Frauenbewegung in den USA und die Abtreibungsfrage

Jan Hektik, Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Seit Jahrzehnten stehen die Abtreibungsrechte im Fokus der Frauenbewegung in den USA – nicht erst seit dem 24.06.2022, als der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) die Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade” kippte (Entscheidung Dobbs vs. Women’s Health Organization). Dabei stellen sie nicht nur die Frage der Selbstbestimmung über den eigenen Körpers, des Lebens und der Gesundheit von Frauen auf die Tagesordnung. Der Stand der Bewegung zeigt auch auf, welchen Problemen die Frauenbewegung sich im Kampf gegen die (meist fanatisch christliche) Rechte gegenübersieht.

Rechtliche Situation

„Roe vs. Wade” wurde 1973 gefällt und garantierte seitdem Frauen grundsätzlich das Recht, über den Abbruch von Schwangerschaften selbst zu bestimmen – bis zum Juni 2022. In den Monaten nach dem Urteilsspruch  wurde der Zugang zu Abtreibungs- und Reproduktionsdienstleistungen in fast der Hälfte des Landes drastisch eingeschränkt oder verboten. Viele Kliniken bieten in den betroffenen Bundesstaaten keine Dienstleistungen mehr an, da die Rechtslage unberechenbar geworden ist, mit einer breiten Palette an staatlichen Maßnahmen, die nach dem Urteil eingeführt wurden – einschließlich Verboten, die vor Roe galten (einige davon stammen aus den 1800er Jahren), neuen Gesetzen und mehreren laufenden Gerichtsverfahren. Diese Unvorhersehbarkeit hat in vielen Staaten zu einer abschreckenden Wirkung geführt, so dass Anbieter:innen von Abtreibungen aus Angst vor rechtlichen Schritten ihre Dienste vorsorglich eingestellt haben. Die Lage gestaltet sich nun wie folgt:

In 14 Bundesstaaten ist Abtreibung bis auf wenige Ausnahmen illegal (Alabama, Arkansas, Idaho, Indiana, Kentucky, Louisiana, Mississippi, Missouri, North Dakota, Oklahoma, South Dakota, Tennessee, Texas, West Virginia). Dies bedeutet, auch bei sexualisierter Gewalt, psychischen Folgen oder unmittelbarer Gefahr für die Gesundheit der Mutter und unabhängig von den Überlebenschancen des Kindes ist ein Abbruch der Schwangerschaft in diesen Staaten nicht erlaubt. So verbot jüngst ein texanisches Gericht einer 31-jährigen die Abtreibung ihres höchstwahrscheinlich nicht lebensfähigen Fötusses, die einen Notfallschwangerschaftsabbruch beantragt hatte. Weitere 13 stehen Abtreibung generell feindlich gegenüber und planen entweder die Illegalisierung oder starke Einschränkungen. In 11 wurden der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen vereinfacht und besonders geschützt (Kalifornien, Connecticut, Hawaii, Illinois, Maryland, Minnesota, New York, Oregon, Vermont, Washington).

In den restlichen Staaten ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Beispielsweise versucht die Legislative in Florida, immer wieder Angriffe auf das Abtreibungsrecht durchzuführen, das oberste Gericht Floridas verhindert dies jedoch regelmäßig. Dabei ist herauszustellen: Die rechtliche Lage alleine gibt nicht wieder, wie der Zugang zu Kliniken, die Finanzierung des Eingriffs oder die Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten aussehen. Das heißt, selbst keine oder lediglich partielle Einschränkungen bedeuten nicht automatisch, dass Selbstbestimmung über den eigenen Körper so einfach möglich ist.

Seit dem Urteil des Supreme Court hat rund die Hälfte der Gesetzgeber:innen in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr als 500 neue Gesetze zu Abtreibungen erlassen, die zu einer Verschärfung oder einem absoluten Verbot von Abtreibungen geführt haben, drohen allen, die Frauen helfen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, hohe Haft- und empfindliche Geldstrafen und als Arzt/Ärztin auch der Entzug der Berufslizenz. Die krassesten Forderungen der Abtreibungsgegner:innen sind die nach Verhängung der Todesstrafe (South Carolina), Verbot der Zulassung für die Abtreibungspille Mifepriston  und Streichung der Ausnahmen bei Vergewaltigung und Inzest (Texas).

Auswirkung

Schon vor Einschränkung der Selbstbestimmung war in keiner Industrienation die Müttersterblichkeit so hoch wie in den USA. Die Tendenz nimmt aktuell zu. Dabei zeigt die Realität, dass die Auswirkungen der Einschränkungen je nach Klassenlage unterschiedlich ausfallen: Der  Flickenteppich aus verschiedenen Regelungen, der eingeschränkte Zugang zu Krankenversicherungen sowie allgemein schlechte medizinische Versorgung in den USA führen dazu, dass vor allem proletarische Schichten ungleich stärker getroffen werden. Die emotionale Belastung, ungewollt schwanger zu sein, sowie die Ablehnung durch das Umfeld treffen zwar alle, es macht jedoch einen massiven Unterschied, ob man es sich leisten kann, nach Kalifornien zu fliegen, um dort eine Abtreibung durchzuführen, oder dies schlichtweg nicht bezahlen kann. Diesen bleibt dann nur übrig, Abtreibung illegal oder durch Freund:Innen vornehmen zu lassen – oder das Kind zu bekommen.

Dabei weisen viele der Bundesstaaten mit Abtreibungsverbot bereits jetzt die schlechtesten wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen für Frauen und Familien in den USA auf wie keinen garantierten, bezahlten Urlaub aus familiären und medizinischen Gründen, keine Ausweitung der MedicAid-Deckung auf 12 Monate nach der Geburt und schon jetzt höhere Armutsquoten von Frauen und Kindern als im Landesdurchschnitt. Diese Entscheidung sorgt letzten Endes dafür, dass die wirtschaftliche Stellung von Frauen sich weiter verschlechtert, und drängt sie in die Abhängigkeit von Beziehungen – und setzt sie auch der Situation aus, partnerschaftliche Gewalt aushalten zu müssen. Ebenso ist herauszustellen, dass nicht-weiße Frauen, insbesondere Schwarze, besonders davon getroffen werden, da sie schon jetzt überproportional in Gegenden mit schlechter medizinischer Infrastruktur leben, im Kindbett sterben und von rassistischen Übergriffen und Benachteiligungen im Gesundheitssystem betroffen sind.

Und der Widerstand?

Immer wieder kommt es zu größeren Protesten, zumeist angeführt von den Demokrat:innen wie zum 50. Jahrestag der „Roe vs. Wade”-Entscheidung, bei der Tausende auf die Straße gingen. Jedoch hat der Widerstand mehrere Probleme: Die sporadischen Proteste sind kaum miteinander koordiniert, was ihre Ausweitung erschwert. Vor allem ist jedoch die Strategie der Führung der Proteste – der bürgerlichen Demokratischen Partei – fehlerhaft. Hier zeigt sich sehr anschaulich, welche Probleme mit dem klassenübergreifenden Kampf für Unterdrückte verbunden sind.

Das Motto der Demokrat:innen lautet: wählen, bilden und überzeugen. Ganz nach dem Motto: „Wir müssen nur gut genug darlegen, warum es wissenschaftlich und gesundheitlich richtig ist, Menschen, die die das Recht auf Abtreibung anerkennen, in Positionen wählen, wo sie Entscheidungen treffen können, dann werden sich Gesetze und Gerichte danach richten. Schließlich haben doch auch die Rechten über Gesetzgebung und den Supreme Court diese Änderung bewirkt.“

Diese Überlegung krankt jedoch an zwei Denkfehlern: Zum einen vertauscht sie Ursache und Wirkung. Die US-amerikanische Rechte stellt eine Bewegung dar, welche durch Demonstrationen, Verbreiten von Propaganda und Angriffen ihre Ziele durchsetzt, damit die Republikanische Partei vor sich hertreibt und ihre Ziele umsetzt. Die Gesetzgeber:innen und Richter:innen im Supreme Court sind nämlich dabei nicht das Mittel, sondern Ergebnis einer kämpfenden Bewegung, welche auch nicht davor zurückschreckt, faschistoide Elemente zu verwenden. Dass sie Teile der Bevölkerung ansprechen kann, liegt auch nicht an mangelnder Aufklärung dieser, sondern entweder daran, dass diese ihre gesellschaftliche Stellung halten wollen oder sich bereits in einer schlechten ökonomischen Situation befinden und keine andere Alternative aufgezeigt bekommen, außer gegen marginalisierte Gruppen zu kämpfen.

Gerade deswegen ist zum anderen der Weg der Überzeugung fehlerhaft. Über 2/3 der US-Bevölkerung stehen dem Abtreibungsrecht grundsätzlich positiv gegenüber. Es gilt nicht, das letzte Drittel zu überzeugen, sondern sich zu fragen, weshalb 1/3 über 2/3 entscheiden kann und wie dies zu beheben ist. Wenn 70 % Mehrheit nicht reichen, warum sollten es 80 % tun? Wenn die Demokrat:innen seit den 1970er Jahren keine ihrer Mehrheiten genutzt haben, um Abtreibungsrechte gesetzlich zu verankern, warum sollten sie es in Zukunft tun?

Warum eigentlich?

Die Republikaner:innen und Rechten mit der gesellschaftlichen Dynamik über ein Werkzeug, ihre Position durchzusetzen. Die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung über weibliche Körper zementiert die Herrschaft von Männern über Frauen in Beziehungen, stärkt die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie und bietet Männern eine Ablenkung von der Krise (und individuell ein Gefühl ihrer Abschwächung), während es gleichzeitig Frauen bindet und daran hindert, dagegen zu kämpfen. Natürlich gibt es nicht irgendwo eine geheime Verschwörung rechter Köpfe, die einen Masterplan über die Stärkung der bürgerlichen Familie ausgeheckt haben, sondern es sind gesellschaftliche Kräfte und Tendenzen, die bestimmte Verhaltensweisen, Organisationen und Bewegungen stärken und andere schwächen.

Die Republikaner:innen und die Rechte profitieren gewissermaßen davon, dass ihre Ziele weniger widersprüchlich sind. Wer sich auf das religiös motivierte Verbot von Abtreibungen, Enthaltsamkeit als Verhütungsmethode und den Segen der bürgerlichen Familie beruft, kommt nicht nur gut bei religiösen Fundamentalist:Innen und konservativen Traditionalist:Innen an, sondern fördert auch nebenbei ein Umfeld, in welchem Frauen noch einfacher entlassen, unterbezahlt, teilzeitbeschäftigt und in die Reproduktionsarbeit getrieben werden können. Dies ist ein großes Plus für Unternehmer:innen – insbesondere in Krisenzeiten –,  welche Lohn- und Reproduktionskosten senken und nebenbei einen psychologischen Effekt der Überlegenheit bei ihren Arbeitern erzielen können, welcher sie ruhigstellt.

