gegen deren Herrschaft als gesamtpalästinensische Frage, als zentralen Aspekt des Kampfes gegen Besatzung und Unterdrückung überhaupt, aufwerfen.

Für einen binationalen, säkularen, sozialistischen Staat!

Die Sackgasse in der Diskussion um die Zweistaatenlösung zeigt schlichtweg auf, dass die Lösung der palästinensischen Frage im Widerspruch steht zum Fortbestand eines kolonialen, ethnisch gesäuberten Staates Israel – in welchen Grenzen auch immer. Seine revolutionäre Überwindung ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts beider Nationen, der palästinensischen und der jüdisch-israelischen. Dies erfordert neben der völligen rechtlichen Gleichstellung der Nationalitäten, der Anerkennung aller gesprochenen Sprachen als gleichberechtigt, der Anerkennung des Rückkehrrechts für alle palästinensischen Flüchtlinge weltweit und ihrem Anspruch auf Entschädigung auch, die ideologische Bindung der israelischen Massen an das zionistische Projekt zu durchbrechen. Solange die jüdisch-israelische Selbstbestimmung fälschlich mit der Aufrechterhaltung militärisch abgesicherter Völkerreservate gleichgesetzt wird, bleibt eine „gerechte Lösung“ eine Unmöglichkeit. Dieses Wegbrechen der israelischen Massen vom Zionismus kann jedoch keine Vorbedingung für den palästinensischen Befreiungskampf sein. Vielmehr wird jeder Schlag, den die Palästinenser:innen und die internationale Solidaritätsbewegung dem Staat Israel versetzen, auch die Grundlage dieser ideologischen Bindung schwächen, die auf dem chauvinistischen Glauben an die Unbesiegbarkeit Israels fußt.

Auch wenn heute der Kampf gegen den Siedlungsbau und den alltäglichen Versuch der Vertreibung von Palästinenser:innen in der Westbank auf der Tagesordnung steht, muss dieser auf die Anerkennung der jüdisch-israelischen Nation unter vollständiger Abschaffung sämtlicher Privilegien abzielen. Dieses Ziel ist unvereinbar mit der Existenz zweier Staaten. Die Zweistaatenlösung würde unweigerlich beinhalten, einen Grenzverlauf festzuschreiben, der durch koloniale Gewalt aufgezwungen ist – und mit diesem auch die Vertreibungen von 1948, von 1967, die der vergangenen Jahrzehnte und die mit allem verbundene Enteignung palästinensischen Eigentums unwiderruflich machen. Eng damit verknüpft ist die Aneignung von Wasser, landwirtschaftlicher Nutzfläche und anderer natürlicher Ressourcen durch den Siedlerkolonialismus und die Kontrolle der Außengrenzen. Status quo ist die Existenz eines einzigen souveränen Staates, der eine echte Teilung seiner Souveränität kategorisch ausschließt. Es ist eine Utopie, diesen Staat derart zu bändigen, dass neben ihm Platz für einen zweiten existiert. Voraussetzung für jede gerechte Lösung ist seine revolutionäre Zerschlagung und die Schaffung eines neuen binationalen Staates.

Obwohl Marxist:innen für unterdrückte Nationen das Recht auf Lostrennung und auf einen eigenen Staat fordern, kann diese Forderung keinesfalls unterschiedslos, ohne Berücksichtigung der spezifischen Umstände der Unterdrückung aufgestellt werden.

Ein palästinensischer „Staat“ neben Israel würde nicht nur vergangenes Unrecht legitimieren, sondern auch die derzeit vollzogenen ethnischen Säuberungen in der Westbank als endgültig hinnehmen müssen. Die Festlegung eines Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten würde höchstwahrscheinlich eine neue Vertreibungswelle nach sich ziehen, die auf die Ausweisung eines möglichst großen Teils der Palästinenser:innen in den Grenzen von 1948 abzielt. Solche Szenarien werden u. a. von der ultrarechten zionistischen Partei „Jisra’el Beitenu“ (Unser Zuhause Israel) vertreten. Der reaktionäre Gehalt der „Zwei-Staaten“-Idee wird daran deutlich, dass ihr Ziel letztlich die Schaffung eines ethnisch homogenen Staates Israel ist, also der Abschluss der historischen Mission des Siedlerkolonialismus – wenn auch mit ggfs. geringfügig reduzierter territorialer Ausdehnung. Solange die Existenz eines Siedler:innenstaates auf der Basis ethnischer Exklusivität akzeptiert wird, kann der historische Zweck der Zweistaatenlösung nur in dessen Vollendung liegen – unabhängig davon, welche Hoffnungen einige Palästinenser:innen mit der Aussicht auf einen eigenen Staat neben Israel verbinden mögen. Ein unter den heutigen Bedingungen irgendwie vorstellbarer palästinensischer Staat – der seiner staatlichen Souveränität und wichtigsten sozialen Errungenschaft, des Rückkehrrechts, beraubt wäre – würde die palästinensische Frage nicht lösen, sondern die Unterdrückung mit umfassender politischer Legitimität ausstatten. Ein solcher „Deal“ würde auch auf die „Normalisierung“ Israels durch die Abraham Accords von 2020 aufbauen. Im schlimmsten Fall könnte dabei das ägyptische Regime gezwungen werden, einer Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und deren Ansiedlung auf dem Sinai zuzustimmen.

Revolutionär:innen sollten daher unmissverständlich für eine „Einstaatenlösung“ eintreten. Natürlich zieht diese Position auch die Frage des Klassencharakters des zu erkämpfenden Staates nach sich. Die Schaffung eines gerechten Ausgleichs beider Nationalitäten erfordert den massiven Transfer von Ressourcen zur Entschädigung und Wiederansiedlung der Vertriebenen. Die Beseitigung des Apartheidcharakters, der bereits im Städtebau und in Straßenverläufen einbetoniert worden ist, ist nur auf Grundlage gemeinschaftlichen Eigentums an Land, Wohnraum, Industrie und Bodenschätzen möglich. Sie fällt also der Arbeiter:innenklasse zu, die diese Ressourcen enteignen und einer gesamtgesellschaftlichen Planung des binationalen Staates zugänglich machen würde. Die Verknüpfung der demokratischen mit der sozialistischen Revolution stellt daher den programmatischen Kern der revolutionären Strategie zur Befreiung Palästinas dar.




1848 und die Linke

Martin Suchanek, Infomail 1237, 15. November 2023

Der folgende Text ist ein Redemanuskript, das dem Beitrag bei der von Platypus Leipzig am 2. Oktober durchgeführten Veranstaltung zu „1848 und die Linke“.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (Marx, 18. Brumaire des Louis Bonaparte)

Betrachten wir die Revolution von 1848, so brachten wir sie als Revolutionär:innen vom Standpunkt der Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts, ihre Verwerfungen, Aufgaben – nicht und nie bloß in einer geschichtlichen Rückschau.

Diese Bemerkung erklärt aber, warum ein großer Teil der sog. Linken – inklusive derer, die sich selbst radikal nennen, so wenig Interesse an der Revolution von 1848 und auch anderen Revolutionen der Vergangenheit haben. Nehmen wir nur den Oktober 1923, dessen Niederlage einen weltgeschichtlichen Wendepunkt darstellte.

Die Revolution von 1848 stellt auch einen solchen weltgeschichtlichen Wendepunkt dar, weil sie die Parameter der Klassenverhältnisse und revolutionärer Politik damals und bis heute mitprägt. Worin besteht das, dazu thesenhaft.

1. Die REVOLUTION von 1848 war eine internationale Revolution

Auch wenn sie – wie viele Revolutionen – unvorhergesehen, wenn sie, in Marx Worten, in Frankreich mit einer „Überrumpelung“ beginnt, so breitet sie sich über ganz Europa aus.

Sie ist kein nationales Ereignis, sondern ein internationales, auch wenn es Deutschland und Osteuropa um den die Nachvollziehung der bürgerlichen Revolution geht.

2. Die Revolution von 1848 ist zwar eine gescheiterte bürgerliche Revolution, zugleich aber geht sie schon über diese hinaus und zwar in mehrfacher Hinsicht.

– Erstens verbindet die Entwicklung in England und jene auf dem Kontinent die Frage der sozialistischen mit der bürgerlichen Revolution.

  • Zweitens zeigen alle Revolution und Erhebungen in Europa, dass das Bürger:innentum nicht mehr zu einer entschlossenen, konsequenten Revolution gegen die Dynastien und das alte Regime fähig ist. Die bürgerliche und kleinbürgerlichen Parteien Deutschland, Frankreich, Österreich usw. ziehen letztlich die Niederlage einer zu weit gehenden Revolution vor.

  • – Dies hängt drittens untrennbar mit der Entwicklung des Klassenkampfes und dem Hervortreten der Arbeiter:innenklasse als eigenständiger, unabhängiger revolutionärer Kraft zusammen, vor allem und zuerst in Frankreich. Die Klasse der Lohnabhängigen trägt auch gemeinsam mit den unteren Schichten des städtischen Kleinbürger:innentums die Hauptlast der Revolution.

  • Daher enthalten viertens das Programm der Arbeiter:innenklasse – wie im Kommunistischen Manifest, aber sehr viel genauer in den Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland im März 1848 dargelegt – sehr radikale Eigentumsforderungen und Übergangsforderungen.

  • Die Revolution enthält also fünftens schon wichtige Aspekte der permanenten Revolution, der Revolution in Permanenz, der Verbindung von demokratischen Aufgaben – nationale Einheit, Demokratie und Republik, Landfrage, Abschaffung aller feudalen Überreste – mit Fragen der proletarischen Revolution. Schon im Kampf treten letztlich Proletariat und Bürger:innentum als Kräfte auf, die um die Führung der Revolution im Streit liegen.

  • Die Revolution zeigt die Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter:innenklasse als eigenständige politische Kraft, als Partei, im Gegensatz zu anderen Klassen – auch als Voraussetzung für Taktik und Bündnispolitik gegen die Reaktion.

3. Das Scheitern der Revolution führt Marx und Engels zu einer schonungslosen und nüchternen Neubestimmung der Aufgaben von Revolutionär:innen.

Das schließt natürlich auch ein, dass wir heute in der Politik und Analyse von Marx und Engels auch wichtige Schwächen und Fehler kritisch benennen müssen. Das bezieht sich z. B. auf die falsche Konzeption von historischen und geschichtslosen Völkern, die sie, wie Rosdolsky in „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen’ Völker“ zeigt, von Hegel letztlich unkritisch übernehmen. Es bezieht sich aber auch auf die Frage der eigenständigen Arbeiter:innenorganisation, deren Wichtigkeit erst mit dem Niedergang der Revolution deutlicher hervorgehoben wird.

Jetzt aber zu den positiven Lehren:

  • Anerkennung der Niederlage der Revolution. Ablehnung der Vorstellung, dass diese künstlich wiederbelebt werden könne.

  • Hinwendung zur tieferen, ökonomischen Analyse der Verhältnisse. Die Niederlage wird nicht einfach aus politischen Fehlern und Verrat erklärt, sondern auch aus einer Unreife der Arbeiter:innenklasse, die ihrerseits durch die Unreife der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland, tw. in Frankreich verursacht ist.

  • Zugleich tritt das Proletariat schon so sehr in Erscheinung, dass das Bürger:innentum als revolutionäre Klasse ausfällt, vor dem Kampf zurückschreckt, weil das Proletariat zu weit gehen könnte, den bürgerlich Rahmen der Verhältnisse in Frage stellen könnte. Umgekehrt betrachten Marx und Engels die bürgerliche Revolution nur als Übergangsstadium.

  • Die Konterrevolution kann sich auf die Erschöpfung der revolutionären Klassen stützen – unreifes Proletariat, zögerliche bürgerlich/kleinbürgerliche demokratische Kräfte – aber auch auf „Mittelklassen“ und die Bäuer:innenschaft auf dem Land. Der Sieg der Konterrevolution nimmt eine spezifische Form an, führt zur Etablierung eines bonapartistischen Staatsapparates oder Regimes. Am klarsten in Frankreich, aber auch in Preußen.

  • Die gescheiterte Revolution macht auch deutlich, dass die Arbeiter:innenklasse die bürgerliche, bürokratische Staatsmaschinerie, die mehr und mehr perfektioniert wird, nicht einfach in Besitz nehmen kann für ihre Zwecke. Der bürgerliche Staat muss vielmehr zerschlagen werden, damit eine wirkliche Volksrevolution mit dem Proletariat an der Spitze siegen kann.

4. Warum kräht 2023 kaum jemand nach der Revolution 1848?

Das hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass 175 Jahre ein etwas sperriger Jahrestag sind. Auch die Revolution von 1923 interessiert wenig, ob wir den 100. Jahrestag erleben.

Der Grund ist eine andere. Für Marxist:innen ist die Betrachtung vergangener Revolution untrennbar mit der Betrachtung zukünftiger verbunden. Oder wie Marx formuliert: die soziale Revolution schöpft ihre Poesie auf der Zukunft.

Für eine Linke jedoch, für deren große Mehrheit die Revolution ein toter Hund, eine Utopie, eine bloße Erinnerung an die Vergangenheit geworden ist, gibt es auch keine Lehren aus der Revolution.

Die heutige Linke steht in ihrem Verhältnis zur Revolution von 1848 allenfalls auf dem Standpunkt des radikalen Kleinbürger:innentums von 1848, das die Revolution irgendwie wollte, aber auch nicht zu viel und zu radikal. Heute will man eine entschlossene, transformatorische Reformpolitik, Sozialismus, aber im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staatsgebäudes.

Nur wenn die sozialistische Umwälzung, nur wenn die Revolution als reale Möglichkeit und Aufgabe unserer historischen Periode begriffen wird – als einzige wirkliche Antwort auf die Krise des Kapitalismus, auf den Krieg, auf die ökologische Zerstörung, auf Rassismus und zunehmende Reaktion in allen Formen – nur dann können überhaupt die Lehren vergangener Revolutionen fruchtbar gemacht werden.




Deutscher Oktober 1923 – Parteidebatte um die Niederlage

Bruno Tesch, Neue Internationale 278, November 2023

Die KPD offenbarte nach dem Oktober 1923 bei der Ursachenbetrachtung der Niederlage tiefe Unterschiede in der Gewichtung und vor allem auch im Verständnis der Einheitsfronttaktik und setzte damit ihre nach wie vor bestehenden ungeklärten Differenzen fort.

Selbst bei der scheinbaren Einigkeit über die Einschätzung der deutschen Situation „als objektiv revolutionär“ sind Zweifel angebracht. Festgemacht wurde dies in erster Linie am Grad der Zerrüttung der bürgerlichen Demokratie und der Polarisierung in ein klar reaktionäres, gestützt auf kleinbürgerliche Bewegungen und Militär, und ein revolutionäres Lager. Dessen Zusammensetzung und das Kräfteverhältnis zum feindlichen Pol wurden jedoch unterschiedlich interpretiert.

In der Debatte zeichneten sich drei Flügel ab: Linke, Mitte und Rechte. Wir untersuchen und bewerten im Folgenden ebenso deren Antworten wie jene aus dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI). Dabei beschränken wir uns aus Platzgründen auf Sinowjews Buch und die im Ergänzungsheft 1 der „Internationale“ (Januar 1924) geführte Debatte und liefern diese sowie weitere Quellen am Schluss.

Unterschiedliche Lehren: in Parteiführung … 

In ihren „Thesen zur Oktoberniederlage und zur gegenwärtigen Lage“ hielten Thalheimer und Brandler fest:

„1. Der Oktoberrückzug war unvermeidlich und richtig.

2. Die grundlegenden Ursachen der Oktoberniederlage sind objektiver Art und nicht wesentlichen taktischen Fehlern der KPD geschuldet. Die entscheidende Ursache ist der noch zu starke hemmende Einfluss der Sozialdemokratie. Die Mehrheit der Arbeiterklasse war nicht mehr bereit, für die Novemberdemokratie zu kämpfen, die ihnen bereits materiell nichts mehr gab, und noch nicht bereit, für die Rätediktatur und den Sozialismus zu kämpfen. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit der Arbeiterklasse war noch nicht für den Kommunismus gewonnen.

3. Der gemeinsame Fehler der Exekutive (der Komintern) wie der Zentrale der KPD war die falsche Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen SPD und KPD. Die KPD, hat in dieser Beziehung sich kritisch gegenüber der Exekutive verhalten, aber nicht genügend energisch. Die Exekutive hat dieser Kritik nicht das genügende Gewicht beigelegt.

4. Die Folgen dieser falschen Beurteilung des Kräfteverhältnisses waren:

a) ein zu früher Termin des Endkampfes

b) die Vernachlässigung der Teilkämpfe und der politischen Vorbereitung

c) infolge der mangelnden Verbindung zwischen politischer und technischer Vorbereitung litt auch die militärisch-technische Vorbereitung

5. Mängel zweiter und dritter Ordnung waren:

a) in Sachsen und Thüringen nicht genügende Ausnützung der gegebenen Positionen sowohl in Bezug auf Zersetzung der SPD und Heranziehung der SPD-Arbeiter an die KPD, wie auch in Bezug auf die Organisation der militärischen Abwehr.

b) Schwerfälligkeit der organisatorischen Umstellung der Partei für den Bürgerkrieg.

6. All diese Fehler und Mängel ändern nichts Wesentliches an dem grundlegenden Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse.“

In „Zur gegenwärtigen Lage“ stellten sie aber eine Militärdiktatur fest, mithin ein scharfes Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Der Einfluss der Oktoberniederlage auf Stimmung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und Zustimmung zur KPD fand keinen Niederschlag, auch nicht in den nachfolgenden erläuternden Gedankengängen von Thalheimer zu den Thesen.

Brandler sprach in seinem Beitrag jedoch davon, dass der kampflose Sieg der Reichsexekutive, der Truppen des Generalleutnants Müller, der in Sachsen Befehlsgewalt hatte, demoralisierend auf die Arbeiter:innenklasse und Teile der Partei gewirkt habe – ein Schwächezustand, der durch die Umstellung auf die Illegalität in Verbindung mit dem Oktoberrückzug die Aktivität lähmte.

Zur Frage, warum die linkssozialdemokratisch beeinflussten Arbeiter:innen doch der passiven Regierungsführung in Sachsen/Thüringen gefolgt sind, führte Thalheimer aus:

„Wir haben nicht geglaubt, dass die linken SPD-Führer kämpfen wollten, aber dass die linken SPD-Arbeiter zum Kampf bereit waren. Es hat sich gezeigt, dass die Wirkung des organisatorischen Bandes viel stärker ist, als wir annahmen.“ Zur Festigung der Position in Sachsen und Thüringen bemerkte Thalheimer:

„Der bürgerliche Staatsapparat war unseren Genossen in Sachsen und Thüringen sehr wenig vertraut. [ … ] Es zeigte sich in der Praxis die Notwendigkeit der sofortigen Zerschlagung und völligen Neubaus dieses Apparates.“

Brandler wies eine Schuld durch taktische Fehler der Partei zurück und lastete sie dem Verrat der SPD an. Der Fehler bestände nur in der Unterschätzung der Zähigkeit der konterrevolutionären Fraktion der SPD und in der Überschätzung der eigenen Kräfte.

Er sah in „Lehren der Oktoberniederniederlage“ drei Fehlerquellen bei der falschen Beurteilung der Kräfteverhältnisse: zum einem habe die Außerachtlassung der gesamten internationalen Situation, das Verbot der proletarischen Hundertschaften und Kontrollausschüsse in Preußen sowie in Rheinland-Westfalen durch die Okkupationsarmee den Ausbau der proletarischen Klassenorgane gehemmt.

… und Parteigliederungen: Abrücken von der Mehrheitslinie

Andere Stimmen aus den Reihen der Parteimehrheit konstatierten eine Krise der Partei und verwiesen darauf, dass bereits bei den Kämpfen in den Bergbauregionen im Frühjahr Vorbereitungsarbeit auf entscheidende Kämpfe hätte geleistet werden sollen, und hielten eine Weiterführung von Teilkämpfen zur Deckung des Rückzugs der Partei für erforderlich.

