Frauenzeitung von ArbeiterInnenmacht und Revolution – Editorial

Redaktion, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Ihr haltet die dritte Ausgabe der Frauenzeitung der GRUPPE ARBEITERMACHT in den Händen – und die zweite, die wir gemeinsam mit der uns eng verbundenen Jugendorganisation REVOLUTION geschrieben und erstellt haben. Die Auswahl der Artikel deckt ein großes Feld der Erscheinungsformen und der Ursachen der Frauenunterdrückung ab und zeigt auch Perspektiven auf, was wir gemeinsam dagegen tun können.

Die Situation der Frauen in Rojava hat uns alle sehr beschäftigt und uns gezeigt, dass der Kampf der Frauen für Freiheit und Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier funktioniert. Deshalb haben wir uns damit in einem langen Artikel in dieser Zeitung beschäftigt. Wir hoffen, er inspiriert viele Leserinnen so wie uns, dass Organisierung und das politische Programm die wichtigsten Voraussetzungen sind, um den Kampf gegen Unterdrückung zu gewinnen.

Aber es spielt auch eine große Rolle, wie eine politische oder gewerkschaftliche Gruppierung strukturiert ist. Gibt es innerorganisatorische Strukturen, die garantieren, dass alle besonders unterdrückten Gruppen gleichberechtigt beteiligt werden? Gibt es ein Bewusstsein und entsprechende Regeln, die gewährleisten, dass besondere Förderung für Benachteiligte umgesetzt wird? Damit sich Bewusstsein entwickelt, braucht es die Darstellung der ganz unterschiedlichen Unterdrückungsmechanismen, die uns im Alltag oft als „ganz normal“ erscheinen.

Sie alle haben das Ziel, Spaltungen unter den Ausgebeuteten und Unterdrückten zu reproduzieren, die eigentlich ein gemeinsames Interesse haben! Für uns bedeutet das schlussendlich ein Klassenbewusstsein zu entwickeln und damit eine Solidarität innerhalb der und für die eigene Klasse, die ArbeiterInnenklasse, die uns dann befähigt, gegen die Unterdrücker gemeinsam anzutreten.

Wir hoffen, die Darstellung der vielfältigen Formen der Ungleichheit ist uns gelungen und laden alle ein, sich kritisch mit unseren Artikeln auseinanderzusetzen – und mit uns in Kontakt zu treten. Wir wollen viele neue Mitstreiterinnen und Mitkämpferinnen gewinnen.




Frauenkampf in Westkurdistan: Gegen Repression, Patriarchat und Krieg

Nina Berger, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Nach Jahren der Gleichgültigkeit oder auch der Paralyse insbesondere linker Bewegungen und Parteien gegenüber dem revolutionären Aufbruch in Syrien gibt es seit Sommer 2014 eine erstaunliche Wendung. Sie gilt der Aufmerksamkeit für den Kampf des kurdischen Volkes in Rojava, Westkurdistan.

Die internationale kurdische Gemeinschaft initiiert eine breite Solidaritätsbewegung und der Widerstand der Kämpferinnen und Kämpfer in der westkurdischen Stadt Kobanê ist auf einmal weltweit das Symbol für Selbstbestimmung und Frauenrechte. Wie kam es dazu, was wurde erreicht und welche Perspektive bietet sich? Für die Beantwortung der Fragen werden wir eine Analyse der aktuellen Situation versuchen und dazu einige Spezifika des Lebens der kurdischen Frauen in einer historischen Dimension, in Verbindung mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der dahinterstehenden Ideologie darlegen.

Errungenschaften

Fest steht, dass der Befreiungskampf in Rojava schon jetzt zu enormen Errungenschaften für die Frauen geführt hat, die im Nahen und Mittleren Osten ihresgleichen suchen: So hat die Regierung des autonomen Kantons Cizîrê am 5. November 2014 mit dem Dekret Nr. 22 die Gleichheit von Frauen und Männern in Bezug auf Löhne, die berufliche Stellung, auf Erbrecht und auch auf Zeugenaussagen vor Gericht verkündet. Das Dekret verbietet gleichfalls die Verheiratung junger Frauen ohne deren Zustimmung und die Polygamie. Dieses Dekret und die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte können dazu beitragen, die gesellschaftliche Transformation in Rojava zu festigen und auf den Mittleren Osten ausstrahlen zu lassen.

Ohne die aktive Beteiligung tausender Frauen in den Selbstverteidigungskräften, in der YPJ, ohne die Bildung von Frauenräten und die Vertretung von Frauen auf allen Ebenen der politischen Gremien und des öffentlichen Lebens wäre diese Entwicklung unmöglich.

Hergang

Inmitten des syrischen Bürgerkrieges etablierten die KurdInnen in Rojava, Westkurdistan, im Sommer 2012 von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt ihr eigenes System. Sie übernahmen die Kontrolle über die Städte und Dörfer im kurdischen Norden Syriens entlang der Grenze zu den kurdischen Gebieten der Türkei in drei voneinander abgetrennten Kantonen (Verwaltungsbezirken), nämlich Efrin, Kobanê und Cizîrê.

Der syrische Bürgerkrieg, dem bis dahin schon Hunderttausende zum Opfer gefallen waren und der in den anderen Landesteilen tobte, blieb dem kurdischen Teil Syriens bis zum Sommer 2013 weitgehend fern. Dass es eine Art Übereinkunft mit dem Assad-Regime gab, wird von kurdischer Seite aus bestritten. Die offene Unterstützung der syrischen Revolution und der gegen Assad kämpfenden Freien Syrischen Armee (FSA) unterblieb. In Rojava sollte ein so genannter „Dritter Weg“ etabliert werden. Dieser beinhaltete auch, dass sich die kurdischen Verbände der Unterstützung des Kampfes demokratischer und fortschrittlicher Kräfte gegen das Assad-Regime enthielten. Dies war nicht nur gegenüber der syrischen Revolution höchst problematisch, sondern bleibt es auch für die Zukunft Rojavas. Sobald eine reaktionäre Kraft im syrischen Bürgerkrieg die Oberhand gewinnen wird – sei es das Assad-Regime oder der Islamische Staat – wird der Sieger seine Ansprüche auf das Gebiet geltend machen, ohne dass es inner-syrische Verbündete für die kurdische Sache gibt.

Die KurdInnen bauten in Rojava ab Juli 2012 eine Selbstverwaltung auf. Sie begannen kurdisch-sprachige Schulen, in der Türkei immer noch von den türkischen Behörden mit massivem Polizeieinsatz verhindert, eine Universität, eine eigene Gerichtsbarkeit und vor allem Rätestrukturen aufzubauen, die als lokale und regionale Selbstverwaltungsorgane fungieren. Und das ist erst einmal absolut erstaunlich in Anbetracht eines kompletten Jahrhunderts der Unterdrückung und Verleugnung der kurdischen Identität durch alle Besatzungsmächte auf kurdischen Gebieten, sowohl in der Türkei, dem Iran, Irak als auch in Syrien und der Tatsache, dass dieser Landstrich von 2,5 Millionen KurdInnen, AraberInnen, TurkmenInnen, ArmenierInnen und TschetschenInnen bevölkert wird, die hier zusammen leben und nebenbei auch noch komplett unterschiedliche Glaubensrichtungen haben: Aramäer- und AssyrerInnen, ChaldäerInnen, EzidInnen und Muslime.

Die KurdInnen organisierten sich, schlossen sich in 16 kurdischen Parteien zusammen und gründeten den „Hohen Kurdischen Rat“ als Dachorganisation. Sie schafften es, 1,2 Millionen Menschen aus den umkämpften syrischen Städten wie Aleppo oder Damaskus und EzidInnen aus dem Irak, die in die sicheren kurdischen Kantone flohen, aufzunehmen und diese Flüchtlinge trotz der Embargopolitik seitens des türkischen Staates und der „Autonomen Republik Kurdistan“ (Irakisch-Kurdistan) an der Ostseite, in die Gesellschaft in Rojava auch politisch zu integrieren. Eine Leistung, die ihresgleichen sucht.

Selbstorganisation als Schlüssel

Die Frauen übernahmen dabei ähnlich den Frauen im arabischen Frühling eine Vorreiterinnenrolle der Revolution. In den kurdischen Gebieten und auch bei anderen nationalen Minderheiten wurden Räte organisiert, die jedoch nur bedingt die arabische Bevölkerung umfassten, die generell ökonomisch besser gestellt ist. Von den Kommunen als Stadtviertelräte bis hin zum Volksrat von Westkurdistan existieren diese Strukturen. Viele Berufsgruppen, Frauen- und Jugendverbände sowie ethnische und religiöse Minderheiten entsenden eigene Vertreter.

Es entstanden parallel dazu eigene Frauenräte. Die kurdischen Frauen zeigen, dass Selbstorganisierung nicht nur gegen die zunehmenden äußeren Angriffe schützt, sondern zugleich auch ein Mittel ist, sich gegen die patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft zu wehren. In ihren Versammlungen werden alle Arten von Frauenunterdrückung thematisiert und in die Gesellschaft zurückgetragen. Das Private wird politisch und der größte Teil der kurdischen Bevölkerung unterstützt dieses System.

Die politische Organisierung hatte zur Grundlage, dass die Thematik Frauenbefreiung für die politisch bewussten Frauen nie eine Angelegenheit war, die sich auf die Zeit nach der Revolution verschieben ließ. Die Frauenunterdrückung wird als Hauptwiderspruch und Haupthindernis für Demokratie in den politischen Programmen der PKK und ihrer Schwesterpartei, der PYD, verankert. Die Errungenschaften der Frauen in Rojava sind also nicht zu trennen vom politischen Kampf der kurdischen Frauen. „Die Revolution in Rojava ist zuallererst die Revolution der Frau“ steht in den programmatischen Ausführungen Öcalans.

Diese Errungenschaften sind bei allen kritischen Momenten, auf die wir später zurückkommen, schwer zu überschätzen. In einer permanenten Kriegssituation ist es für jede Partei, für jedes Volk unumgänglich, einen großen Teil der eigenen Ressourcen zur Verteidigung zu verwenden – geschätzt bis zu 70 Prozent in Rojava. Dies bedeutet aber auch, dass die reale quasi-staatliche Gewalt in den Kantonen bei den führenden politischen Kräften, v.a. der PYD und den Selbstverteidigungskräften, und eben nicht einfach bei „Räten“ und der „Basis“ liegt. Das ist ein Stück weit auch unvermeidbar. Wir stellen den Notwendigkeiten der militärischen Verteidigung Rojavas kein abstraktes „Demokratiemodell“ gegenüber. Aber es ist auch klar, dass der Programmatik der PYD/PKK als führender politischer Kraft eine zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, den Fortgang, aber auch für mögliche Grenzen der Frauenbefreiung und des Verständnisses der Revolution zukommt. Bevor wir uns damit beschäftigten, werden wir aber auch auf die Lage der Frauen, nicht nur die politischen Strukturen, sondern auch die tradierte gesellschaftliche Arbeitsteilung in Kurdistan, eingehen.

Frauenunterdrückung

Ebenso wie die Situation der Kurdinnen in den durch die Türkei kontrollierten Gebieten sind die syrischen Kurdinnen einer vielfachen Unterdrückung ausgesetzt. Umso stärker ist ihr Engagement und ihre aktive Rolle in der Organisierung der Strukturen zu bewerten. Sie kämpfen an der Front, in Kommandopositionen und nehmen an der Produktion teil. Es gibt de facto keinen Ort in Rojava, an dem keine Frauen zu sehen sind.

Frauen haben die gesellschaftlichen Aufbrüche des Mittleren Ostens von Anfang an mitgetragen. Doch während die Frauen in den übrigen Ländern nach der Machtübernahme durch radikalislamische oder reaktionäre bürgerliche Kräfte in eine noch viel prekärere Situation gerieten, konnten sich die Frauen in Rojava, abgesehen von den im Spätsommer 2014 erfolgten IS-Angriffen auf Kobanê, die den Großteil der Stadtbevölkerung zur Flucht in die Lager oder Elendsgebiete auf türkischer Seite zwangen, bisher davor schützen. Auch Frauen in Rojava, also Westkurdistan, den übrigen Siedlungsgebieten und den syrischen Städten waren bisher analog zu den Kurdinnen in der Türkei und den anderen besetzten kurdischen Siedlungsgebieten massiver Unterdrückung ausgesetzt. Diese erfolgte über den repressiven rassistischen Staat, der ihnen als KurdInnen die elementarsten Grundrechte, die eigene Muttersprache zu sprechen oder auch die Staatsbürgerschaft, verweigerte. KurdInnen waren und sind zudem gegenüber der arabischen Bevölkerung ökonomisch stark benachteiligt. Unabhängigkeitsbestrebungen wurden, nachdem sich das Assad-Regime nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dem Westen zuwandte, mit aller Härte bekämpft. Dazu kommt aber auch noch die patriarchale Unterdrückung, von der sich die Kurdinnen unter den vorherrschenden Bedingungen nicht befreien konnten.