Die Demokrat:innen können sie sich in manchen Fragen zwar liberaler positionieren, kämpfen gegen offenen Sexismus, die Wurzel der Unterdrückung (die bürgerliche Familie) wollen sie jedoch nicht angreifen. Denn das würde bedeuten, dass sie mit ihrer Politik zugunsten der Profite der Unternehmen brechen müssten.

Wie kann die Bewegung Erfolg haben?

Um eine erfolgreiche Bewegung für Selbstbestimmung über den eigenen Körper auf die Beine zu stellen, bedarf es mehrerer Schritte:

Gemeinsame Forderungen, Slogans und koordinierte Proteste bilden einen ersten Schritt, um den bestehenden Aktivitäten einen gemeinsamen Deckel zu geben sowie mehr Ausstrahlung zu erreichen. Dies kann Ergebnis von Absprachen zwischen Organisationen sein, jedoch braucht es eine Strategiekonferenz, bei der Aktivist:innen zusammenkommen können und verbindliche Beschlüsse und Aktivitäten verabschieden. Dort muss diskutiert werden, wie die Bewegung aufgebaut werden kann – und wie ihr Weg verlaufen soll, ihre Forderungen zu erreichen. Unserer Meinung nach hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Demokrat:innen sich zwar gerne an den Protesten beteiligen dürfen, ihre Strategie ist jedoch unzureichend und kann nicht als Grundlage genommen werden.

Wenn eine Bewegung Erfolg haben will, darf sie nicht nur Massendemonstrationen organisieren, sondern muss sich an Schulen, Universitäten sowie in Betrieben verankern und vor Ort präsent sein. Um das zu erreichen, ist es nicht nur wichtig, Aktivitäten vor Ort zu organisieren. Es ist auch notwendig, nicht nur gegen das Abtreibungsverbot zu kämpfen, sondern für konkrete Verbesserungen. Die Realität zeigt: Arme Schichten sowie insbesondere Nicht-Weiße sind besonders von den Abtreibungsverboten betroffen. Es müssen also Forderungen entworfen werden, die den Kampf um Selbstbestimmung mit dem für breitere Verbesserungen der Arbeiter:innenklasse insgesamt verbinden helfen. Ziel muss es sein, Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, sodass diese sich aktiv an den Protesten beteiligen, selber mobilisieren und gemeinsam mit der Bewegung den politischen Streik als Waffe zur Durchsetzung der Forderungen lancieren können:

  • Reproduktive Gerechtigkeit jetzt: Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung!
  • Menschen statt Profite: Für ein staatliches Gesundheitssystem, in das alle einzahlen und welches alle Gesundheitsleistungen inklusive Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Geburten ohne Zusatzleistungen abdeckt (Single Payer HealthCare System)!
  • Schluss mit Abhängigkeit: Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Flächendeckender Ausbau von Schutzräumen für Betroffene von sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter, sowie LGBTIA+!
  • Für Aufklärungskampagnen an Schulen, Universitäten und in Betrieben durch Gewerkschaften zu Sexismus, sexuellem Konsens und Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

In so einer Bewegung ist es wichtig, dass Sozialist:innen eine revolutionäre Perspektive hereintragen. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass diese Probleme einer systematischen Umwälzung mindestens des US-Gesundheits-, Justiz-, Regierungs- und Polizeisystems bedürfen. Solange es einen Flickenteppich aus privaten Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen gibt, wird die Gesundheit (und werden damit sichere Abtreibungen, Schwangerschaften und Geburten) ein Privileg der Reichen sein! Das heißt: Wir unterstützen den Kampf für Reformen und Verbesserungen. Gleichzeitig muss dieser damit verbunden werden, dass Elemente von Arbeiter:innenkontrolle in die Forderungen mit eingebunden werden, um sicherzustellen, dass diese im Interesse der Klasse umgesetzt werden und aufzeigen, wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Das kann beispielsweise so aussehen:

  • Versorgung garantieren: Verstaatlichung des Gesundheitssektors unter Kontrolle der Arbeiter:innen! Flächendeckender Ausbau von Kliniken, insbesondere in ländlichen Regionen, sowie massive Aufstockung des Personals!
  •  Schluss mit Diskriminierung in der Medizin: Für Sensibilisierungskampagnen gegen sexistische und rassistische Vorurteile!
  • Armut stoppen: Anhebung des Mindestlohns auf 15 USD/Stunde und Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Finanzierung durch die Besteuerung der Reichen und verbindliche Offenlegung der Geschäftskonten gegenüber den Gewerkschaften!

Bewegung alleine reicht nicht

Das zeigt die Richtung, in die es gehen muss. Die Aufgabe von Revolutionär:innen in den USA ist letzten Endes eine dreifache: a) der Aufbau einer Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit; b) Bildung eines Pols in dieser Bewegung, der eine revolutionäre Perspektive aufzeigt; und c) der Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, die es schafft, unterschiedliche Bewegungen zu sammeln und mit einer Perspektive, einem realen Programm zum Erfolg zu führen – also das kapitalistische System zu zerschlagen. Ihre Aufgabe besteht  somit nicht primär darin, zu Wahlen anzutreten, sondern die Kämpfe zu organisieren, planen und aktiv zuzuspitzen. Dabei muss sie als Bindeglied zwischen den verschiedenen kämpfenden Gruppen (People of Colour, Frauen, Gewerkschaften, LGBTIA+, Umweltbewegung) fungieren und den offenen Kampf gegen die Politik der Mitverwaltung des Kapitalismus seitens Demokrat:innen und Gewerkschaftsführung in diese tragen. Nur so kann letzten Endes gesichert werden, dass reproduktive Gerechtigkeit nicht nur als Wahlkampfslogan benutzt, sondern aktiv umgesetzt wird. Dabei ist essentiell, dass in Gewerkschaften oder politischen Organisation der Arbeiter:innenbewegung gesellschaftlich unterdrückte Gruppen das Recht haben, einen Caucus zu bilden, sich gesondert nur unter sich zu treffen, um die eigene Unterdrückung in einem Schutzraum diskutieren zu können!




Rezension: „Diversität der Ausbeutung“

Mo Sedlak, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1236, 13. November 2023

Die Ausbeutung der Arbeiter:innen hat immer schon auch deshalb funktioniert, weil sie in Segmente und Gruppen mit scheinbar gegensätzlichen Interessen aufgespalten sind. Rassistische Überausbeutung, koloniale Enteignung, sexistische Aufteilung der unbezahlten Reproduktionsarbeit und mit Gewalt und Stigmatisierung vollzogener Ausschluss von LGBTQIA+-Personen prägen bis heute die soziale Ordnung der kapitalistischen Gesellschaften. Gleichzeitig beeinflussen und segmentieren sie die Arbeiter:innenklasse. In Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbos Sammelband „Diversität der Ausbeutung“ weist Christian Frings schon im Vorwort darauf hin, dass diese „eigentümliche Zusammensetzung“ schon Marx als notwendige Voraussetzung für Ausbeutung und Mehrwertproduktion auffällt. (Mendívil und Sarbo 2022, 13)

Aus der Zusammensetzung der Klasse ergibt sich auch eine Aufspaltung der Arbeiter:innen. Die Arbeiter:innenbewegung hat diese immer bekämpft, je nach politischer Ausrichtung und geschichtlicher Verfasstheit mal mit mehr Ernsthaftigkeit und mal mit weniger Erfolg. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung in Folge des Zweiten Weltkriegs haben kam es ab den 1960er Jahren zu größeren und erfolgreicheren Bewegungen als je zuvor gegen die soziale Unterdrückungsmelange aus Neokolonialismus, kaum verschleiertem völkischen Erbe und dem Zwang der heterosexuellen Kleinfamilie. Der Kapitalismus im imperialistischen Zentrum passte seine sozialen Regeln und die Arbeitsteilung innerhalb der Klasse an. Seitdem sind Regierungen und loyale Oppositionen bestrebt, soziale Kämpfe vom Antikapitalismus zu trennen. Um die Rebellion zu verhindern, bieten Parteien und Konzerne jetzt Diversität an.

Das Buch selbst macht auf das Wortspiel im Titel aufmerksam (Witze werden immer lustiger, wenn sie erklärt werden!). „Diversität der Ausbeutung“ benennt sowohl die unterschiedlichen Ausbeutungsformen anhand von rassifizierter und geschlechtlicher Aufspaltung, aber auch die Rolle des neoliberalen „Diversitätsmanagements“ für die fortgesetzte Ausbeutbarkeit des Proletariats.

Das ist der Ausgangspunkt von Mendívils und Sarbos Kritik des herrschenden Antirassismus (das ist der Untertitel von „Diversität der Ausbeutung“, das 2022 im Berliner Dietz Verlag erschienen ist). Die Autor:innen machen den Widerspruch auf zwischen einem Kapitalismus, der die Arbeiter:innenklasse ohne Rassismus nicht beherrschen kann, und Arbeiter:innen die sich diese Herrschaft nicht gefallen lassen.

Zusammenfassung: marxistische Kritik und Kritik der Kritik

Das Buch ist auch eine scharfe Kritik an bürgerlichen und kleinbürgerlichen Linken. Diesen werfen die Autor:innen vor, die Sprache der Herrscher:innen übernommen zu haben bzw. ihre nächsten Entwicklungsstufen für sie zu schreiben. Im Gegenzug dazu hätten die größten Teile der postkolonialen, poststrukturalistisch-feministischen und intersektionalen Theoretiker:innen aufgegeben, in den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen nach der Ursache für Rassismus, Sexismus und Queerunterdrückung zu suchen. Dementsprechend würden auch ihre Lösungsansätze am Kern der Sache vorbeigehen und sich sicher innerhalb der Systemgrenzen bewegen. Den Gegenentwurf skizzieren die zwei Herausgeberinnen im ersten Kapitel, „Warum Marxismus“, als systematische Anwendung der materialistischen Methode.

Zum Beispiel bauen Mendívil und Sarbo im fünften Kapitel auf Barbara Foleys Kritik der Intersektionalität auf und stellen ihr die marxistische Kategorie der Verdinglichung entgegen. Intersektionalität zeichnet Bevor- und Benachteiligungen als Differenzlinien auf, deren Überschneidungen dann Mehrfachunterdrückung zeigen. Foley macht darauf aufmerksam, dass gerade die Zweidimensionalität der Darstellung die besonderen Formen von rassistischer Arbeitsteilung, behindertenfeindlicher Gesetzeslage und Ausbeutung des Mehrprodukts unterschlägt. Mendívil und Sarbo stellen dem das Verständnis der Verdinglichung entgegen, wo die Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zur Identität des Subjekts gemacht, ideologisch definiert und durch den gesellschaftlichen Umgang (zum Beispiel in Gesetzesform) materialisiert wird: „In Identitäten erscheint den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft also ihre gesellschaftliche Tätigkeit als Eigenschaft“ (Mendívil und Sarbo 2022, 110). Sie streiten weder die Existenz noch die Wirkmächtigkeit von Identitäten ab, suchen aber deren Ursache in Produktion und Reproduktion und finden den Weg zur Überwindung der Unterdrückung in der der gesellschaftlichen Produktionsweise.