Einen kritischen Schritt weiter gingen Genoss:innen, die von der Parteiführung (in einem namentlich nicht gezeichneten Beitrag „Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“) abrückten und der Partei vorhielten, dass sie In den Länderregierungen die Kampfpositionen nicht genügend ausgenutzt hätte, um die Mobilisierung der Massen zum organisierten Widerstand durchzuführen.

„Der Kardinalfehler der strategischen Einstellung war, dass die Partei sich auf einen ,Endkampf’ zur Eroberung der politischen Macht vorbereitete und die Einleitung von Teilkämpfen, Kämpfen mit Teilforderungen und weniger aggressiven Mitteln und Kampfmethoden ablehnte und verhinderte.

Nur aus der Verteidigung der mitteldeutschen Position zum entscheidenden Kampf überzugehen, war falsch. Nach Einzug der Weißen in Mitteldeutschland trat deshalb überall eine starke Desorientierung ein.

Der kampflose Rückzug war falsch, dem aktiven Teil des Proletariats unverständlich, Vertrauen auch der sympathisierenden Sektoren in die Partei geschwächt.“

Weitere Argumente (H. Lemann: „Um den proletarischen Machtkampf) wurden mit dem Hinweis vorgebracht:

„Statt über den Weg der Konzentration auf die regionalen Regierungen als Machtbasis für den sogenannten Endkampf hätte die Kampfaufnahme bedeutet: Generalstreik über das Reichsgebiet mit dem politischen Ziel, zunächst die Regierung und die Staatsgewalt unter Druck zu setzen und die Truppentransporte nach Sachsen zu verhindern. Zugleich mit dem Generalstreik konnte man auf bewaffnete Erhebungen unter Förderung und Führung der revolutionären Vorhut rechnen. Erst aus diesen Kämpfen mit Minimalzielen hätte man prüfen müssen, ob weitere Ziele erreichbar sind.“

Schlussfolgerungen der Parteiopposition

Noch grundlegendere Vorwürfe erhob A. Kleine in seinem Aufsatz „ Die Oktoberniederlage des Proletariats und die Aufgaben der KPD“, v. a. im Abschnitt „Die Fehler der Partei“.

Er bestritt die Aussage: „Es hat sich herausgestellt, dass der europäische Menschewismus viel tiefere Wurzeln in der Arbeitermasse hat, als wir es annehmen konnten.“ Kleine verwies in dem Zusammenhang auf Trotzkis „Anti-Kautsky“ („Terrorismus und Kommunismus“) und folgerte: „Die Partei konnte nicht das wahre Kräfteverhältnis erkennen, weil sie jeden anwachsenden Kampf der Massen abzubremsen versuchte, um ihn in den Rahmen des von der Partei vorbereiteten Widerstand einzugliedern.“

Kein Organ der Partei, keine Hundertschaft, kein Kontrollausschuss, kein Minister hätten trotz der gespannten Lage die Vereinbarungen mit der SPD durchbrochen, obwohl die reformistischen Führer:innen den gemeinsamen Kampf gegen die drohende „weiße“ Gefahr hintertrieben. In Berlin waren breitere Teile des Proletariats als in dem Anti-Cuno-Streik zum Kampfe bereit. „Was hat die Partei diesen Massen gesagt? Wir werden nicht siegen! Der Feind ist stärker, die Zeit arbeitet für uns; lasst ihn die Macht übernehmen. In dieser Situation war der Oktoberrückzug falsch.“ Die Mehrheit der Klasse war nur gewinnbar, wenn die Partei ihre Kampfbereitschaft auch beweisen konnte, wie das Hamburger Beispiel es vorgeführt hätte. Der Nichteinbezug der Massen in die Kampfvorbereitung zeigte, dass die Partei, v. a. die Leitung, ein unzulängliches Verständnis für die Verhältnisse zwischen ihr und den Massen und die Rolle der Partei im Kampfe um die Einheitsfront bewiesen hat.

Fehler waren schon vor dem Streik gegen die Regierung absehbar. Betriebsrätebewegung und militärische Vorbereitung hätten gestärkt werden müssen. Dass dies unterblieb, war als Ausdruck der Unterschätzung der Rolle der KPD in einer Epoche des Kampfes um die Einheitsfront des Proletariats zu werten. Die Partei hat im Großen und Ganzen das Vertrauen in die linken Führer:innen der SPD gestärkt. Die Hoffnung auf die Chemnitzer Konferenz, um diese Führung in den Kampf hineinzuziehen, trog. Das Stillhalten der KPD in der Regierung rächte sich. Kleine räumte allerdings ein, dass sich große Teile noch keine Kampferfahrung erworben hatten. Auch die Betriebsräte in Berlin hatten zum Oktober Teile ihres Einflusses eingebüßt.

Noch schärfer ging Max Albert in dem Artikel „Alles oder nichts“ mit der Parteiführung ins Gericht. Er stellte die Situation als ununterbrochenen Aufstieg und gewaltige Stärkung der revolutionären Bewegung des Proletariats dar und verwies auf Zersetzungserscheinungen im Lager der Arbeiter:innenfeinde – Schwarze Reichswehr, monarchistische (Kronprinz-)Truppe, Deutschnationale, katholische Gruppen –, die hätten genutzt werden sollen, um selbst nach dem Einmarsch in Sachsen aktive Gegenwehr zu leisten.

Die Unterschätzung der eigenen Kräfte – in Hamburg wurden die linken sozialdemokratischen Arbeiter:innen nicht eingeweiht und führten keinen synchronisierten Aufstand durch – und Überschätzung der gegnerischen wären der schwerste Fehler in der Oktoberniederlage gewesen. Albert beschuldigte aber beide Flügel, Parteiführung und „linke“ Opposition, eine falsche Vorstellung von Bürgerkrieg gehabt zu haben. Dieser könne nicht mit „Entscheidungskämpfen“ beginnen, was sich auf die falsche Alternative Sieg oder Niederlage zuspitzen würde. Die Vertagung des Kampfes führte zu einer schweren Niederlage nicht nur der KPD, die zu einer des deutschen, ja internationalen Proletariats geriet. Ebenso im Debakel endete die Einschätzung, den Kampf leicht gewinnen zu können.

Die Ankündigung wirtschaftlicher Maßnahmen wie Lebensmittelverteilung wären kein Mittel zur Mobilisierung des sächsischen Proletariats angesichts des drohenden Reichswehreinmarschs gewesen. So wurde im Gegenteil das Gefühl geweckt, als sei eine Besserung ihrer Lebenslage auch ohne Kampf möglich, als könnten ein paar sächsische Minister für sie die Revolution machen. Wenn am Ende der Chemnitzer Konferenz plötzlich die Parole: Generalstreik, die gleichzeitig bewaffneter Endkampf heißen sollte, „wie ein Dachziegel in die Versammlung flog, soll man sich doch nicht darüber wundern, wenn diese Parole nicht sofort mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.“

Albert erblickte auch Fehler darin, dass in der Periode der Kampfvorbereitung die politische Arbeit durch die militärischen Vorkehrungen sehr stark verdrängt wurde. Bewaffnung von Kadern reichte nicht, sie musste vielmehr aus der Massenbewegung heraus entwickelt werden.

Strategiekritik des linken Flügels

Der Flügel, der sich v. a. um Parteikräfte in Berlin und Brandenburg gruppiert hatte, stand von Beginn an in Fragen von Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung in Opposition zur Parteimehrheit. Die einzige scheinbare Gemeinsamkeit eines situativen Fixpunktes bestand in der Ausrichtung auf den „Endkampf“, der auch von den Oppositionellen als richtig erachtet wurde, wie in der „Skizze zu den Thesen über die politische Situation und über die Lage der Partei“ durch die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg festgehalten wurde. Die Wegbeschreibung und Einschätzungen über die notwendige Politik unterschieden sich jedoch diametral. In diesem Papier hieß es, die Situation sei objektiv reif für die Machteroberung des Proletariats, die Siegesaussichten der KPD im Oktober seien groß gewesen. Den Kampf hätte die Partei wagen müssen. Die Parteileitung hätte jedoch im August eine Perspektive linkssozialdemokratischer, rein gewerkschaftlicher Regierung verbreitet und durch eine Popularisierung der linken SPD durch Einheitsfront und Bündnis, deutlich geworden in den Regierungen Sachsen und Thüringen, ein falsches Bild von Arbeiter:innenregierung erzeugt. Die KPD-Führung habe die Schwächung der Position des Proletariats und der Partei zu verantworten.

Ruth Fischer, die führende Feder des Flügels, schrieb dazu ausführlicher in: „Zur Lage in Deutschland und zur Taktik der Partei“ über die Taktik der KPD in Sachsen. Sie kreidete der Parteiführung eine

„- falsche Einschätzung der Kräfteverhältnisse

– falsche Anwendung der Einheitsfronttaktik, u. a. in Regierungsbeteiligung Sachsen und Thüringen

– reformistische Betrachtung der Regierungsbeteiligung, des Staates, der Staatsmacht und der ,Ausnützung des Staatsapparates’“ an.

In Sachsen sei die KPD nicht so stark wie behauptet, sondern politisch unselbstständig, schwankend gewesen. Dies zeigte sich bei Wahlen zum Metallarbeiter:innenverband, beim Antifaschistischen Tag, Auguststreik und während der Regierungsbeteiligung besonders zum Ende. Die Stärke der sächsischen Hundertschaften wurde übertrieben.

In der Einheitsfrontpolitik sei der „ehrliche[r] Wille, zusammen mit der linken SPD, Arbeiterpolitik im Rahmen der Demokratie zu betreiben“, betont worden. Jedes Wort dieses Leitsatzes unserer sächsischen Politik war ein prinzipieller wie taktischer Fehler, Betonung auf der Unfähigkeit der SPD, Arbeiter:innenpolitik (d. h. revolutionäre Politik) zu treiben, notwendig. Ziel musste sein, die Einheitsfront mit ihnen zu vernichten. Jede Zusammenarbeit mit diesen Führer:innen habe ihnen Kredit verschafft, gefolgert aus der These des Leipziger Parteitags, „dass auch die Sozialdemokratie revolutionäre Kämpfe führen“ könne.

Fischer kritisierte ferner: „Unsere Einheitsfronttaktik bestand in einigen Spitzenverhandlungen und parlamentarischen Kombinationen unter bewusstem Verzicht auf Betriebsrätekongresse. Selbst nach Ermordungen von Arbeitern im Frühjahr und Generalstreiksabotage während Regierungsbeteiligung ist die Front nicht gesprengt worden. Stattdessen hätten klare Signale durch mobilisierende Aktivität zu einem echten Fundament für eine Einheitsfront mit den Massen gelegt werden können, um sie von unseren revolutionären Kampfeswillen und Zielen zu überzeugen. Durch unsere Taktik in Sachsen haben wir die Entwicklung der KPD aufgehalten, die Zersetzung der SPD gehemmt, ihren ‚linken Flügel‘, die gefährlichste Barriere für die Revolution, konsolidiert und die besten revolutionären Elemente der eigenen Partei wie des Proletariats der KPD gegenüber misstrauisch gemacht. Jede bürgerliche Regierung mit einem intakten Staatsapparat und einer Spitze, die aus Personen mit sozialdemokratischem (oder auch kommunistischem) Mitgliedsbuch in der Tasche besteht, ist eine bürgerliche Regierung und handelt als und ist eine solche. Eintritt in diese Regierung konnte nur den Sinn haben, den Apparat zu sprengen, einen proletarischen an seine Stelle zu setzen und den Angriff gegen die Bourgeoisie zu beginnen. Voraussetzung hierzu war: Massenmobilisierung, Rätekongress, Beginn der Bewaffnung. Eine Änderung des Staatstyps in einen proletarischen, ohne den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, ist praktischer Revisionismus der Staatstheorie.“

Auch in der Praxis der Regierungsbeteiligung hätten sich viele skandalöse Fehler ereignet, z. B. die Mitverantwortung für ein Regierungsprojekt, das in Zeiten höchster Hungerkrise dem ehemaligen Königshaus ungeheure Wertobjekte schenkt, Verzicht auf selbstständige Aktionen zur Verteidigung der Regierung. Hamburg, so meinte Fischer, hätte trotz Niederlage und personeller Verluste mehr genützt als geschadet, den Kommunist:innen eher einen Prestigegewinn verschafft.

Diese Zusammenschau der Sichtweisen auf das Revolutionsjahr 1923 und die Rolle der KPD darin drückt gravierend große Gräben innerhalb der Partei aus, wobei die Brandler/Thalheimer-Führung deutlich angeschlagen aus der Niederlage der Revolution hervorging.

Sinowjews Haltung

Rückenwind erhielt der linke KPD-Flügel durch Sinowjew, der als Vorsitzender des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (EKKI) an exponierter Stelle stand, zumal er die treibende Kraft bei der Festlegung eines bewaffneten Aufstands im Herbst 1923 war. Seiner Beurteilung, die er in „Probleme der deutschen Revolution“ niederlegte, kam besonderes Gewicht zu. Rückblickend hielt er die Taktik der KPD in Sachsen für richtig, sie konnte und durfte eine Teilnahme an einer Koalition mit der SPD nicht ablehnen. Es gab keinen Grund zur Reue über das sächsische Experiment, weil dort ein Bankrott der linken Sozialdemokratie offenbart worden wäre. Im Nachwort revidierte er jedoch diese pauschale Absegnung:

„Der Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung war gedacht als militärisch-politische Episode, mit dem Zwecke, für die kämpfende Avantgarde einen Stützpunkt zu schaffen. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden. Die ganze Episode begann, einer banalen parlamentarischen Zusammenarbeit der Kommunisten mit den sogenannten ‚linken‘ Sozialdemokraten zu ähneln. Um diesen Versuch erfolgreich zu gestalten, hätte man sofort einige Zehntausend Arbeiter bewaffnen müssen. Man hätte die Frage der Nationalisierung der Großindustrie auf die Tagesordnung setzen müssen. Man hätte die Fabrikanten verhaften müssen, die die Arbeiter aussperren. Man hätte sofort die Schaffung von Arbeiterräten in Angriff nehmen müssen.“ Die sich dem widersetzende Sozialdemokratie hätte von Anfang an dafür an den Pranger gestellt werden müssen. „Das alles geschah nicht. Und darin besteht der größte Fehler der Partei.“ 

In der Frage der Einheitsfront vollzog Sinowjew eine Kehrtwendung, weg von den Kominternbeschlüssen auf dem 4. Weltkongress, die eine Einheitsfront von Kommunist:innen mit reformistischen Organisationen auf allen Ebenen befürwortete. Er sagte nun:

„Die Taktik der Einheitsfront ist in eine neue Phase eingetreten. Als Lehre muss nun gelten: ,Wir verzichten auf jegliche Verhandlungen mit dem Zentralkomitee der Sozialdemokratie und mit der Zentralleitung der deutschen Gewerkschaften. Einheit von unten heraus – das ist unsere Losung.’“ Lokale Verhandlungen mit linken Sozialdemokrat:innen seien allerdings möglich und notwendig.

Aus der Erfahrung mit dem Hamburger Aufstand folgerte er: „Ihre Schattenseite besteht darin, dass sie die organisatorischen Mängel unserer Partei erbarmungslos aufdeckte und deutlich hervorhob, dass vorläufig noch eine elementare technische Ausbildung nicht vorhanden ist.“ Es habe sich aber auch gezeigt, „dass die Sympathie bedeutender Schichten der Kleinbourgeoisie für das revolutionäre Proletariat gesichert ist.“

Sinowjew kritisierte die KPD an dem Punkt, „dass in den Tagen des Bestehens der Arbeiterregierung in Sachsen niemand von den Kommunisten an die Schaffung von Räten gedacht hat“, auch in Hamburg vor der Aktion nicht. Er propagierte auch die Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“, die er für „unveränderlich“ und „ewig“ erklärte und die „in der allgemeinen Form auch für das heutige Deutschland“ tauge. Er bediente sich dabei einer fragwürdigen Übertragung der Verhältnisse in der SU (Klassenbündnis, -zusammenschluss Smytschka), auf Deutschland und überging die Unterschiede der bäuerlichen ökonomischen Schichtung und politischen Tradition in beiden Ländern. Sinowjew beschwor die Einheit der Partei, zu der jedoch weder sein noch das eher Laisser-faire- und dann überstürzte Verhalten der gesamten KI zur Lage in Deutschland 1923 beigetragen hatte. Sinowjews Resümee nach dem Oktober brachte den Klärungsprozess der KPD nicht wirklich weiter.

Die Lage nach der Niederlage

Auch mit seiner Prognose zur Weiterentwicklung der Lage saß er einer Fehleinschätzung auf.

Sinowjew glaubte nach den Vorkommnissen noch an einen Aufschwung der revolutionären Bewegung. „Das dringende Bedürfnis der Arbeiter, sich zu bewaffnen, erhält erst jetzt Massencharakter. Die Entscheidungskämpfe werden für einige Zeit verschoben.“ Er war der Meinung, dass die Arbeiter:innen nun zu der Einsicht gelangen werden, die linken Führer:innen der SPD seien nur ein Anhängsel der konterrevolutionären rechten Mehrheit. 

Sinowjew ging auch davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands noch weiter verschlechtern würde.

Dem war jedoch nicht so. Die im November 1923 erfolgte einschneidende Währungsreform und der im April 1924 vorgelegte Dawes-Finanzierungsplan, der im August 1924 im Reichstag angenommen wurde, bewirkten eine Revision der Reparationsleistungen des deutschen Reichs gegenüber den alliierten Kriegssiegermächten und bereiteten den Weg für eine Stabilisierung der v. a. durch Inflation und ungeregelte Reparationsforderungen aus dem Lot geratenen kapitalistischen Wirtschaft und stützten auch die politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Dies verfehlte auch nicht seine Auswirkungen auf die Arbeiter:innenschaft, deren Kampfmüdigkeit sich nach dem Oktober 1923 nicht mehr erholte. Die Anzahl der Streiks ging im Laufe des Folgejahres deutlich zurück, und sie blieben auch räumlich begrenzt, so z. B. bei den Remscheider Metallbetrieben um die Verkürzung der Arbeitszeit im Januar 1924. Der seit 1919 geltende Achtstundentag war von der Unternehmer:innenschaft während der Inflationsperiode durchlöchert worden. Hier hätte die KPD bspw. wieder einen Anknüpfungspunkt gehabt, um die Streikbewegung zu verbreitern und zu politisieren, aber ihr waren die Hände gebunden, denn:

Der Preis, den die KPD zahlen musste, bestand im Parteiverbot von November 1923 – März 1924. Die proletarischen Hundertschaften wurden aufgelöst. Der noch anfängliche Wahlerfolg im Mai 1924 (12,9 % Stimmanteil mit 62 Reichstagsmandaten) verflog im Dezember 1924 jedoch auf nur noch 9 %.

Politische Folgen

Stalin konnte sich scheinbar damit rühmen, frühzeitig die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Aufstands vorausgesehen zu haben. Sein erst später veröffentlichter Warnbrief als einzige bekanntgewordene Stellungnahme und seine ansonsten indifferente Haltung während der gesamten Phase der deutschen Entwicklung 1923 wiesen in Wirklichkeit jedoch bereits darauf hin, dass es ihm weniger darum zu tun war, die Weltrevolution zu fördern, als Machtpositionen im eigenen Land zu stärken.