Zu den Spezifika der Situation der kurdischen Frauen gehören die noch aus vorkapitalistischen Zeiten, die in den PKK-Schriften als feudale Gesellschaften bezeichnet werden, die aber eher – wie das osmanische Reich auch –  eine Form der „asiatischen Produktionsweise“ darstellen, stammenden Familienstrukturen in einer politisch und ökonomisch unterentwickelten Region. Das Elend und die Machtlosigkeit in den kurdischen Gebieten waren der Aufrechterhaltung der vorherrschenden Strukturen enorm zuträglich. Dennoch waren und sind die Lebenssituationen der kurdischen Frauen sehr unterschiedlich und wie immer entscheidend von der Herkunft und der sozialen Schicht innerhalb der kurdischen Gesellschaften abhängig. Ob Stadt, ob Land, Kleinbäuerin oder Großgrundbesitzerin, generell die Klassenzugehörigkeit oder die Zugehörigkeit zur Gruppe der Binnenflüchtigen macht hinsichtlich der Arbeitsbelastung, der materiellen und finanziellen Bedingungen den entscheidenden Unterschied.

Zugleich sind nationale, rassistische, sexistische und politische Unterdrückung seitens der Besatzerstaaten für alle Kurdinnen ein Tatbestand. Dies verdichtet sich mit patriarchalen Verhältnissen zu einer teilweise grauenvollen Szenerie. Allgemein gilt sowohl in der kurdischen als auch in der arabischen Gesellschaft die strikte Trennung der Frauen- und Männerwelten. Dabei ist die Frau für die Haus-, Versorgungs- und Pflegearbeit zuständig, wohingegen der Mann sich um die Lohnarbeit, öffentliche Angelegenheiten und Kontakte nach außen kümmert. Dass dabei nicht von einer gerechten Trennung im Hinblick auf die Arbeitsbelastung ausgegangen werden kann, braucht nicht gesondert erläutert zu werden. Insbesondere in den landwirtschaftlichen Gebieten, in Abhängigkeit von Subsistenzwirtschaft, in Mangel und Armut haben vor allem Frauen die Hauptlasten zu tragen, sind oftmals völlig rechtlos und ohne eigene soziale Absicherung. Dabei wird überdeutlich, dass die vorherrschenden Strukturen eben nicht der körperlichen Konstitution der Frauen,  sondern ganz klar patriarchalen Mustern geschuldet sind.

Traditierte Wertvorstellung

Es hält sich hartnäckig das Muster, das Ansehen der Frau an der Anzahl ihrer Kinder festzumachen, was in Verbindung mit schlechter Gesundheitsvorsorge ein enormes Risiko birgt. Doch Frauen haben billig zu arbeiten und Kinder zu bekommen und auf jegliches Selbstbestimmungsrecht zu verzichten. Wie in allen Teilen Kurdistans und des Mittleren und Nahen Ostens werden Frauen traditionell sehr jung verheiratet, auch als Zweit- oder Drittfrau an einen viel älteren Mann. Die „Ehre“ des Mannes und der Familie manifestiert sich traditionell über die „Jungfräulichkeit und Reinheit“ der Frau. Darin drücken sich vorkapitalistische Strukturen der Frauenunterdrückung aus, worin diese nicht als freie Warenbesitzerin, sondern als Unfreie auftritt – was sich auch darin zeigt, dass sie einen Preis hat: den Brautpreis.

Mädchen wurden gehindert, die Schule zu besuchen oder einen Beruf zu erlernen; einzig die Heirat war die Perspektive. Zwangs- und arrangierte Ehen sind an der Tagesordnung, ebenso Gewalt. Und diese insbesondere in der Familie durch Väter und Männer. Die ökonomische und politische Unterdrückung der KurdInnen wurde nicht selten durch die Männer an die eigene Familie, an die Frauen und Kinder weitergegeben, statt sich gegen die Unterdrücker zur Wehr zu setzen. Die übrige Gesellschaft unterstützt in großen Teilen immer noch obendrein die Annahme, dass die Familienehre  hauptsächlich von der Kontrolle über Frau und Kinder abhinge.

Dieses Phänomen ist nicht nur in der islamischen Welt weit verbreitet, sondern hat seinen Hintergrund in den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft, den Strukturen und den daraus erwachsenden Abhängigkeiten. Es auf die Religion zurückzuführen, blendet in der Regel die dahinterliegenden Faktoren aus und führt nicht selten zu antimuslimischen Ressentiments. Den Frauen einer traditionellen kurdischen Familie ist es verboten, Beziehungen mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann einzugehen. Verstößt eine Frau gegen diese Regel, verletzt sie damit die Ehre ihrer Familie und diese gilt als befleckt. Dabei hat es keinerlei Bedeutung, ob die Frau mit dem z.B. sexuellen Kontakt einverstanden ist oder ob eine Vergewaltigung erfolgte – was bekanntermaßen gerade in der Türkei nach sexueller Gewalt durch den türkischen Staat an kurdischen Frauen zu katastrophalen Situationen geführt hat, welche die kurdischen Frauen erst nach langen Kämpfen sichtbar machen und sich dagegen wehren konnten. Es kann indes immer noch dazu führen, dass männliche Familienmitglieder, um die Ehre wieder herzustellen und den eigenen sozialen Tod zu verhindern, die Frau töten, wogegen auch verschärfte Gesetze wenig ausrichten konnten.

In Anbetracht dieser Bedingungen ist es erstaunlich, dass Frauen aus diesem schweren Schatten heraustraten und den mutigen Schritt hin zur Selbstorganisation bis hin zur Etablierung von Frauenräten vollziehen konnten. In Gesellschaften, in denen der Ehrbegriff wesentlich stärker über die Existenz wegen des Rückhaltes in den traditionellen Strukturen entscheidet, kann diese Entscheidung nur aufgrund der Entwicklung einer politischen, gesellschaftlichen Kraft gesehen werden, die die Frauen als Kämpferinnen organisiert und ihr politisches Selbstbewusstsein stärkt. Die PKK und die PYD boten den Frauen nicht nur eine gegen das Patriarchat gerichtete Ideologie an, sondern auch eine Alternative zur Existenz als Unterdrückte im Haushalt.

Die Entscheidung, dass die Frauen im öffentlichen Raum agieren, setzt zumindest voraus, dass die ursprüngliche Zwangsbestimmung der Frau für Heim und Küche an irgendeinem Punkt aufgebrochen wurde. In den kurdischen Gebieten in der Türkei manifestierte sich dies in den Ergebnissen des Kampfes gegen das türkische Militär, das viele Frauen aufgrund von Verhaftung oder Tod des Ehemanns zur Alleinversorgerin machte und eine außerhäusliche Arbeit und öffentliches Leben erzwang. Ebenfalls brachte der politische Kampf in der kurdischen Befreiungsbewegung die Frage der Frauenbefreiung zentral auf die Tagesordnung.

Es ist zu folgern, dass ähnliche Bedingungen auch für die Kurdinnen in den syrischen Gebieten vorherrschen mussten. Die Unterdrückung durch das Assad-Regime hatte zwar einen anderen Hintergrund als die Angriffe der türkischen Regierung auf Nordkurdistan, dennoch fürchtete auch Assad die Unabhängigkeitsbestrebungen der KurdInnen und überzog sie mit massiver Repression. Allein die Tausende von Frauen, die sich auch aus Westkurdistan der PKK-Guerilla angeschlossen haben, zeugen von Familienstrukturen, vor denen massenhaft in die Guerilla geflüchtet wurde, aber insbesondere nach politischen Kämpfen wie dem Serhildan oder dem Südkrieg von mehr und mehr politischem Kampfeswillen der Frauen.

Ideologie

In der PKK wurde zwar von Beginn an die Frage der nationalen Befreiung mit der Frauenbefreiung verknüpft. In den ersten Jahren wurde sie jedoch wie jede andere politische oder soziale Frage vollständig dem „Hauptwiderspruch“, der Lösung der nationalen Frage, untergeordnet.

Später löste die Frauenfrage die nationale Unterdrückung als Hauptwiderspruch ab. Dafür wurde eine Ideologie entworfen und weiterentwickelt, die nicht allein aus der Feder Öcalans, sondern auch von den Guerillakommandantinnen stammt und die eine absolut frauenspezifische Legitimation in Rahmen des Befreiungskampfes des kurdischen Volkes darstellt, dessen Ziel nicht nur die Integration der Frauen in den Kampf war, sondern klar definiert, dass ohne die Frau der Kampf gar nicht möglich ist.

Dazu wurde eine die Existenz eines Matriarchats im antiken Mesopotamien, also auf kurdischem Gebiet, konstatiert (1), das durch die Herausbildung eines gesellschaftlichen Mehrproduktes und dessen privatisierter Aneignung durch die Männer, also die Entstehung des Patriarchats, entmachtet wurde. Die Versklavung der Frau und alle negativen Eigenschaften wie Egoismus, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit werden auf die Entstehung des Patriarchats zurückgeführt und sind wie auch die Entstehung von Staaten und der Charakter des Kapitalismus durchweg männlich negativ konnotiert.

Weibliche Werte?

Der Frau werden in dieser Sichtweise die klassischen weiblichen Werte attestiert und soziale Kompetenzen daraus abgeleitet. Frauen seien demzufolge aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit für konstruktive Harmonie, Frieden, Freiheit und Demokratie. Sie wären aufgrund ihrer herausragenden Rolle in der matriarchalen Vergangenheit die natürlichen Trägerinnen des „Sozialismus“. Die Machtübernahme durch das Patriarchat führte zur Unterdrückung der Frauen, ja letztlich des gesamten kurdischen Volkes.

Die vorherige Periode der Frauengesellschaft wird als das goldene Zeitalter dargestellt, das die Schlüsselrolle bei einer Wiedererweckung der kurdischen Nation spielen soll. Die „neolithische Dorfrevolution“ sei die Ursache der heutigen Sehnsucht der Menschheit nach einem natürlichen und freien Leben. Dieser Mythos, der sich organisch mit dem Wesen der Frauen verbinde, die aufgrund ihrer Gebärfähigkeit und der damit einhergehenden Verbundenheit mit der Natur über die Geheimnisse des Lebens verfügen, wird zur zentralen Figur in zahlreichen Texten Öcalans und der kurdischen Frauenbewegung.

Die Diskussionüber Matriarchat und Frauen wird stark biologisiert geführt. Quasi naturgegebene Eigenschaften werden sowohl Männern als auch Frauen attestiert. Darin liegt auch die besondere Verantwortung der Frauen für die Kinder, die die Männer erst noch erlernen müssen. Frauen wird Pazifismus unterstellt, während der Mann als kriegerisch kategorisiert wird. Ebenso verfügen Frauen über bessere Konfliktlösungsstrategien und das nicht, weil sie diese gegebenenfalls unter Druck der vorherrschenden Verhältnisse besser trainiert haben, sondern via biologischer Eigenschaft.

Da die kurdische Gesellschaft, so Öcalan, insgesamt zu den Wurzeln des alten Mesopotamien, also zum Matriarchat zurückkehren möchte, ist die Rolle der Frauen im Kampf auch so zentral. Die Unterdrückung des kurdischen Volkes und der kurdischen Frau kann also nur durch eine Befreiungsperspektive überwunden werden, in der beide Faktoren gegenseitig voneinander abhängig sind. Ohne das Erwachen der Frau keine Befreiung Kurdistans. Damit wird die bisher völlig erniedrigte Rolle der kurdischen Frau über alle Maßen erhöht und ihre Vorreiterinnenrolle maßgeblich begründet.

Der radikale Bruch mit dem bisher rassistisch, durch die Besatzungsstaaten in Verbindung mit Clanstrukturen und einer die Unterdrückungsverhältnisse rechtfertigenden und stabilisierenden Religion konstruierten Bild der kurdischen Frau und ihre nun erfolgte extreme Erhöhung führt aber zu einem tief sitzenden inneren Widerspruch, der weitreichende Folgen für die Frauenbewegung hat. Einerseits ist er eng mit einer enormen Bereitschaft zur Organisierung verbunden – andererseits bindet er die Frauen ungewollt an ihre traditionelle Rolle.

Aus kritischer Perspektive ist der mythische Bezug natürlich nicht zu teilen. Weiter ist herauszustellen, dass, so wichtig die maßgebliche Rolle der Frauen für den Kampf um die Befreiung ist, diese Zuschreibungen ihnen enorme Lasten aufbürden. Nicht nur eine weitere Fixierung und Festlegung auf ein Frauenbild ist kritikwürdig. Z.B. könnte ein etwaiges Versagen im Befreiungskampf bzw. die Zuspitzung äußerer Faktoren durch übermächtige Gegner einer mangelnden patriotischen Bereitschaft der Frauen zugeschrieben werden. Andere objektive Faktoren, die bei der Demokratisierung der Gesellschaft – von Sozialismus ist im Frauenbefreiungskampf der PKK/PYD keine Rede mehr – eine Rolle spielen könnten, werden nicht erwähnt.