Unabhängig davon, wer das Buch alles als Streitschrift gegen die Identitätspolitik gelobt hat, benennen die Beiträge Kämpfe von sozial Unterdrückten aber als Klassenkämpfe. Ökonomismus oder konservativen Vorstellungen von Haupt- und Nebenwiderspruch gehen die Autor:innen aus dem Weg. „Die Diversität der Ausbeutung“ versucht, eine materialistische Analyse von Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung, unabhängig von bürgerlichen Ideologien zu entwerfen.

Gleichzeitig gelingt es nicht ganz, das Verhältnis von Unterdrückung und Ausbeutung zueinander zu klären. Von der richtigen Analyse ausgehend, dass Ausbeutung nicht dasselbe wie Klassismus ist, bleibt die Differenzierung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung vage. Dass sich zwischen den Beiträgen verschiedener Kapitelautor:innen Widersprüche auftun, ist keine Überraschung und auch kein Vorwurf. Dadurch bleibt eine Kernfrage des Buches aber offen. „Das dieser Unterdrückung [von Frauen und Schwarzen Personen] zugrundeliegende Verhältnis von Kapital und Arbeit bleibt damit verschleiert. Die Charakterisierung von Klasse als einem Ausbeutungsverhältnis unterscheidet sich von der Unterdrückung als politischem Verhältnis – ausgedrückt in beispielsweise Geschlecht oder Rasse – und Diskriminierung als analytischer Kategorie.“ (Mendívil und Sarbo 2022, 112)

Wie die Autor:innen darstellen, sind rassistische und sexistische Arbeitsteilung, heterosexistische Familienstrukturen und auch auf Rassismus und Sexismus aufbauende Enteignung grundlegende Formen der Klassengesellschaft. Aber Ausbeutung und Unterdrückung gehen nicht nur Hand in Hand. Die Entstehung der Arbeiter:innenklasse kommt aus der gleichzeitigen Trennung von Produzent:in und Produkt, der Trennung von produktiver und reproduktiver Arbeit, und der Trennung von rassistisch überausgebeuteten Produzent:innen von der Verfügung über ihre Arbeitskraft.

Die Entstehung der Arbeiter:innenklasse bedeutet nicht nur das Werden von Menschen, die arbeiten müssen, um essen zu können (was Søren Mau in seinem ebenfalls kürzlich bei Dietz erschienenen „Stummer Zwang“ als ebenso zwingend wie staatliche Gewalt und ideologische Rechtfertigung analysiert). Sie zwingt Menschen auch zur geschlechtlichen Arbeitsteilung, um sich reproduzieren zu können, in rassistische Segmentierung, um der kolonialen und postkolonialen Gewalt zu entgehen, und in heterosexistische Kleinfamilienstrukturen, in denen die Reproduktion am günstigsten zu haben ist. In „Diversität der Ausbeutung“ werden diese Mechanismen beschrieben und mit der Verdinglichung auch die Verbindung zu Ideologie und Identität gelegt. Die analytische Trennung von ökonomischer Ausbeutung und politischer Unterdrückung bleibt aber dahinter zurück.

Kernpunkte

Das Buch ist nicht in Teile oder Abschnitte aufgeteilt, verfolgt aber zwei Projekte, die sich auch nach Seitenzahlen grob abgrenzen lassen. In den ersten drei Kapiteln legen Mendívil und Sarbo, dann Sarbo alleine, und dann Mendívil und Hannah Vögele ihr grundlegendes Verständnis von Marxismus, Rassismus und sozialer Reproduktion dar. Zu diesem ersten Teil gehört auch das Vorwort von Christian Frings, der die Individualisierung von linker Kritik als Folge der gesellschaftlichen Neoliberalisierung (Thatchers „There is no such thing as society“, „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“) genauso benennt wie die zentrale Rolle der segmentierten Arbeiter:innenklasse für ihre Ausbeutbarkeit im ersten Band von Marx‘ „Kapital“. Er positioniert das neoliberale „Diversitätsmanagement“ als Reaktion auf die explosiven sozialen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre, macht aber auch klar, dass diese nicht den Klassenkampf geschwächt hätten, sondern im Gegenteil für die rassistische und sexistische Friedenspolitik zum Problem wurden.

Im ersten Kapitel, „Warum Marxismus“, skizzieren die Herausgeberinnen ihre Kritik an der diversitätsorientierten Linken. Dass an die Stelle der Genoss:innenschaft, also des gemeinsamen Klassenkampfes, die Allyship (das Bündniswesen) getreten ist, wird als liberale Praxis mit radikaler Rhetorik benannt. Die materialistische Analyse, die Mendívil und Sarbo mit Marxismus meinen, leitet Rassismus und Sexismus aus der kapitalistischen Produktionsweise ab. Die Überwindung des Kapitalismus entzieht auch der sozialen Unterdrückung die Wurzeln (das schafft diese Unterdrückung aber nicht automatisch oder unmittelbar ab). Eine Kritik, die auf die korrekte Repräsentation von Migrant:innen, People of Color und sexistisch Unterdrückten abzielt, stabilisiert die Produktionsweise und damit den Ursprung von immer neu erfundenen sozialen Spaltungs- und Unterdrückungsmechanismen.

Im zweiten Kapitel, „Rassismus und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse“, erklärt Bafta Sarbo, wie ungleiche Ausbeutung von schwarzen und indigenen Menschen zu einer rassistischen Ideologie und diese wiederum dazu führt, dass sie an den Rand gedrängt und überausgebeutet werden. Sie unterscheidet den Kolonialrassismus von kolonialer Landnahme und Überausbeutung von Sklav:innen auf der einen Seite und die Überausbeutung in einem formellen Lohnarbeitsverhältnis von Arbeitsmigrant:innen auf der anderen. Der Kolonialrassismus nimmt eine zentrale Rolle in Marx‘ Analyse von der ursprünglichen Akkumulation ein, also dem Anhäufen des notwendigen Kapitals, um dessen Dynamik zur weltweit dominanten Wirtschaftsweise zu machen durch Landnahme, Handelsrouten und brutale Enteignung von Rohstoffen. Wiederholte Dynamiken der ursprünglichen Akkumulation, des „Profits durch Entfremdung“ (Anwar Shaikh macht auf dessen zentrale, aber unterbewertete Rolle in der marxistischen Ökonomie aufmerksam) sehen wir aber bis heute, beispielsweise in der Landnahme für industrielle Produktion oder Agrarindustrie. Bis heute wird diese rassistisch legitimiert und zwingt neue Gruppen in die Arbeitsmigration und damit in die rassistische Schlechterbehandlung.

Rassismus bleibt aber über diese historische Pfadabhängigkeit hinweg wirksam und wirkmächtig. Die rassistische Ideologie ist in den imperialistischen Ländern zentral und durch die weltweite Hegemonie des Imperialismus auch global wirksam. „Der Kapitalismus ist nicht farbenblind, denn er ist auf die Überausbeutung eines Teils der Arbeiterklasse und die ideologische Legitimation dafür angewiesen. Bei rassistischer Gewalt handelt es sich für das Kapital allerdings um eine Zerstörung von Arbeitskraft und damit der wichtigsten Grundlage der Kapitalakkumulation. Deshalb müssen sich im Kapitalismus Differenz und Gleichheit stets die Waage halten.“ (Mendívil und Sarbo 2020, 60)

Daraus ergibt sich auch eine klare Handlungsanweisung: die Veränderung der materiellen Verhältnisse statt einer Beschränkung auf rassistisches oder antirassistisches Bewusstsein. Sarbo bezieht sich hier auf die Sätze vor Marx‘ berühmtem „Es kommt darauf an, sie zu verändern“, nämlich: „Diese Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, das heißt, es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen.“ (Marx 1845, 20)

So wie Kolonialrassismus und Rassismus gegen Arbeitsmigrant:innen nicht nur wichtig, sondern eine Ursache für die Entstehung der Arbeiter:innenklasse sind, analysieren Mendívil und Vögele im dritten Kapitel den Sexismus als Ausdruck der geschlechtlichen Arbeitsteilung. „Diese Auseinandersetzungen ermöglichen es erst zu verstehen, wie die Trennung in eine Sphäre der Produktion und die der Reproduktion, in private und öffentliche Bereiche und in nicht-entlohnte und entlohnte Arbeit mit den jeweils zugeschriebenen Körpern eine spezifisch rassifizierte und binäre Geschlechterordnung festschreibt.“

Dass die Reproduktionsarbeit privatisiert ist, macht ihre Funktion nicht weniger gesellschaftlich. Die Ergebnisse der unbezahlten Hausarbeit, von Erziehung über Nahrung bis zur Unterkunft, sind kein privates Luxusvergnügen, sondern Voraussetzung für die tägliche Ausbeutung.

Die Soziale Reproduktionstheorie, auf die sich Mendívil und Vögele berufen, erklärt die geschlechtliche Arbeitsteilung aus dem gesellschaftlichen Bedarf an Reproduktion. An Teilen dieser Theorie gibt es aber auch eine harsche marxistische Kritik, die zum Beispiel Aventina Holzer im Revolutionären Marxismus, Band 53, darlegt. Eine Gleichsetzung von produktiver und reproduktiver Arbeit, weil beide für die Kapitalakkumulation unverzichtbar sind, ignoriert den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Ausbeutung und Akkumulation. In Lise Vogels zentralem „Marxismus und Frauenunterdrückung“ wird die Trennung von politischer und ökonomischer Frauenunterdrückung auch zum Argument, warum die Frauenbewegung eine teils klassenübergreifende, teils klassenkämpferische Form braucht. Diese Schlussfolgerungen finden sich in „Diversität der Ausbeutung“ nicht, es bleibt aber auch unklar, was Mendívil und Vögeles „reproduktionstheoretische“ Herangehensweise von anderen Teilen der Literatur analytisch trennt.

Rassistischer Kapitalismus

Im zweiten Teil des Buchs nehmen sich Fabian Georgi die zentrale Rolle von Grenz- und Migrationsregimen, Mendívil und Sarbo die Intersektionalität, Lea Pilone den strukturellen Rassismus der deutschen Polizei, Celia Bouali den integrierten EU-Arbeitsmarkt und Sebastian Friedrich den Erfolg der AfD im zunehmend krisenhaften Kapitalismus vor.

In diesen konkreten Auseinandersetzungen, und vor allem in der Kritik der akademischen Analyse von Unterdrückung, entstehen zentrale Punkte des Buches. Georgi beleuchtet die Rolle des Rassismus für einen Ausschluss vom gesellschaftlichen Mehrprodukt, das in imperialistischen Ländern auch zur Ruhigstellung der am besten gestellten Arbeiter:innen aufgebraucht wird und zur sozialen Kontrolle in den Arbeiter:innenvierteln.  Wo Lea Pilone die Entstehung der US-Polizei aus Sklav:innenjäger:innen als Instrument zur Erzwingung für koloniale Lohnarbeit nachzeichnet, zeigt Celia Bouali, wie das EU-Grenzregime gleichartig gewaltsam Menschen in die Überausbeutung zwingt.