Statt einer ernsthaften Aufarbeitung der Lehren des Oktobers 1923 gerade in der Frage von Einheitsfrontpolitik und Anwendung der Arbeiter:innenregierungstaktik wurde innerhalb der Komintern in erster Linie Kritik an der KPD-Führung geübt. Der linke Flügel ging zunächst personell gestärkt hervor. Im April 1924 wurde eine neue Parteiführung aus seinen Reihen gebildet. Trotzki nahm nach dem Oktober 1923 die alte KPD-Leitung insofern in Schutz, als er Sinowjews und Stalins alleinige Schuldzuweisung an Brandler für die Niederlage der deutschen Revolution als Ablenkungsmanöver von den eigenen Fehlern erachtete, denn der KI-Führung kam ein wesentlich höheres Maß an Verantwortung für dieses weltpolitisch markante Fiasko zu.

Weder das EKKI noch die KPD hatten die Einheitsfrontpolitik, insbesondere in der Frage der Arbeiter:innenregierung, im Geiste der entsprechenden Thesen und Resolutionen des III. und IV. Weltkongresses im entscheidenden Moment beherzigt, sondern schwankten zwischen rechtszentristischer, opportunistischer und linkszentristischer Auslegung (Einheitsfront nur von unten). Beide Linien traten schon zuvor auf: die ultralinke in der Märzaktion 1921 und die opportunistische in der Rathenaukampagne 1922, die sich auf den Aufruf zur Republikanisierung der Reichswehr durch Hinauswurf der monarchistischen Elemente beschränkte, aber von Arbeiter:innenbewaffnung und -regierung schwieg. Unsere Synopse legt nahe, dass sich Elemente richtiger Kritik und Perspektiven v. a. bei Anhänger:innen einer mittleren Opposition finden („Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“, Lemann). Splitter richtiger Einsichten finden sich auch bei Kleine und dem linken Flügel der Parteimehrheit, der die Untätigkeit der Leitung während und nach der Ruhrbesatzung betonte.

Die politischen Folgen waren in mehrfacher Hinsicht verheerend. Das Scheitern der Revolution 1923 erleichterte zumindest Stalins Bestrebungen, den Sowjetstaat zu bürokratisieren. Die schwankende Linie in der Arbeiter:inneneinheitsfrontpolitik mit deren übelstem Auswuchs, der Sozialfaschismusdoktrin gegenüber der Sozialdemokratie, mündete dann 10 Jahre später in ein noch maßloseres Verhängnis für das Proletariat, die Niederlage gegenüber dem Faschismus.

Namen und Pseudonyme

Max Albert (Pseudonym für Hugo Eberlein)

August Kleine (Pseudonym: Samuel Guralski)

H. Lemann (Pseudonym: wahrscheinlich Ernst Meyer)

Quellen

Sinowjew: Probleme der deutschen Revolution, Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1923

Ergänzungsheft Nr. 1, Jahrgang 6, Januar 1924; in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, Band 4, Reprint: Verlag Neue Kritik KG, Frankfurt/M. 1971 (darin u. a. Aufsätze von H. Brandler, A. Thalheimer, Karl Berger, H. Lemann, A. Kleine, Max Albert, Ruth Fischer)

Jahrgang 7, 28. März 1924; in: Die Internationale, a. a. O., Band 5, S. 33 – 152 (darin u. a. Aufsätze von Sinowjew, Edwin Hörnle, Wilhelm Koenen, St. Stefan, A. Maslow, Ruth Fischer, Sommer, Heinrich Brandler, August Thalheimer

Die Kommunistische Internationale Nr. 31 – 32, 5. Jahrgang, Band 7, Reprint: POLITLADEN ERLANGEN, Gaiganz 1974, S. 143 – 232 (darin u. a. Aufsätze von H. Remmele, A. Maslow, G. Sinowjew)




1923: Niederlage der Revolution

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

1923 ergab sich in Deutschland nach 1918 die zweite große Möglichkeit, das Blatt der Geschichte zu wenden und durch eine siegreiche Arbeiter:innenrevolution sogar den Lauf der Weltgeschichte zu verändern. Dass dies nicht eintrat und welche Implikationen hierbei zu beachten waren, soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein.

Revolutionäre Zuspitzung

Mitte 1923 haben wir in Deutschland alle zentralen Elemente einer revolutionären Situation: eine kapitalistische Ökonomie im Hyperinflationskollaps, Hungerrevolten und spontane Emeuten, eine schwere politische Krise auf Regierungsebene und eine gut organisierte revolutionäre KPD, die tatsächlich auf dem Sprung war, die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPD über die deutsche Arbeiter:innenklasse zu beenden.

In Sachsen und Thüringen bildete die linke SPD mit Duldung der KPD eine Regierung, welche die Bildung bewaffneter Arbeitermilizen zuließ. Auf der anderen Seite der Barrikade stand die bewaffnete Reaktion zum Losschlagen bereit.

Einerseits wartete der Oberbefehlshaber der Reichswehr, von Seekt, auf die Ausrufung des Notstands durch den Reichspräsidenten Ebert (SPD), um eine Militärdiktatur zu errichten. Andererseits war der Notstand in Bayern schon vollzogen und ein autoritäres Regime errichtet, das sich unabhängig von der Reichsregierung erklärte. Hinter diesem Notstandsregime in Bayern versammelten sich auch offen faschistische Kampftruppen um Hitler und Ludendorff, die auf das Signal zum „Marsch auf Berlin“ (in Analogie zur Machtergreifung der Faschist:innen in Italien) warteten. Im Herbst 1923 marschierten bayrische Reichswehrverbände in Nordbayern auf. Alles lief auf eine Entscheidungsschlacht zwischen der revolutionären Arbeiter:innenschaft und der Reichswehr und den Faschist:innen hinaus.

Rückblickend ist die Zuspitzung der Situation, die nur als revolutionäre bezeichnet werden kann, seit August 1923 mit dem Sturz der Cuno-Regierung klar (siehe hierzu NI 276). Es ist daher lächerlich, wenn heute vielfach behauptet wird, die KPD habe sich auf Drängen der Komintern im Herbst 1923 auf ein „putschistisches Abenteuer“ eingelassen, in Deutschland wäre nie so etwas wie ein russischer Oktober denkbar gewesen.

Generalstreik und neue Regierung

Im Grunde erreichte die Krise nicht erst im Oktober, sondern im Sommer 1923 ihren ersten Höhepunkt. Die Kämpfe verdichten sich zum Generalstreik gegen die verhasste Cuno-Regierung im August 1923. Der Streik begann am 10. des Monats in Berlin mit dem Ziel, die rechtskonservative Reichsregierung zu stürzen. Dieses wurde erreicht, das Kabinett unter Cuno demissionierte am folgenden Tag. Der Streikaufruf hatte inzwischen etliche Arbeiter:innenzentren des Reichs erfasst.

Am selben Tag noch, dem 11. August, erfolgte der Ausruf einer neuen Regierung unter der Kanzlerschaft Stresemanns, der der liberal-konservativen Deutschen Volkspartei vorstand, die eine Koalition mit den bürgerlichen Partnerinnen Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei und der reformistischen Arbeiter:innenpartei SPD einging. Der Generalstreik flaute praktisch schon gegen Abend des darauffolgenden Tages, dem 12. August, ab.

Mit dem erzwungenen Rücktritt der alten Regierung hatte die Arbeiter:innenbewegung nur scheinbar triumphiert. Der Generalstreik war zwar von einer Reihe von Forderungen und der nach Bildung einer Arbeiter:innenregierung begleitet, aber die entscheidende Frage, wer konkret bereitstand, um diese Verantwortung zu übernehmen, wurde nicht gestellt. Sie beantwortete stattdessen die herrschende Klasse. Dass dies im Handumdrehen geschah, kann kein spontaner Zufall, sondern muss vorbereitet gewesen sein.

Der Bourgeoisie war längst klar geworden, dass das wirtschaftspolitische Steuer herumgerissen werden musste. In der Frage der Reparationszahlungen mussten neue Verhandlungen aufgenommen und die Politik des „passiven Widerstands“, die von der alten Regierung ausgegeben worden war, beendet werden. In der Währungspolitik musste möglichst bald die Reißleine gegen die Hyperinflation gezogen werden, selbst auf Kosten des Ruins großer Teile des Kleinbürger:innentums. Nicht zuletzt auch deswegen, weil aufgrund der Teuerung und Lebensmittelknappheit die Arbeiter:innenklasse sich seit dem Frühsommer 1923 zu einer herrschaftsbedrohlichen Bewegung emporgeschwungen hatte. Um aber diese einzubremsen und den neuen Kurs durchzusetzen, brauchte sie zwei verlässliche Kräfte, auf die sie sich stützen konnte, denn politisch war sie stark fraktioniert und angezählt: die Schaltstellen der Reichswehr als Garantin für die staatliche Ordnung, auch gegen partikularistische Bestrebungen in Bayern, und die Sozialdemokratie als politische Flankendeckung.

Faktor Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratische Partei hatte sich im September 1922 durch die Fusion mit dem Rest der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zahlenmäßig stärken können, damit aber linkere Elemente in ihre Reihen aufgenommen, die oft in Betrieben besser verankert waren. Im Laufe des Jahres 1923, v. a. zum Sommer hin, verschob sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kommunistischen Partei, die gerade in industriellen Zentren mit gezielter beharrlicher Einheitsfrontpolitik die SPD ein- und überholen konnte, weil sie Arbeiter:inneninteressen besonders durch Kampfmaßnahmen entschlossener und politisch pointierter wahrzunehmen wusste. Die KPD zog neben parteilosen, z. B. syndikalistischen Arbeiter:innen, auch ehemalige USPD-Anhänger:innen an.

Dies drückte sich bspw. auch in Wahlergebnissen auf parlamentarischer wie gewerkschaftlicher und Betriebsräteebene aus. Diese günstigen Zahlenverhältnisse – teilweise sogar mit Zweidrittelmehrheit gegenüber der SPD – dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sozialdemokratische Parteiapparat weiterhin fest in der Hand der Kräfte lag, die 1918/1919 bereits die demokratische Konterrevolution erfolgreich gesteuert hatten. Nicht von ungefähr kam der Rückzug aus einer sozialdemokratischen Streikunterstützung bei der Beratung der Kommission der Berliner Gewerkschaften durch Intervention führender Parteivertreter:innen um Wels zustande.

Die SPD-Führung verfolgte offensichtlich das Ziel, durch einen raschen Eintritt in eine neue Regierungskonstellation der KPD zuvorzukommen und deren Bestrebung, die revolutionäre Bewegung in Richtung einer proletarischen Machteroberung voranzutreiben, zu unterbinden, und muss aus diesem Grund bereits frühzeitig Fühlung mit den möglichen bürgerlichen Koalitionspartner:innen für die unverzügliche Bildung einer neuen Regierung aufgenommen haben. Trotz ihrer schwindenden Dominanz spekulierte die SPD darauf, die Massen mit Sofortmaßnahmen wirtschaftlicher Art wie Herbeischaffung von Lebensmitteln und dem Versprechen, die gleitende Skala der Löhne gegen die Teuerung einzuführen, beschwichtigen zu können. Die Situation brachte sie in die Position, der Bourgeoisie diese Zugeständnisse abzuringen.

Aufstand

Nach der Regierungsumbildung ebbte die revolutionäre Bewegung deutlich ab. Dennoch konnten die Maßnahmen der Stresemann-Regierung, insbesondere gegen die Inflation, die sogar immer mehr an Fahrt aufnahm, nicht schlagartig greifen. Die Klassengegensätze wurden nicht eingeebnet, sondern spitzten sich weiter zu, insofern sich auch am rechten Rand der bürgerlichen Gesellschaft heterogene Teile von separatistischen, monarchistischen bis zu rechtsradikalen Kreisen formierten, die auch militärisch gerüstet waren.

Aus dieser Lage erwuchs die Einschätzung, dass Deutschland auf einen Bürger:innenkrieg zusteuern würde. Dazu musste sich die Arbeiter:innenbewegung rüsten. In dem Zusammenhang erhob sich unvermeidlich die Machtfrage. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale rief Brandler vom Parteivorstand der KPD Mitte August zu sich und drängte auf die militärische Vorbereitung eines Aufstands, um die reaktionäre Gefahr abzuwenden, die Macht zu ergreifen und die Diktatur des Proletariats errichten zu können.

Der Anweisung kam die Parteizentrale, obwohl nicht wirklich davon überzeugt, nach und bereitete sich, da diese entscheidende Auseinandersetzung heranzunahen schien, für den Oktober auf den bewaffneten Aufstand vor. Der Erstschlag sollte in Sachsen geführt werden.

Dort hatte die KPD ein Hilfsersuchen der SPD-Landesregierung befolgt, die bereits im März 1923 als Ausdruck einer Linksentwicklung in der dortigen SPD gebildet worden war. Die Regierung Zeigner fürchtete den Einmarsch von reaktionären Verbänden aus der bayerischen Nachbarprovinz, der auch der ebenfalls von einer linkeren SPD geführten Regierung in Thüringen galt.

Gegen diese Bedrohung richtete sich auch der Appell im sächsischen Landtag zur Bewaffnung der Arbeiter:innen. Um einem eigenmächtigen Vorstoß aus Bayern zuvorzukommen und eine revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken, schickte der SPD-Reichspräsident Ebert zur Wiederherstellung der Ordnung die Reichswehrexekutive nach Sachsen.

Auf Anraten der Komintern-Exekutive war die KPD am 10. Oktober in die beiden Landesregierungen eingetreten. Dies spielte in der Aufstandsstrategie eine tragende Rolle. Die Länderregierungen sollten als Bastionen der Arbeiter:inneneinheitsfront  bewaffnet verteidigt werden und davon sollte eine Signalwirkung für das ganze Reich ausgehen.

Die KPD-Führung wollte jedoch noch das Votum einer Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21.10. einholen. Doch ihr dort – einen Tag vor dem festgelegten Aufstandsdatum! – zur Abstimmung gestellter Aufruf zum Generalstreik und zum Aufstand stieß sogar bei den eigenen anwesenden KPD-Genoss:innen auf Ablehnung. Daraufhin sagte die Zentrale den Waffengang ab.

Dennoch kam es in Hamburg, weil dort diese Absage nicht rechtzeitig eintraf, zum Aufstand. Dieser wurde durch Polizei niedergeschlagen. In Sachsen rückten die Reichswehrtruppen des Generalleutnants Müller ohne Gegenwehr ein, brachten die Landesregierung zu Fall, in der sich die KPD in Koalition mit der SPD befand, und übernahmen die Exekutivgewalt. Das Gleiche geschah in Thüringen. Die KPD trat den Rückzug an, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

Politische Fehler

Die Hintergründe der Niederlage erschöpften sich nicht im organisatorischen Aspekt, sondern reichten wesentlich weiter zurück, sind politisch-strategischer Natur und hängen eng mit der Geschichte der Partei, aber auch mit ihrer Wahrnehmung durch die Komintern zusammen.

Schon in der Zeit der Ruhrbesetzung zeigte die KPD ein janusköpfiges politisches Antlitz. Während die Frontseite der Öffentlichkeit ein glattes, gesundes Bild durch Wachstum und Aktionsreichtum bot, das die scheinbare Einheitlichkeit der Partei nach außen unterstrich, war die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge auf anderen Seite durch andauernde Auseinandersetzungen zwischen im wesentlichen zwei Fraktionen entstellt.

Die Parteiführung um Brandler und Thalheimer, nach dem Märzabenteuer 1921 im Amt, befand sich im ständigen Widerstreit mit dem linken Flügel über Lageeinschätzung und Art des Vorgehens, setzte ihre Linie des steten Aufbaus durch Anwendung der Einheitsfronttaktik fort, reagierte jedoch nicht wendig auf die sich wandelnde politische Lage. Ihre Zielstrebigkeit beschränkte sich auf den Ausbau von Positionen v. a. in Betrieben und Gewerkschaften. Was die Parteizentrale an Möglichkeiten der Offensive unterschätzte, das überschätzte der linke Flügel tendenziell im Vertrauen auf die eigene Kraft und die Stimmung der Massen. Die entstandenen Kampforgane wie  die roten Hundertschaften, Fabrikausschüsse, Preiskontrollkomitees waren nur teilweise kommunistisch dominiert und nicht zentral organisiert.

Die Verantwortlichen der Komintern waren eher geneigt, den Berichten des linken Flügels der KPD über die Situation in Deutschland Glauben zu schenken, deren objektiv revolutionäre Reife gewiss unbestreitbar war, deren subjektive Voraussetzungen zum Zeitpunkt des anvisierten Aufstandes jedoch zu instabil waren und zu optimistisch beurteilt wurden.

Die von der KP-Führung landesweit gesetzten Aktionsakzente, namentlich der sogenannte Antifaschistische Tag Ende Juni und der Generalstreik gegen die Cuno-Regierung, waren  nicht Ergebnis einer vorbereiteten Kampagne und blieben auf halbem Wege stecken.

Die Forderung nach Machteroberung der Arbeiter:innenklasse als Konsequenz aus einem Programm von Übergangsforderungen tauchte gerade im Generalstreik erst nach dem Streikaufruf durch die Berliner Drucker:innen auf.

Diese inkonsequente Haltung äußerte sich schließlich noch in der Vorbereitung des Aufstands, wobei man nur die eigenen Genoss:innen bewaffnete und die Planung aus Furcht vor staatlichen Organen im Geheimen vor sich ging, da man wie schon bei den anderen Ereignissen vorzeitigen Zusammenstößen mit den Klassenfeind:innen aus dem Wege gehen wollte. Dies ging natürlich zu Lasten des Versuchs, einen großen Teil der Arbeiter:innenschaft im gesamten Reich zu mobilisieren. Als besonders fatal erwies sich, sich vom Zustandekommen einer sächsischen Betriebsrätekonferenz kurz vor dem festgelegten Aufstandstag abhängig zu machen.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Der entscheidende Faktor für die Niederlage von 1923 war nicht eine „verräterische Führung“ oder eine mangelnde Kampfbereitschaft der Arbeiter:nnen. Entscheidend waren schwerwiegende Fehler in der politischen Einschätzung der Lage und Schwierigkeiten des Übergangs von einer defensiven, lange Zeit erfolgreichen Einheitsfrontpolitik zu einer offensiven Konfrontation mit der Reaktion. Nur in der Parteiführung einen solchen Beschluss zu fällen und konspirative Umsturzpläne zu schmieden, bedeutete auch einen Bruch mit der Politik, den gewonnenen Einfluss in den Basisorganisationen der Klasse für deren Mobilisierung zur Konfrontation zu nutzen. Fabrikkomitees, Regionalkonferenzen, proletarische Hundertschaften etc. hätten schon lange vor dem Oktober entsprechende Beschlüsse und Schritte diskutieren und beschließen müssen.

Eine solche Diskussion über einen entscheidenden Schritt zu einem Arbeiter:innenstaat hätte mit einer breiten Kampagne auf der Grundlage eines Programms für den Weg zur Machteroberung der Arbeiter:innenklasse verbunden sein und politisch zentralisierte Organe hätten frühzeitig formiert werden müssen.

Infolgedessen fehlte der Übernahme der Führung des Aufstands in Deutschland eine entsprechende Fundierung in Rätestrukturen in der Arbeiter:innenschaft. So blieb der KPD nur noch der mehr oder weniger geordnete Rückzug.

Manche Revolutionen werden nicht verraten – die Revolution von 1923 wurde schlicht verpasst und durch schwere politische Fehler in den Sand gesetzt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Beschäftigung mit diesen historischen Ereignissen heute noch wichtig für RevolutionärInnen ist. Sie zeigt klar die Bedeutung von revolutionären Organisationen und ihrer Führungen in sozialistischen Revolutionen, genauso wie die Möglichkeiten und Grenzen  der Einheitsfrontpolitik.




Oktober 1923: Die Debatte um die Arbeiter:innenregierung und ihre Anwendung

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Wie ein roter Faden zog sich die Einheitsfrontpolitik als Leitgedanke durch die Tätigkeit der KPD und fand in dem Zusammenhang ihren Ausdruck in der besonderen Behandlung der Losung der Arbeiter:innenregierung. Ihre Bereicherung des taktischen Arsenals, aber auch ihre Grenzen kamen in der Situation der Aufstandsvorbereitung zum Vorschein.