Fehlende Klassenanalyse

Es findet sich weder eine Analyse der kurdischen Gesellschaften noch die Einordnung ihres Kampfes in den bestehenden Staaten in die weltpolitische Lage. Gerade aber die syrische Revolution war die Wegbereiterin und Katalysatorin für das Projekt Rojava. Und jede Veränderung in der politischen Gemengelage wird sich auf die Situation Rojavas auswirken. Und es fragt sich obendrein, warum der Sozialismus, wenn er schon der Frau innewohnend konstatiert wird (2), nicht auf der politischen Agenda im Sinne der Frauenbefreiung ganz oben steht. Hier zeigt sich eine enorme und, falls sie nicht überwunden wird, fatale Schwäche des Programm der PKK/PYD. Ihr Verständnis von Sozialismus ist letztlich der „Vision“ eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus entnommen, wobei im „Sozialismus“ der PKK die Genossenschaften und nicht wie im traditionellen sozialdemokratischen Reformismus die Staatsintervention und Verstaatlichung die Schlüsselrolle spielen. Eine Gesellschaft jenseits der Marktwirtschaft oder gar eine demokratische Planwirtschaft taucht in der Programmatik nicht auf, ja, wird oberflächlich mit der Kritik am Stalinismus (Staatssozialismus) gleich mit entsorgt.

Die Zuschreibung sozialer Eigenschaften legt Frauen weiterhin auf ihre Rolle als Mutter fest. Sie ist die Erzieherin und Persönlichkeitsbildnerin der Kinder, die Übermittlerin von Kultur durch die Weitergabe von Sprache, Musik, Essgewohnheiten, von Moral und Werten. Trotz der Unterdrückung des kurdischen Lebens ist die zugeschriebene Bindung der Frau an die Tradition zweischneidig. Wenn die Weitergabe der Kultur gefordert wird, ist es aktuell die patriarchale Kultur, in der die Frau die Sklavinnenrolle und die damit verbundene Mentalität weitergibt. Kann sie sich dieser einzig durch die Übernahme einer neuen Ideologie entledigen?

Kultur und Nation

Neben der wissenschaftlich nicht begründeten Zuschreibung von biologischen Charaktereigenschaften ist die Aufgabenzuteilung an die Frauen eine weitere Festlegung, die zwar ihre Begründung in dem Erhalt der kurdischen Kultur gegenüber den Unterdrückerstaaten hat, doch gerade die Zuweisung der Verantwortung an die Frauen, die zuerst die Unterordnung unter den Mann abtrainieren müssen, ohne bisher dafür vielfach eine ausreichende ökonomische Grundlage zu besitzen, ist das eine Festlegung auf tradierte Rollen. Eine ausschließlich ideologische Transformation wird nicht stattfinden bzw. wird, wenn sie nicht ökonomisch auf der Unabhängigkeit der Frauen fußt, von jeder Reaktion wieder einkassiert. Aber die Ideologie der PKK/PYD hat sich neben dem Stalinismus auch vielfach der marxistischen Analyse entledigt und erscheint bei unserer bisherigen Untersuchung als ein über weite Strecken doch recht idealistisches Konstrukt mit Versatzstücken unterschiedlicher Weltanschauungen plus einer gehörigen Portion Mystizismus, das Stringenz oftmals vermissen lässt.

Ähnliches Verständnis gilt für die Familie, die sowohl als „hauptsächliche und standhafteste Festung des Mannes“ (3), als „kleinste Zelle in der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur“ und als das „Grab der Frau“, „Schacht ohne Boden“ (4) erfrischend scharf kritisiert, aber eben gleichermaßen auch als Hort kurdischer, bewahrenswerter Kultur definiert wird. Die Rolle der heutigen Familienstrukturen wird nicht grundlegend in ihrer Funktion zur Aufrechterhaltung patriarchaler und kapitalistischer Verhältnisse und als Ort der privaten, unentgeltlichen, meist weiblichen Hausarbeit analysiert. Die Rolle der Familie für ein neues Kurdistan wird vielmehr neu interpretiert und soll Reformen erfahren, wird im Kern aber nicht infrage gestellt, geschweige denn eine darüber hinausweisende Perspektive entwickelt.

Familie und Lohnarbeit

Also keine Fragestellung danach, was Frauen und auch Männer real benötigen, um die verkrusteten unterdrückenden Familienstrukturen hinter sich lassen zu können. Auch nicht danach, welche ökonomischen Grundlagen und welche Übernahmen „hausfraulicher“ Tätigkeiten gesellschaftlich neu organisiert werden müssen. Es finden sich weder konkrete Vorstellungen von neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens noch ein Hinweis auf die ökonomische Basis, die das freie Zusammenleben aller mit allen ermöglicht. Die Befreiung und Überwindung der bisherigen Geschlechterrollen kann nicht diktatorisch erfolgen, wenn dies nicht mit Perspektiven, Forderungen und Übergangsszenarien verbunden wird. Bleibt man bei den mit dem Kapitalismus verbundenen Lebensverhältnissen stehen, zieht auf jeden Fall bekanntermaßen die Frau wieder den Kürzeren. Frauenunterdrückung würde nicht aufgehoben, sondern den Erfordernissen angepasst.

Öcalan, die PKK und die PYD haben offensichtlich auch kein Konzept für die Befreiung der Lohnarbeiterinnen, dem Herzstück der marxistischen Theorie der Befreiung der Frau. Obwohl die „Hausfrauisierung“ durch den Kapitalismus als die brutalste Methode des Ausschlusses der Frauen aus der Wirtschaft angeprangert wird, fehlt ein Szenario, ein Programm oder auch nur Forderungen, wie sich die kurdische Arbeiterin aus ihrem Dilemma befreien kann. Denn Beteiligung am öffentlichen Leben, allen voran die Teilnahme am Produktionsprozess ist neben der Aufhebung der Familie die „zweite Säule“ weiblichen selbstbestimmten Lebens.

Trotz der fehlenden Analyse und Programmatik entwickeln sich in Rojava viele Frauenkooperativen, die sich das Ziel, die Frauen effektiv in die Wirtschaft einzubinden, so dass sie sich auch finanziell emanzipieren können, gesteckt haben. Kooperativen in Wirtschaftsbereichen wie Mehl-, Milch-, Käse- oder Textilproduktion und landwirtschaftlichen Erzeugnissen vergrößern sich. Private Großbetriebe gibt es fast keine, private Unternehmen haben nicht mehr als 15 – 20 Lohnabhängige. Die wenigen Großunternehmen wanderten ab oder sind mit dem syrischen Bürgerkrieg geflohen. Dazu ist zu erwähnen, dass die Großgrundbesitzer in Rojava ca. 20 % des Landes kontrollieren, es viele Kleinbauern und Dörfer gibt und die kurdische Oligarchie kein ausschlaggebender Faktor in der politischen Landschaft zu sein scheint. Mehrere tausende Hektar zuvor staatlichen Landes wurden an Besitzlose kostenlos vergeben. Die notwendigen Geräte und Maschinen wurden gratis bereit gestellt. Viele dieser neuen LandbesitzerInnen bearbeiten ihr Land als Kooperativen.

Die Tatsache, dass die Entwicklung in Rojava nur im Rahmen der syrischen Revolution und in den anderen, angrenzenden Ländern eine Perspektive hat, verdeutlicht aber auch, dass die relative Schwäche von Großgrundbesitzern und Kapitalisten nur eine Momentaufnahme ist, die sich bei einem Fortschreiten der Konterrevolution oder einer „demokratischen“ Befriedung von oben rasch ändern kann.

Strategische Ausrichtung

Grundsätzlich kann die Kooperative oder GenossInnenschaft zwar ein Mittel sein, Frauen stärker und dauerhaft in die Produktion zu integrieren wie auch die Bevölkerung im Land für eine sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft zu gewinnen. Aber das ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Die Kooperative, der selbstverwaltete Betrieb ist noch immer eine Form des Privateigentum an Produktionsmitteln, die für einen Markt produziert. Zu einer Form des Übergangs zu einer anderen Gesellschaft kann sie nur werden, wenn sie in eine Strategie der Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung eingebettet ist, wenn die demokratische Revolution, als die die arabische Revolution wie die Entwicklung in Rojava begonnen hat, permanent gemacht, konsequent durchgeführt und mit den Aufgaben einer sozialistischen Umwälzung verbunden wird. Nur im Rahmen einer solchen Strategie und Programmatik ist letztlich auch die Befreiung der Frauen möglich.

Insgesamt haben das Projekt Rojava und vor allem die Verbesserungen für die Frauen einen revolutionären, vorbildlichen Charakter, auch wenn sie bisher zuerst auf die Ebene demokratischer Reformen und Institutionen bezogen sind, die ökonomische Emanzipation hinterherzieht und die Eigentumsfrage womöglich auch aufgrund der Embargo- und Kriegslage hintenan gestellt wird. Die ideologischen Begründungen, die hinter dem Projekt Rojava und damit der Frauenfrage stehen, sind aber trotzdem für uns sehr  widersprüchlich und müssen auch einer marxistischen Kritik unterzogen werden. Das trifft nicht nur auf die Herleitung der Frauenunterdrückung zu, sondern auch auf die widersprüchliche Kritik der Familie. Vor allem betrifft es, dass jedes Programm einer sozialen Befreiung der Arbeiterin, jedes Programm einer Vergesellschaftung der Hausarbeit und damit einer wirklichen Unterminierung der Familie als „Grab der Frau“ fehlt.

Trotzdem hat die Entwicklung in Rojava eine enorme Stärkung der Frau gebracht. Die Geschlechterfrage ist aufgrund der sehr guten Organisationsstrukturen der Frauen allgegenwärtig, was sich auch in den Selbstverteidigungsorganisationen und Frauenkooperativen ausdrückt. Damit ist eine Grundlage geschaffen, die patriarchalen Strukturen kompromisslos zu bekämpfen.

Das weitere Schicksal der Frauenbefreiung in Rojava wird insbesondere davon abhängen, ob die errungene Selbstverwaltung gegen den Islamischen Staat und das Assad-Regime behauptet werden kann, also letztlich vom Schicksal der syrischen Revolution. Sie wird zweitens davon abhängen, ob die demokratischen Fortschritte mit einer grundlegenden sozialen Umwälzung in Rojava, in den anderen kurdischen Gebieten und im ganzen Nahen Osten verbunden werden, um so auch die gesellschaftlichen Wurzeln der Frauenunterdrückung zu beseitigen. Dafür braucht es die weitere unbedingte solidarische Unterstützung des Frauenkampfes, des Projektes Rojava und der syrischen Revolution.

Endnoten

(1) Vgl. PJA (Partiya Jina Azad), Partei der Freien Frau, Programm, S. 66 f.

(2) Ebd., S. 14

(3) Ebd., S. 30

(4) Ebd., S. 71




Frauenbefreiung: Welche Organisation brauchen wir?

Anne Moll, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Frauen, die gegen Kapitalismus und Unterdrückung politisch aktiv sind, sind oft besonders sensibel für die besondere Unterdrückung von Frauen. Viele haben nicht nur einmal diese Mechanismen selbst zu spüren bekommen. So z.B. in der Familie, wo der Vater das letzte Wort hat – und dies „letzte Wort“ auch nicht selten körperlich zu spüren ist. Mädchen stehen oft unter dem „besonderen  Schutz“ ihrer Eltern. Sie müssen früher zu Hause sein oder dürfen erst gar nicht nach 20.00 Uhr aus dem Haus, im Unterschied zu Jungen. Ihre Freunde, besonders die des anderen Geschlechts, werden viel genauer überprüft und den Mädchen oft nahegelegt, sich nicht auf „falsche“ Freunde einzulassen.

So geht es weiter: in der Schule, in der Ausbildung, im Studium. Im Freizeitbereich und in der Lohnarbeit sind wir Frauen immer wieder mit Diskriminierung, Abwertung, Sexismus und männlicher Gewalt konfrontiert.

Frauen werden daher oft v.a. aus diesen Gründen politisch aktiv. Nicht mehr Opfer sein, sondern aktiver Teil im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, in der eine Auseinandersetzung über Geschlechterunterschiede und der Kampf gegen die Abwertung von Frauen (gesellschaftlich verankerter Chauvinismus) mehr nötig sein werden.