Mendívil und Sarbo beziehen sich auf Barbara Foley, um die Intersektionalitätstheorie als Analyse und „Brille“ zu verwerfen. In dieser Theorie werden (systematische) Besser- und Schlechterbehandlung in Differenzlinien gegenübergestellt. Wo sich diese Linien, beispielsweise zwischen Staatsbürger:in und geflüchteter Person oder zwischen Adeligem und Arbeiter:innenkind überschneiden, verortet man die Mehrfachunterdrückung. Es ist zweifellos richtig, dass die Überschneidung von Unterdrückungsverhältnissen sich nicht nur aufaddiert, sondern dialektisch neue Identitäten und Schlechterstellungen hervorbringt: „Intersektionalität taucht also in einer Zeit auf, in der viele der Alltagsprobleme um reale Gewaltverhältnisse nicht ausreichend von Sozialist:innen aufgegriffen oder unzureichend erklärt wurden.“ Die zweidimensionale Darstellung unterschlägt aber das jeweils Eigentümliche an Sexismus, Klassengesellschaft oder Behindertenfeindlichkeit.

Auf dieser Kritik aufbauend verwerfen die Autor:innen die Intersektionalität als analytisch ungeeignet und erklären ihr Verständnis von Identität in der Produktionsweise anhand der Kategorie von Verdinglichung. Das stellt auch der individuellen Betrachtungsweise des Poststrukturalismus einen kollektiven Analyserahmen (und damit eine kollektive Handlungsperspektive) entgegen: „Der Marxismus, von dem sich die Postmoderne abgrenzt, vertritt einen universellen sozialistischen Standpunkt.“ (Mendívil und Sarbo 2022, 116)

Das führt aber auch zu einer künstlichen Trennung zwischen ökonomischen und politischen Verhältnissen, zwischen fundamentaler Ausbeutung und phänomenhafter Unterdrückung. Auch wenn Letztere für Mendívil und Sarbo untrennbar zur Ausbeutung gehört, bleibt der ökonomische Charakter von sexistischer und rassistischer Arbeitsteilung aus den ersten Kapiteln etwas außen vor. „Eine marxistische Analyse fasst die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse als zentrales Moment kapitalistischer Produktion und kann von da ausgehend die Spezifik von unterschiedlichen Teilen der Klasse beschreiben, ohne dabei das Allgemeine zu verwerfen. Die Frage der Ausbeutung in den Vordergrund zu stellen, bedeutet nicht, dass Unterdrückungsverhältnisse nicht auch relevant für die Analyse des Kapitalismus wären.“

Die mehrfach gespaltene Klasse

In „Diversität der Ausbeutung“ werden Rassismus und Sexismus nicht bloß aus den Klassenverhältnissen hergeleitet. Stattdessen wird die zentrale und unverzichtbare Rolle von Kolonialismus und ins Private abgeschobener Reproduktionsarbeit für die kapitalistische Produktionsweise dargestellt. Durch die marxistische Kategorie der Verdinglichung wird erklärt, wie aus der Rolle im Produktionsprozess Identitäten entstehen, die über die Rechtfertigungsrolle der bürgerlichen Ideologie hinaus wirken. Tatsächlich schafft der Kapitalismus Schicksalsgemeinschaften von rassistisch und sexistisch unterdrückten Arbeiter:innen über ihre gemeinsame und besondere Stellung in der Produktionsweise.

Das dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen, das im Kapitel zur Intersektionalität ausgebreitet wird, erklärt die dialektischen Wechselwirkungen zwischen Klassengesellschaft und sozialer Reproduktion. Auch das beschränkt sich nicht auf eine Rückwirkung der Unterdrückung auf die Ausbeutung, sondern ernennt die Unterdrückung zur notwendigen Voraussetzung für die fortgesetzte Mehrwertproduktion. Diese Einsicht findet sich, wie von Frings im Vorwort zitiert, bereits bei Marx als Notwendigkeit der eigentümlichen Zusammensetzung des Proletariats.

Eine marxistische Analyse der geschlechtlich, rassistisch und heteronormativ geformten Arbeiter:innenklasse kann aber noch einen Schritt weiter gehen. Kolonialrassismus und Sexismus sind nicht nur Vorbedingungen für die Entstehung der Arbeiter:innenklasse, sie sind ein untrennbarer Teil der Klassenwerdung.

Markus Lehner zeigt in seinem Artikel „Arbeiterklasse und Revolution – Thesen zum Marxistischen Klassenbegriff“ (Revolutionärer Marxismus, Band 28) das Totalitäre am marxistischen Begriff der Arbeiter:innenklasse. Es gibt den/die gesellschaftliche Gesamtarbeiter:in nur als Gegenstück im dialektischen Verhältnis Lohnarbeit-Kapital, die Arbeiter:innenklasse ist also negativ definiert. Nicht die Ausbeutbarkeit der Arbeiter:innen schafft die Kapitalakkumulation, sondern es wird eine ausbeutbare Arbeiter:innenklasse geschaffen, die den Bedürfnissen des Industriekapitals nach Mehrwertproduktion entspricht.

Den historischen Vorgang legt Marx im achten Teil des ersten Bands des „Kapital“ dar. Durch Profite aus Handel und kolonialem Raub konnte sich in Europa produktives Kapital etablieren, das freie Arbeiter:innen für ihre Arbeitskraft entlohnt, aber einen Mehrwert über die Produktionskosten hinaus erzielt. Um den „Profit aus Produktion“ zu vermehren und zur gesellschaftlich bestimmenden Wirtschaftsweise zu machen, wurden aus Subsistenzbauern und -bäuerinnen in Europa und den Kolonien enteignete Arbeiter:innen gemacht. Dieses Machen war ein gezielter politischer Prozess, keine „natürliche“ Entwicklung von irgendwelchen wirtschaftlichen Bewegungsgesetzen.

Hierbei kommt es zu einer mehrfachen Spaltung (wir haben uns hier einen genauso doppeldeutigen Witz erlaubt wie Mendívil und Sarbo mit der Diversität der Ausbeutung). Es werden die Produzent:innen von ihren Produktionsmitteln gespalten, wird also den Bäuerinnen und -bauern ihr Landnutzungsrecht entzogen („Einhegung“). Diese jetzt mittellosen Familien haben keine andere Wahl, als ihre Arbeitskraft an Kapitalist:innen zu verkaufen. Die Kapitalist:innen behalten aber das Produkt der Arbeit ein, die Trennung der/des Produzent:in vom Produktionsmittel wird dadurch zur Trennung von Produzent:in und Produkt.

Gleichzeitig wird die Produktion von der Reproduktion getrennt. In der feudalen Zeit wird für den eigenen Bedarf produziert und für den Feudalherren, der sich den Überschuss aneignet. Das Produkt zum eigenen Verbrauch, wie Essen oder Kleidung, wird auf demselben Feld oder im selben Haushalt hergestellt. In den Arbeiter:innenvierteln ist das nicht mehr so. Die Tätigkeiten für die Reproduktion finden zuhause statt, die Produktion für den Verkauf am Arbeitsplatz. Diese Trennung wird geschlechtlich vorgenommen, und diese geschlechtliche, frauenunterdrückende Spaltung wird auch zur notwendigen Voraussetzung, dass Arbeiter:innen am nächsten Tag wieder zur Arbeit erscheinen können. So ist diese sexistische Spaltung zeitlich und analytisch Teil der Entstehung der Arbeiter:innenklasse, die Arbeiter:innen sind von Beginn an sexistisch definiert und in sich sexistisch gespalten.

Die Mehrwertproduktion wird in Firmen organisiert, die Reproduktion in Kleinfamilien. Die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Kleinfamilie ist binär und heteronormativ organisiert. Sich außerhalb von Kleinfamilien zu reproduzieren, ist nachteilhaft, was Søren Mau als stummen Zwang des Kapitals beschreibt, entsprechende sexuelle Identitäten existieren außerhalb der Reproduktionsnormalität. Die Arbeiter:innenklasse ist damit von Beginn an heteronormativ definiert, und nicht zufällig geht die Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise mit einer Fortschreibung und gleichzeitigen Umformung der Frauenunterdrückung aus vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen einher.

Dasselbe gilt für den Kolonialrassismus und die Arbeitsmigration. Die Enteignung von indigenen (kolonialisierten) Produzent:innen geht über die Trennung von ihren Produktionsmitteln und ihrem Produkt hinaus. Die Produzent:innen verlieren als Sklav:innen (verschleppt) oder Zwangsarbeiter:innen (lokal) die Verfügung über ihre Arbeitskraft. Gleichzeitig wird die Arbeiter:innenklasse in einen „doppelt freien“ und einen unfreien Teil aufgespalten. Bis heute gehört Zwangsarbeit unter Androhung von Abschiebung oder in rassistischen Gefängnissystemen zur kapitalistischen Normalität.

Die vielfältige Formung der Arbeiter:innenklasse führt auch zu einer Diversifizierung. Eine strukturelle Arbeitsteilung innerhalb der Klasse spaltet sie auch in sich, es existieren tatsächliche Besser- und Schlechterstellungen innerhalb des Proletariats. Oft erfolgt auch die Durchsetzung dieser Strukturen innerhalb der Klasse, nicht bloß wegen der Wirkmächtigkeit der bürgerlichen Ideologie, sondern wegen der Materialität der Verdinglichung.

Aber im Gegensatz zur herrschenden Klasse haben die Arbeiter:innen ein Interesse an der Aufhebung der Klassengesellschaft. Diese Aufhebung beginnt nicht erst mit dem bewussten Kampf für Revolution und Sozialismus, sondern mit der Rebellion gegen die kapitalistischen Verhältnisse. In solchen Kämpfen formen sich die Keimformen proletarischen Bewusstseins, das in Richtung der Grenzen des Kapitalismus geht. In revolutionärer Organisierung des fortgeschrittensten Teils der Klasse und dessen Entwicklung einer revolutionären Theorie und Praxis (in Wechselbeziehung zu den spontanen Kämpfen) kann die ganze Klasse für ein revolutionär-proletarisches Bewusstsein gewonnen werden.

Daraus ergibt sich die Möglichkeit von tatsächlichen Kämpfen der „privilegierten“ Arbeiter:innen gegen die Spaltung ihrer eigenen Klasse aus Eigeninteresse. Hier geht auch eine Analyse der Einheit von Ausbeutung, geschlechtlicher und rassistischer Arbeitsteilung in eine Einheit von Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung über.