Um diese taktische und strategische Kernfrage zu behandeln, kann nicht erst bei den Vorkommnissen des Jahres 1923 begonnen werden, sondern man muss weiter zurückgehen bis ins Jahr 1921, in dem die Thesen zur Taktik der Einheitsfront auf dem 3. Weltkongress der III. Internationale verabschiedet wurden.

Der Einheitsfrontgedanke entsprang der Situation, dass die kommunistischen Parteien sich bei ihrer Formierung außerhalb der Sowjetunion einer Mehrheit von reformistischen, in den meisten Ländern sozialdemokratischen Organisationen gegenübersahen, die entscheidenden Einfluss auf die Arbeiter:innenklasse ausübten. Sie mussten nach Wegen suchen, diesen Einfluss zurückzudrängen, um stärkeren Zugang zu den Massen zu finden. Dazu waren Angebote auch an andere Arbeiter:innenorganisationen zur Einheit in der Aktion als gemeinsame Front gegen die Klassenfeind:innen notwendig. Unumstrittene Grundbedingung für ein vereintes Handeln war allerdings die vollständige Wahrung der organisatorischen Unabhängigkeit und die Freiheit der Kritik an den Bündnispartner:innen. Die Einheitsfront als umfassendes taktisches Mittel konnte und sollte sich auch in verschiedenen Stufen ausdrücken, die in einer Form gipfelten, die in der kommunistischen Bewegung debattiert und entfaltet wurde: die Taktik der Arbeiter:innenregierung.

Die Jahre 1921 und 1922 waren prägend für die Ausarbeitung der Strategie und Taktik der KPD in Bezug auf Einheitsfront und deren besondere Form der Arbeiter:innenregierung. Im Folgenden sollen wichtige Stationen auf dem Weg der Präzisierung der Losung und ihrer Anwendung nachgezeichnet werden.

Duldung von sozialdemokratischen Regierungen

Zunächst ging es im Herbst 1921 um die Politik gegenüber „sozialistischen“ (gemeint waren sozialdemokratisch geführte) Arbeiter:innenregierungen, zu denen das neu gewählte Politbüro der KPD eine elastischere Haltung einnehmen wollte, um die Aktionseinheit zu fördern. Im Mittelpunkt standen dabei Abstimmungen über die Steuerfrage, in der die KPD es von der politischen Situation abhängig machte, ob diese Regierungen gestützt oder gestürzt werden sollten. Die Mehrheit der Parteimitglieder sprach sich auf jeden Fall gegen einen Eintritt in solche Regierungen aus.

Die Partei richtete nach dem Jenaer Parteitag (22. – 26.8.1921) eine parlamentarische Zentralstelle als besondere Abteilung des Politbüros ein, deren erste Stellungnahme zur Bildung einer „sozialistischen“ Regierung nach den thüringischen Landtagswahlen vom 11.9.1921 erfolgte. Die KPD, die sich zum ersten Mal nach den Märzkämpfen den Wähler:innen stellte, gewann 6 Mandate. Es entstand im Landtag eine sozialdemokratisch-kommunistische Sitzmehrheit. Eine Mehrzahl der SPD und USPD-Abgeordneten trat für Verhandlungen mit der KPD über eine Regierungsbildung ein. Das Politbüro der KPD lehnte dies zwar ab, wollte aber die Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen von SPD bzw. USPD ermöglichen und die Regierung bei „konsequent proletarischer Politik“ unterstützen.

Gegen den Widerstand der thüringischen Parteiorganisation setzte die Zentrale durch, auch im Interesse der Bewegung im Reich nichts unternehmen zu wollen, „was der SPD erleichtern könnte, eine Koalition nach rechts einzugehen“.

Auf dem Parteitag der SPD (24.9.1921) stimmten nach der politischen rechtsradikalen Bedrohung auch gegen bürgerlich-liberale Kreise (Ermordung von Erzberger) über 70 % der Delegierten für eine Erweiterung der Reichsregierungskoalition nach rechts unter Einschluss der Deutschen Volkspartei. Hingegen wurde eine Einheitsfront mit den Kommunist:innen abgelehnt. Das neue Parteiprogramm sagte sich vom Klassenkampf los hin zur Klassenkollaboration.

Im November 1921 legte der Zentralausschuss der KPD Thesen über das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu den sogenannten sozialistischen Regierungen vor. Darin wurden die sozialdemokratischen Auffassungen von Arbeiter:innenregierungen als „Schutzwall der Bourgeoisie gegen die proletarischen Massen“ bezeichnet. Die Bildung solcher Regierungen ohne eigene Beteiligung sollte aber zugelassen werden, weil sie eine „revolutionierende“ Rolle „als klassische Schule zur Überwindung bürgerlich-demokratischer Illusionen“ spielen könnten. Aber die KPD sollte sich von solchen Regierungsbildungen fernhalten und stattdessen den Kampf für die Eroberung der Staatsmacht und Aufrichtung der proletarischen Diktatur durch die Räteordnung führen.

Erste Anzeichen veränderter Taktik

Die Erwartung einer Räterepublik in den Thesen wurde von Radek, dem Verbindungsmann zum EKKI, kritisiert, der die Arbeiter:innenregierung als derzeit günstigste Etappe bezeichnete. Da SPD und USPD nicht wirklich die Absicht hegten, eine „sozialistische“ Regierung zu bilden, müsse anders an die Sache herangegangen werden. Die Partei solle vielmehr die Massen für eine Arbeiter:innenregierung beeinflussen. Diese müsse auf parlamentarischem Wege „zum Ansatzpunkt zu neuen siegreichen revolutionären Kämpfen werden.“ Konkret könne eine Kampagne den Hebel bilden, die gemeinsame Forderung nach Erfassung der Sachwerte in Gold durchzusetzen und in einem Kampfabkommen die Massen gegen eine „Stinnes-Koalition“ (bürgerliche Rechtserweiterung) zu mobilisieren.

Der KPD-Zentralausschuss lehnte es ab, die Losung der Arbeiter:innenregierung in den Mittelpunkt einer Kampagne zu stellen, und hielt fest, dass die Aufstellung von sachlichen, politischen und wirtschaftlichen Zielen geeigneter sei, den Kampf der Massen zu entfesseln. Bendler, der „Erfinder“ des Begriffs „sozialistische Regierung“ hatte sie nicht als Einheitsfrontlosung gedacht, sondern meinte, das Angebot an die sozialdemokratischen Parteiführer:innen wäre „das Gefährlichste in der ganzen Taktik der sozialistischen Regierung“ und würde „sie ihres revolutionären Massencharakters entkleiden und zu einem parlamentarischen Gaukelspiel werden lassen.“

Jedoch zeigten sich verschiedene Auffassungen in der Partei über die Frage der Taktik gegenüber der Sozialdemokratie auf politisch parlamentarischer Ebene. Die Opposition wandte sich auch gegen die Unterstützung der sozialdemokratischen Länderregierungen und forderte, Steuern in den Landtagen abzulehnen und damit Regierungen stürzen zu lassen. Böttcher, der Mehrheit zuzurechnen, meinte: „Wir werden die sozialistische Regierung unterstützen, parlamentarisch und außerparlamentarisch, wenn sie sich gegenüber der Bourgeoisie im Angriff befindet“.

Thalheimer hob hervor, dass günstige Möglichkeiten durch die am 15.November 1921 aufgestellten zehn Mindestforderungen der Gewerkschaften (ADGB und Angestelltenbund) zur Steuer- und Wirtschaftspolitik geschaffen worden wären, worin sie ein Eingreifen der Regierung zur Kontrolle der Privatwirtschaft und Sozialisierung des Kohlebergbaus, Erfassung der Sachwerte, Exportdevisen und eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik forderten. Die Zentrale schlug vor, eigene weitergehende Forderungen zugunsten einer gemeinsamen Kampffront zurückzustellen.

Konkretisierung und Paradigmenwechsel

Noch im November 1921 berieten die Landtagsfraktionen von Sachsen, Thüringen und Braunschweig, wo  sich die KPD in Opposition zu von SPD und USPD geführten Regierungen befand, über ein abgestimmtes Vorgehen, z. B. Abstimmung gegen ein Misstrauensvotum aus dem reaktionären Lager, was letztlich von der Zentrale gebilligt wurde.

Im Dezember traf die Parteiführung eine weiter reichende Entscheidung, indem sie nunmehr feststellte: „Der Drang nach der Einheitsfront muss seinen politischen Ausdruck in einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung finden, die den Koalitionsregierungen gegenüberzustellen ist. (…) Die KPD muss den Arbeiter:innen sagen, dass sie bereit ist, das Zustandekommen einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu fördern, und dass sie bereit ist, in solch eine Regierung einzutreten, wenn sie die Gewähr haben wird, dass diese Regierung im Kampfe gegen die Bourgeoisie die Interessen und Forderungen der Arbeiter:innenschaft vertreten, die Sachwerte erfassen, die Kappverbrecher:innen verfolgen, die revolutionären Arbeiter:innen aus den Gefängnissen befreien wird …“. Alles sollte getan werden, um die linken Flügel der SPD und USPD, die sich gegen die Koalition (mit den bürgerlichen Parteien) wendeten, zu stärken.

Die Exekutive der KI riet der KPD, öffentlich ihre Bereitschaft zu erklären, in eine Arbeiter:innenregierung des Kampfes gegen die Bourgeoisie einzutreten, und verwies darauf, dass an einer Koalition der Arbeiter:innenorganisationen im Prinzip auch nichtsozialistische Parteien teilnehmen könnten. Die Terminologie müsse sich von „sozialistische Regierung“ in „Arbeiter:innenregierung“ ändern, um die sozialdemokratischen Parteien nicht fälschlicherweise als sozialistisch zu bezeichnen und zu zeigen, dass die ganze Klasse ohne Rücksicht auf politische und weltanschauliche Differenzen zusammengefasst werden sollte. 

Nach Einwänden wurde in den Brief eingefügt, dass der Eintritt der KPD in die Landesregierungen nicht als unmittelbar bevorstehender Schritt zu betrachten sei.

Die Zentralausschusssitzung der KP im Januar 1922 dämpfte vorschnelle Erwartungen über die Herstellung einer Einheitsfront. In der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition KAG (Levi), die den Vorhutanspruch der Partei bestritt und in Gegensatz zum Einheitsfrontgedanken bringen wollte, wurde dies abgewiesen, denn erst die revolutionäre Partei könne der Einheitsfront die entscheidenden Kampfanstöße und -perspektiven verleihen.

Die linke Opposition bemängelte, dass die Einheitsfront zu starr und unbefristet ausgelegt werde, da sie als Taktik zu verstehen sei und ein Festhalten daran, wenn sich die Umstände ändern, eine ungünstige Wirkung haben könne und deshalb nicht zum Programm gemacht werden dürfe. Dies führe dazu, die revolutionären Ziele aufzugeben und das Hineinwachsen in den Reformismus zu fördern. Der Vorwurf ging auch an die Adresse des III. KI-Weltkongresses, der den Klärungsprozess in den Mitgliedschaften gehemmt habe. Die Linken stießen sich auch an dem Begriff „Arbeiter:innenregierung“ und wollten ihn durch „sozialistische Regierung“ ersetzt wissen. Rosenberg drückte die Position der Opposition so aus: „Der Begriff ‚Arbeiter:innenregierung‘ darf nicht mit der ‚rein sozialistischen‘ (d. h. sozialdemokratischen) vermengt werden. Unter ‚Arbeiter:innenregierung‘  verstehen wir eine solche Regierung von Vertrauensleuten des Proletariats, die sich nicht auf  eine parlamentarische Zufallsmehrheit, sondern auf die Arbeiterorganisationen außerhalb der Parlamente stützt.“ (zit. nach Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik – Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921 bis 1922, Band II, S. 634)

Regierungseintritt als taktische Option

Aufgrund der Diskussionen in der Partei und Einlassungen der KI über den Charakter von Arbeiter:innenregierung und deren möglicher Dynamik zur Mobilisierung der Arbeiter:innenmassen wurde die Resolution „Zur politischen Lage und zur Politik der KPD“ im Punkt Arbeiter:innenregierung im Frühjahr 1922 nachgebessert und lautete nun: „In der Erkenntnis, dass eine Arbeiter:innenregierung gegenüber einer offenen oder verkappten Stinnes-Regierung die Möglichkeit einer politischen Machterweiterung des Proletariats bedeutet (z. B. durch Auflösung der legalen und illegalen gegenrevolutionären Verbände, Umwandlung der Polizei und Justiz zu Klassenorganen des Proletariats, Freilassung der verurteilten Revolutionär:innen, Erweiterung der Rechte der Betriebsräte usw.), ist die KPD bereit, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Arbeiter:innenregierung, sei es im Reiche, sei es in den Ländern, einzutreten. Der Eintritt der Kommunist:innen in eine solche Arbeiter:innenregierung hängt ab von dem Kampfwillen der Arbeiter:innenmassen und der sich auf diese Massen stützenden Parteien sowie von den realen Möglichkeiten, die gegeben sind, um die Arbeiter:innenmacht zu befestigen und auszudehnen“.  Die Formulierung von der Arbeiter:innenregierung als Schutzwall der Bourgeoisie wurde fallengelassen.

Dieser Beschluss beseitigte jedoch nicht die Differenzen bei der konkreten Anwendung in den Landtagen, z. B. bei der Bewilligung von Haushaltsvorlagen. Im April 1922 musste eine weitere Parlamentarierbesprechung, diesmal aus dem ganzen Reich, einberufen werden, bei der „Richtlinien über ein gemeinsames Vorgehen in den Ländern mit sozialistischen Regierungen, auch unter dem Gesichtswinkel der Schaffung eines roten Blocks gegenüber der reaktionären Reichspolitik und gegenüber Bayern“ erarbeitet wurden. Zur Haushaltsfrage einigte man sich lediglich auf „schärfstes Vorgehen gegen die Entstaatlichung der Betriebe“.

Als die rechtskonservative DNVP ein Volksbegehren zur Auflösung des sächsischen Landtages einleiten wollte, setzten sich einige Parteivertreter:innen für den bedingungslosen Eintritt der Kommunist:innen in die sächsische Regierung ein, um den reaktionären Streich zu stoppen. Dem widersprach das Politbüro und bezeichnete es als „opportunistische Haltung“ ebenso wie denjenigen, die sich prinzipiell gegen jede Regierungsbeteiligung aussprachen, was als KAPD-Tendenz betrachtet wurde.

Zu ersten Verhandlungen zwischen den  drei Arbeiter:innenorganisationen kam es Ende April 1922 auf Vorschlag der KPD, durch Neuwahlen Voraussetzungen für „eine einheitliche Klassenfront herzustellen“, die jedoch scheiterten, wie auch weitere Anläufe,

die die KPD stets an Grundbedingungen knüpfte, erst recht nach der Fusion von SPD und USPD. Auf der ergebnislosen Berliner Konferenz der drei Internationalen im Februar war bereits absehbar gewesen, dass es auf großer Bühne keine verbindlichen Abmachungen zur Einheitsfront geben würde.

Aber die KP-Zentrale erklärte im Mai 1922: Der Schritt einer Regierungsbeteiligung, der in der ganzen Kommunistischen Internationale  noch nicht praktiziert worden war, sollte er umsetzbar sein, wäre dann auch wegweisend über Sachsen hinaus. Die Zentrale schlug deswegen vor, dass sich alle Länder mit Arbeiter:innenregierungen zu einem Block zusammenschließen, um gegen den reaktionären Kurs im Reich Stellung zu nehmen und ihn zu durchkreuzen. Die  Lösung der Aufgaben der proletarischen Revolution könne von einer Landesregierung nicht erwartet werden, sie könne aber ein Stützpunkt für die Revolution sein.

Internationale Diskussion

Vom 7. – 11.6.1922 trat die zweite Erweiterte Exekutive der Kommunistische Internationale mit Abordnungen aus allen Gliedsektionen zu Beratungen über Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung zusammen.. Neben Deutschland stand dies auch in der Tschechoslowakei auf der Tagesordnung. Die tschechoslowakische KP bejahte  nicht nur die Frage der Bereitschaft zur Unterstützung, nach Teilnahme an  einer Arbeiter:innenregierung, sondern zur Verantwortungsübernahme sogar im Falle der Möglichkeit einer Minderheitsregierung, bei gegebener Lage von Arbeitermassenmobilisierung. Ihr Abgeordneter Smeral sagte, dass zwischen den Alltagsforderungen, von denen die Aktion der Partei ausgehe, und dem Endziel der Machteroberung des Proletariats die Notwendigkeit eines Bindeglieds in Form der Losung der Arbeiter:innenregierung bestehe. Dies verfehlte nicht seinen Einfluss auf die Diskussion in der deutschen Sektion. Die Losung der Arbeiter:innenregierung wurde bis auf die italienische und Teile der französischen Delegation einvernehmlich als Krönung der Einheitsfront betrachtet.

Kennzeichen einer ungenügenden Wahrnehmung der Frage der Arbeiter:innenregierung war es jedoch, dass im November 1922 die Entscheidung über den Eintritt in die sächsische Landesregierung, ob dies von der KP-Bedingung, Gesetze einer Betriebsrätekonferenz vorzulegen, abhängig gemacht werden sollte oder nicht, von der Exekutive der KI bzw. der KPD-Parteizentrale wieder auf den sächsischen Landesparteitag zurückverwiesen worden war, der dann an der Bedingung festhielt. Das Politbüro billigte dessen Beschluss, aber die Landtagsfraktion sollte auf jeden Fall den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten mitwählen.

Parteitag Januar 1923

Es herrschte weiter Uneinigkeit über die unterschiedlichen Konzeptionen in der Partei zur Einheitsfront und zur Arbeiter:innenregierung.  Der 8. Parteitag vom 28.1. – 1.2. 1923 war anberaumt worden, um eine Klärung herbeizuführen. In Brandlers Hauptreferat für den Parteivorstand über Einheitsfront wies er die Einheitsfront nur von unten als undialektisch zurück. Er erklärte: „Die Arbeiter:innenregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiter:innenpolitik zu treiben“. Zu den Anforderungen an eine Arbeiter:innenregierung gehörten neben wirtschaftlicher Existenzsicherung der arbeitenden Klassen auch die gewaltsame „Niederkämpfung der gesamten Widerstände der Bourgeoisie gegen die Arbeiter:innenregierung und ihr Programm. (…) In diesen Kämpfen (…) wird die Arbeiter:innenregierung gezwungen werden, den Rahmen der Demokratie zu überschreiten, zu diktatorischen Maßnahmen überzugehen“.

Auch die Beteiligung der Kommunist:innen an einer Arbeiter:innenregierung im Reich wurde prinzipiell bejaht. Länderregierungen sollten als Stützpunkte im Kampf darum dienen. Zur Arbeiter:innenregierung zählte er auch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die bisher „der linke Flügel der Bourgeoisie war, jetzt der rechte Flügel der Arbeiter:innenregierung werden soll“.

Über diese Vorlage kam es zur Kampfabstimmung gegen die linke Opposition, die eine Arbeiter:innenregierung ohne vorherige Schaffung von ‚Räteorganen‘ und „ohne Aufrollen der Waffenfrage durch die Arbeiter:innenschaft“ verwarf. Die Abstimmung  ergab eine Zweidrittelmehrheit für den Thesenentwurf der Zentrale über die „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiter:innenregierung“.

Im März 1923  schienen sich die günstigen Vorzeichen für die Kommunist:innen zu mehren, als sich linkere sozialdemokratische Landesregierungen in Sachsen und Thüringen formierten, die auch bewaffnete Organe wie die proletarischen Hundertschaften zuließen. Der tatsächliche Regierungseintritt der KPD im Oktober folgte spät, aber nicht überraschend. Dies und das nicht einmal zweiwöchiges Dasein der Landesregierungen führten nach dem Eklat erneut zu heftigen Diskussionen in Partei und Internationale.