Linke Organisationen

Leider verschwinden frauenunterdrückerische Strukturen nicht automatisch in linken Gruppen und Organisationen, selbst wenn sich diese der Emanzipation verpflichten. Und so kommt zu den alltäglichen Angriffen manchmal auch noch die Auseinandersetzung mit den eigenen männlichen Genossen hinzu. Dass auch in der ArbeiterInnenbewegung und linken Organisationen sexistisches und frauenfeindliches Verhalten oder Stereotype anzutreffen sind, ist an sich nicht verwunderlich, schließlich leben auch die „kritischsten“ oder „revolutionärsten“ Gruppierungen nicht außerhalb der Gesellschaft und die vorherrschenden Ideen dieser Gesellschaft haben auch auf sie einen Einfluss – v.a., wenn dieser nicht bewusst bekämpft wird.

Die Antworten auf diese Anfeindungen von Frauen, sexistisches oder diskriminierendes Verhalten sind vielfältig, führen aber oft auch zu einer Abwendung von den Strukturen der männlich dominierten Organisationen. Das ist ein wichtiger Grund, warum in den 80er Jahren die Frauenbewegung völlig unabhängig von Männern ihre eigenen Gruppen und Treffen organisierte. Aber anstatt sich das Ziel zu setzen, den Chauvinismus in den linken Organisationen zu überwinden, gab es eine Gesamtverurteilung aller Männer und eine Abwendung von Strukturen, die diesen Chauvinismus reproduzieren, hin zu einem „alle Männer sind frauenfeindlich“ und die einzige Lösung ist, sich von ihnen zu distanzieren.

Das führte vordergründig zu mehr Selbstbewusstsein ganzer Generationen von Frauen, und es wurden auch viele Fortschritte erkämpft. Bis heute ist die Enttabuisierung von Themen wie selbstbestimmte Sexualität, Gewalt in der Ehe und Abtreibung eine wesentliche Errungenschaft dieser Periode. Aber wir müssen auch sehen, dass sich die gesellschaftliche Realität insgesamt kaum geändert hat. Diskriminierung, Sexismus und Gewalt sind nach wie vor Alltag von Mädchen und Frauen. Die ökonomische Abhängigkeit hat sogar seit den Hartz-Gesetzen und der globalen Krise stark zugenommen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und die Aufteilung der Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter liegen nach wie vor in weiter Ferne.

Frauenunterdrückung und Kapitalismus

Wir, das Frauenkollektiv der Gruppe Arbeitermacht, betrachten deshalb die struktuellen Unterdrückungsmechanismen der Gesellschaft als das zentrale Problem. Die tieferen Ursachen der Frauenunterdrückung liegen im Kapitalismus und früheren Klassengesellschaften. Im Kapitalismus können zwar durch den Druck des Klassenkampfes einzelne Verbesserungen erreicht werden, er wird aber niemals eine vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter ermöglichen. Der Kapitalismus braucht die Spaltungen in der Gesellschaft zwingend, um sein System aufrecht zu erhalten. Wir könnten viele Beispiele nennen, in denen fortschrittliche Gesetze, Maßnahmen und struktuelle Änderungen immer sofort wieder in Frage gestellt werden und Gegenmaßnahmen erfolgen, die mehr Gleichberechtigung wieder einschränken oder verhindern.

Das war z.B. so beim Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Als Antwort darauf haben die regierenden Parteien, welche die Interessen des Kapitals vertreten, das Elterngeld, durchgesetzt, was nichts anderes als eine „Herdprämie“ ist. Frauen werden damit motiviert, zu Hause zu bleiben und für Kinder, Küche und Ehemann die Pflege- und Versorgungsarbeit zu übernehmen.

Ebenso steht es um die Diskussion des Mindestlohns. Besonders Frauen profitieren vom Mindestlohn und haben dadurch bis zu 100% Lohnerhöhung. Dieser auf den ersten Blick beeindruckende Anstieg ist allerdings nur die Kehrseite extremer Hungerlöhne von tw. Nur 3-4 Euro. Auch der Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde deckt aber letztlich nicht die aktuellen Reproduktionskosten.

Wir sind der Meinung, dass bei den derzeitigen Lebenskosten der Mindestlohn bei 1.600 Euro/Monat liegen muss. Es ist ein großer Unterschied für die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit für Frauen, ob sie z.B. 800 Euro im Monat erhalten, 1.360 Euro oder 1.600! Für Unternehmen ist das oft nicht nur ökonomisch ein Problem, weil ihre Profite geschmälert werden. Ein deutlicher Anstieg des Mindestlohns würde auch die Spaltung unter den Lohnabhängigen verringern und damit ihre Widerstandskraft erhöhen.

Etwas länger zurück liegt der Kampf um die selbstbestimmte und bedingungslose straffreie Abtreibung. Bis heute kämpfen reaktionäre Parteien sogar für eine Einschränkung der sowieso weit von wirklicher Selbstbestimmung entfernten Abtreibungsgesetze. Dazu gehört ganz aktuell die Einschränkung für die freie Verfügbarkeit der „Pille danach“.

Auch die Einführung des Rechts auf Teilzeitarbeit zählt dazu. Ursprünglich wurde sie eingeführt, um v.a. Frauen zu ermöglichen, in ihren erlernten Berufen trotz Mutterschaft zu bleiben – aber eben nicht mehr in Vollzeit, sondern in Teilzeit, damit sie die Doppelbelastung von Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit schaffen können. Diese neue „Freiheit“ (die wir durchaus kritisch sehen) wurde so „populär“, dass etliche Eltern das Modell auch nutzen, um gleichberechtigt Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit aufzuteilen. In den 90er Jahren waren die Zeitschriften voll von Artikeln über die neue Emanzipation und v.a. über Männer, die gleichberechtigt auf Lohn verzichten, um für ihre Kinder mehr Zeit zu haben.

Erstaunlich schnell wurde von den Unternehmen gegengesteuert. Als erstes ideologisch: „Mit Teilzeitarbeit ist eine Karriere nicht mehr möglich!“, tönte es landauf, landab. Entsprechende Gesetzesänderungen folgten. Das Gesetz berechtigt heute die Arbeit“geber“, darüber zu entscheiden, wer Teilzeit arbeiten darf oder ausschließlich Teilzeitarbeit bekommt. Die Firma hat jederzeit das Recht, Teilzeitarbeit abzulehnen, geforderte Begründungen, wie zu hohe Kosten oder Probleme bei der Arbeitsorganisation wirken immer und können kaum überprüft werden. Die Lohnabhängigen haben kaum Möglichkeiten, ihre Arbeitszeit-Wünsche gegen den Willen der Unternehmer durchzusetzen. So ist das Teilzeitarbeit-Gesetz heute ein Mittel, um die Schlechterstellung der Frauen zu verfestigen. Etwa 60% aller berufstätigen Frauen arbeiten in einem oder mehreren Teilzeitarbeitsverhältnissen, weil sie gar keine Vollzeitstellen mehr angeboten bekommen (vgl. dazu http://www.arbeitermacht.de/ni/ ni192/frauenundkrise.htm).

Warum sind diese Beispiele so wichtig? Weil sie zeigen, dass die Ursachen der Frauenunterdrückung wesentlich struktueller Natur sind und letztlich in den Eigentumsverhältnissen wurzeln. Daher kann im Kapitalismus niemals volle Gleichberechtigung erreicht werden. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass der Kapitalismus selbst die kleinsten Fortschritte zu wirklicher Emanzipation mit viel Aufwand rückgängig zu machen versucht, weil er nur durch Unterdrückung und die Spaltung der Arbeiterklasse überleben kann. Daraus entwickeln sich patriachale Strukturen bzw. verfestigen sich – nicht umgekehrt, wie große Teile des bürgerlichen Feminismus behaupten.

Wir halten deshalb den gemeinsamen Kampf aller Lohnabhängigen, männlich wie weiblich, für wesentlich. Nur gemeinsam können wir den Kapitalismus bekämpfen und schließlich stürzen. Wir unterstützen den Versuch unserer Organisationen, der Gruppe Arbeitermacht (GAM) und der Jugendorganisation REVOLUTION, eine neue antikapitalistische Organisation aufzubauen und denken, dass das Potential für den Kampf gegen Frauenunterdrückung damit größer wird. Deshalb halten wir die Diskussion darüber, wie ein gemeinsamer Kampf aussieht und auf welcher Grundlage er geführt wird für wesentlich.

Im Manifest für eine „Neue antikapitalistische Organisation“ (NaO) gibt es zwei Versionen zum  Thema „Frauenbefreiung“. Eines kommt von der GAM und eines von der SIB, weil die NaO sich nicht auf eine Position einigen konnten. Wie ist das zu erklären?

Worin bestehen die grundlegenden Unterschiede?

Der Vorschlag der SIB geht davon aus, dass neben der Klassenunterdrückung mit dem Patriarchat eine zweites fundamentales Unterdrückungsverhältnis die gegenwärtige Gesellschaft prägt – eine Art „dual oppression“-Theorie.

Auch wir von der Gruppe Arbeitermacht gehen davon aus, dass der Kapitalismus andere, oft sehr viel ältere Unterdrückungsverhältnisse einschließt – allerdings nicht als ein weiteres, „separates“ Verhältnis neben der kapitalistischen Ausbeutung -, sondern vielmehr der Frauenunterdrückung eine historisch spezifische Form aufprägt.

Wir sehen die Grundlage der Frauenunterdrückung in der geschlechtspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus von früheren Gesellschaftsformationen übernommen hat. Die Hausarbeit, die Reproduktion der Arbeitskraft erscheint als Privatarbeit, den Kapitalisten „geht sie nichts an“, er findet sie als „Naturbedingung“ vor. Zugleich zeigt sich dabei auch, warum eine Vergesellschaftung der Hausarbeit im Rahmen des Kapitalismus letztlich unmöglich ist. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung stellt unserer Auffassung nach die materielle Basis der Frauenunterdrückung im Kapitalismus dar.

Für die SIB hingegen sind partriarchale Herrschaftsverhältnisse bestimmt durch die Zweiteilung der Geschlechter und deren Organisation in einer Rangordnung. Ihr zufolge werden sie durch geschlechter-hierarchische Arbeitsteilung und vielfältige geschlechter-stereotype Zuschreibungen immer wieder reproduziert.

Die SIB stellt unserer Meinung nach das wirkliche Verhältnis von Frauenunterdrückung und reaktionären Stereotypen, die auf ihr aufbauen, auf den Kopf, vertritt letztlich eine idealistische, keine materialistische Erklärung.

Wir halten das für ein Zugeständnis an den Feminismus. Wir halten es für notwendig, dass diesen Gruppen, die durchaus subjektiv und praktisch sehr ernsthaft gegen Frauenunterdrückung kämpfen, eine klare Position des Klassenstandpunkts entgegen gestellt wird.

So wichtig der Kampf gegen reaktionäre Ideologien ist – so ist es letztlich unzureichend, den Schwerpunkt des Kampfes auf den Kampf um richtige oder falsche Denkweisen über „Geschlechterverhältnisse“ zu konzentrieren. Wir brauchen eine Diskussion über die realen Unterdrückungsursachen in der kapitalistischen Gesellschaft – und einen gemeinsamen Kampf dagegen.

Aktiv gegen Frauenunterdrückung

Die NaO Berlin hat eine Arbeitsgruppe speziell für Frauenarbeit initiiert, was wir sehr begrüßen. In dieser sind auch Männer aktiv, denen die Frauenbefreiung nicht nur als Lippenbekenntnis ein Anliegen ist, sondern die sich aktiv daran beteiligen. Das ist gut und richtig.

Wir sind aber der Meinung, dass diese Zusammenarbeit verbindliche Strukturen braucht, die sich gegen  sexistische Verhaltensweisen aussprechen, Frauen besondere Förderung zukommen lassen und die Frauen in ihrer Selbstbestimmung unterstützen. Es braucht ganz praktische Vorgehensweisen: Frauen als Demoleitung, als Autorinnen für politische Statements und als Referentinnen bei Veranstaltungen.

Außerdem braucht es das festgeschriebene Recht, dass Frauen sich ohne Männer treffen dürfen, um Kritik gegenüber chauvinistischem Verhalten zu äußern, ohne dadurch Nachteile zu erfahren, und Vorschläge zu entwickeln, wie die Aktivität der Organisation verbessert werden kann. Daran muss sich jede linke, emanzipatorische Organisation messen lassen!

Denn nur konkrete Maßnahmen hier und jetzt zur Stärkung der Frauen in linken Organisationen fördern emanzipatorisches Verhalten und werden helfen, die  Spaltung der Arbeiterklasse zu überwinden, und den Weg für Solidarität und gemeinsamen Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung frei machen!




8. März: Frauenkampftag vs. “Frauentag”

Svea Hualidu, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Frauenkampftag 2015. Nur das Wort „Kampf“ ist dabei abhanden gekommen. „Frauentag“, ein Tag wie auch der „Tag des Rudersports“ oder der „Tag des Cholesterins“. Anstatt sich auf die militanten Aktionen der Vergangenheit zu beziehen, wird der Tag zumeist nur noch genutzt, um Luftballons zu verteilen.