Fazit: Ein marxistisches Verständnis von Rassismus und Unterdrückung

Mendívil und Sarbo haben mit ihrem Buch einige wichtige Schritte gemacht, für die die Linke sich bedanken kann. Erstens haben sie dem Import der akademischen Identitätspolitik aus den USA einen umfassenden ihrer Kritiken folgen lassen. An die Stelle einer einseitigen Bewegungsrichtung antirassistischer, antisexistischer und queerer Kritik ist eine Darstellung der Gesamtdebatte getreten.

Sie arbeiten außerdem die zentralen Bruchpunkte zwischen Marxismus und Identitätspolitik heraus. Diese finden sich nicht in der Existenz von Identitäten (die die Autorinnen aus Arbeitsteilung und Verdinglichung herleiten), sondern bei der Individualisierung und Gleichsetzung von Unterdrückungsformen. Außerdem zeigen sie die Wurzeln von Rassismus und Sexismus in der kapitalistischen Produktionsweise auf genauso wie die Parallelen zur „Kritik des rassistischen Bewusstseins“ im philosophischen Idealismus, den Marx in der „Deutschen Ideologie“ aufs Korn nimmt.

Die Beiträge im zweiten Teil des Buches demonstrieren nicht nur die Anwendbarkeit der materialistischen Analyse, sondern tragen aus den speziellen Analysen wieder grundsätzliche Einsichten ein. Die Rolle von Grenzregime, Polizeiapparat und EU-internem Arbeitsmarkt für den Rassismus des 21. Jahrhunderts ist klar und eindeutig. Auch hier entspricht das Verhältnis von Allgemeinem wie Besonderen der marxistischen Methode.

Was offen bleibt, ist das Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung, und damit eine eigenständige Kritik an Haupt-Nebenwiderspruchstheorien über den (zweifellos vorhandenen) Konservativismus ihrer Vertreter:innen hinaus. Entsprechend bleibt auch die Positionierung innerhalb der Sozialen Reproduktionstheorie vage, weil die Differenzierung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung nicht glasklar dargestellt wird.




Der Wahn vom „Gender-Wahn“

Warum sich Rechte aufs Gendern einschießen

Stefan Katzer, Neue Internationale 276, September 2023

Der Aufschwung der Rechten geht einher mit einem Erstarken nationalistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologien und Diskurse.

Doch das ist längst nicht alles. Besonders die Ablehnung der von diesen Akteur:innen so bezeichneten „Gender-Ideologie“ und die Bekämpfung der Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen stiften Zusammenhalt und wirken mobilisierend auf die verschiedenen Strömungen innerhalb der reaktionären Melange aus konservativen, christlichen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften.

Der Aufschwung der Antigender-Bewegung

Ursprünglich vor allem von Vertreter:innen der katholischen Kirche und konservativer Parteien ins Visier genommen, ist die „Gender-Ideologie“ heute eines der Hauptangriffsziele fast aller rechten und konservativen Parteien und Gruppierungen. Die ersten eindeutigen Anti-Gender-Kampagnen entstanden Mitte der 2000er Jahre in Ländern wie Spanien, Kroatien, Italien und Slowenien. Sie richteten sich zunächst hauptsächlich gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder die Sexualaufklärung an Schulen.

Mit den Massenprotesten in Frankreich im Jahr 2012 zur Verhinderung der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe erreichte die Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt. Im Anschluss daran breitete sie sich auch in Deutschland, Italien, Polen, Russland und der Slowakei aus.

In Bezug auf die USA konnte Joanna Wuest detailliert aufzeigen, wie Teile der herrschenden Klasse bereits seit der Präsidentschaft Ronald Reagans intensiv daran arbeiteten, ein reaktionäres Netzwerk aus religiösen Traditionalist:innen und rechten Gruppierungen aufzubauen. In diesem Zusammenhang kam es zur Gründung zahlreicher Thinktanks und Lobbygruppen, deren politisches Ziel vor allem darin besteht, den Unmut über die wachsende soziale Ungleichheit in eine für das Kapital genehme Bahn zu lenken. In den USA seien Kapitalverbände seit Langem bemüht, sich den Rückhalt für ihren Widerstand gegen jede Umverteilung von oben nach unten dadurch zu sichern, dass sie an konservative Gesellschaftsnormen appellieren.

Als Beispiel nennt Wuest die Heritage Foundation, die seit ihrer Gründung im Jahr 1973 zusammen mit gleichgesinnten Gruppierungen gegen die Homo-Ehe und gegen Bürger:innenrechte für trans Menschen kämpft und sich ansonsten vor allem für einen „freien Markt“ starkmacht. Milliardenschwere Familienunternehmen und -stiftungen wie die von Charles Koch, Betsy DeVos oder Lynde und Harry Bradley sowie Wirtschaftsverbände wie das American Legislative Exchange Council mischen auf diesem Feld mit und finanzieren transfeindliche Gruppierungen aller Art, bis hin zu transfeindlichen Radikalfeminist:innen wie etwa die Women’s Liberation Front.

Es ist also offensichtlich, dass auf Seiten des Kapitals und seiner politischen Handlanger:innen großes Interesse daran besteht, die Spaltung der Lohnabhängigen weiter zu vertiefen, um sich selbst aus dem Schussfeld zu nehmen. Denn das, was die Kapitalist:innen am meisten fürchten, ist eine geeinte, sich ihrer gesellschaftlichen Lage und Macht bewusst werdende Arbeiter:innenklasse, die die wirklichen Ursachen ihres Elends erkennt und bereit ist, dagegen zu kämpfen.

Angriffe auf die Rechte von LGBTIAQ-Personen, die reproduktiven Rechte von Frauen und die Reproduktionsmedizin sowie die Aufklärung über Sexualität und Geschlechtergleichstellung stehen seither im Fokus dieser kräftig bezuschussten Bewegung. Dabei werden nicht nur die Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen angegriffen, sondern häufig die Personen selbst.

Sowohl der Attentäter von Utøya, der 2011 insgesamt 77 Menschen ermordete, als auch jener von Christchurch, der 51 Menschen tötete, schwadronierten in ihren „Manifesten“ von der Gefahr des Feminismus und des Gender-Mainstreamings. Neben rassistischen waren somit auch antifeministische Ideologeme Bestandteil der irrationalistischen Weltanschauungen dieser rechtsextremen Massenmörder. Frauen- und Transfeindlichkeit sind integraler Bestandteil ihrer Ideologie.

Dies geht einher mit der Überhöhung einer Form heroisch-soldatischer Männlichkeit, die sich durch Härte und Durchsetzungsvermögen auszeichnet, und deren angeblicher Verlust in den durch Feminismus und Gender-Mainstreaming weichgespülten westlichen Gesellschaften beklagt wird. Bedroht seien nicht nur „echte Männer“, sondern ebenso die traditionelle Familie, die vermeintlich natürliche Geschlechterordnung sowie die spezifischen Rollenzuweisungen, die damit einhergehen.

Weiblichkeit wird dabei vor allem mit Nähe, Emotionalität und Fürsorglichkeit assoziiert, während Männlichkeit mit Durchsetzungsvermögen, Tatkraft und Autonomie in Zusammenhang gebracht wird. Die Rolle des Mannes wird darin gesehen, die Familie mit dem notwendigen Einkommen zu versorgen, während Frauen die Aufgabe zufällt, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern.

Sexistische Unterdrückung und Weiblichkeitsabwehr

Dieses tradierte Rollenverständnis korrespondiert mit der vorherrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der ihr zugrundeliegenden Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktion. Diese bildet die materielle Grundlage der Unterdrückung von Frauen und LGBTQIA+-Personen und der binären Unterscheidung der Geschlechter.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung zwar durchaus mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden. Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann aber nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt, sondern muss vielmehr aus der historischen Entwicklung begriffen werden.

Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit

Die gesellschaftlich notwendige, meist von Frauen geleistete Hausarbeit ist unter kapitalistischen Produktionsbedingungen vom Produktionsprozess real ausgeklammert und findet „privat“ statt. Obwohl sie als notwendige Arbeit für die Reproduktion der Gesellschaft unerlässlich ist, ist sie keine produktive Arbeit, da sie keinen Mehrwert für das Kapital produziert. Die Frauen erhalten für diese Tätigkeiten auch keinen Lohn. Falls sie einer Lohnarbeit nachgehen, leiden sie häufig unter einer Doppelbelastung. Im Beruf werden sie für die gleiche Arbeit zudem im Durchschnitt schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Ihr Lohn gilt häufig als Zuverdienst, während der Mann als „Ernährer“ der Familie gilt. Damit einhergehend werden die meist von Männern ausgeführten Tätigkeiten höher bewertet als jene meist von Frauen übernommenen und der Sphäre der „Weiblichkeit“ zugeschriebenen Tätigkeiten und Werte.

Die Frauenunterdrückung ist dabei keine „Erfindung“ des Kapitalismus. Dieser hat vielmehr die bereits zuvor bestehenden Formen der Ungleichheit aufgenommen und den Bedürfnissen der kapitalistischen Verwertung entsprechend transformiert. Aufgrund der langen Geschichte der Frauenunterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass vielen diese Form der sexistischen Unterdrückung als „natürlich“ erscheint. Dabei werden geschlechtliche Merkmale aber letztlich nur herangezogen, um ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis mit Verweis auf vermeintlich naturgemäße Eigenschaften, Vorlieben und Fähigkeiten zu legitimieren.

Krise der bürgerlichen Familie

Im Kapitalismus bildet die bürgerliche Familie eine zentrale Institution für die Vermittlung und Reproduktion der reaktionären, heteronormativen Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und heterosexuellen Orientierung auf der Grundlage der sexuellen bzw. geschlechtlichen Arbeitsteilung. Für Konservative und rechte Kräfte ist die bürgerliche (Kern-)Familie heilig. Sie gilt ihnen als vermeintlich überhistorische – wahlweise von Gott oder der Natur vorgesehene – Form des menschlichen Zusammenlebens. Dabei ist ihr Bestehen aufs Engste mit dem Aufkommen des Kapitalismus verbunden. Wie die derzeitige Krise der bürgerlichen Familie zudem deutlich macht, ist ihr Bestehen für den größten Teil der Lohnabhängigen und Unterdrückten in Wirklichkeit abhängig von einem bestimmten Stand der kapitalistischen Akkumulation.

Während es nach dem Zweiten Weltkrieg für große Teile der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren möglich wurde, das bürgerliche Familienideal zu realisieren, unterhöhlte die kapitalistische Expansion diese Form des Zusammenlebens, da nun auch Frauen zunehmend als Arbeitskräfte gebraucht wurden.

In den letzten Jahrzehnten verschlechterten sich die Lebensbedingungen für viele Familien dramatisch. Die kapitalistische Verwertungskrise und die ihr von politischer Seite entgegengesetzten Maßnahmen in Form von Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und der Zerstörung sozialer Sicherungssysteme unterhöhlen objektiv die bürgerliche Familie als Form des Zusammenlebens. Damit einhergehend werden auch die Geschlechterrollen der Familienmitglieder unterminiert.