Opportunistische und sektiererische Konzepte über Einheitsfrontpolitik und die Vorstellung von Arbeiter:innenregierung waren aber schon lange vorher aufeinandergeprallt und gingen eine verhängnisvolle kontraproduktive Wechselwirkung ein. Auf der einen Seite verfestigte sich aus der Erkenntnis, dass die Klasse eine Regierung aus Arbeiter:innenparteien als Errungenschaft betrachtet, der Glaube, sie für deren Verteidigung mobilisieren zu können und damit die Basis zu legen für einen allgemeinen Aufstand, ohne jedoch die entsprechend zentralisierten Klassenorgane ins Feld führen zu können, zugleich aber die Vorbereitung auf den Entscheidungskampf gegen den Klassenfeind unter Ausschluss der Massen und im Geheimen durchzuführen. Es war somit kein Zufall, dass die entscheidende Phase der Ereignisse 1923 in der Frage der Arbeiter:innenregierung kulminierte und auf tragische Weise die Niederlage der Revolution besiegelte.




Wurzeln des Antisemitismus

Teil 1 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 4, Podcasts der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Katjuscha und Lina und der Frage: Wie vollzog sich die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus (aus einer historisch materialistischen Perspektive)?

In der heutigen Folge gehen wir den historischen Wurzeln des Antisemitismus auf die Spur und beschreiben die Veränderung vom mittelalterlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus anhand gesellschaftlicher sowie ökonomischer Entwicklungen. In einer weiteren Folge versuchen wir, uns der Massenpsychologie des Antisemitismus zu nähern und gehen auf Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesellschaft ein. Wie sich der Antisemitismus heute zeigt und welche Ansätze zum Kampf gegen ihn derzeit existieren und für welche Positionen wir als Gruppe Arbeiter:innenmacht eintreten, wird Gegenstand der letzten Folge unserer Reihe zu Antisemitismus werden.

Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema ist sicherlich nicht erschöpfend, aber bietet Ansatzpunkte, um Antisemitismus im Kern verstehen und Ansätze zum Kampf gegen ihn entwickeln zu können.

Aber beginnen wir zunächst mit dem Anfang. Die jüdische Geschichte, deren Ursprung zu großen Teilen hinter Mythen verborgen liegt, ist schon seit vielen Jahrhunderten eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Umsiedlung. In der Antike werden Juden/Jüdinnen durch die römische Eroberung aus Judäa vertrieben. Im europäischen Mittelalter hetzen Kleriker gegen Juden/Jüdinnen und wütende Mobs verfolgen diese. Mit Beginn des Kapitalismus bahnt sich eine vernichtende Form der Verfolgung an, die in die bisher historisch singuläre Katastrophe mündet: dem millionenfachen industriellen Massenmord an Juden/Jüdinnen durch Nazideutschland.

Es ist eine Geschichte von Leid, Schrecken und Grausamkeiten. Dennoch wandeln sich die Formen der Verfolgung, stets eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte. Um die Entwicklung von Antisemitismus verstehen zu können, ist es relevant, die Entwicklung der menschlichen Zivilisation von damals bis heute als eine von Klassenkämpfen zu begreifen und die ökonomische Funktion von Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Formen der Klassengesellschaft zu analysieren. Wir wollen also eine historisch-materialistische Analyse der jüdischen Geschichte vornehmen.

Viele Ansätze tun dies nicht. Sie beschreiben jüdische Geschichte aus einer idealistischen Betrachtungsweise heraus. Idealismus begreift die Idee als Ursprung für die Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Materialismus, der den Ursprung der Wirklichkeit in der Materie sieht. Also in dem, was den Menschen umgibt und dadurch dessen Bewusstsein formt. Damit sind die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Produktionsverhältnisse gemeint, die das vorherrschende Bewusstsein prägen.

Natürlich gibt es eine beidseitige Wechselwirkung zwischen Ideologie und Materie. Der dialektische Materialismus begreift aber letztere als das Grundlegende.

Das ist jetzt etwas abstrakt, wird aber anschaulich bei der Untersuchung der Frage, wie das Judentum trotz der vielen Widerstände, Vertreibungen und Zerstreuung über so viele Jahrhunderte erhalten bleiben konnte.

Eine gängige Antwort auf diese Frage liefern Erzählungen über die Diaspora. Diese besagen, dass der Ursprung allen Unheils, das über das Juden und Jüdinnentum gekommen ist, in der Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Judäa durch die Römer:innen ab dem 1. Jh. unserer Zeitrechnung, läge.

Tatsächlich konnte sich Judäa, eine Region auf dem Gebiet des heutigen Israels und Palästinas, damals als eigenes Königreich behaupten und existierte über fast einhundert Jahre als jüdisches Reich mit gewisser Unabhängigkeit. Dieses fand ein jähes Ende durch die Annexion als römische Provinz. Es kam zum sogenannten jüdischen Krieg, in dessen Zuge Jerusalem erobert und der Tempel zerstört wurde. Die Unterwerfung unter das römische Reich und die Verwaltung durch einen Statthalter führte zu religiöser Unterdrückung, Aufständen und verstärkter Auswanderung.

Der Mythos der Diaspora lautet: Judäa unterschied sich vor der Zerstörung Jerusalems durch das römische Reich nicht von anderen „Nationen“ (z. B. der römischen oder griechischen). Durch die Kriege zwischen Römer:innen und Juden/Jüdinnen wurden die Juden/Jüdinnen aus ihrer ursprünglichen Heimat (Israel/Palästina) vertrieben und in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Juden/Jüdinnen mussten fortan in der Diaspora von Ort zu Ort wandern – zusammengehalten durch das starke Band ihrer religiösen Gemeinschaft und mit der ewigen Hoffnung, in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren.

In dieser Beschreibung wird also die „nationale Idee“ und die „Kraft des eigenen Willens“ als Erklärung für den Erhalt des Judentums herangezogen.

Im Gegensatz zu dieser idealistischen Erklärung würden wir die Wirkrichtung in umgekehrter Richtung analysieren und sagen, dass das starke religiöse Band und die kulturelle Verbundenheit der zerstreuten Juden/Jüdinnen aus einer materiellen Notwendigkeit heraus entstand. Also deren Folge ist und nicht deren Ursprung. Aber dazu später mehr.

Hier ist noch anzumerken, dass wir, wenn wir von Nation sprechen, nicht die Nation im heutigen Sinne meinen. Weder Römer:innen, Griech:innen noch Juden/Jüdinnen waren in der Antike eine Nation im modernen Sinne. Diese entstand erst später im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.

Zunächst mal zur Frage, warum es überhaupt zur Diaspora kommt, was übersetzt nicht nur Vertreibung, sondern auch Zerstreuung bedeutet. Die Übersetzung aus dem Griechischen zeigt bereits, dass es sich hierbei nicht nur um eine erzwungene Vertreibung, sondern auch um eine Auswanderung aus anderen Gründen handeln kann.

Dazu wollen wir uns vorerst genauer die jüdische Geschichte in der Antike ansehen. Es ist sicherlich richtig, dass die Zerstörung des jüdischen Zentrums durch das römische Reich zur verstärkten Auswanderung führte, wobei die Vertreibung vor allem die herrschenden Klassen betraf. Jüdische Bauern/Bäuerinnen wurden demgegenüber unter römischer Herrschaft oftmals zur Assimilierung gezwungen.

Historische Quellen belegen aber vor allem, dass auch schon vor der Niederlage in den jüdischen Kriegen ein Großteil der Juden und Jüdinnen in der Diaspora, verteilt um das Mittelmeer, lebte. Warum? Das historische Judäa liegt in der Region um Jerusalem, besteht hauptsächlich aus Wüste, die sich zwischen Jerusalem und dem Toten Meer erstreckt, und dem Jerusalem umgebenden Bergland. Da das Bergland, was den Juden und Jüdinnen zur Verfügung stand, nicht besonders fruchtbar war, reichte es schlicht nicht aus, um dem Volk die Lebensgrundlage zu sichern. Es ist also anzunehmen, dass Juden/Jüdinnen schon weit vorher darauf angewiesen waren, ihre Existenz anderweitig zu bestreiten.

Ebenso liegt das damalige Judäa im Einflussgebiet zweier zentraler Fernhandelsrouten, die ihren Ursprung lange vor unserer Zeitrechnung haben. Der via maris, welcher vom Nildelta über die israelische Küstenebene nach Damaskus führt, und der Weihrauch- und Königsstraße, welche südlich der Arabischen Halbinsel beginnt und sich durch Jordanien nach Damaskus zieht. Es ist also naheliegend, dass Juden/Jüdinnen seit jeher im Handel tätig waren, um ihre Existenz zu sichern. Sie lebten vom Fernhandel, wo hauptsächlich Luxusgüter wie Metall, Glas, Olivenholz und Edelsteine gehandelt wurden, und vom Regionalhandel, wo es vor allem um Waren des alltäglichen Gebrauchs wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Gewürze, Kleidung ging.

Eine gewisse Zerstreuung der Juden und Jüdinnen ging automatisch mit ihrer Tätigkeit im Fernhandel einher, da Güter, die an einem Ort gekauft wurden, an einen anderen Ort transportiert werden mussten, um sie dort weiter zu verkaufen. Juden/Jüdinnen breiteten sich entlang der Handelswege aus und ließen sich in zahllosen Städten in Europa und Asien nieder. Die Handelsrouten und die Einbindung von Juden/Jüdinnen in den Handel bestanden schon mehr als tausend Jahre vor der römischen Annexion. Der ursprüngliche Grund für die Auswanderung der Juden und Jüdinnen muss zunächst also in den geographischen Gegebenheiten Palästinas gesucht werden.

Die Frage, wie das Juden und Jüdinnentum trotz der großen räumlichen Verteilung über so lange Zeit erhalten bleiben konnte, wurde damit aber noch nicht beantwortet. Dafür muss man genauer untersuchen, wie Fernhandel in der vorkapitalistischen Gesellschaft funktionierte. Im Gegensatz zur heutigen vernetzten und globalisierten Welt war es damals äußerst schwierig, Handel über so weite Distanzen zu organisieren.

Es benötigte spezialisierte Schichten der Bevölkerung, die über Sprachkenntnisse und Wissen über Handelswege verfügten und Beziehungen in andere Städte hatten. Diese Funktion nahmen unter anderem Juden/Jüdinnen ein. Für das Aufblühen der Handelstätigkeit war es förderlich, dass Juden/Jüdinnen über dieselbe Sprache und eine einheitliche Schrift verfügten, um Wissen und Erfahrungen weitergeben zu können. Es ergab also Sinn, dass die ökonomische Funktion des Handels durch eine Bevölkerungsgruppe aus einem Kulturkreis ausgefüllt wurde. Abraham Léon, ein jüdischer Trotzkist, der in Auschwitz ermordet wurde, beschreibt in seinem Buch „Die jüdische Frage“ von 1942, dass hier eine Gesellschaftsschicht von einer Bevölkerungsgruppe gebildet wurde – was nichts Ungewöhnliches für vorkapitalistische Gesellschaften ist.

Léon stellt dar, dass sich in der Diaspora große Teile der jüdischen Bevölkerung aber auch völlig in die vorgefundene Kultur integriert haben. In Nordafrika beispielsweise seien viele Juden und Jüdinnen in der Landwirtschaft tätig gewesen, was zur vollständigen Eingliederung in die dort bestehende Gesellschaft geführt habe. Trotz der zunächst vorhandenen religiösen Unterschiede sei es unter anderem durch Heirat über mehrere Generationen hinweg zu einer kulturellen Anpassung gekommen. Juden und Jüdinnen haben hier aufgehört, eine eigenständige Schicht zu bilden und sind – wie auch die übrige Bevölkerung dort – Bäuer:innen geworden. Ein isoliertes gesellschaftliches Leben sei hauptsächlich in den Städten, in welchen Juden und Jüdinnen mit Handel beschäftigt waren, bestehen geblieben.

Das Weitertragen der jüdischen Kultur und Religion hat also eine bestimmte ökonomische Funktion.

Generell kann man sagen, dass die Handelstätigkeiten in der Antike bis hin ins Mittelalter für viele Juden/Jüdinnen relativen Reichtum brachten.

Trotz Vertreibungen gab es relativ stabile Lebensbedingungen, sodass die jüdische Kultur aufblühen konnte. In unterschiedlichsten Räumen der Welt entwickelten sich verschiedene Ausprägungen jüdischer Religion und Identität. In Europa lebten die Aschkenasim, auf der Iberischen Halbinsel die Sephardim, im arabischen Raum die Mizrachim. Nur eine Minderheit lebte in Palästina und niemand hat im Traum daran gedacht, dorthin zurückzukehren.

Es war aber auch nicht alles rosarot. Die Wurzeln von Judenhass reichen bis in die Antike zurück. Hier keimte Hass auf, der sich später mit Durchsetzung des Christentums zum mittelalterlichen Antijuadismus entwickelte.

Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, wollen wir uns die vorherrschenden gesellschaftlichen Gegebenheiten im Feudalismus des mittelalterlichen Europas genauer anschauen. Ein Großteil der damaligen Bevölkerung lebte von den Erzeugnissen der Landwirtschaft. Die Bauern/Bäuerinnen produzierten alles, was zum Leben nötig war, selbst. Sie verbrauchten den Großteil ihrer Erzeugung, der Rest wurde getauscht. Getreide wird gegen Leinen getauscht, Hosen gegen Stühle und Schuhe gegen Messer. Es gab natürlich schon Geld in Form von Münzen, das zur Erleichterung des Tausches eingesetzt wurde. Es war jedoch wesentlich auf seine Funktion als Tauschmittel reduziert. Abgaben, die die Bauern/Bäuerinnen an die Grundherren abtreten mussten – das so genannte Lehen – wurden zunächst in Natural-, später in Geldform getätigt. Geld spielte aber noch eine untergeordnete Rolle. Generell war es ein mehr oder weniger abgeschlossener Wirtschaftskreislauf, der wenig Fragen aufwarf. Man kennt den Schuster von nebenan und weiß, wo das Getreide gemahlen wird.

Der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ist zunächst auf ihre verbreitete Funktion als Händler:innen zurückzuführen. Die ersten Kaufleute, die unbekannte Waren aus fernen Regionen brachten, wurden immer als Fremde wahrgenommen. Generell stieß jegliche wirtschaftliche Aktivität, die nicht direkt mit Landwirtschaft und der Verarbeitung ihrer Erzeugnisse zu tun hatte, auf Ablehnung. Es war schwierig, diese zu begreifen. Wie können Kaufleute, ohne eigene Produkte herzustellen, ihren Lebensunterhalt bestreiten? Wie ist es möglich, dass sie ohne schwere körperliche Arbeit gewissen Reichtum erwirtschaften können? Woher kommt das Geld? Und warum verarmen Menschen, die in Kontakt mit Geldwirtschaft kommen?

Durch ihre Tätigkeit als Händler:innen wird auf Juden und Jüdinnen schon damals eine Verkörperung des fremden und unheimlichen Geldes projiziert.

Im Verlauf des europäischen Mittelalters veränderte sich die ökonomisch vorteilhafte Situation für Juden und Jüdinnen und mit ihr nimmt die Gewalt gegen sie zu.

Es kommt, vor allem in Westeuropa, zu einer Periode intensiver wirtschaftlicher Entwicklung. Wir sind gerade im 11. Jh. unserer Zeitrechnung und die Landwirtschaft ist nach wie vor der dominanter Wirtschaftszweig. Es kommt zu Innovationen (wie z. B. der Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft), die den Ertrag erheblich steigern konnten. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen kam es zu Produktivitätssteigerungen wie zum Beispiel im Textilhandwerk durch Verbreitung des Trittwebstuhls. Die günstigen Bedingungen führten zu einem breiten Bevölkerungswachstum. Bauernsiedlungen werden zu Dörfern, Dörfer zu Städten, die Städte zu Handelszentren, in denen die Produkte getauscht werden.

Für Juden und Jüdinnen, die bis dahin ihre Existenz zu großem Teil durch Handelstätigkeit bestritten, bedeutete diese Entwicklung nichts Gutes. Bis dahin hatten sie eine gewisse Sonderrolle mit großer Bedeutung inne. Teilweise waren sie die einzige wirtschaftliche Verbindung zwischen Europa und Asien. Das Entstehen einer städtischen Industrie und das Aufkommen einer einheimischen Handelsklasse führten zu einer verstärkten Konkurrenzsituation. Juden und Jüdinnen wurden aus dem Handel gedrängt und entwickelten sich zunehmend zu einer Randschicht.

Mit dem expandierenden Binnenhandel nahm auch die Bedeutung der Geldwirtschaft stetig zu. Es wurde vermehrt Geld eingesetzt, um den Handel zu organisieren. Zunehmend nicht mehr nur im Fern-, sondern auch im Regionalhandel. Da es Juden und Jüdinnen häufig nicht mehr möglich war, durch Handelstätigkeiten ihre Existenz zu sichern, blieb ihnen die Nische des Geldverleihs. Dieser wurde statt spezialisiertem Handwerk und Handel zur Haupteinnahmequelle.

Dass Geldverleiher:innen, die notgedrungen auch Schuldeneintreiber:innen sind, nicht die beliebtesten Teile der Bevölkerung darstellen, ist naheliegend. Mit dem Verbot seitens der Kirche, das Christ:innen den Geldverleih untersagte – das sogenannte Zinsverbot v. a. aus dem Alten Testament – besaßen Juden und Jüdinnen das Monopol für Kreditgeschäfte und wurden zu gesuchten und gehassten Geldverleiher:innen.

Im Unterschied zum Kapitalismus, wo Kredite bestimmend als Investition in gewinnbringende Produktion gesteckt werden, wurden sie im Feudalismus hauptsächlich zwecks Konsums vergeben. Sie wurden also nicht benutzt, um aus Geld noch mehr Geld zu machen, sondern ausgegeben für Kriegstätigkeiten, Prestigebauten und anderweitigen Konsum der Herrschenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kredite nicht zurückbezahlt werden konnten, war dabei relativ hoch. Um sich abzusichern, mussten hohe Zinsen verlangt werden, was von den Schuldner:innen als „Wucherzinsen“ wahrgenommen wurde.

In dieser Zeit entstanden Stereotype von „gierigen Juden/Jüdinnen“. Es entwickelte sich das Zunftwesen, das Nicht-Christ:innen von handwerklichen Berufen ausschloss. Für Juden/Jüdinnen blieben nur noch sehr spezifische Handwerkstätigkeiten und der Geldverleih als Einnahmequelle. Ihnen wurde verboten, Waffen zu tragen und bestimmte Ämter auszuführen. Jüdisches Kapital geriet vermehrt in Konflikt mit allen Klassen der Gesellschaft. Es folgte eine Periode grausamster Verfolgungen und blutiger Aufstände.

Die Hetze gegen Juden/Jüdinnen wurde häufig von den Feudalherr:innen selbst initiiert, da diese die Hauptabnehmer:innen der Kredite waren. Adelige und Kleriker waren von Schulden geplagt und teilweise nicht mehr zahlungsfähig. Daher kam ihnen die Vertreibung teilweise sogar gelegen. Von der Kirche wurde die Hetze gegenüber Juden/Jüdinnen legitimiert. Sie wurden als „Mörder:innen Christi“ bezeichnet und als Verräter:innen und Verdammte verleumdet. Mit Beginn der Kreuzzüge kam es in Mitteleuropa auch zu den ersten großen Pogromen, die sich dann in schlimmer Regelmäßigkeit wiederholten. Beim Kreuzzugwahn wurden auch Juden/Jüdinnen zum Teil der Feindeswelt. Mythen über Brunnenvergiftungen, „teuflische“ Rituale und Kinderopfer wurden ausgeschmückt und verbreitet.