SPD, Linkspartei und Gewerkschaften dürfen sich zu diesem Anlass alle selbst auf die Schulter klopfen und sich für die „Gleichberechtigung der Frau“ feiern. Routinemäßig werden einige Reförmchen angekündigt, die im Schneckentempo zur Frauenbefreiung führen sollen. Der kämpferischere Teil von ihnen darf bei dieser Gelegenheit dann auch einmal im Jahr eine Rede über gleiche Bedingungen am Arbeitsplatz halten.

Doch wer hofft, danach den Kampf z.B. gegen die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern, sexistische Rollenbilder und Fremdbestimmung über den eigenen Körper aufnehmen zu können, wird enttäuscht. Es bleibt bei alljährlichen Infoveranstaltungen.

Sozialistische Frauenbewegung

Doch das war nicht immer so! 1910 beschloss die II. Sozialistische Frauenkonferenz die Durchführung eines internationalen Frauenkampftages – und brachte weltweit Millionen auf die Straße.

Als Tag wurde der 8. März ausgewählt, da 1908 an diesem Tag 149 Näherinnen bei einer Fabrikbesetzung ums Leben kamen. Diesem Vorfall folgte eine Welle von Streiks und Protesten. Dabei wurde u.a. das Wahlrecht für Frauen, der 8-Stunden-Tag, Mutterschutz, mehr Lohn bzw. gleicher Lohn für gleiche Arbeit, legaler Schwangerschaftsabbruch, Verbot der Kinderarbeit und Gleichstellung von Frau und Mann in allen Lebensbereichen gefordert.

Dass der Begriff „Kampf“ damals noch nicht vergessen war, zeigten u.a. die Frauen in Petrograd, die mit ihrem Streik für mehr Lohn und gegen den Krieg die Februarrevolution 1917 auslösten und zum Sturz des Zarismus beitrugen.

Damals war der Mehrheit der proletarischen Frauenbewegung bewusst, dass Kapitalismus die Überausbeutung und Unterdrückung der Frauen benötigt – einerseits, um ihre Profite zu maximieren, andererseits um durch die Trennlinie zwischen Frau und Mann die Spaltung der Arbeiterklasse zu fördern.

1933-45 war der Internationale Frauentag verboten und durch den Muttertag ersetzt, um das reaktionäre Frauenbild des Faschismus zu unterstreichen.

1946 wurde dann der 8. März in der späteren DDR wieder eingeführt. Aber er wurde von oben diktiert, verlor seinen eigentlichen kämperischen und internationalen Charakter und wurde weitgehend zu einem bürokratischen Ritual.

Der sozialdemokratische Reformismus erfüllte im Westen eine ähnliche Funktion. Der 8. März wurde erst in den 1970er Jahren von linken Organisationen, sozialistischen und radikalen Feministinnen wieder belebt. Heute ist er in Deutschland eine Mischung aus Saalveranstaltungen und gelegentlichen Demonstrationen, die oft von reformistischen oder links-kleinbürgerlichen Feministinnen und Frauenrechtlerinnen politisch dominiert werden. Mit Klassenkampf und den dringenden Anliegen der großen Mehrheit der lohnabhängigen Frauen hat er wenig zu tun.

Doch nicht überall auf der Welt ist der 8. März so entpolitisiert. In der Türkei, im Iran, in Indien oder Bangladesch gehen jährlich zehntausende Frauen auf die Straße, um gegen Unterdrückung und Repression zu kämpfen.

Wir als revolutionäre kommunistische Organisation unterstützen alle fortschrittlichen und emanzipatorischen Kämpfe von Frauen weltweit – nicht nur am 8. März. Besonders, weil uns bewusst ist, dass ein wirklicher Kampf für Gleichberechtigung, wie wir ihn zur Zeit in Rojava bei den kurdischen Frauenorganisationen sehen können, nicht mit dem Kapitalismus vereinbar ist. Frauenbefreiung heißt, die Ketten des Kapitals zu sprengen!

Wir bleiben daher beim alten revolutionären Motto : „Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung!“




Care-Arbeit: Reproduktion und Arbeit

Elise Hufnagel, Neue Internationale 194, November 2014

Das Thema „Care-Arbeit“, auch Sorge-Arbeit oder Reproduktion genannt, entwickelt sich in der Diskussion momentan weiter zu der Frage „Wie wollen wir in Zukunft leben, wie können die immer größeren Defizite in den öffentlichen und privaten Sorgebranchen und außerhalb der ‚bezahlten’ Arbeit im privaten Haushalt ausgeglichen werden?“

Nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass die „unsichtbaren“ Arbeitsstunden die Arbeitszeit, die in der Industrie (ohne Baugewerbe berechnet) erbracht wird, schon bei weitem übersteigen. Gestellt wird die Frage wieder vor allem von Frauen, die immer noch den größten Anteil an der Reproduktion leisten.

Produktion und Reproduktion im Kapitalismus

Mit dieser Thematik beschäftigte sich auch die Care-Revolution-Konferenz im März diesen Jahres, die einen Beitrag zur Sichtbarmachung der Reproduktionsarbeit leistete, von „Revolution“ jedoch weit entfernt „demokratisches Aushandeln“ besserer Lebens- und Arbeitsbedingungen im sozialen Bereich anstrebt, ohne jedoch den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Lohnarbeit in der Produktion und unbezahlter (oder schlecht bezahlter) Sorgearbeit im Kapitalismus zu entschlüsseln.

Den Kapitalisten interessiert die Reproduktion der lebendigen Arbeitskraft nicht mehr als die der anderen Quelle seines Reichtums, der Natur. Der Sozialismus dagegen stellt die Reproduktion der Quellen des Reichtums in den Mittelpunkt. Ihr allein dient die Produktion statt Selbstzweck, bloßes Mittel zur Schaffung von Mehrwert zu sein. Für den Kapitalismus bleibt die unbezahlte Subsistenzarbeit im Privathaushalt deshalb ebenso überlebensnotwendig wie er Raub an der Natur betreiben muss. SozialistInnen streben die Ablösung der privaten Hausarbeit durch ihre Vergesellschaftung an.

Die Konferenz hingegen konnte sich noch nicht einmal zur Forderung nach Umwandlung dieses Sektors in eine Kapitalbranche, die auf Lohnarbeit fußt, durchringen. Ihre Forderung lautet: „Sorgearbeit aufwerten – eine Kultur der Fürsorglichkeit absichern“. Damit wird der Sektor der unbezahlten Subsistenzarbeit nur anerkannt, nicht transformiert. Für Anerkennung können sich Hausfrauen aber nichts kaufen!

Charakter der Care-Arbeit

Unter dem Begriff der unbezahlten „Care-Arbeit“ wird die häusliche Sorge für die Reproduktion der Arbeitskraft, also die Ernährung, Kleidung, Pflege und Erholung der ArbeiterInnen und die Versorgung und Erziehung der Nachkommen ebenso erfasst wie die Ermöglichung von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Versorgung all derer, die dem Markt keine Arbeitskraft anbieten können, also pflegebedürftige Angehörige, die entweder nicht mehr, nur eingeschränkt oder nie am Arbeitsleben teilnehmen können.

Das sogenannte „Care-Regime“ teilt sich hier in Deutschland in vier Sektoren auf: den öffentlichen Sektor, den freien Markt, Non-Profit-Organisationen und den privaten Haushalt, auf dem momentan die finanzielle und zeitliche Hauptlast liegt.

Was ist das Besondere an der Reproduktionsarbeit?

Teilt man sie auf in Haus- und Sorgearbeit, so zeigen sich deutlich die Unterschiede zur Lohnarbeit.

Die Hausarbeit besteht aus vielen stets ähnlich ablaufenden Tätigkeiten, die „nur“ einen Gebrauchswert schaffen. Essen wird schneller verspeist als gekocht, Wäsche schneller schmutzig als es dauerte, sie zu waschen, zu trocknen und zu bügeln. Die Arbeit findet im privaten Raum statt, also größtenteils unsichtbar, schafft keinen „Wert“, der sich veräußern ließe und wird daher auch nicht entlohnt.

Ähnlich sieht es bei der (unbezahlten) Sorgearbeit aus. Weder ein Kind noch ein älterer Angehöriger können die Leistung der Pflegenden entlohnen oder haben die Möglichkeit, sich die Form der Sorge oder die  beteiligten Personen auszusuchen. Die Versorgung von Menschen kann nicht ohne den Aufbau einer Beziehung geleistet werden. Das Verhalten des Einen bedingt das des Anderen. Also sind beide voneinander „abhängig“, die Versorgten von den Sorgenden sowieso; aber auch die Sorgenden können die „Arbeit“ nur befriedigend ausführen, wenn sie sich nach der Stimmung und den Bedürfnissen der zu Versorgenden richten und nicht nach einem festen Arbeitsschema. Der Zeitbedarf ist enorm, die Tätigkeiten sind teilweise monoton, aber auch jederzeit abrufbar.

Dabei kann, besonders unter Stress, ein Machtgefälle zum Nachteil der versorgten Person entstehen, die keine Handlungs- oder Wahlfreiheit hat, also diesem „Verhältnis“ nicht entfliehen kann. Aber auch der umgekehrte Fall kann eintreten – die Pflegeperson wird durch die Bedürftigkeit unter Druck gesetzt („Du wirst mich doch nicht ins Pflegeheim geben wollen…“).

Klassenspaltung und Care-Arbeit

Die Care-Arbeit spiegelt im kapitalistischen System unwillkürlich die Klassenspaltung der Gesellschaft wieder. „Die“ Frauen sind eben nicht „gleich“, sondern je nach Klassenzugehörigkeit höchst unterschiedlich davon betroffen.

Der Koalitionsvertrag setzt Geburtensteigerung und zunehmende Frauenerwerbstätigkeit als politische Ziele. Finanziell sollen diese Forderungen durch das „Elterngeld“ abgesichert werden, das bei gut Verdienenden bis zu 1.800 Euro betragen kann. Die Hartz IV-Empfängerin bekommt für die gleiche Leistung, nämlich ein Kind zu versorgen, gerade mal 300 Euro, die auch noch mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet werden.

Der Anspruch auf Kinderbetreuung in einer Einrichtung gilt zuerst für Eltern, die einen Job haben. Die, die sich erst einen suchen, müssen hintenan stehen. Und ohne gesicherte Kinderversorgung hat eine Frau auf dem Arbeitsmarkt auch keine Chance.

Eine bezahlte Freistellung von der Arbeit für pflegende Angehörige, ähnlich dem Elterngeld, hat sich gar nicht erst durchsetzen können. Vielleicht haben sie Glück und behalten etwas vom ohnehin dürftigen Pflegegeld zurück. Wohlhabende können Teile der Haus- und Pflegearbeit an HaushaltsarbeiterInnen übertragen, die dann auch wieder im privaten Raum tätig sind, wo Arbeitsbedingungen schlecht kontrolliert werden können.

Das zweite Modell ist das „paarzentrierte“: Beide gehen arbeiten, die Hausarbeit wird aufgeteilt, jedoch meist zu Lasten der Frau, die passend dazu eine Teilzeitstelle ausfüllt. Bei Krankheit, Arbeitsunfähigkeit oder Scheidung landet sie auch ganz schnell im prekären Bereich – erst recht mit der neuen Unterhaltsregelung, die ihr keinen finanziellen Ausgleich für jahrelanges Zurückstecken bietet.

„Darunter“ liegen dann alle Haushaltsmodelle, bei denen nur eine Person erwerbstätig ist oder niemand bzw. diverse Minijobs ohne Sozialleistungen angenommen werden müssen. Der Mangel wird mehr oder weniger gerecht auf alle Haushaltsmitglieder verteilt.

Was die Frauenbewegung seit Jahrzehnten schon fordert, nämlich das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben, ist heute unbedingt erforderlich, denn der Lohn eines Einzelnen reicht in den meisten Fällen nicht mehr für eine ganze Familie aus.

Wissenschaftliche Ergebnisse

Es gibt im Bereich der Care-Ökonomie viele wissenschaftliche Untersuchungen zur Sorgearbeit, die darauf hinarbeiten, ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Wohlstand herauszustellen. Es werden Zeitbudgets für Hausarbeit erstellt, die Aufteilung der Reproduktion nach Geschlecht, Klasse und Nationalität erfasst und der Anteil bezahlter und unbezahlter Arbeit in diesem Bereich am volkswirtschaftlichen Gesamtaufkommen errechnet. Es geht um die „Produktivität“ der Care-Arbeit, die Arbeitsbedingungen der entlohnt Sorgenden und nicht zuletzt um das Recht auf angemessene Versorgung für Pflegebedürftige und das Recht, sich für Pflegearbeit Zeit nehmen zu können.