Vor diesem Hintergrund bilden der seit den frühen 2010er Jahren erstarkende Antifeminismus und Antigenderismus eine Form der projektiven, reaktionären Verarbeitung persönlicher und gesellschaftlicher Krisenerfahrungen, deren zentraler Mechanismus darin besteht, verstärkte soziale Ängste speziell von Männern aufzugreifen und sie umzuformen. Die Infragestellung der herrschenden Rollenbilder und des diesen zugrundeliegenden Systems der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wird tabuisiert. Mehr noch, sie wird mit eine angeblich „besseren“ Zeit ideologisch verknüpft. Wer Familie und reaktionäre Geschlechterrollen angreift, attackiert in dieser Weltanschauung auch die soziale „Sicherheit“.

In die allgemeine ängstigende Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen ist somit eine spezifische Form männlicher Furcht verwoben. Um dies besser nachvollziehen zu können, ist es notwendig, auf die grundlegenden Momente männlicher Subjektkonstitution näher einzugehen.

Männlichkeit als soziales Konstrukt

Zentral ist dabei die Einsicht, dass „Männlichkeit“ keine überhistorische Eigenschaft von Personen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen darstellt, sondern ein äußerst wandelbares kulturelles und psychosoziales Konstrukt, das im Laufe der Sozialisation hergestellt und mittels Identifizierung mit bestimmten Personen und/oder (von diesen verkörperten) Idealen aktiv angeeignet wird. Die Ausbildung einer Geschlechtsidentität erfolgt somit in der Interaktion des Kindes mit den primären Bezugspersonen in der von Normen der „Männlichkeit“ geprägten Gesellschaft.

Diese Interaktion ist gekennzeichnet durch die einseitige Abhängigkeit des Kindes von den Eltern (oder anderen primären Bezugspersonen). Da der Säugling seine grundlegenden physiologischen Bedürfnisse nicht eigenständig befriedigen kann, ist er darauf angewiesen, von anderen mit Nahrung, Wärme und emotionaler Zuwendung versorgt zu werden. In dieser körperlichen Interaktion zwischen primärer Bezugsperson und Säugling werden zugleich die Triebe des Säuglings geweckt, geformt und mit bestimmten (phantasmatischen) Objekten verknüpft.

Die primären Bezugspersonen sind für das Kind so zum einen „Objekte“, mit denen es positive Erfahrungen verbindet, da es von diesen genährt und versorgt wird. Zugleich kommt es selbst dann, wenn die primären Bezugspersonen sich bei der Versorgung des Kindes größte Mühe geben, unweigerlich zu Situationen, in denen die Befriedigung eines Bedürfnisses nicht unmittelbar erfolgen kann und der Säugling frustrierende Erfahrungen macht.

Das „Objekt“ ist somit ambivalent besetzt. Ein früher Modus des Umgangs mit dieser Ambivalenz – und als etablierte Form der Abwehr zugleich Grundlage für spätere Projektionen – ist die phantasmatische Spaltung des zugleich befriedigenden wie Unlust bereitenden Objektes. Dabei wird das „böse“, die Befriedigung elementarer Bedürfnisse versagende Objekt außen verortet. Es ist für das Kind mit der Erfahrung existenzieller Not verbunden und wird deshalb von diesem gehasst. Umgekehrt wird das „gute“, befriedigende Objekt innen verortet, d. h. dem eigenen Ich zugerechnet. Diese Phase der narzisstischen Selbstidealisierung ist mit der Konstitution des Ich aufs Engste verknüpft, da der Säugling erst in dieser Interaktion mit der Außenwelt allmählich eine Vorstellung von innen und außen, von Ich und Objekt entwickelt.

„Das Subjekt entsteht so in der Spannung zwischen Narzissmus und Objektliebe, zwischen Trennungsbestreben gegenüber den primären Beziehungspersonen und zugleich der ständigen Angewiesenheit auf sie. […] Auch wenn das Subjekt später lernt, die beiden Teile mehr zusammenzubringen […], das dargestellte Dilemma, das auch als Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt beschrieben werden kann, bleibt für immer bestehen. Das Begehren hat einen Riss, einen Mangel im werdenden Subjekt produziert, der nicht mehr zu kitten ist.“ (Brunner 2019: S. 24f.)

Das Entscheidende für das Verständnis der den Antigender-Diskurs prägenden affektiven Dynamik besteht nun darin, die Ausbildung der männlichen Geschlechtsidentität als einen Abwehrmechanismus zu begreifen, der auf die mit dem beschriebenen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt auftretenden innerpsychischen Spannungen mit der Ausbildung einer „männlichen Identität“ antwortet, welcher die Abwertung des mit Abhängigkeit assoziierten „Weiblichen“ und die Privilegierung des mit Autonomiewünschen verknüpften „Männlichen“ von Beginn an eingeschrieben ist.

Durch die Internalisierung der symbolischen Geschlechterdifferenz und der damit zusammenhängenden Ausbildung einer Geschlechtsidentität kommt es nun zu einer nachträglichen Umschreibung aller bisheriger Erfahrungen des Kindes entlang des gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechtergegensatzes. Im Zuge dieser Umschreibung werden narzisstische Autonomiewünsche „männlich“, Wünsche nach Verschmelzung mit dem Objekt „weiblich“ codiert.

Überlagerung von kapitalistischer und persönlicher Krise

Wie bereits dargelegt, bedeutet die kapitalistische Krise und die politische Form ihrer Verarbeitung für große Teile der Lohnabhängigen und auch des Kleinbürger:innentums eine enorme Verunsicherung und eine Verschlechterung ihrer Reproduktionsbedingungen. Was lange Zeit als „normal“ galt, gerät plötzlich ins Wanken. Dem Ernährermodell mit seinen spezifischen Rollenerwartungen wird das Wasser abgegraben. Viele Männer können den gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht mehr gerecht werden, da die gesellschaftlichen Grundlagen sich gewandelt haben. Die Ideale, mit denen sie sich identifizieren, sind unerreichbar geworden. Anstatt autonom über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können, bricht eine gesellschaftliche Krise über sie herein, der sie in ohnmächtiger Passivität gegenüberstehen. Es sind genau solche Verhältnisse, die als schwächend, als Verlust der mit dem eigenen Geschlecht verbundenen Integrität und Unabhängigkeit empfunden werden.

Um aus dieser spannungsvollen und für die eigene Psyche beinahe unerträglichen Zwangslage herauszukommen, bieten sich nun allerdings verschiedene Möglichkeiten.

Sofern es nicht zu einer Reflexion der gesellschaftlichen Ursachen der persönlichen Krisenerfahrungen kommt, die Betroffenen also nicht zu der Einsicht gelangen, dass es weder ihre eigene noch die Schuld von irgendjemand anderem/r ist, dass sie die an sie gestellten Erwartungen nicht mehr erfüllen können, sondern die kapitalistische Krise ihnen die Erfüllung ihrer Rollenerwartungen verunmöglicht, bereitet der Antigenderismus ein politisches Angebot, das es erlaubt, die unerträglichen Schuldgefühle und die damit verbundenen Affekte wie Angst und narzisstische Wut in eine bis zum Hass reichende Feindseligkeit gegen andere Gruppen (Feminist:innen, Frauen, LGBTQIA+-Personen) umzuwandeln. Die strafenden Überichanteile werden somit projektiv ausgelagert und die Ängste vor dem Verlust der eigenen Autonomie „[in] einen berechtigt erscheinenden Kampf gegen einen im Außen (wieder-)gefundenen Gegner als vermeintlichen Verursacher des eigenen und des kollektiven Leids transformiert.“ (Pohl 2010: S. 11)

Im Antifeminismus und Antigenderismus wird somit „die in die ,Normalmännlichkeit’ unserer Gesellschaft eingelagerte paranoide Abwehr von Weiblichkeit und allem, was die männliche Autonomievorstellung und das daran geknüpfte Machtversprechen ankratzt, in einen politischen Diskurs überführt.“ (Brunner 2019: S. 29)

Die kapitalistische Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen ist, befördert somit die Zunahme reaktionärer Diskurse und sexistischer Gewalt.

Es ist daher auch kein Zufall, dass vor allem kleinbürgerliche und Mittelschichten die eigentlichen massenhaften Träger:innen des reaktionären Antigenderismus sind. Selbst der viel zu gering entfaltete Klassenkampf bildet in der Arbeiter:innenklasse einen Rahmen kollektiver Erfahrung und der, wenn auch reformistisch und bürokratisch begrenzten, Weitergabe historischer Erfahrung. Die kleinbürgerlichen Schichten haben diese kollektive Erfahrung nicht. Im Gegenteil. Als Eigentümer:innen an Produktionsmitteln, als Ausbeuter:innen von Arbeitskräften hängen sie selbst am Privateigentum – auch wenn sie mehr und mehr in der Konkurrenz unter die Räder zu kommen drohen.

Die Zunahme reaktionärer Einstellungen stellt keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen den vorherrschenden Sexismus und seine tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen. Darüber hinaus bildet die Steigerung des Bewusstseins und der Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse auch die Voraussetzung dafür, Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten eine alternative Perspektive zur reaktionären populistischen Regression zu bieten.

Wir können das toxische Ideologieamalgam aus Rassismus, Antisemitismus und Sexismus der Rechten nur bekämpfen, wenn wir zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nehmen, auf denen diese Ideologien beruhen. Der Kampf gegen Frauen- und Queerfeindlichkeit muss daher als integraler Bestandteil des Kampfes gegen die kapitalistische Klassenherrschaft begriffen und entsprechend geführt werden.

„Nur eine Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen, die historische Unterdrückung der Frau und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, auf der sie beruht, bewusst überwindet, kann den Boden entziehen, auf dem reaktionäre Geschlechterrollen, die bürgerliche Familie und eine repressive Sexualmoral wachsen. Nur die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse kann den Übergang zu einer solchen Gesellschaft und damit auch zu einer Ordnung frei von jeglicher sozialer Unterdrückung ermöglichen.“ (https://arbeiterinnenmacht.de/2020/07/28/die-unterdrueckung-von-transpersonen/)

Es geht bei dem Kampf gegen Sexismus und Queerfeindlichkeit also nicht nur um individuelle „Awareness“ und den kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Rollenerwartungen, sondern wesentlich um die Errichtung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen sich jede:r Einzelne unabhängig von seinem/ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht in der Solidarität aller frei entfalten kann.