Gleichzeitig bestand eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Herrschenden und Juden/Jüdinnen. Die Zentralgewalten benötigten die Kredite zur Finanzierung ihrer Herrschaft. Daher wurden Erklärungen erlassen, die Juden und Jüdinnen unter besonderen Schutz stellten. Solche Schutzprivilegien wurden beispielsweise von den Königen Englands, Frankreichs und vom deutschen Kaiser erlassen. Sie drohten hohe Strafen für Gewalt gegen Juden und Jüdinnen an. Auf der anderen Seite durften sich Juden/Jüdinnen nicht selbst verteidigen und mussten für den Schutz hohe Steuern zahlen.

Die Hetze gegenüber Juden und Jüdinnen wird teilweise von den Herrschenden entfacht und Pogrome werden entfesselt. Auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit bieten diese zeitweise aber auch Schutz. Der mittelalterliche Antijudaismus geht also nicht bis hin zur Forderung der Vernichtung von Juden/Jüdinnen und ist geprägt von religiösen Argumentationen.

Mit dem Aufstreben des Kapitalismus ändert sich die gesamte gesellschaftliche Situation und damit die gesellschaftliche Stellung von Juden und Jüdinnen. Der Hass gegen sie entwickelt eine neue Qualität – den modernen Antisemitismus.

Der bisher vorherrschende christliche Antijudaismus, der auf kulturell-religiöser Tradition aufbaut, ist nicht gleichzusetzen mit dieser neuen Form, die sich mit dem Kapitalismus entwickelt. Das verbindende Element der beiden Formen des Antijudaismus bzw. Antisemitismus besteht darin, dass beide als Ersatzaufstände gegen die jeweils bestehende Herrschaftsform begriffen werden können. Der Wunsch der Unterdrückten, gegen die Unterdrückung aufzubegehren, wird nicht gegen die Herrschenden gerichtet, sondern auf Juden und Jüdinnen projiziert. Das trennende Moment liegt in der Art der Projektion. Im christlichen Antijudaismus wird auf Juden/Jüdinnen die Verkörperung des Teufels projiziert. Sie werden als etwas Teuflisches, in diesem Sinne Antichristliches, dargestellt. Im modernen Antisemitismus werden die schädlichen Seiten des Kapitalismus auf Juden und Jüdinnen projiziert. Sie werden mit dem „raffenden Kapital“ assoziiert. Aber dazu später mehr.

Über die Ersatzaufstände werden wir in Bezug auf Mario Erdheim und die sogenannten Freudomarxist:innen auch im zweiten Teil unserer Podcastreihe noch genauer eingehen.

Zurück zu den gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn des Kapitalismus. Mit der Industrialisierung in Europa beginnt auch ein grundlegender Wandel der bestehenden Klassengesellschaft. Feudale Strukturen sterben ab und neue Klassen entwickeln sich: die Kapitalist:innenklasse und das Proletariat.

Kleine Handwerker:innen werden durch die industrielle Produktion verdrängt. Sie können mit der Konkurrenz durch die Massenfertigung nicht mithalten. Bauern und Bäuerinnen werden von ihrem Land vertrieben und ihres Eigentums beraubt, das zunehmend zentralisiert wird. Diese Entwicklung wird als Bestandteil der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet.

Die Bevölkerung wird ihrer Mittel zum Lebensunterhalt beraubt. Menschen verlieren ihre Produktionsmittel. Sie werden von ihrer Subsistenzwirtschaft losgerissen und müssen als freie Proletarier:innen ihre Arbeitskraft in den Fabriken verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Es kommt zu einer Migrationsbewegung vom Land in die Städte, aber auch zur Auswanderung. Die allgemeine Auswanderungsbewegung verbindet sich mit der jüdischen. Denn auch für Juden/Jüdinnen hat die Auflösung feudaler Strukturen weitreichende Folgen. Diese waren – wie wir vorher gehört haben – bisher hauptsächlich im Handel, Kreditwesen oder im spezialisierten Handwerk tätig.

Die zunehmende Bedeutung von Fernhandel und die Entwicklung der europäischen Hafenstädte zu zentralen Umschlagplätzen führt zur Entstehung einer einheimischen Handelsbourgeoisie. Auch erfordert die neue kapitalistische Produktionsweise andere Formen der Finanzierung. In Italien entsteht im 13. Jahrhundert das Bankenwesen, das sich nach ganz Europa ausweitet. Auch im deutschsprachigen Raum tritt mit den Fuggern eine mächtige Bankiersfamilie auf.

Diese Entwicklung stellt eine Bedrohung der Lebensgrundlage und eine zunehmende Konkurrenz für jüdische Kaufleute und Geldverleiher:innen dar. Ihre besondere Rolle in der Gesellschaft beginnt sich zunehmend aufzulösen. Sie integrieren sich in die sich entwickelnden Klassen. Einige Juden und Jüdinnen, die es geschafft haben, eigenen Reichtum anzuhäufen, schaffen es – durch den Erwerb von Produktionsmitteln –, in der Kapitalist:innenklasse aufzugehen. Sie bleiben Kaufleute oder werden zu Industriellen in den großen Industrie- und Handelszentren. Juden und Jüdinnen, die in Folge dieser Entwicklung ihre Lebensgrundlage verlieren oder auch schon vorher verarmt waren, sind gezwungen, gegen Lohn in den Fabriken zu arbeiten. Sie werden Teil der Arbeiter:innenklasse und schuften vor allem in der Konsumgüterindustrie.

Diese Entwicklung läuft keineswegs einheitlich in Europa ab. Während in Westeuropa die Industrialisierung schnell voranschreitet und sich Juden und Jüdinnen in die neue Klassenstruktur einfügen, läuft in Osteuropa die Entwicklung des Kapitalismus stockend. Juden und Jüdinnen finden keinen neuen Platz und verarmen. Gab es zunächst noch eine Migrationsbewegung Richtung Osten, da hier noch länger feudale Strukturen herrschten, führt der wachsende Antisemitismus zu einer Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Osteuropa. Viele wandern nach Westeuropa oder in die noch junge USA aus.

Der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus verbindet sich mit der Krise des Feudalsystems. Der Übergang zum Kapitalismus bringt Hunger, Verarmung und Elend mit sich. Juden/Jüdinnen werden verstärkt zu Sündenböcken für die Krisen der Zeit. Es werden Ursachen für das allgemeine Elend gesucht und in stereotypen Zuschreibungen zu Juden und Jüdinnen gefunden. Diese seien „gierig“ und „beuten das Volk aus“. Es kommt zu schlimmen Pogromen und Verfolgungen. Juden und Jüdinnen werden gezwungen, in Ghettos zu leben und charakteristische Kleidung zu tragen.

Doch woher kommt der neue Antisemitismus? Und worin besteht die neue Qualität des Hasses gegen Juden und Jüdinnen?

Im Vergleich zum Feudalismus ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus sehr viel schwieriger zu verstehen. Die mittelalterliche Gesellschaft beruht hauptsächlich auf der Ausbeutung der Bäuer:innen sowie der Abgaben an den Feudalherren. Bäuer:innen bewirtschaften das Land. Das daraus hervorgebrachte Produkt dient zum einen Teil der eigenen Reproduktion. Es wird hauptsächlich selbst konsumiert und ein kleiner Teil gegen andere Dinge (wie Kleidung etc.) getauscht. Ein anderer Teil muss als Grundrente – zunächst als Teil des hergestellten Produkts, später in Form von Geld – an den/die Grundherr:in abgegeben werden.

Dieses Verhältnis wird religiös verschleiert und somit politisch legitimiert. Die feudale Ordnung erscheint als natürlich und göttlich. Der Mensch ist von Natur aus ungleich. Ungleichheit erscheint daher auch als natürlich und gerecht. Trotz dieser religiösen Legitimierung ist das feudale Ausbeutungsverhältnis leichter zu begreifen als das kapitalistische. Einer besitzt Land, der andere muss Abgaben leisten, um dieses bewirtschaften zu dürfen und den Schutz des Lehnsherren zu genießen.

Im Kapitalismus ist alles etwas komplizierter, denn hier ist die Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses eine spezielle. Menschen verschiedener Klassen erscheinen zunächst frei und gleichberechtigt. Arbeiter:innen verkaufen scheinbar freiwillig ihre Arbeitskraft gegen einen scheinbar „gerechten Lohn“. Es besteht aber dennoch ein Ausbeutungsverhältnis. Arbeiter:innen werden nicht durch Androhung körperlicher Gewalt zur Arbeit gezwungen wie beispielsweise bei Sklav:innen. Doch sehr wohl aus ihrer ökonomischen Not heraus. Um zu überleben, müssen sie für Kapitalist:innen schuften, die sich dann einen Teil des erschaffenen Wertes aneignen. Die Arbeiter:innen selbst bekommen nur das, was sie zur Reproduktion Ihrer Arbeitskraft brauchen.

Diese gesellschaftlich-ökonomischen Prozesse werden in der Breite nicht analysiert und das gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnis nicht erkannt. Es wird systematisch verschleiert und erscheint daher auch nicht als Ausbeutung. Das erfahrene Leid wird nicht ursächlich begriffen, bleibt aber bestehen und sucht sich Ventile.

Alle Übel der Welt werden am Geld festgemacht, also rein auf der Zirkulationssphäre begriffen und auf die Zuschreibung von Schuld heruntergebrochen. Antisemitische Propaganda kann leicht an den Alltagserfahrungen der Menschen ansetzen und findet in der Assoziation von Juden/Jüdinnen und Geldwirtschaft eine willkommene Verknüpfung.

Die Unterteilung in Gut und Böse ist ein Instrument, um komplexe und schwer begreifliche Gegebenheiten zu vereinfachen und herunterzubrechen. Dieses Mechanismus’ bedient sich auch der moderne Antisemitismus. Er gibt eine Orientierung in unveränderlich gut („das gute deutsche schaffende Kapital“) und in unveränderlich schlecht („das böse jüdische raffende Kapital“) vor. Der Kapitalismus wird also nicht als Krisen produzierendes Ausbeutungsverhältnis zwischen Klassen verstanden, sondern als grundsätzlich funktionierendes System. Wären da nicht die „gierigen jüdischen Bänker:innen“. Juden und Jüdinnen werden als gierig, hinterlistig und feige dargestellt. Im Vergleich zu den „guten Deutschen“, die loyal, stark und heimattreu seien.

Statt sich gegen das System, also gegen die Kapitalist:innenklasse, zu richten, wendet der moderne Antisemitismus die Wut und Verzweiflung über das erfahrene Leid gegen Juden und Jüdinnen. In ihnen findet das Böse die Personifizierung. Juden und Jüdinnen werden mit dem Teufel assoziiert, dessen Maske man jetzt zu kennen scheint. Ängste und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung werden durch antisemitische Stereotype auf Juden und Jüdinnen projiziert, statt sich gegen das System zu richten. Was die Möglichkeit, tatsächlich Veränderung zu erreichen, vereitelt.

Besonders anfällig für solche Erklärungsansätze sind Teile der Gesellschaft, die vom Kapitalismus profitieren, aber von Krisen und großen Monopolkonzernen bedroht werden. Also vor allem kleine Unternehmen, Selbstständige und Handwerker:innen. Sie haben Ängste, abzusteigen und ihre ökonomischen Grundlagen zu verlieren.

Doch auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse kann Antisemitismus Fuß fassen, wenn die Wut gegen die Unterdrückung sich nicht mehr gegen die herrschende Klasse richten kann. Besonders die regelmäßig wiederkehrenden Krisenzeiten des Kapitalismus und die Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, bieten daher einen besonderen Nährboden für Antisemitismus.

Zugleich kann der moderne Antisemitismus nicht ohne die Entstehung von Nationen und Nationalstaaten verstanden werden, als Ausdruck kapitalistischer Herrschaft. Dafür ein kurzer Definitionsversuch. Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Dieser Begriff der Nation ist nicht deckungsgleich mit jenem der Auslegung der Tora. Hier resultierten das gemeinsame Selbstbewusstsein und die nationale Idee aus dem Glauben. Deutlich wird diese Auffassung durch die Bezeichnung der Juden und Jüdinnen als das Volk Gottes.

Die jüdische nationale Auffassung stand mit der Herausbildung von Nationalstaaten im Widerspruch.

Begriffe wie die des doppelten Nationalismus, wie sie im liberalen Judentum des 18. und 19. Jahrhunderts prägend waren, beispielsweise bei Moses Mendelssohn, waren nicht vereinbar mit dem bürgerlichen Nationalbegriff. Juden und Jüdinnen – mit der Idee der jüdischen Nation – stellten also die Herausbildung der Nationalstaaten in Frage. Nationalismus als dominante Ideologie bürgerlicher Herrschaft hat einen vereinnahmenden Anspruch und duldet kein Nebeneinander. Eine Gleichzeitigkeit von jüdischer Nationalidee und Zugehörigkeit zur bürgerlichen Nation war also nicht möglich.

Hieraus resultierten die Projektionen von Juden und Jüdinnen als „Fremdkörper“ in der Nation. Juden und Jüdinnen wurden als „parasitäres“ Volk im sonst gesunden deutschen Volkskörper verleumdet. Die Verschwörungstheorie der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, die die angeblichen Pläne der jüdischen Weltverschwörung formulierten, sind Ausdruck einer solchen Stellung von Juden und Jüdinnen. Einerseits im Territorium ansässig, andererseits Fremde. Antisemitismus wird hier von bürgerlichen Kräften bewusst für die eigenen Ziele eingesetzt.

Wir werden an dieser Stelle noch nicht tiefer darauf eingehen, aber bereits in der frühen sozialistischen Bewegung gab es hier einen Richtungsstreit, wie der moderne Antisemitismus zu bekämpfen sei. Eine Perspektive formulierte der jüdische Frühsozialist Moses Hess, der die Notwendigkeit der politischen Emanzipation benannte, also die Gründung eines jüdischen Staates. Die andere stammte von Karl Marx, der die Bedingungen des Endes des Antisemitismus in der sozialen Emanzipation erkannte, also in der Beseitigung des Nationalstaats mitsamt der Klassengesellschaft. Und somit auch der Basis für die falschen Projektionen. Genauer werden wir darauf in der 3. Folge dieser Podcast-Reihe eingehen.

Zu einem schrecklichen Höhepunkt des modernen Antisemitismus kam es in Europa in den 1930er Jahren, als eine massive Krise des Kapitalismus wütete und Arbeitslosigkeit und Inflation den Menschen Hunger und Armut brachten. Die Arbeiter:innenbewegung konnte die Revolution aber nicht bis zum Sturz des Kapitalismus weitertragen, den Nationalstaat samt Klassenstruktur nicht beseitigen. Mit ihrem Niedergang war auch die Möglichkeit, sich zielführend gegen die Bedrohung des Kapitalismus zu wehren, verloren.

Die reaktionäre faschistische Bewegung konnte an den real werdenden Abstiegsängsten ansetzen und baute auf der sich von der Arbeiter:innenklasse abwendenden Klasse des Kleinbürger:innentums auf, um ihre Macht auszubauen. Antisemitismus wird hier bewusst eingesetzt und hat die Funktion, verschiedene Klassen ideologisch in einer Rasse aufgehen zu lassen und die „deutsche Volksgemeinschaft“ zu konstruieren, die sich gegen „innere und äußere Feinde“ verteidigen müsse. Hier sind wir also schon bei der Verschwörungstheorie par excellence angekommen: der Erzählung über die vermeintliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung.

Die Konsequenz dieser Ideologie sind Pogrome, Vernichtungsphantasien und Massenmord. Der Hass gegen Juden und Jüdinnen verbindet sich mit vermeintlich wissenschaftlich und biologisch argumentierten Rassentheorien und führt zu einer vernichtenden Form des Antisemitismus. Hier zeigen sich Verbindungslinien zum Rassismus auf, auch wenn beides sicherlich nicht das Gleiche ist. Die moderne Form des Rassismus entwickelte sich im Zuge der Kolonialisierung, um die schrecklichen Gräueltaten der europäischen Kolonialmächte zu legitimieren. Es entstand die Vorstellung eines „biologisch überlegenen Herrenvolkes“, das das „natürliche Recht“ habe, andere Völker zu versklaven. Eine willkommene Legitimierung, die es den Expansionsbestrebungen des europäischen Kapitalismus erlaubte, Menschen in den Kolonien zu unterdrücken und auszubeuten.

Der moderne Antisemitismus dient zwar nicht zur Beherrschung eines Gebietes, fußt aber auf derselben Konstruktion des „weißen Herrenvolkes“.

Auch reicht die „Theorie des reinen Blutes“, welche Faschist:innen benutzen, um ihre Schreckenswerke ideologisch zu legitimieren, bis in die frühe Kolonialzeit zurück. Ferdinand und Isabella, die beiden sogenannten „katholischen König:innen“, die 1492 die gesamte Iberische Halbinsel einnahmen und damit das Ende des muslimischen al-Andalus einleiteten, zwangen alle dort lebenden Juden und Jüdinnen, zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Viele jüdische Gemeinden lebten über mehrere Jahrhunderte weiter im Verborgenen. Diese wurden Ziel grausamer Verfolgungen durch die Inquisition. Es entstanden Erzählungen über die Unterwanderung der Gesellschaft durch Juden und Jüdinnen. Es wurden Abstammungslinien untersucht, um Juden und Jüdinnen zu entlarven. Es entstand die Theorie, dass Menschen „unreinen Blutes“ niemals „echten Glauben“ erlangen können. Die Inquisition fügte dem Antijudaismus also die Verschwörungstheorie der geheimen jüdischen Bünde hinzu und ist die erste europäische Institution, die rassistisch begründete Verfolgung betrieb.

Die beiden waren übrigens später die Geldgeber:innen für Kolumbus. Sie legten also den Grundstein für die spätere spanische Weltmacht und leiteten die Zeit der Kolonialisierung ein.

Aber darauf wollen wir jetzt nicht genauer eingehen und hier erstmal zum Ende kommen.

Wenn ihr Aspekte nochmal genauer nachlesen wollt, empfehlen wir euch unser Theoriejournal „Revolutionärer Marxismus“. Die 51. Ausgabe mit dem Titel „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ war die Grundlage für unsere Folge, ebenso wie der Text „Die jüdische Frage“ von Abraham Léon.

Ansonsten freuen wir uns, wenn ihr bei der nächsten Folge wieder dabei seid. In dieser wollen wir uns die psychische Welt des Antisemitismus genauer anschauen und versuchen, diese mit einer materialistischen Anschauung zu verweben, um zu verstehen, wie sich der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen zur vernichtenden Form des Antisemitismus entwickeln konnte.




50. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma

Anlässlich des 50. Jahrestages der blutigen Zerschlagung der chilenischen Revolution veröffentlichen wir im Folgenden erneut eine Analyse aus dem Jahr 2003. Die darin dargelegten Schlussfolgerungen sind leider weiterhin gültig. Der Putsch des Generals Pinochet kostete Zehntausenden den Tod. Der demokratische Imperialismus der USA und ihrer Verbündeten zeigte einmal mehr sein wahres Gesicht. Die Zerschlagung der Revolution offenbarte aber auch die politische Sackgasse der chilenischen Volksfront unter Allende. Wenn wir heute die Revolutionär:innen, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen und Bäuer:innen ehren, die sich heldenhaften der Konterrevolution entgegenstellten, so müssen wir auch die politischen Lehren aus der Niederlage ziehen, auf dass sie sich nie wiederholen möge.

Hannes Hohn, Infomail 1231, 11. September 2023

Am 11. September 1973 ging in Santiago de Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär unter General Pinochet putschte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen Chilen:innen auf die Umgestaltung des Landes und auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte wurden von der Pinochet-Junta außer Kraft gesetzt und Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalist:innen.

Die Unidad Popular

Im Dezember 1969 verabschiedete die Unidad Popular (UP) ein Programm, das verschiedene Reformen und die Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche vorsah. Letztere betraf auch die US-amerikanischen Anteile von fast 50% am Hauptwirtschaftszweig Chiles, dem Kupferbergbau.