Das „Öffentlichmachen“ der meist im privaten Raum stattfindenden Care-Arbeit ist wichtig.

Eine ökonomische Gleichstellung von Reproduktion und Lohnarbeit widerspricht jedoch zutiefst dem kapitalistischen System, das vom Profit aus Lohnarbeit lebt. Der Care-Sektor wird zu einem Teil aus unbezahlter Arbeit, von Wohltätigkeitsorganisationen und staatlicher Unterstützung finanziert (die wiederum aus „wertschöpfenden“ Branchen umgeleitet wird). Wo Care-Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen gewinnbringend ausgeführt wird (beispielsweise in privatisierten Kliniken), muss sie rationalisiert werden. Da sich diese spezielle Arbeit aber nur begrenzt „schneller“ erledigen lässt (aufgrund der oben erwähnten Beziehungsmäßigkeit), leiden sehr schnell Qualität und „KundInnen“ und in diesem Zusammenhang auch die ArbeiterInnen. Notstände werden dabei an die anschließenden Versorgungssysteme weitergeleitet und landen damit oft wieder im familiären Bereich.

Ohne die bürgerliche Familie als Ort der Reproduktion kann sich der Kapitalismus, erst recht in der Krise, nicht erhalten. Wenn gespart werden muss, dann immer zuerst im Sorgebereich, wie uns die Länder Südeuropas noch krasser vor Augen halten. In Griechenland werden zum Beispiel Medikamente, die für uns als lebensnotwendig gelten, gar nicht mehr ausgegeben.

Wie also diese beiden Bereiche der Reproduktionstätigkeit – Lohn- und Sorgearbeit – zusammenbringen? Solange die Arbeitskraft als Ware verkauft werden muss, steht ihr die unbezahlte Hausarbeit gegenüber. Eine gleichberechtigte Entlohnung beider Bereiche ist im kapitalistischen System nicht möglich. Ziel kann also nur die Vergesellschaftung der Reproduktion (und damit ihre öffentliche Ausführung) bei gleichzeitiger Verkürzung der Arbeitszeit (bei vollem Lohnausgleich) sein.

Nur dadurch kann die Last der Alleinverantwortung der Individuen für den gesellschaftlichen Wohlstand gerecht verteilt werden, auch zwischen Frauen und Männern. Die Kämpfe bezahlter und unbezahlter Care-ArbeiterInnen müssen verknüpft werden. Falsche Forderungen wie „Lohn für Hausarbeit“ in den 70er Jahren führten in die Leere. Die Reproduktionsarbeit muss vielmehr vergesellschaftet, nicht als isolierte Privatarbeit im patriarchalen Haushalt durch eine Art Almosen anerkannt werden. Sie würde nur dann zur Lohnarbeit, wenn sie Waren für den Markt herstellte, nicht Güter bzw. Dienstleistungen für den Eigenbedarf.

Unsere Forderungen

  • Arbeitskämpfe in der Pflege müssen immer die „PflegekundInnen“ einbeziehen!
  • Wir müssen weiter für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt eintreten, sowohl zeitlich als auch finanziell, sowie die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit zu bezahlbaren Preisen fordern: wie öffentliche Kantinen, Schulküchen, Wäschereien und Restaurants, Kinder- und Seniorenbetreuung .
  • Schluss mit besonders prekären Arbeitsbedingungen für MigrantInnen! Gleicher Lohn für alle bei Abschaffung des Illegalenstatus!
  • Wir fordern gute Ausbildung aller Berufsgruppen, die die soziale Basis unserer Gesellschaft sichern. ErzieherInnen, LehrerInnen und PflegerInnen müssen ihre Arbeitskämpfe verbinden und sich gewerkschaftlich organisieren.



Filmkritik: Dringend gesucht – Anerkennung nicht vorgesehen

Anne Moll, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Der gleichnamige Film von Anne Frisius in Zusammenarbeit mit Monica Orjeda, Hamburg/Amsterdam/Bremen 2014; Kiezfilm (www.kiezfilm.de/dringend) beschreibt die prekäre Situation von Hausangestellten aus aller Welt, die, weil sie keine offiziellen Papiere besitzen, keine Chance auf dem legalen Arbeitsmarkt haben. Sie werden durch Agenturen unter falschen Versprechungen nach Europa gelockt oder sind als Flüchtlinge illegalen Beschäftigungsverhältnissen ausgeliefert. Durch die Arbeit im „Unsichtbaren“ werden weltweit Millionen Menschen, v.a. Frauen, besonders ausgebeutet.

Der Film zeigt sehr gut die Lebensverhältnisse der Hausangestellten und die Tricks, um Frauen in diese Jobs zu ziehen. Um aus diesen oft unmöglichen Jobs wieder herauszukommen, haben die Frauen freilich oft weniger „Tricks“ zur Verfügung.

Das Besondere an diesem Film ist aber, dass er nicht bei der Beschreibung der Lebensumstände stehen bleibt, sondern die Möglichkeiten aufzeigt, sich zu wehren, z.B. als Einzelne vor Gericht. Der Film macht deutlich, dass der Kampf oft soviel Kraft kostet, das ein Mensch allein das nicht schaffen kann.

Es werden v.a. auch Möglichkeiten der gemeinsamen Organisation und Aktion gezeigt, und wie dadurch neues Selbstbewusstsein wächst, wie Solidarität die Menschen dazu befähigt, an die Öffentlichkeit zu gehen, ihre Situation bekannt zu machen und Forderungen zu stellen. So kommen sowohl Aktive von der DGB-Beratungsstelle „Faire Mobilität“ zu Wort als auch von der Organisationen wie „United Migrant Domestic Workers“, eine Organisation von Hausangestellten ohne Papiere in Amsterdam.

Der Film entstand mit Unterstützung von verikom (Verbund für interkulturelle Kommunikation und Bildung e.V.), Stiftung Umverteilen und Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, die alle auch Hilfsangebote für Menschen in prekären Arbeits- und Lebenssituationen bieten.

Als Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion über Ausbeutung in privaten Haushalten und illegale Beschäftigung ist dieser Film sehenswert und wichtig. Vielen Dank dafür an alle Mitwirkenden!

Wir halten die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterklasse insgesamt für wesentlich, um sich gegen die Ausbeutung im Kapitalismus wehren zu können. Dazu gehören für uns nicht nur die Lohnabhängigen in „normalen“ Beschäftigungsverhältnissen, sondern ebenso die Arbeitslosen, die RentnerInnen, jobbende Studierende und auch SchülerInnen, Menschen ohne Papiere und illegal Beschäftigte wie auch SexarbeiterInnen. Denn wir sind in allen Strukturen des täglichen Lebens von der kapitalistischen Verwertungslogik betroffen und müssen für den Kampf für unsere Interessen eigene Organisationsstrukturen aufbauen.

Wir sind aber auch der Meinung, dass gewerkschaftliche Organisation allein nicht reicht. Um eine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen für die Mehrheit der Weltbevölkerung dauerhaft durchzusetzen, braucht es eine internationale Partei mit einem antikapitalistischen, kommunistischen Programm.




Pakistan: Pflegerinnen erkämpfen Erfolg

Shazia Shehzad, Lahore, Neue Internationale 188, April 2014

Im März haben Krankenschwestern, die ohne festen Arbeitsvertrag nur von Tag zu Tag beschäftigt werden, gegen die Entlassung von 2.800 Schwestern protestiert und deren Wiedereinstellung gefordert – mit dauerhafter Beschäftigung statt unsicherer Arbeitsverhältnisse. Sie forderten, Schluss zu machen mit dem willkürlichen System des „Heuerns und Feuerns“ und außerdem Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung.

Viele dieser Krankenschwestern wurden erstmals 2011 eingestellt während des Ausbruchs des Dengue-Fiebers. Sie trugen entscheidend dazu bei, dass die Seuche eingedämmt wurde und  viele Erkrankte gerettet wurden. Andere waren schon seit 6 Jahren im Dienst. Alle von ihnen wurden jedoch nicht regulär angestellt, sondern auf tagtägliche Anforderung, sozusagen als Springer.

Dagegen veranstalteten sie eine Sitzblockade vor dem Büro des Generaldirektors der Gesundheitsbehörde in Lahore. Nach 4 Tagen zogen sie am 14. März auf die Hauptstraße vor das Gebäude der Regierung der Provinz Punjab. Dort griff die Polizei die Demonstration mit Schlagstöcken an und versuchte, die Krankenschwestern auseinander zu treiben. Viele von ihnen mussten anschließend mit Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden, zwei waren sogar schwer misshandelt worden, eine von ihnen war im 7. Monat schwanger.

Hintergrund

Die Entlassung der 2.800 Krankenschwestern kam zu einer Zeit, als die Belegschaft der Krankenhäuser im Punjab ohnehin schwach besetzt war. Die staatlichen Krankenhäuser müssen mit einem Personal von 15.000 Pflegekräften auskommen. Die neue Regierung hat die Krankenschwestern entlassen als direkte Folge der Auflagen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Es zeichnet sich klar ab, dass die Regierung das Gesundheitswesen durch Personalkürzungen „sanieren“ und so gehorsam die Vorgaben der imperialistischen Finanzinstitutionen erfüllen will.

Die Entlassungen des Pflegepersonals und die Zerstörung des Krankenhauswesens werden zynisch sogar noch als „fortschrittliche Entwicklung“ dargestellt, obwohl so Gelder des öffentlichen Dienstes in die Kassen von Privatinvestoren geleitet werden. Sie haben Milliarden Rupien übrig für die Entwickler des Metrobus-Projekts, um damit das Verkehrswesen u.a. Vorhaben zu kontrollieren und vorgeblich den Fortschritt zu fördern. Nichts haben sie jedoch für die arbeitende Bevölkerung übrig, z B. Für die Hungernden in der Sind-Provinz, wo hunderte Kinder, Frauen und ältere Menschen schon gestorben sind.

Die Brutalität des Schlagstock-Einsatzes hat die gesamten Arbeiterklasse und Gewerkschaftsbewegung schockiert. Krankenschwestern im gesamten Punjab legten die Arbeit nieder und führten Demonstrationen und Sitzblockaden durch. Die Bewegung breitete sich in Windeseile in ganz Pakistan aus. Das medizinische Personal gab bekannt, dass es zum Streik bereit sei und viele von ihnen schlossen sich dem Protest zum Schutz der Krankenschwestern gegen polizeiliche Verfolgung an. Junge Ärzte, Eisenbahnarbeiter und Beschäftigte der Pakistanischen Telekommunikationsgesellschaft sowie Postangestellte – alle zeigten ihre Solidarität.

Schließlich siegten der Kampfesmut und die Entschlossenheit der Krankenschwestern. Sie ließen sich nicht entzweien – trotz der Verfolgung durch die Regierung und zwangen die Behörden zu Verhandlungen, die sie am 18. März erfolgreich beendeten. Die Regierung willigte ein, ihre Kündigung zurückzunehmen und mit ihnen Dreijahresverträge mit 4.000 Rupien Lohnerhöhung zu vereinbaren. Zudem versprach sie, die Arbeitsverträge auf Dauer zu verlängern, ohne vorherige Prüfung durch die Kommission des Öffentlichen Dienstes in Punjab.

Das ist  ein großer Erfolg, erst recht, weil in der Vorgeschichte des Konflikts die Krankenschwestern von ihrer alten Führung verraten worden waren. Während der Proteste wählten sie eine neue Führung, die verantwortlich für die Sitzblockaden war. Das ist ein bemerkenswertes Beispiel der Wirksamkeit der Kontrolle der Führung durch die Basis. Diese Erfahrung sollte der Arbeiterklasse auch in anderen Bereichen Mut machen.

Viele ArbeiteraktivistInnen fragen sich nun: Wenn die Krankenschwestern solche Siege einfahren können, weshalb nicht auch wir? Die Krankenschwestern bewiesen die wirkliche Stärke von Frauen und zeigen den Weg für die neue Arbeiterbewegung in Pakistan. Die Lehren dieses Kampfes müssen nun für die gesamte Arbeiterbewegung verallgemeinert werden.




Sexuelle Unterdrückung: Die heilige Familie

Martin Suchanek, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Kaum eine andere Institution unserer Gesellschaft erfreut sich seit Jahrhunderten solcher Idealisierung wie die Familie. Sie gilt als „Keimzelle der Gesellschaft“. Sie erscheint als Hort des privaten Glücks, der Gemeinschaftlichkeit, der Liebe und „Partnerschaft“ inmitten eines Ozeans aus kapitalistischer Konkurrenz und Eigennutz. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern wird romantisiert, idealisiert, überhöht – im krassen Gegensatz zur Realität der Familie.