Literatur

Brunner, Markus (2019): Enthemmte Männer. Psychoanalytisch-sozialpsychologische Überlegungen zur Freudschen Massenpsychologie und zum Antifeminismus in der «Neuen» Rechten. Online: https://www.psychoanalyse-journal.ch/article/view/jfp.60.2/1178 (21.08.2023)

Pohl, Rolf: Männer – das benachteiligte Geschlecht? Weiblichkeitsabwehr und Antifeminismus im Diskurs über die Krise der Männlichkeit (Vorabdruck aus: Bereswill, Mechthild und Neuber, Anke (Hg.) (2010): In der Krise? Männlichkeiten im 21. Jahrhundert. Reihe: Forum Frauen- und Geschlechterforschung. Westfälisches Dampfboot. Münster). Online: http://www.agpolpsy.de/wp-content/uploads/2010/06/pohl-krise-der-mannlichkeit-vorabdruck-2010.pdf

Wuest, Joanna (2023): Gezielte Grausamkeit. Das Kapital und die trans*feindliche Agenda. Online: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gezielte-grausamkeit/




USA: Angriffe auf Frauen und LGBTIAQs

Resa Ludivien, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Danke, Trump! Doch auch unter Biden wird’s nicht besser. Ganz im Gegenteil. Das Urteil Roe vs. Wade letztes Jahr wurde unter der Biden-Regierung außer Kraft gesetzt, dank der durch Trump nominierten Richter:innen der Obersten Gerichtshofs. Doch auch überall im Land gibt es nicht nur betroffene Frauen, die bangen, sondern auch eine reaktionäre Basis, die das Urteil als Erfolg feierte.

Derzeit läuft der Wahlkampf für die nächste Präsidentschaftswahl wieder heiß an. Donald Trumps republikanischer Mitbewerber Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, will mit einer noch radikaleren Abtreibungspolitik punkten. Erst kürzlich unterzeichnete er einen „sex weeks abortion ban“ – eine Zeitspanne, in der Frauen vielleicht noch nicht einmal gemerkt haben, dass sie schwanger sind, geschweige denn eine gut durchdachte Entscheidung hätten treffen und eine/n der wenigen Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen, finden können.

My body, my choice

Keine Frauenkörper heißt keine Kinder. Wer außer „der Frau“, wer außer gebärfähigen Menschen, sollte dann über Schwangerschaft oder einen Abbruch entscheiden? Laut der US-Rechten alle – Männer und der bürgerliche Staat – alle außer sie selbst. Im Bundesstaat Arkansas können Ehemänner und Lebenspartner sogar gegen die schwangere Frau rechtliche Schritte einleiten, wenn sie eine Abtreibung plant.

Wer keine Kinder möchte oder sich nicht in der Lage fühlt, sie zu bekommen und großzuziehen, hat hierfür mannigfaltige Gründe: Krankheit, Suchtprobleme, eine Gewaltbeziehung und … und … und. So lange Frauen von der Zeugung an – denken wir an Vergewaltigungen, Babytrap oder Druck – über die Entscheidung bis hin in die (un)gewollte Mutterschaft bevormundet und diskriminiert werden, werden sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt.

Während selbsternannte „Lebensschützer:innen“ die Rechte des Ungeborenen beschwören, erlöschen diese in einer Gesellschaft, in der Kinderziehung wesentlich Privatsache ist, mit der Geburt. Selbst wenn formale Gleichheit herrscht, macht sich die Ungleichheit von Klasse und Herkunft umso deutlicher bemerkbar.

Auch hier zeigt sich die Doppelmoral. Kinder sind kein Statussymbol oder Objekt und haben ein Recht darauf, geliebt und gut behandelt zu werden. Warum also eine Frau zwingen, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie das kann und möchte? So viel zum moralischen Gebrabbel.

Doch dieser Angriff hat System. Antifeministische Akteur:innen – vor allem männlichen Geschlechts – sind in den letzten Jahren auf dem Vormarsch. Der Krisenmodus, der seit 2008 anhält, hat soziale und politische Unsicherheit mit sich gebracht – auch für die Mittelschichten –, die Rechtsströmungen zu einer politischen Agenda verdichten und so davon profitieren. In ihren extremsten Ausformungen sehen wir das bei rechtspopulistischen oder gar protofaschistischen Regierungen, aber auch antifeministischen, queerfeindlichen und rechtsextremen Anschlägen.

Angriffsziel Flintas

Parallel zu dem massiven Angriff auf Frauenrechte stehen queere Menschen in den USA unter Beschuss. Die Devise „My body, my choice“ (Mein Körper, meine Entscheidung) wird hier ebenso mit Füßen getreten, wenn wir an die Möglichkeiten von trans Personen denken in einem System, welches sie von der Schule bis ins Krankenhaus bekämpft.

Zusätzlich sind es die enormen Gesundheitskosten, die eine Extrahürde darstellen. Arbeiter:innen sind hiervon im Allgemeinen betroffen, doch Frauen und queere Menschen im Besonderen. Durch die ökonomische Diskriminierung und gesellschaftliche Marginalisierung gepaart mit einer fundamentalistischen Ablehnung, die in den USA besonders stark ist, ist ihre ökonomische Beschränktheit in den USA noch viel stärker ausgeprägt als in anderen imperialistischen Ländern, z. B. in Europa.

Wer sind denn nun die Träger:innen an der Basis?

Jede dumme Idee braucht noch „Dümmere“, die sie tatsächlich umsetzen. Oder besser gesagt diejenigen, die das Leben für Frauen jetzt immer weiter zur Hölle machen, sind die radikalen Bauernopfer einer populistischen, letztlich nicht minder kapitalistischen Politik.

Sicherlich gibt es auch den Typ „klassischer“ Frauenschläger, der seinen Frust an ihnen rundum auslässt und, ohne groß darüber nachzudenken, sexistische Sprüche klopft. Allerdings hat es in den letzten Jahren einen weltweiten Backlash gegeben, der zu einer starken Politisierung des Frauenhasses geführt hat. Sicherlich ist geschlechtliche Diskriminierung der Frau dem Kapitalismus inhärent. Das hängt, wie Engels es einst beschrieb, mit patriarchalen Strukturen und der bürgerlichen Familie zusammen. Derzeit jedoch spitzt sich dieses Phänomen zu und wird unter dem Sammelbegriff „Antifeminismus“ gefasst. Hierbei geht es nicht nur gegen Vertreter:innen einer bürgerlichen oder radikal-kleinbürgerlichen Frauenbewegung, sondern gegen sämtliche Errungenschaften der Frauenrechte und Frauen per se.

Die Erosion und Krise der bürgerlichen Kernfamilie – selbst Resultat der Entwicklung des Kapitalismus – unterminiert natürlich auch die scheinbar natürliche Vorherrschaft des (weißen) Mannes. Ideologisch wird dieser Zusammenhang gleich mehrfach auf den Kopf gestellt. Erstens wird die bürgerliche Kleinfamilie selbst als überhistorisches Phänomen idealisiert. Damit werden auch gleich die Stellung des Mannes, die reaktionären Geschlechterrollen und binäre Geschlechtsidentitäten naturalisiert. Zweitens wird daraus gefolgt, dass jeder „Angriff“, jede Reform im Interesse von Frauen, trans Personen, aber im Grunde auch aller unterdrückten Klassen ein Anschlag auf eine natürliche Ordnung wäre, an deren Spitze der weiße Cismann stünde. Auch wenn dieser im globalen Kapitalismus gegenüber den wirklich Herrschenden nicht viel zu melden hat, so kann er wenigstens noch „privat“ nach unten treten.

Gruppierungen des radikalen Antifeminismus

Diese ohnmächtige, aber umso rabiatere und brutalere Wut zeigen auch die Hauptströmungen dieses Antifeminismus in den USA: Extreme Rechte, religiöse Fundamentalist:innen und Incels. Als rechte Populist:innen bis hin zu Faschist:innen sind erstere die radikalste Ausprägung des Kleinbürger:innentums. Eine Schicht, die ständig in der Angst lebt abzurutschen, in der Konkurrenz an die Wand gedrückt zu werden, zugleich aber besonders starr am Privateigentum klebt. Die dazugehörige Ideologie ist dementsprechend radikal frauenfeindlich, gepaart mit einer rassistischen und völkischen Konnotation.

Dabei wird die „Marginalisierung“ und angebliche „Diskriminierung“ der weißen Bevölkerung durch Afroamerikaner:innen, Latinas und Menschen aus Asien herbeiphantasiert. Dies fällt in den USA aufgrund der Sklaverei und Migration auf fruchtbaren Boden, wobei die Geschichte der weißen europäischen Kolonisation ausgeblendet wird. Die rassistische Vorstellung des „großen Austausches“, die sich vor allem gegen Muslime/a richtet – bildet das „europäische“ Gegenstück zu den Vorstellungen der US-Rechten.

Damit erscheinen Antidiskriminierungsgesetze in den USA als Mittel zur Zurückdrängung der „weißen Rasse“. Wie wirkmächtig diese Vorstellung mittlerweile ist, zeigen die jüngsten Urteile des Obersten Gerichts in den USA.

Eine andere radikale, männliche Ausprägung sind sog. Incels (ungewollt zölibatär lebende Männer), die sich in den letzten Jahren u. a. in Internetforen radikalisiert haben. Sie sehen es als ihr Recht an, Sex mit Frauen zu haben, inszenieren sich als Opfer von Frauenrechten und schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Attentate wie das in Atlanta haben das gezeigt. Auch der Trend hin zu Femiziden und die Glorifizierung von sog. „Pickup-Artists“ macht das (Über-)Leben von Frauen und Queers immer schwieriger.

Diese Entwicklungen verbinden sich mit dem wachsenden Einfluss von fundamentalistischen evangelikalen Gruppierungen. Ideologisch begründen sie ihren reaktionären Wahn mit einer biblisch vorgeschriebenen Unterordnung der Frau und faseln vom „Schutz ungeborenen Lebens“. Der Einfluss dieser Gruppe in den USA ist viel zu groß, als dass man sie unterschätzen könnte. An ihnen hängen Kapital und Infrastruktur vom Krankenhaus bis zur Universität und enormer politischer Einfluss.

Das Thema Abtreibung zeichnet in diesen Kreisen eine besonders bittere Note. Von jungen Menschen bzw. allen, die unverheiratet sind, wird oft erwartet, keusch bis zur Ehe zu leben. Gelingt das doch nicht, muss vorher muss geheiratet werden, um den Schein aufrechtzuerhalten. Doch auch ohne dass bereits ein Kind unterwegs ist, ist Sex ein Grund zur Heirat. Kein Wunder also, dass die Menschen früh heiraten und das, ohne wahrscheinlich je aufgeklärt worden zu sein über konsensualen Sex.

Nicht in allen US-Staaten gilt eine Altersgrenze fürs Heiraten. So ist es möglich, dass Mädchen mit Einwilligung der Eltern bereits verheiratet werden. UNICEF hat zwischen 2000 und 2015 mindestens 200.000 Kinderehen in den USA gezählt. Noch schlimmer für die Mädchen ist, dass Gesundheitsrechte in fundamentalistischen Kreisen oft noch eingeschränkter sind oder ihnen ganz verwehrt werden. Der Einfluss der evangelikalen Gruppierungen ist besonders stark im sog. Bible Belt, dessen Kern die ehemaligen Südstaaten bilden.