Doch anders, als es viele noch heute glauben, war das Programm der UP kein revolutionär-sozialistisches. Ein solches hätte beinhalten müssen, den bürgerlichen Staat (darunter auch den Gewaltapparat) zu zerschlagen und ihn durch Arbeiter:innenräte und -milizen zu ersetzen. Ein solches Programm hätte auch nicht bei der Verstaatlichung einiger Wirtschaftsbereiche stehen bleiben dürfen; es hätte auf die Enteignung der Bourgeoisie als Ganzes und die Einführung einer demokratischen, auf Räte basierenden Planwirtschaft gerichtet sein müssen.

Das Programm der UP Allendes war, trotz seiner sozialistischen Phraseologie, ein bürgerlich-demokratisches Programm.

Die UP war ein (Wahl)Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen, deren wichtigste Kräfte die Sozialistische Partei (SP) und die stalinistische KP waren. Sie stützte sich sozial v. a. auf die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und die ländliche Armut.

Die Unidad Popular war keine zeitweilige, begrenzte Einheitsfront, sondern ein strategisches (Regierungs)Bündnis zwischen Parteien des Proletariats und offen bürgerlichen Kräften – auch wenn diese wie die „Radikale Partei“ zahlenmäßig relativ bedeutungslos geworden waren.

Damit diese – von Marxist:innen „Volksfront“ genannte – Allianz überhaupt zustande kommen konnte, war ein Programm nötig, das strategische Zugeständnisse an die herrschende Klasse machte: den Erhalt des Privateigentums, soweit es nicht zum ausländischen Großkapital gehörte, und des bürgerlichen Staatsapparats.

Nicht der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern der Versuch einer Aussöhnung der unvereinbaren Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie lag der Unidad Popular zugrunde.

Triumph mit Schatten

Im September 1970 wurde sie mit 36,3 % stärkste Kraft im Parlament und Salvador Allende (SP) zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular beruhte jedoch weniger auf der Originalität ihres Volksfrontprogramms, sondern v. a. darauf, dass ihre sozialistischen Versprechungen den Erwartungen der Massen entsprachen.

Seit Ende der 1960er war Chile in Unruhe. Die Wirtschaftskrise und die Verschlechterung der Lebenslage der Massen hatten Folgen: Proteste, Streiks und spontane Landbesetzungen nahmen zu. Die Arbeiter:innenklasse, die städtische und ländliche Armut waren in Bewegung geraten. Nicht verwunderlich also, dass die Massen ihre Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende in „ihre“ vorhandenen Arbeiter:innenparteien, die SP und die KP, projizierten. Als diese sich dann zur UP zusammenschlossen, schienen sie stark genug zu sein, „alles zu wagen“.

Doch die siegreiche Unidad Popular hatte zwei Gesichter. Das eine stand für Reformen. Die Neuerungen fingen bei einem täglichen Liter Milch für Chiles Kinder an und reichten bis zur Enteignung von US-Unternehmen.

Doch die Kehrseite der Politik der UP und ihres Präsidenten Allende sollte bald alle Verbesserungen der ersten Periode der Volksfront in Gefahr bringen. Der alte bürgerliche Staatsapparat nämlich blieb bestehen, v. a. die Machtpositionen der Armee und der Sicherheitskräfte blieben unangetastet – im Gegenzug für ihre „Loyalität“. Trotz aller Verstaatlichungen funktionierte die Wirtschaft immer noch auf kapitalistische Art und große Bereiche der Wirtschaft – v. a. der in Chile große Sektor der Klein- und Mittelbetriebe – blieben, wie sie waren.

Um überhaupt auf parlamentarischem Weg zum Präsidenten gewählt zu werden, war Allende auf die Stimmen nicht nur der Volksfront (einschließlich ihrer bürgerlichen Komponenten) angewiesen, sondern auch auf jene der Christdemokrat:innen, der klassischen Partei der chilenischen „nationalen“ Bourgeoisie. Diese lies sich ihre Zustimmung mit grundlegenden Garantien der bürgerlichen Legalität erkaufen – Unantastbarkeit der bestehenden staatlichen Institutionen (Justiz, Polizei, Armee), Verzicht auf die Bildung von Volksmilizen, Respekt vor den Rechten der bürgerlichen Opposition (Privateigentum an den Medien; Freiheit ihrer Organisationen einschließlich der faschistischen Patria y Libertad).

Der von der Volksfront angestrebte Klassenkompromiss und die Zusicherungen an die chilenische Klein- und Mittelbourgeoisie schienen Allende und seinen UP- Partner:innen ein Garant dafür zu sein, dass Wirtschaft, Staatsapparat und Armee sich verfassungskonform verhalten würden. Anfangs, als die Vertreter der alten Ordnung in der Defensive waren, schien das auch der Fall zu sein. Doch es sollte sich bald ändern.

Volksfront in der Krise

Die Anfangserfolge der UP zogen die Massen ebenso stark an, wie sie die Bourgeoisie abschreckten. Die bürgerlichen Kräfte formierten sich. Die faschistische Bewegung Patria y Libertad (PyL = Vaterland und Freiheit) wurde zum Attraktionspol für alle, die dem Volksfrontprojekt überhaupt den Garaus und alle Reformen und sozialen Errungenschaften rückgängig machen wollten. Die PyL griff mit offenem Terror Arbeiter:innen und Bäuer:innen, Gewerkschafter:innen und Linke an.

Aufgeschreckt durch die Enteignung des US-Kapitals übten die USA Druck auf den Kupferweltmarktpreis aus. Daraufhin verfiel dieser, wodurch Chile enorme Einnahmen entgingen. Zugleich wurden auf Druck der USA zugesagte Kredite zurückgezogen. Auch die chilenischen Kapitalist:innen zogen ihr Kapital aus Chile ab.

Die Folge davon waren leere Staatskassen. Dem versuchte die Regierung durch das Anwerfen der Geldpresse zu begegnen, was verstärkte Inflation zur Folge hatte. Die wirtschaftliche Flaute bewirkte, dass sich immer größere Teile der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums von der UP ab- und der bürgerlichen Opposition zuwandten. Zugleich übten sie auf den Staatsapparat und die Armee immer größeren Druck aus, Allende zu stürzen – ein Militärputsch wurde immer wahrscheinlicher.

Zunächst jedoch gingen nicht Soldaten, sondern (klein)bürgerliche Frauen auf die Straße und protestierten auf demagogische Weise mit leeren Töpfen gegen den Mangel, den sie selbst allerdings weniger verspürten als die Lohnabhängigen und die Armut auf dem Land. Dann – ab Oktober 1972 – streikten die Kleinkapitalist:innen, besonders die Fuhrunternehmer:innen und legten das ganze Land lahm.

Begleitet wurden diese dramatischen Ereignisse durch Komplotte und Intrigen hinter den Kulissen. Eine reaktionäre Allianz von CIA, US State Departement, PyL, Generälen und hohen Staatsbeamten plante Mordanschläge gegen Allende, boykottierte die UP-Politik, terrorisierte Arbeiter:innen und Bäuer:innen, ermordete linke Aktivist:innen und selbst regierungstreue Generäle.

Im Juni 1973 schließlich verhinderten zehntausende Proletarier:innen einen von der Reaktion geplanten Marsch auf Santiago. Diese Monate der Unruhe vor dem Sturm deuteten unübersehbar auf die nahe Entscheidungsschlacht hin. Allende und die UP jedoch hielten weiter an ihren Illusionen von Klassenkompromiss und Verfassungstreue fest.

Die Volksfront hatte ihr Reform-Pulver bald verschossen und geriet immer stärker unter Druck. Auch die Massen wurden nun mit Allendes Reformen zunehmend unzufriedener, ohne jedoch mit der UP politisch zu brechen.

Die Landreform wurde nicht konsequent umgesetzt, wodurch viele Landlose oder Landarme nicht genügend Fläche bekamen, um davon existieren bzw. mit größeren Betrieben konkurrieren zu können. Die Landbevölkerung griff deshalb zu spontanen Besetzungen und bildete gegen die reaktionär-faschistischen Terrorbanden der Reichen Selbstschutzorgane.

Wirtschaftskrise, Inflation und die von den (Transport)Kapitalisten erzeugte Versorgungskrise rief auch die Arbeiter:innenklasse auf den Plan. Sie verlangte nicht nur energische Maßnahmen gegen die Unternehmerboykotte von der Regierung. Sie organisierte sich auch selbst in betrieblichen und Wohngebietskomitees, sie bildete Milizen (die tw. bewaffnet waren), sie besetzte Betriebe und übte die Kontrolle aus – zum Schluss über fast 1.000 Unternehmen!

Wie reagierte Allendes „Regierung des Volkes“ auf diese Ansätze von Selbstorganisation und -bewaffnung der Massen?

Sie verurteilte die „linksradikalen“ Aktionen und rief zur „Mäßigung“ auf, um die Bürgerlichen nicht aufzuschrecken und zu noch größerem Widerstand zu ermuntern. Dabei tat sich die „kommunistische“ Partei besonders negativ hervor. Die PyL wurde nicht energisch bekämpft. Polizei und Armee wurden gegen Arbeiter:innen und Bäuer:innen eingesetzt, die „verfassungswidrig“ Unternehmen oder Land besetzt oder sich bewaffnet hatten.

Trotz aller rhetorischen Aufforderungen Allendes an die Massen, die Unidad Popular zu verteidigen, behinderte er real alles, was gegen die Reaktion nötig gewesen wäre. Gegen die Mobilisierungen der Reaktion und deren Putsch-Vorbereitungen gab es nur ein Mittel: Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Landarmut.

Die besetzten Betriebe und Ländereien hätten zu Organisationszentren von betrieblichen und lokalen Räten und Milizen werden und diese regional und landesweit zentralisiert werden müssen. Anders als in der russischen oder auch in der deutschen Revolution gab es jedoch in Chile nie eine zentralisierte Rätestruktur, die als Gegenmachtzentrum zur Staatsmacht hätte fungieren können.

Diese hätte den Widerstand gegen die Konterrevolution landesweit organisieren, die Arbeiter:innen und Bäuer:innen bewaffnen und mittels ihrer bewaffneten Macht den bürgerlichen Staat – v.a. die Armee – zerschlagen oder zumindest eine reale Gegenmacht  organisieren können und müssen. Gegen den Wirtschaftsboykott gab es nur einen Weg: Enteignung der gesamten Bourgeoisie und Einführung einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Politik der Linken

Obwohl einige linke Organisationen, besonders die MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) Elemente dieser Strategie verfolgten, fehlte es an einer politischen Partei, die bereits vor 1973 ein revolutionäres Programm in die Vorhut der Arbeiter:innenklasse hätte tragen können und deshalb im entscheidenden Moment stark genug gewesen wäre, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Die MIR, zu denen auch die „Trotzkist:innen“ des Vereinigten Sekretariats (VS) gehörten, pendelte aber zwischen opportunistischer Anpassung an die UP und revolutionärer Politik.

So charakterisierte die MIR die Volksfront in den ersten Monaten als „revolutionäre Volksregierung“. Das war die UP aber trotz unbestreitbarer materieller Verbesserungen für die Massen nie. Die UP war keine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung“, die sich gegen den Kapitalismus wandte und sich auf Machtorgane der Klasse stützte, sondern eine, wenn auch durchaus linke bürgerliche Regierung, die selbst ein Bollwerk gegen die Revolution der Massen bildete.

Die Politik der MIR in den ersten Monaten der Volksfront führte aber dazu, dass die Illusionen der Massen in die Regierung Allende bestärkt und nicht bekämpft wurden. Wenn selbst die „revolutionäre Linke“ die Volksfront als „revolutionäre Regierung“ betrachtete – wozu brauchten die Massen dann Räte und eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung? Erst als sich die Volksfront direkt gegen die Arbeiter:innen wandte, ändert die MIR ihre Politik – aber auch das nur inkonsequent.

Zudem hinderte sie ihre strategische Ausrichtung am Guevarismus daran, die Arbeiter:innenklasse als historisches Subjekt der Revolution zu begreifen und systematisch in diesem Milieu zu arbeiten. Die MIR war im wesentlichen eine Organisation, die unter Student:innen und unter der Bäuer:innenschaft verankert war, kaum jedoch im chilenischen Proletariat, das von SP und KP dominiert wurde.

Das Ende

Schon im Sommer 1973 war die UP-Regierung fast handlungsunfähig. Es gab eine Doppelmachtsituation. Hier die Massen mit wenigen Machtmitteln, ohne landesweite Gegenmachtorgane und ohne konsequente revolutionäre Führung hinter der Regierung Allende; dort die Reaktion, die den Staatsapparat und die Armee beherrschte und zu allem entschlossen war. Die UP unter Allende war keine Speerspitze der Massen gegen den drohenden Putsch, sie wollte noch vermitteln, als es die Entscheidung zu erzwingen galt!

Es ging nur noch um Wochen oder Tage. Doch Allende schürte weiter die Illusion der Verfassungstreue, er mobilisiert die Massen nicht und lullte sie mit seinen demokratischen Beschwörungen im Angesicht der Gefahr ein.

Als dann am 11. September die Moneda bombardiert wurde, blieb Allende mutig auf seinem Posten und rief das Volk noch einmal zur „Verteidigung der Revolution auf“. Doch trotz des verzweifelten Widerstands vieler Arbeiter:innen, gelang es dem Militär Dank seiner Überlegenheit und des rigorosen Terrors bald, das Land vollständig zu kontrollieren. Die Massen waren von der Volksfront zu lange demobilisiert und demoralisiert worden, als dass sie den Schlägen des Militärs hätten standhalten können. Zudem fehlte eine einheitliche politische und militärische Führung in Form einer revolutionären Partei.

Das chilenische Proletariat bezahlte einen hohen Blutzoll für die Illusionen ihrer Volksfront-Führer:innen. Nicht nur Präsident Allende kam um. Zehntausende – Linke, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen, Bäuer:innen – wurden von der Soldateska getötet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Auf Allendes „halbe Revolution“ folgte eine ganze Konterrevolution.

Allendes Versuch, die gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie wie Feuer und Wasser miteinander zu versöhnen endete damit, dass die Volksfront selbst verdampfte.

Die bittere chilenische Erfahrung ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1930er war die Volksfrontstrategie die vorherrschende Strategie aller stalinistischen Parteien. Ihr lag die Idee zugrunde, dass die Revolution auf zwei separate Phasen „verteilt“ sei. In der Praxis hieß das, den Übergang von der bürgerlich-demokratischen Phase zur sozialistischen bewusst zu blockieren, der Bourgeoisie grundsätzliche Zugeständnisse zu machen und die Massen zurückzuhalten – zugunsten der Illusion, dass der Klassengegner sich loyal verhalten würde. Doch dieser politische Königsweg des Stalinismus als „Alternative“ zur Konzeption der Permanenten Revolution, erwies sich ohne Ausnahme immer nur als Sackgasse, als Weg in eine blutige Niederlage.




1923 – bedeutendes Jahr nicht nur für Deutschland

Bruno Tesch, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Ereignisse in Deutschland stellten die Weichen für den Sieg von Stalinismus und Faschismus, die Siege der politischen Konterrevolution im Arbeiter:innenstaat UdSSR wie im bürgerlichen Deutschen Reich. Ein Sieg der deutschen Revolution hätte für den Geschichtsverlauf dagegen eine Kehrtwende bedeutet. Gerade deshalb, aber nicht nur für deutsche Kommunist:innen, denn Deutschland war der Schlüssel zur damaligen Weltlage, ist es Pflicht, die Politik von KPD und Komintern in diesem Schicksalsjahr gewissenhaft zu studieren und entsprechende Lehren zu ziehen.

Deutschland Halbkolonie?

Als Kriegsverlierer im 1. imperialistischen Krieg ächzte Deutschland zwar unter den Reparationsleistungen an die Siegermächte der Kriegsentente, konnte aber dennoch auf eine unangetastete weitgehend intakte Wirtschaftsstruktur zurückgreifen. Das Land war in mehreren Sektoren produktiv gut aufgestellt. Die Großbetriebe fußten auf einem soliden Sockel an Klein- und Mittelunternehmen. Es gelang, die industrielle Produktion 1922 bereits auf 80 % des Standes von 1913 zu steigern. Die Entwicklung hin zu einem Preisverfall begünstigte den außenorientieren Handel und die Industrie. Im Bereich der Schwerindustrie beschleunigte sich der Zusammenschluss ehemals kleiner Anbieter:innen zu Großkonzernen. So nutzten Großindustrielle die Vorzüge, spekulativ Schulden mit entwertetem Geld zurückzuzahlen, die Produktionsprozesse zu modernisieren und sich der imperialistischen Konkurrenz gewachsen zu zeigen.

Das Deutsche Reich hatte neben einigen territorialen Verlusten an der Peripherie und dem völligen Wegfall seiner Kolonien zwar ökonomische und militärische Einschränkungen, z. B. Verbot der Rüstungsproduktion, Begrenzung der Sollstärke der Reichswehr, hinzunehmen, dies konnte durch Hinwendung zu zivilen Zielen und Ausbau etwa von Infrastruktur in Reichsbahn (Lokomotiv- und Waggonbau) wettgemacht werden. Ihm wurde auch keine Einschränkung des Kapitalverkehrs auferlegt.

Deutschland war also letztlich ein wenn auch tributpflichtiger und etwas gestutzter Imperialismus, verfügte jedoch weiterhin über teils höheres Wirtschaftspotenzial als seine Kontrahent:innen im Krieg.

Inflation und Lage der Arbeiter:innenklasse

Die deutschen Nachkriegsregierungen sahen sich indes mit Zahlungsforderungen der imperialistischen Konkurrent:innen konfrontiert. Auf diesen Druck reagierten die deutschen Staatsverwaltungen mit Ankurbelungen der Gelddruckmaschinen. Eine nie gekannte Geldentwertung setzte ein.

1922 überstiegen die Ausgaben für Reparationszahlungen bereits die Einnahmen des Reiches (ohne Kreditaufnahme). Um das Haushaltsdefizit auszugleichen, sah der Staat in der Kreditaufnahme bei der Reichsbank und in der weiteren Vermehrung des Geldumlaufs den Ausweg. Der Geldwert sank, zumindest die Inlandsschulden konnten dennoch bezahlt werden. Die Reallöhne der Arbeiter:innen minderten sich von 1921 auf 1922 im Schnitt um ein Drittel. Allerdings lag die Arbeitslosenquote bis weit ins Jahr 1923 erheblich niedriger als in anderen imperialistischen Ländern, im November 1922 bei nur 2 %. 1923 verschlechterten sich auf Grund des zunehmenden Preisauftriebs die Lohnverhältnisse drastisch: der Reallohn im Bergbau sank von 1922 auf 1923 auf rund 70 % des Vorkriegsstands. Auf Grund der Verknappung der Lebensmittelversorgung 1923 war die Arbeiter:innenschaft oft gezwungen, aufs Land zu fahren und sich per Naturaltausch mit Lebensmitteln einzudecken.

Außerdem wurden die Lohnabhängigen steuerlich massiv benachteiligt. Die Lohn- und Einkommensteuer wurde bei dieser Gruppe zeitlich unmittelbar nach der Auszahlung eingezogen. Im Gegensatz dazu konnten Landwirt:innen und Unternehmer:innen ihre Steuerverbindlichkeiten erst später entrichten. Durch die schnelle Entwertung der Mark war es den Selbstständigen also möglich, Steuerforderungen seitens der Finanzämter mit wertloser Mark zurückzuzahlen. Diese Ungleichbehandlung machte sich auch am Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen des Reiches bemerkbar. Dieser stieg von 56 % im Haushaltsjahr 1922 auf 93 % im Jahr 1923. Insgesamt nahm aber das reale Steueraufkommen stetig ab, da die Steuererhöhungen bald nicht mehr mit der Geldentwertung Schritt halten konnten.