In der Tat brachte die bürgerliche Gesellschaftsordnung eine wichtige Veränderung: die Heirat ist freiwillig und basiert auf Liebe und Ehevertrag.

In früheren Klassengesellschaften waren die Ehen zwischen Mann und Frau arrangiert. Die Stellung der Ehefrau war z.B. innerhalb der herrschenden Klasse der athenischen „Demokratie“ auf die der Gebärerin, der Mutter reduziert. Für Sklavinnen und Sklaven gab es als Eigentum ihrer Herrn ohnedies kein Recht auf Ehe. Von einer „Liebesheirat“ konnte keine Rede sein, ja selbst die Vorstellung, dass Eheschließung oder Familiengründung auf gegenseitiger, freiwilliger Zuneigung basieren, war dieser Geschichtsepoche fremd.

Zweifellos war demgegenüber die Vorstellung einer Partnerschaft, die auf gegenseitiger Zuneigung und Freiwilligkeit fußt, ein riesiger Fortschritt. Aber auch in der bürgerlichen Familie ist die „Liebe“ nicht frei profanen Zwecken, die sich aus dem Klassencharakter der Gesellschaft notwendig ergeben. Die Vorstellung der individuellen Geschlechtsliebe war gegen den Feudaladel gerichtet, der sich gegen das „Einheiraten“ der „Bürgerlichen“ abschotten wollte. Mit der „Liebesheirat“ wurde auch der „Ehevertrag“ zum unerlässlichen Beiwerk jeder noch so innigen Beziehung, um die Vererbung des Privateigentums innerhalb der herrschenden Klasse abzusichern.

Die Monogamie der Frau – Kennzeichen der verschiedensten Familienformen in allen Klassengesellschaften – galt und gilt auch für die bürgerliche Familie. Für den Mann hingegen waren der „Seitensprung“ oder der Besuch im Bordell von Beginn an allenfalls eine lässliche Sünde.

Sexueller Missbrauch und Gewalt

In der vor-bürgerlichen Familie galt die Sexualität der Frau nur als Mittel zur Befriedigung des Mannes und der Zeugung des Nachwuchses. Die Frau war Mutter, je nach Klassenzugehörigkeit Arbeitende oder Anleitende im Haushalt und hatte dem Mann zur Verfügung zu stehen. Zur sexuellen Befriedigung des Mannes, zu seinem Vergnügen stand ihm neben der Ehefrau eine ganze Reihe von Institutionen der mehr oder weniger offen sanktionierten Prostitution zur Verfügung.

In der bürgerlichen Gesellschaft drückt sich die systematische Unterdrückung der Frau auch in deren sexueller Unterdrückung in der Familie aus.

Auch hier herrschenden die Bedürfnisse des Mannes vor, wenn auch nicht mehr so offen wie in früheren Gesellschaften. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten galt, dass die Frau ihrem Mann zu Diensten zu sein hatte, die Vergewaltigung der Frau in der Ehe gab es als juristisches Delikt  nicht. Es bedurfte langwieriger politischer Kämpfe, damit Missbrauch, Gewalt gegen die Frau und die Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestände überhaupt anerkannt wurden.

Das ändert jedoch nichts daran, dass bis heute das „Schlafzimmer“- offenkundig ein bevorzugter Ort des Missbrauchs im ehelichen Idyll – von Konservativen und Klerikalen aller Art für tabu erklärt wird. Über sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen liegen seit Jahren sozialwissenschaftliche Untersuchungen vor, die ein erschreckendes Ausmaß dieser brutalsten Form der Unterdrückung belegen – von Beschimpfung und Erniedrigung bis hin zu Vergewaltigung und Zwangsprostitution.

Große, repräsentative Studien wie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ aus dem Jahr 2004 kommen zum Schluss, dass rund 40 Prozent aller Frauen im Alter von 16 bis 85 (mehr als 16 Millionen!) Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt werden. 58 Prozent oder rund 25 Millionen wurden sexuell belästigt. Das größte Risiko sexueller Übergriffe besteht für die Frauen in der Familie und in der Beziehung. Die eigene Wohnung ist in zwei Drittel der Fälle auch der Tatort.

Die zweite große Opfergruppe im familiären Zusammenhang sind die Kinder. Nach Untersuchungen ist jedes 4. Mädchen und jeder 7. Junge Opfer sexuellen Missbrauchs. Die Täter sind zu 90 Prozent Männer, mehr als die Hälfe die Väter der Kinder (gefolgt von anderen „Respektspersonen“ wie Lehrer und Priester)!

Repressive Sexualmoral und Rollenbilder

Sexuelle Gewalt ist zweifellos die brutalste Form von Unterdrückung. Sie zeigt aber auch, welche Verhältnisse in der Institution Familie vorherrschen, wie weit sie davon entfernt ist, einen Schutzraum in einer auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden Welt zu bieten.

Die Familie ist aber nicht nur oft ein Ort offener, sexistischer Unterdrückung und sexueller Gewalt. Eine ihrer gesellschaftlich grundlegenden Funktionen besteht darin, die vorherrschenden Werte und Moralvorstellungen, einschließlich der Geschlechterrollen und einer repressiven, bürgerlichen Sexualmoral (oft in der einen oder anderen religiösen Spielart) an die nächste Generation weiterzugeben. Es geht darum, die Klassenherrschaft als „natürliche Ordnung“ zu reproduzieren und damit auch die Kinder der jeweiligen Klassen je nach sozialem Status zu erziehen. Gerade Kinder aus der ArbeiterInnenklasse müssen früh lernen, ihren untergeordneten Status als natürliche, unveränderliche „Gegebenheit“ zu akzeptieren. In diesem Sinne ist die Familie wahrlich eine „Keimzelle“ der Gesellschaft.

Dazu gehören auch die tradierten Formen der Sexualmoral. Die Sexualität von Kindern und Jugendlichen wird geleugnet (was natürlich den Missbrauch nicht hindert), sexuelle Aufklärung findet nur statt, wenn die Kinder „Glück“ haben.

Gleichzeitig werden die vorherrschenden, hetero-normativen Geschlechterrollen vermittelt. Auch wenn eine Familie gegenüber alternativen Lebensentwürfen, Homosexualität usw. nicht-diskriminierend ist, so setzt die typische, bürgerliche Kleinfamilie schon qua Existenz die Norm. In den meisten Fällen sitzt die Homophobie noch immer so tief, dass es den meisten Familien, Eltern wie Kindern, bis heute als eine „Katastrophe“ erscheint, wenn sich das Kind als lesbisch oder schwul, als transsexuell oder als sonstwie „pervers“ entpuppen sollte.

Überhaupt ist für Jugendliche die Entwicklung ihrer Sexualität eingeschränkt im Korsett von konservativen Traditionen, einengenden Vorschriften und fehlender Aufklärung. Selbst freier Zugang zu Verhütungsmitteln stößt bis heute für viele auf massive Grenzen (nicht nur finanzieller Natur).

“Natürliche” Verhältnisse

Wie überall werden „natürlich“ auch im sexuellen Leben gesellschaftliche Normen, Hierarchien, Geschlechterrollen und selbst Klassenzugehörigkeit reproduziert. Den Eltern, und besonders den Frauen, kommt hier die Rolle der Vermittler der herrschenden Moralvorstellungen zu. Die rückständigsten gesellschaftlichen Ideen, die mitunter sogar im öffentlichen Diskurs nicht mehr offen geäußert werden dürfen/sollen, feiern oft in der Intimität der Familie fröhliche Urständ. Das liegt gerade daran, dass die Familie als privater Ort konstituiert ist, wo Kritik, Verantwortung  und Kontrolle durch „die Öffentlichkeit“ nicht gelten. Dazu kommt, dass der Mann in verschiedener Hinsicht gemäß dem traditionellen Rollenbild das „Oberhaupt“ der Familie ist. Oft nutzt er diesen Status, seine körperliche Überlegenheit und seine Stellung als Hauptverdiener auf Kosten der Frau und der Kinder aus.

Doch selbst ohne diese Bekräftigung der Reaktion konstituiert die „traditionelle“ Familie – einschließlich der an ihr orientieren Formen wie der Ehe von Homosexuellen oder der allein erziehenden Mütter oder Väter – allein durch ihre Bestehen als private, vom öffentlichen gesellschaftlichen Leben abgeschiedene Gemeinschaft das vorherrschende Modell der Beziehung. Wer es nicht schafft, eine derartige Form irgendwann zu etablieren (selbst wenn ein Teil fehlen sollte), hat „etwas falsch gemacht im Leben“.

Wer eine Familie oder Ehe hat, gibt sie nicht so leicht auf, selbst wenn sie die Hölle auf Erden sein mag, ist sie doch immerhin eine gemeinsame Hölle. Das führt neben der ökonomischen Abhängigkeit und dem gesellschaftlichem Druck dazu, dass viele Frauen eine gewalttätige, unterdrückerische Beziehung nicht oder nur schwer beenden können, weil sie durchaus zurecht fürchten, danach total vereinzelt und sozial schlechter gestellt zu sein.

Das heiß aber auch, dass Sexualität immer als eine auf diese Gemeinschaft bezogene reproduziert wird, andere Formen nur als zeitweilige oder „Nebenformen“ gelten (unabhängig von ihrer realen Häufigkeit). Durch diese private Beziehungsform, die Bindung der Sexualität an die Familie oder jedenfalls an die „innige“ Privatbeziehung werden nicht nur die extrem repressiven, unterdrückerischen Seiten begünstigt, v.a. wird die Familie als Modell, als unhinterfragbare „natürliche“ Beziehung etabliert. Das trifft auch, ja gerade auf deren reformierte, partnerschaftlichere Formen zu, wo z.B. Männer und Frauen gleiche Arbeit leisten oder auf die Ehe für Homosexuelle usw. Auch diese „reformierte“ Familie bleibt letztlich eine bürgerliche Institution.

Sexualität und Warengesellschaft

Es wäre jedoch falsch, die Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft nur vom Standpunkt ihrer Unterdrückung und reaktionärer Vorstellungen zu betrachten oder ihr eine quasi-natürliche, „unverfälschte“ Sexualität entgegenzustellen. Auch in einer befreiten, kommunistischen Gesellschaft werden die sexuellen Bedürfnisse nicht quasi-natürlich hervortreten, sondern immer gesellschaftlich vermittelt sein.

Wenn wir die normierte Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft betrachten, so dürfen wir auch die Wirkung der vorherrschenden, über den Warentausch vermittelten Gesellschaftlichkeit auf die sexuellen Bedürfnisse nicht übersehen. Diese werden auch über die Familie, oft aber auch über den Markt vermittelt.

Für die bürgerliche Gesellschaft ist es typisch, dass sich Menschen zueinander als WarenbesitzerInnen verhalten. Auch bei der Sexualität wollen die Menschen „die besten“ sein – und im Gegenzug auch nur den/die/das Beste erhalten oder wenigstens ein gleichwertiges Tauschobjekt. Die Entfremdung der ProduzentInnen vom Produkt ihrer Arbeit prägt in der bürgerlichen Gesellschaft noch die intimsten, persönlichsten Bedürfnisse.

Das erklärt aber auch, warum alle Versuche der sexuellen Befreiung in der bürgerlichen Gesellschaft, alle realen Fortschritte immer zwiespältig bleiben, weil sie eben auf dem Boden einer durch Klassenspaltung, Frauenunterdrückung und Entfremdung geprägten Gesellschaft verbleiben.

Absterben der Familie

Die Familie als Institution ist letztlich untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verbunden und einer ihrer ideologischen und institutionellen Stützen. Sie ist weit davon entfernt, nur ein Hort der Geborgenheit zu sein – in Wirklichkeit ist sie auch ein Hort der Reaktion, der Unterdrückung und des Konservativismus.

Aber sie kann nicht einfach abgeschafft werden, solange ihre materiellen Grundlagen weiter bestehen. Hausarbeit und Kindererziehung, also große Teile der Reproduktion, sind im Kapitalismus wesentlich privat organisiert. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung liegt der systematischen Unterdrückung der Frau in allen Lebensbereichten zugrunde.

Dies heißt keineswegs, dass wir als RevolutionärInnen Reformen auf dem Gebiet der Familie oder der sexuellen Beziehungen gleichgültig gegenüber stehen. Es bedeutet nur, dass wir uns wie auf jedem Gebiet demokratischer oder sozialer Verbesserung der Grenzen dieser bewusst sein müssen und den Kampf dafür in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des längerfristigen Kampfes gegen Kapitalismus und Frauenunterdrückung betrachten.

Die Familie kann nicht „abgeschafft“ werden, wenn nicht eine andere, höhere Form der Organisation der Hausarbeit und Kindererziehung an ihre Stelle tritt. Die individuelle Verantwortlichkeit der Eltern für Hausarbeit und Kindererziehung muss ersetzt werden durch eine reale Vergesellschaft dieser „privaten“ Aufgaben. Allein auf einer solchen Basis kann auch die Sexualität befreit werden vom Makel der Frauenunterdrückung und Klassenausbeutung.