Neben den Arbeiter:innen mussten auch die Beamt:innenschaft erhebliche Einbußen hinnehmen. Zudem traf die völlige Entwertung der Spareinlagen und Anlagen auf Schuldverschreibungen insbesondere Mittelständer:innen (Beamt:innen, Freiberufler:innen, kleinere Gewerbetreibende). Ebenso brach das Vermögen der gesetzlichen Sozialversicherungen, Krankenkassen, Stiftungen und privaten Versicherungsgesellschaften, das großenteils auf dem ursprünglichen Markwert basierte, zusammen.

Zu den Profiteur:innen der Inflation hingegen gehörten generell die Schulder:innen. Diese konnten sich durch die Entwertung der auf Mark laufenden Darlehen günstig ihrer Verbindlichkeiten entledigen. In erster Linie zählte dazu der Staat. Natürlich konnte sich auch das Großkapital schadlos halten, indem große stahlerzeugende und -verarbeitende Konzerne durch die risikolose Kreditaufnahme während der Inflation Kohlezechen, Erzgruben und Hersteller von Hilfsstoffen oder Maschinenfabriken kauften. So gerieten sie auch in Hinblick auf die kommenden Jahre der Weimarer Republik zu einem nicht mehr zu unterschätzenden politischen Machtfaktor.

Besetzung von Rhein und Ruhr

Die Besetzung an Rhein und Ruhr ist kein barbarischer Überfall aus heiterem Himmel gewesen. Die linksrheinischen deutschen Gebiete (Rheinland-Pfalz und Saarland) wurden nach Kriegsende zunächst von französischen Truppen besetzt, ehe sie nach dem Versailler Vertrag unter gesamtalliierte Kontrolle gestellt wurden.

Ende November 1922 legt die konservative Regierung Poincaré den anderen Allierten einen Plan vor, wonach Maßnahmen zu einer „produktiven Pfändung“ ergriffen werden müssten, falls die neu ins Amt gekommene deutsche Regierung Cuno ihre Ankündigung wahrmachen werde, das Deutsche Reich zwecks Sanierung seiner Finanzen

auf drei bis vier Jahre von allen sich aus dem Versailler Vertrag ergebenden Bar- und Sachleistungen zu befreien.

Der Poincaré-Plan sah vor:

  • Eine vollständige Beschlagnahme der Rheinlande, die Frankreich besetzt hält, sie könnte v. a. in der Ersetzung von deutschen durch französische Beamt:innen zum Ausdruck kommen.

  • Besetzung von zwei Dritteln des Ruhrgebietes einschließlich Essens und Bochums, so dass die an Frankreich vom Deutschen Reich zu liefernden Kohlen und der für die französische Industrie erforderliche Hüttenkoks gesichert seien.

Am 11. Januar 1923 rückten französische und belgische Truppen in das bis dahin noch unbesetzte Ruhrgebiet ein. Neben dem Eingriff in die Verwaltung, u. a. teilweise Ersetzung der deutschen Polizei als Ordnungsfaktor, wurde der Abtransport der Reparationen, v. a. von Kohle durch die militärische Präsenz und hartes Vorgehen gegen Widerstand durchgedrückt.

Passiver Widerstand

Die deutsche konservative Regierung unter Wilhelm Cuno (parteilos), die seit November 1922 das Amt von einer liberal-sozialdemokratischen Koalition übernommen hatte, rief zu einem passiven Widerstand auf, dem einzig die Reichstagsfraktion der KPD nicht zustimmte (12 von insgesamt 296 Mandatsträger:innen).

Dieser Anlass war, so sehr er auch die eigene Wirtschaft bedrückte, politisch für die deutsche Bourgeoisie nicht unwillkommen. So konnte sie die nationale Einheit, die Bedrohung durch den äußeren Feind beschwören, dem die Verantwortung für die Verschlechterung der Lage und die zunehmende Teuerung zugeschoben werden konnte.

Die Arbeiter:innenklasse beteiligte sich tatsächlich mit zahlreichen Arbeitsniederlegungen an dem Widerstandsaufruf, beschränkt jedoch zumeist auf die okkupierten Territorien.

Nationale Selbstbestimmung?

Die Okkupation stellte auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) vor ideologische und praktische Probleme, die exemplarisch ihren Zustand beleuchteten.

Die Stationierung einer Besatzungsmacht im Verein mit dem Versailler Vertrag leistete nationalistischen Kräften Vorschub, die Deutschland als von fremden Mächten unterdrückte Nation ansahen.

Zu Beginn gab es noch einen hoffnungsvollen revolutionär-internationalistischen Ansatz in Form einer gemeinsamen Konferenz mit Vertreter:innen der KP Frankreichs, die bereits vor der Ruhrbesetzung am 7.1.1923 in Essen stattfand und auf der eine Zusammenarbeit z. B. mit antimilitaristischer Propaganda beschlossen wurde. Im März 1923 folgte eine Zusammenkunft in Frankfurt/Main, die zusätzlich von linksreformistischen und zentristischen Kräften beschickt war und die selbständige Klassenpolitik nach außen wie nach innen als Losung ausgab. Die KPD vernachlässigte jedoch bald den Kampf gegen die eigene Regierung.

Stattdessen revidierte die Partei die Auffassung, dass der deutsche Kapitalismus durch Kriegsniederlage und den Versailler Vertrag seinen imperialistischen Charakter nicht eingebüßt hatte, vertrat nun Thesen zum Status Deutschlands als Halbkolonie und eine Einschätzung, die die Niederlage des französischen Imperialismus als „kommunistisches Ziel“ in einer Veröffentlichung des Mitglieds der Parteiführung, Thalheimer, erklärte. Das deutsche Proletariat müsse nunmehr die Führung in einem gerechten, nationalen Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch den französischen Imperialismus übernehmen. Der deutschen Bourgeoisie wurde eine objektiv revolutionäre Rolle „wider Willen“ angedichtet. Diese Wendung geht einher mit dem Versuch der Gewinnung von reaktionären Kreisen, die im Widerstand gegen die Okkupation aktiv waren, was sich im Verständnis für nationalistische Anschläge ausdrückte (Radeks Schlageterrede) bis hin zur antisemitischen Anbiederung an völkische Kräfte (Ruth Fischer). Die KPD begab sich damit in gefährliches Fahrwasser reaktionärer Ideologie, die Deutschland als. in ‚Zinsknechtschaft‘ ausländischer Mächte schmachtendes und unterdrücktes Land mystifizierte. Nationalbolschewistischen Tendenzen wurde eine Kolumne in der Parteizeitung Rote Fahne zugestanden.

Zustand der KPD

Die Kommunistische Partei Deutschlands war nach 1920 schlagartig zu einer Massenpartei durch Vereinigung mit einem Großteil der zentristischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angewachsen, verstrickte sich in militärische Auseinandersetzungen (Märzaufstand). Darauf folgten Behinderung und teilweise Illegalisierung der Parteiarbeit. Diskussionen über die Kursbestimmung brachten jedoch keine klare Linie in ihre Politik. Die Partei befand sich nach wie vor in einem instabilen Zustand. Dies drückte sich auch im Austausch von Führungen aus.

Die KPD wirkte durch die ständigen Herausforderungen, die die instabile Lage in Deutschland mit sich brachte, überfordert. So war sie auf ihrem Leipziger Parteitag (28.1. – 1.2.1923) in Debatten über die Generallinie verstrickt, wo es sich um Auslegung von Einheitsfront bzw. Arbeiter:innenregierung als Taktik drehte. So elementar auch Versuche waren, Klärungen in diesen Fragen herbeiführen zu wollen, hätte die Partei sich nicht mit der Ablehnung des Regierungsaufrufs begnügen dürfen, sondern frühzeitig die Gelegenheit ergreifen müssen, die Situation der Ruhrbesetzung im Interesse der Arbeiter:innenklasse offensiv zu nutzen.

Der linke Flügel, der im Ruhrgebiet eine seiner Hochburgen besaß, verwies auf diese Notwendigkeit, erhob Forderungen nach proletarischen Produktionskontrollen und Warenverteilung sowie die Übernahme von Betrieben in Bergbau und Schwerindustrie. Das teilweise Machtvakuum durch Zersetzung der deutschen Verwaltungen im Ruhrgebiet schien nutzbar, um auch politische Stellungen der Arbeiter:innenklasse ausbauen zu können. Doch in ihrem Eifer schossen die Genoss:innen abenteuerlich übers Ziel hinaus, weil sie einem militärischen Aufstand und davon ausgehenden Fanal für die restliche Republik Erfolgsaussichten einräumten.

Eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg hätte den Blickwinkel für Klassensolidarität aus nationaler Enge weiten und die Aktionsfähigkeit für den Widerstand gegen beide Imperialismen stärken können. Reparationsforderungen und Versailler Vertrag drängten auf eine revolutionär-internationalistische, proletarische Antwort: Gesamteuropäischer Aufbauplan zur Beseitigung der Kriegszerstörungen als Konkretisierung der Forderung nach Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!

Differenzen

Die anfangs zögerliche Haltung der KP-Führung im Ruhrkonflikt rührte von katastrophalen Erfahrungen mit militärischen Abenteuern wie dem Märzaufstand her, in die sich die Partei nicht wieder stürzen wollte. Sie verfolgte die Linie eines allmählichen Kräfteaufbaus und Stärkung der Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenbewegung.

Als zentrales Mittel nahm sie die Einheitsfronttaktik wahr, verknüpfte sie auch mit der Frage einer Arbeiter:innenregierung. Dabei traten gravierende Unstimmigkeiten in der Partei zu Tage. Die Führung setzte sich für eine umfassende Taktik ein, um auf die reformistisch beeinflussten Massenorganisationen SPD und Gewerkschaften einwirken zu können, während die Opposition nur ein Zusammengehen mit Anhänger:innen der SPD an der Basis akzeptierte, wobei sie bei Aktionen ultimativ die Führungsrolle beanspruchte. Eine Unterstützung einer SPD-geführten Regierung lehnte sie ab. Die Mehrheitssozialdemokrat:innen gehörten für den Oppositionsflügel zum linken Rand der Bourgeoisie.

Auf dem Leipziger Parteitag war eine Charakterisierung der Arbeiter:innenregierung als Kompromissformel angenommen worden, die sich deutlich von den Leitsätzen der Kommunistischen Internationale auf dem IV. Weltkongress 1922 unterschied: „Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen Arbeiter:innenpolitik zu betreiben.“ Diese Formel kittete jedoch die Differenzen nicht, sondern übertünchte sie nur.

Kurswechsel

Die ausbleibende Ausweitung von Protesten gegen die Ruhrbesetzung auf das übrige Deutschland schien der Einschätzung der KP-Führung anfänglich noch recht zu geben. Doch die unversöhnlich harte Haltung Frankreichs, dessen gewalttätige Besatzung einen Blutzoll forderte, sowie die schlechte Versorgungslage für die Bevölkerung ließen Streiks und Hungerunruhen immer wieder aufflammen.

Noch im Mai lehnte die KPD-Zentrale einen Machtkampf im Ruhrgebiet als nur dem Klassenfeind im In- und Ausland dienlich ab. Die wirtschaftliche Einschnürung durch die sprunghafte Preisspirale hielt ab Hochsommer das gesamte Land im Griff und ließ die Stimmung gären. Die SPD entzog nun der Cuno-Regierung die Unterstützung. Die Unruhe wuchs auch in den Parteigliederungen der KPD. So musste sich die Führung schließlich zu einer einschneidenden Kurskorrektur bequemen und bereitete sich auf einen Generalstreik gegen die bürgerliche Regierung vor.

Antifaschistischer Tag

Erste Station einer sichtbaren Initiative der Partei sollte der am 11.7. von der Parteiführung beschlossene „Antifaschistische Tag“ am 29.7. mit großem Aufgebot für eine zentrale Demonstration sein. Er sollte zugleich ein Zeichen sowohl gegen die Regierung wie auch reaktionär-nationalistische Kräfte setzen, die die Krise für ihre Zwecke nutzen wollten. Schwirrende Bürgerkriegs- und Putschgerüchte von rechts und links hatten die Regierungsstellen aufgeschreckt. Die Behörden ordneten für diesen Tag ein Verbot jeglicher Aufmärsche an. Die KP-Führung sagte daraufhin die Demonstration ab.

Diese Entscheidung empörte die Parteiopposition, was sich auf der folgenden Sitzung des Zentralkomitees in einem Disput über die Parteilinie entlud. Sie machte geltend, dass den Massen unbedingt ein Signal hätte gegeben werden müssen, um die Machtfrage unter Führung der KPD zu stellen. Die Leitung bestand wiederum darauf, dass der Augenblick zur Errichtung einer proletarischen Diktatur erst gekommen sei, wenn die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter:innen gewonnen werden könne. Die bürgerliche Herrschaft würde selbst zur gegebenen Zeit zusammenbrechen.

In der Schlusserklärung einigte man sich auf die Notwendigkeit, die derzeitige Regierung so bald wie möglich zu Fall zu bringen und eine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierumg“ zu fordern. Doch der Zwist innerhalb der Partei war abermals nicht beigelegt.

Streik gegen die Regierung

Da die Ausstände auf Fabrikebene und Zusammenstöße mit der Ordnungsmacht zugenommen und auf das gesamte Deutsche Reich seit Juni übergegriffen hatten und sich zunehmend auch gegen die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Reichsregierung wandten, gab die KP-Führung dem Drängen der linken Basis aus dem Betriebsrätemilieu nach und sah sich veranlasst, das Kampfmittel des Generalstreiks anzuwenden.

Die Vorzeichen standen nicht ungünstig, denn die KPD hatte seit Ende 1922 dank gezielter Einheitsfrontarbeit nicht nur ihre Mitgliederzahl vergrößern, sondern auch ihr organisatorisches Umfeld bis tief in mehrheitssozialdemokratische Arbeiter:innenkreise ausdehnen können. Bei ihrer Heerschau musterte die KPD im Juli 1923 allein 4.000 kommunistische Gewerkschaftsfraktionen. Bei den Betriebsräten im Metallarbeiter:innenverband Berlin-Brandenburg belief sich das Überzahlverhältnis der KPD- zur SPD-Angehörigkeit sogar auf etwa 2:1.

Die KPD-Betriebsräte hatten im Verein mit linken Sozialdemokrat:innen rasch den „Fünfzehnerausschuss“ als Verbindung zwischen den Fabrikausschüssen der Hauptstadt formiert. Dieser rief zum Generalstreik auf. Das Berliner Gewerkschaftskartell trat zusammen, beschloss jedoch unter dem Einfluss der rechten SPD-Führung, sich dem Streik nicht anzuschließen. Er wurde dennoch ausgerufen, begann aber merkwürdigerweise am 11.8., einem Sonnabendabend. Jedoch die Eisenbahner:innen befolgten den Streikaufruf nicht. Die Streikfront bröckelte im Laufe des Montag. Die KP-Zentrale entschied sich daher zum Abbruch der Aktion.

Entscheidend für das Scheitern dieses Streikversuchs war auch, dass die Bourgeoisie mittlerweile sehr wendig gehandelt hatte. Sie sah, dass die alte Regierung nicht mehr zu halten war. Diese demissionierte am 12.8. Einen Tag später schon stand eine neue unter Stresemann (liberal-konservative Deutsche Volkspartei). Dem Klassenfeind in den Steigbügel half erneut die MSPD und beteiligte sich auch an dem neuen Kabinett. Die Aufgabe des passiven Widerstands und ein radikaler Währungsschnitt als Lösung der Hyperinflation wurden vorbereitet.

Die Haltung der Kommunistischen Internationale

Diese versuchte, in den Streitigkeiten zwischen den beiden Flügeln zu vermitteln, und stand anfangs eher auf Seiten der KPD-Führung. Deren Politik der Arbeiter:inneneinheitsfront trug bereits 1922 Früchte und schien verlässlicher als der oft sprunghafte Voluntarismus der Opposition. Zwar war in der KI die Anschauung verankert, dass Deutschland die zentrale Rolle als Zündfunke für die sozialistische Weltrevolution einnehmen sollte, und sie hatte ihrer internationalistischen Verantwortung bewusst entsprechend gehandelt und Verbindungen zu der französischen Sektion aufgenommen, doch diese Arbeit nach der Frankfurter Konferenz nicht mit der Entsendung von Material, Personal und Ausgabe politischer Direktiven energisch fortgesetzt. Sie wurde erst im Zusammenhang mit Aufstandsplänen für Oktober 1923 wieder aufgegriffen. Die Dimension der Ruhrbesetzung wurde tendenziell unterschätzt.

In der KI selbst zeichnete sich jedoch eine Uneinigkeit über den Kurs ab. Sinowjew und Bucharin teilten ein halbes Jahr später ab Sommer 1923 im Wesentlichen die Einschätzung des Fischer/Maslow-Flügels und drängten in einer abrupten Wendung auf eine proletarische Erhebung. Sie ließen sich anscheinend von einem überzeichneten Bild der Verhältnisse leiten. Es herrschte die Einschätzung vor, dass in Deutschland die Bourgeoisie bankrott wäre und sich die Lage in Arbeiter:innen- und aufkommende faschistische Massenbewegung polarisierte, die Situation auf einen Bürgerkrieg zusteuerte. Der objektiv revolutionären Lage fehlte jedoch die subjektive Reife.

Der Verlauf des Generalstreikversuchs im August hätte eine Warnung sein müssen.

Hoernle, neben Zetkin deutsches Mitglied im Exekutivkomitee der KI, kritisierte in einem Brief an Brandler vom 3 .7.1923 die in der KI-Führung bereits im Schwange befindlichen Gedanken an einen Aufstand und merkte an, dass die Betriebshundertschaften in Deutschland zunächst noch „nicht Organ des bewaffneten Kampfes und als bewaffnete Macht noch kaum aktionsfähig“ sein würden.

Die KI-Führung hätte zum einem die Brandler-Führung, die zu behäbig darauf zu warten schien, dass die Bourgeoisie von allein zusammenbrechen würde, auf Trab bringen, und andererseits dem zumeist dilettantisch vorschnellen Aktionismus der KP-Opposition die Zügel anlegen müssen. Ein international koordiniertes Eingreifen mit einer straff strukturierten Vorbereitung hätte bereits mit Beginn der Ruhrbesetzung einsetzen und kontinuierlich fortgeführt werden müssen. Dies und ein klares politisches Programm, das die nationalbolschewistischen Flausen und sektiererischen Irrwege hätte austreiben müssen, hätten die Erfolgsaussichten auf eine siegreiche Revolution in Deutschland und darüber hinaus sicherlich erhöht.

Das Interview zwischen Trotzki und Walcher (17. – 20. August 1933) bringt die Politik von KPD und KI zwischen Jahresbeginn und Oktober 1923 ähnlich auf den Punkt: „Zum Punkt 1923 fuhr Gen. L. T. fort zu bekräftigen, dass zu dieser Zeit, hervorgerufen durch eine schlechte Politik, große objektive Möglichkeiten für den revolutionären Kampf vermasselt worden sind. Aber er denke überhaupt nicht, dass der entscheidende Fehler im Oktober zur Zeit der Chemnitzer Konferenz begangen worden sei. Er hat daran erinnert, er habe schon 1924 die Situation des Jahres 1923 mit der eines Reiters verglichen, der sein Pferd vor einem aufgetürmten Hindernis zu sehr am Zügel gehalten habe und dem folglich nur zwei Möglichkeiten blieben: entweder vor dem Hindernis zurückzuweichen oder trotzdem den Sprung zu wagen, der nur nach gewaltigem Anlauf erfolgreich hätte sein können, und sich infolgedessen den Hals zu brechen. Die KPD, kraft der falschen Politik ihres Zentralkomitees und auch zweifellos der Exekutive der Kommunistischen Internationale, war genau in die Lage dieses Reiters versetzt.“