Mindestlohn: Ein fauler roter Apfel

Hannes Hohn/Helga Müller, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Nach langem Hin und Her beschloss der Bundestag das Gesetz zum Mindestlohn. Danach  erhalten ab 1. Januar 2015 rund 3,7 Millionen ArbeiterInnen und Angestellte mindestens 8,50 Euro pro Stunde. Abgesehen von der unzureichenden Höhe und dem späten Einführungstermin entwerten diverse Ausnahmeregelungen den Mindestlohn. So sind Jugendliche unter 18 Jahren davon ausgenommen, ebenso Langzeitarbeitslose im ersten halben Jahr in einem neuen Job. Bei SaisonarbeiterInnen können Kost und Logis angerechnet werden – ein Freibrief für Lohnraub. Für ZeitungszustellerInnen wird der Mindestlohn zwischen 2015 und 2017 erst stufenweise eingeführt.

Von 2016 an soll die Höhe des Mindestlohns alle zwei Jahre von einer Kommission aus  „Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ festgelegt werden. Die Betroffenen bleiben also außen vor und vom weisen Ratschluss der BürokratInnen abhängig.

Dass gerade für Frauen der Mindestlohn ein unbedingtes Muss ist, ist in Gewerkschaftskreisen, der Linkspartei und auch in der SPD durchaus bekannt:

  • In Deutschland ist der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren stärker gestiegen als in jedem anderen Land. Viele Beschäftigte arbeiten im Niedriglohnsektor. Deutlich mehr Frauen als Männer sind in diesem Sektor tätig und auf staatliche Unterstützung – wie Hartz IV -angewiesen. Besonders Frauen leiden unter unsicheren Arbeitsverhältnissen wie befristeten Jobs, Mini-Jobs, Arbeit auf Abruf oder Springertätigkeiten, Teilzeitarbeit, Scheinselbstständigkeit, Werkverträgen. Nach der Rückkehr aus der Elternzeit werden sie oft in schlecht bezahlte und befristete Arbeit oder unfreiwillige Teilzeit gedrängt.
  • Satte 22 Prozent beträgt der sog. „Gender Pay Gap“- so viel Lohn bekommen Frauen weniger als ihre männlichen Kollegen. In Arbeitstagen ausgedrückt: Frauen arbeiten in Deutschland ungefähr 80 Tage im Jahr, ohne dafür bezahlt zu werden. (nach DGB-klartext 7/2014)
  • Im Jahr 2011 z. B. war der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst von Männern im Gewerbe- und Dienstleistungsbereich um 60 Prozent höher als der von Frauen. (nach DGB klartext 7/2014)
  • Frauen sind stärker von Armut bedroht als Männer. Besonders eklatant ist die Situation im Alter. Denn auf  die Rentenansprüche von Frauen wirken sich sowohl die vermehrte Beschäftigung im Niedriglohnsektor als auch die Lohndiskriminierung negativ aus. Dementsprechend beziehen auch mehr Frauen als Männer Grundsicherung im Alter. Einer Berechnung der Hans-Böckler-Stiftung zufolge nehmen 68 Prozent der über 64-Jährigen ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung nicht wahr. (nach DGB-klartext 7/2014)

Die Einführung eines Mindestlohns ist daher für Frauen in Arbeit mehr als überfällig. Selbst mit der jetzigen Höhe von 8,50 Euro hätten nach Berechnung des DGB ungefähr  25 Prozent der weiblichen Beschäftigten sofort Anspruch auf eine ordentliche Lohnerhöhung (nach DGB-klartext 7/2014).

Doch die Höhe des jetzt eingeführten Mindestlohns ist weder existenzsichernd noch schützt er gerade Frauen vor Altersarmut  (abgesehen davon, dass er nicht für alle gilt, sondern  es etliche Ausnahmen gibt – wie am Anfang geschrieben).

Kritik am Mindestlohn

Neben anderen hat sich auch die Fraktion DIE LINKE (neben den Grünen) kritisch zu diesem Gesetz geäußert und fordert die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 10.- Euro, der jährlich an die Lebenshaltungskosten angepasst wird. Zudem soll, wenn in einer Branche der unterste Tariflohn über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, dieser für allgemeinverbindlich erklärt werden. Diese Forderungen zielen in die richtige Richtung, doch sie lassen u.a. die wichtige Frage der Kontrolle der Lebenshaltungskosten (Inflationsrate) offen: Wer, welche Klasse kontrolliert?

Noch wichtiger ist aber, dass die LINKE keine Aussagen dazu macht, wie der Kampf für einen besseren Mindestlohn weitergeführt werden kann, welche Vorschläge oder eigene Initiativen sie diesbezüglich für die Gewerkschaften parat hält.

Immerhin gibt es selbst von einigen DGB-Spitzen wie Bsirske Kritik am Mindestlohn-Gesetz. Doch um einen existenzsichernden Lohn durchzusetzen und Altersarmut zu verhindern, sind folgende Bedingungen notwendig:

  • Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit statt Minijobs und Niedriglohn!
  • Ein gesetzlicher, flächendeckender und bundeseinheitlicher Mindestlohn von mindestens 12.- Euro für alle statt entwürdigender Hartz IV-Aufstockung!
  • Jährliche Anpassung des Mindestlohns an die Lebenshaltungskosten, kontrolliert durch einen gewählten Ausschuss von Gewerkschaften und KollegInnen, die auf das gesetzliche Minimum angewiesen sind!
  • Reguläre Beschäftigung statt Befristung, unfreiwilliger Teilzeit- und Leiharbeit!
  • Einführung einer Mindestrente, finanziert aus Steuern in der Höhe von 1600.- Euro/Monat, um Altersarmut zu überwinden!

Verbale Kritik an dem ungenügenden Mindestlohn der Bundesregierung reicht nicht aus. Die Gewerkschaften haben die Aufgabe, in den Betrieben und Arbeitsstätten für diese Forderungen einzutreten. Gerade jetzt während der anstehenden Tarifrunden in der Metallindustrie und im Öffentlichen Dienst haben die KollegInnen ein offenes Ohr dafür. Das wäre auch der Ausgangspunkt für eine Kampagne in den Betrieben dazu, die dann auch zusammen mit anderen Forderungen wie z.B. der Verteidigung des Streikrechts in Demonstrationen und letztendlich in politische Streiks münden müsste.




Sexismus: Prominente Vergewaltiger

Joy Macready, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Der britische Fußballprofi Ched Evans ist ein Vergewaltiger. Er wurde im April 2012 von einem Gericht schuldig gesprochen, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und steht auf unbestimmte Zeit im Register für Sexualstraftaten.

Aber noch schlimmer ist: er ist ein reueloser Vergewaltiger. Er leugnet die Taten nicht, die zu seiner Verurteilung führten, sondern meint sogar, unschuldig zu sein, indem er behauptet, Sex mit einer Frau zu haben, die derart „außer Gefecht“ gesetzt ist, dass sie keinerlei Erinnerung mehr daran hat, was in der Nacht passiert ist, wäre keine Vergewaltigung.

Aber genau das ist die Definition von Vergewaltigung: Sex ohne beiderseitige Einwilligung.

Evans Urteil sollte in dem Kontext betrachtet werden, wie schwer es für Vergewaltigungsopfer in Britannien ist, Gerechtigkeit zu erreichen. Sie müssen nicht nur die Qual der Vergewaltigung übestehen. Sie müssen auch unter dem prüfenden Blick auf Kleidung und Verhalten im Detail bei der Polizei berichten. Und die Mehrheit der Vergewaltigungsfälle kommt ohnehin nicht vor Gericht.

2012/13 hat die Polizei nur 31% aller eingegangenen Vergewaltigungsanzeigen an die Strafverfolgungsbehörden zur Anklage weiter geleitet (insgesamt 5.400 Fälle) – und dies trotz einer Zunahme von 30% an Vergewaltigungsanzeigen. Nur 60% der Fälle, die vor Gericht kamen, endeten mit einer Verurteilung.

Als Evans im Oktober nach Absitzen der halben Strafe entlassen wurde, sollte er seine hochkarätige Fußballkarriere wieder aufnehmen. Die Vereinigung der Profifußballer PFA hieß seine Rückkehr und “Rehabilitierung” willkommen und fragte bei seinem alten Klub, Sheffield United, an, ob er dort weiter trainieren könne.

Dies führte zu viel Empörung in der Öffentlichkeit. Die Leichtathletik-Olympiasiegerin Jessica Ennis-Hill war die erste, die sich klar aussprach, indem sie drohte, die Verbindungen zu diesem Verein zu kappen. Eine Online-Petition auf Change.org gegen Evans Wiedereinstellung bei Sheffield United bekam 170.000 Unterschriften.

Eine weitere Petition gegen die Anstellung beim Fußballverein Oldham hat ebenfalls bereits 71.000 Unterschriften erreicht. Die Sponsoren Verlin und Mecca Bingo kündigten an, ihre Beziehungen zu dem Club zu beenden, sollte dieser Evans einstellen.

Diese Reaktion in der Öffentlichkeit hat nichts mit der ‚Herrschaft des Mobs’ zu tun, wie Evans es abtun möchte, sondern ist Teil einer sich entwickelnden sozialen Bewegung gegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch – und gegen den Kult um Prominente, der die Augen verschließt vor den strafbaren Handlungen einstiger und jetziger Größen des Showgeschäfts wie Jimmy Savile, DJ Ray Teret, Bill Cosby und Rolf Harris.

Evans ist nicht der erste Fußballer, der seine Berühmtheit missbraucht, um eine Vergewaltigung zu begehen. Fußballer sind bekannt dafür, in Nachtklubs Frauen zu suchen, um mit ihnen Sex zu haben, was sie „ernten“ nennen. Dort existiert eine groteske Sexkultur, mit sog. „roasting“, der Verführung junger Frauen zu degradierendem Gruppensex, wo sie von einem Spieler zum nächsten gereicht werden und dabei meist noch gefilmt werden – ein verbreitetes und akzeptiertes Verhalten. Das Verfahren gegen Evans machte deutlich, dass er und seine Kumpane genau diesen üblen Praktiken nachgingen, als die junge Frau vergewaltigt wurde.

Wenn die Kampagne gegen Evans hilft, solches Verhalten sozial untragbar zu machen, hat sie große Dienste geleistet.

Aber was ist mit dem Opfer? Sie musste ihren Namen ändern und aus ihrer Heimatstadt wegziehen, nachdem ihr Name auf Twitter veröffentlicht wurde und sie das Ziel von Online-Angriffen wurde.

Vergewaltigungsopfer können nie zu ihrem alten Leben zurückkehren. Sie leben in Angst vor weiteren Übergriffen, können Panikattacken und sexuelle Beklemmung erleiden – in einigen Fällen haben sie versucht, Selbstmord zu begehen.. Es kann Jahre dauern, um zu etwas zurückzukehren, was von außen wie „Normalität“ aussieht.

Der öffentliche Aufschrei kommt zu einem Zeitpunkt, da die Regierung aufgrund von Sparprogrammen starke Angriffe auf die Unterstützung von Vergewaltigungsopfern durchführt, indem sie Vergewaltigungs-Krisenzentren und Zufluchtsorte schließt und Gelder für lokale Dienste kürzt.

Die Verherrlichung von berühmten Persönlichkeiten hat ein Klima geschaffen, in dem der Lebensstil der Reichen und Berühmten als erstrebenswert erscheint. Materieller Reichtum ist ein Aspekt dieses Strebens, ein weiterer aber ist, den Grenzen und moralischen Standards zu entfliehen, der das Leben der meisten Menschen beherrscht. Prominente kommen oft ungesühnt für Verhaltensweisen davon, wofür andere Menschen bestraft würden. Die Leute haben Recht, diese widerliche Manifestierung von Klassenungleichheit übel zu nehmen.

SozialistInnen sollten sich positiv auf diesen wachsenden Ärger über die Immunität beziehen, mit welcher die Elite alle Formen des Missbrauchs begeben kann und ihren Einfluss und ihre Macht nutzt, um den Konsequenzen zu entgehen.

Wenn es gelingt, Ched Evans Rückkehr in eine Fußballkarriere zu verhindern, kann dies zu einer kleinen Portion Befriedigung führen, aber das Schicksal eines Individuums ist ein Tropfen im Ozean. Wir müssen die Aufmerksamkeit, die sein Fall auf das Vergewaltigungsproblem in Britannien gelenkt hat, nutzen und in eine Bewegung wandeln, welche die systemischen Ursachen aufgreift – die sexistische Unterwerfung von Frauen in einer Gesellschaft, in der eine reiche Minderheit über eine unfreie und unterdrückte Mehrheit herrscht.