Der Sturm auf das Kapitol 2021 hat gezeigt, wie präsent, laut und gewaltbereit die US-amerikanische Rechte ist, wie gut vernetzt und wie breit ihr Spektrum. Es ist wahrscheinlich schwer auszumachen, wer genau zu welcher dieser drei Hauptgruppen gehört, da die Überschneidung der Ideologie zu einer Mainstreambewegung geführt hat, v. a. in den USA.

Warum es erstmal schlimmer wird, bevor es vielleicht besser werden kann

Der bürgerliche Liberalismus und die Demokratische Partei Bidens wollen die bürgerliche Familie durch Reform „modernisieren“ und geben sich so als Verteidiger:innen der Frauenrechte, ohne jedoch die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Unterdrückung anzutasten.

Die US-amerikanische Rechte will hingegen das Rad der Geschichte zurückdrehen. Der Kampf gegen das Recht auf Abtreibung und andere Frauenrechte erscheint als „Kulturkampf“, hinter dem sich ein Erzwingungs- und Überlebenskampf des Patriarchats in extremer Ausprägung verbirgt.

Erzwingung insofern, als es den radikalsten Männern schon lange egal ist, ob eine Frau wirklich Interesse an ihnen zeigt oder nicht. Desinteresse wird als Niederlage angesehen – eine, die der weiße Cismann nicht ertragen kann und die es daher eigentlich gar nicht gibt. Kein Wunder also, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur weit verbreitet ist, sondern diese auch zunehmend – in Deutschland jüngst von einem Drittel der befragten Männer – gerechtfertigt wird.

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung wird gleichzeitig zum Überlebenskampf von Frauen. Es geht um Selbstbestimmung und ihren Platz in der Gesellschaft. Der Kampf um Abtreibung bildet dabei auch einen zur Verteidigung bzw. Rückeroberung weiblicher Selbstbestimmung.

Zum Kampf gegen Angriffe auf Frauenrechte braucht es allerdings eine Massenbewegung von Frauenorganisationen, der LGBTIAQ- und antirassistischen Bewegung, von Linken und Gewerkschaften. Um konservativen, rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international.

  • Schluss mit den Angriffen auf Flintas!

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!

  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung!

  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!

  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Marsch für das Leben: auf die Straße gegen rechte Fundis und für Selbstbestimmung!

Resa Ludivin, Neue Internationale 267, September 2022

Halten wir zunächst einmal fest: Das Recht auf Unversehrtheit des eigenen Körpers und das Recht, über diesen selbst zu bestimmen, sind fundamental und werden vor allem Frauen und Queers immer wieder abgesprochen, Männern hingegen nicht. Geht es um sexualisierte Gewalt, Abtreibungen oder Geschlechtsangleichungen, sollen sich Frauen und Queers reinreden lassen, wenn ihre Stimme überhaupt gehört wird. Damit muss endlich Schluss sein!

Die krasseste Gegenbewegung kommt nicht nur von rechts, sondern auch von christlichen Fundamentalist:innen. Einmal jährlich, dieses Jahr am 17.9., treffen sie sich in Berlin zum „Marsch für das Leben“ oder auch „1000-Kreuze-Marsch“. „1000 Kreuze“ sollen hier symbolisch für abgetriebene Föten stehen. Die „Pro Life“-Bewegung, wie sie sich selbst nennt, hat Ableger in mehreren Ländern.

Hintergrund

In den letzten Jahren konnte dieses Spektrum jährlich mehrere Tausend Menschen mobilisieren. Seit etwa 20 Jahren reisen sie dafür aus ganz Deutschland nach Berlin. Sie sind gegen Abtreibungen. Auch Aufklärung lehnen sie ab. Untersuchungen vor der Geburt, die schwere Krankheiten bereits erkennen ließen, oder Samen- und Eizellspenden sind ihnen ein Dorn im Auge. Gleichgeschlechtliche Paare sollten ihrer Meinung nach keine Kinder bekommen, da dies wider die Natur wäre. Das von ihnen propagierte „Recht auf Leben“ ist eben nur auf Heterosexuelle mit Kinderwunsch und biologischer „Schöpfungsfähigkeit“ ausgelegt, die es sich leisten können. Vorne mit dabei marschieren Kirchenvertreter:innen, Ultrakonservative, christliche Fundamentalist:innen, Antifeminist:innen und natürlich die AfD. Die Nähe zu rechtem Gedankengut der Bewegung zeigt sich nicht nur anhand ihrer Mitstreiter:innen, sondern auch an der Wahl ihrer Worte. In Verharmlosung von NS-Sprache werden schnell Begriffe wie „Babycaust“ oder „Euthanasie“ geprägt.

Christlicher Fundamentalismus national wie international: frauen-, queerfeindlich, reaktionär!

Die Ideologie der christlichen Fundamentalist:innen ist nicht weniger reaktionär als die anderer Religionen. Sie bilden einen radikalen und zum Teil politischen Arm von Ultrareligiösen. Sie lehnen moderne, wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden ab. Ihre Richtschnur ist die Bibel und der Erhalt einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen nicht mal über ihren eigenen Körper bestimmen dürfen. Alles, was nicht „von Gott geschaffen ist“, darf es in ihren Augen nicht geben. Dazu zählen: Sex und Liebe fernab des Reproduktionsgedankens. Klingt wie Mittelalter, ist aber Neuzeit.

Diese Bewegung gewinnt überall auf der Welt an Fahrt. Besonders in den USA sind christliche Fundamentalist:innen wie Evangelikale auch in wichtigen politischen Ämtern vertreten. So kam es 2022 auch dazu, dass der Supreme Court sich gegen das Recht auf Abtreibung gestellt hat. Einzelne Bundesstaaten wie Kansas versuchen, dies jedoch zu umgehen (Abstimmung vom 3.8.22).  Auch in Europa, bspw. in Spanien oder Frankreich, ist Abtreibung nichts Selbstverständliches und die Bewegung groß. (In Deutschland übrigens auch nicht: es ist nicht legal, sondern lediglich bis zur 12. Woche straffrei. Ärzt:innen oder Beratungen dazu zu finden, ist leider so gut wie unmöglich.)

Der Aufschwung, den religiöser Fundamentalismus derzeit erlebt, kommt nicht von ungefähr. Gerade in Krisenzeiten, und das sind wir mit Wirtschafts-, Corona- und Umweltkrise sowie kriegerischen Auseinandersetzungen, suchen sich unterschiedliche Klassen verschiedene Strategien. Vor allem das Kleinbürger:innentum versucht, an Altbewährtem festzuhalten oder gar die Zeit zurückzudrehen. Für sie stellt Abtreibung einen „Angriff“ auf die bürgerliche Familie dar, die schon längst nicht mehr nur Vater, Mutter und 2 Kinder bedeutet und in einigen Region dieser Welt nie hat, eine Krise im Kleinen. Das scheint zunächst absurd, da einem die Nachbar:innen, ihre Familienform oder sexuelle Orientierung egal sein könnten. Es ist ihnen aber nicht egal, weil sie ihre Ängste auf ihr näheres Umfeld projizieren, anstelle sie mit ihren Ursachen, gesellschaftlichen Krisen, in Zusammenhang zu setzen, um diese zu bekämpfen. All dies geschieht vor dem Hintergrund der Angst vor gesellschaftlichem Abstieg und Existenzverlust.

„Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine!“

Herzlich willkommen im 21.Jahrhundert: Frauen und Queers haben Rechte. Die kamen nicht aus dem Nichts, sondern mussten erst hart erkämpft werden. Daher gilt es, sie jeden Tag zu verteidigen. Erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland strafbar. Unsere bürgerlich-demokratischen Rechte sind demnach zum Teil noch ziemlich jung. Sie werden derzeit aber weltweit wieder angegriffen und in Frage gestellt. Dazu braucht es auch internationalen Protest und Vernetzung. Egal, ob in den USA oder Deutschland, Abtreibungsrechte müssen gegen die rechte Welle verteidigt werden. Das bedeutet auch, dass das Thema mehr Aufmerksamkeit im Medizinstudium bekommt, es mehr einfach zugängliche Beratungsstellen und sexuelle Aufklärung geben muss. All das kann natürlich nicht vor jeder ungewollten Schwangerschaft schützen, denn dazu bräuchte es auch mehr Prävention gegen Vergewaltigungen und ein Umdenken in den Köpfen, das dazu führt, dass endlich offen über Sex gesprochen wird. Es wäre aber ein wichtiger Schritt.

Natürlich ist das nur Symptombekämpfung. Denn auch Selbstbestimmungsrechte sind vor allem eine Klassenfrage. Arbeiterinnen können sich nicht leisten, zum Abtreiben ins Ausland zu fahren oder sich mit Top-Anwält:innen der Strafe vor Gericht entziehen. Sie müssen oftmals noch lange in Gewaltbeziehungen bleiben, weil sie nicht nur emotional, sondern auch ökonomisch abhängig sind oder es zu wenig Plätze in Frauenhäusern gibt. Einen langfristigen Schutz und eine Verbesserung der Situation kann es nur geben, wenn die patriarchale Gesellschaft über den Haufen geworfen wird. Ein paar Schritte dahin?

  • Vollständiges Recht auf Abtreibung, überall, kostenlos, während der gesamten Schwangerschaft! Kostenloser Zugang zu Verhütungsmitteln!
  • Für echte Aufklärung in der Schule: Über Sex reden lernen, Verhütung und Abtreibung  gehören in den Unterricht, Erziehung und Pädagogik als Schulfach für alle, und nicht nur als Ausbildung in klassischen Frauenberufen!
  • Kostenlose und umfassende Hilfe für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen! Für die jederzeitige Möglichkeit sich einseitig scheiden zu lassen und auszuziehen! Massiver Ausbau von Schutzräumen und Wohnungen für Betroffene unter demokratischer Kontrolle der Frauenbewegung und der Gewerkschaften! Selbstverteidigungsunterricht in der Schule!
  • Vollständige Vergesellschaftung der privaten Reproduktionsarbeit – einschließlich einer gemeinschaftlichen Kindererziehung, kein Kind soll von seiner biologischen Elternschaft abhängig sein!
  • Auf die Straße, für die Freiheit, für das Leben – gegen den Marsch für ein patriarchales, unterdrückerisches Leben!



USA: Oberster Gerichtshof versetzt Frauenrechten härtesten Schlag seit Generationen

Internationales Sekretariat, Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1191, 28. Juni 2022

Nun haben die reaktionären Kräfte es geschafft. Am 24. Juni wurden die amerikanischen Frauen nach fünfzig Jahren eines begrenzten verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung dieses Rechts beraubt. Unter dem obszönen Slogan „Recht auf Leben“ und der wissenschaftsfeindlichen Behauptung, Abtreibung bedeute die Tötung von Babys, wurde den Frauen die Souveränität über ihren eigenen Körper entzogen. Kein Wunder, dass Frauen in dem Land, das fast einen halben Kontinent umfasst, auf die Straße gingen, um ihrer Wut und Ablehnung Ausdruck zu verleihen.

Mit einer 5:4-Mehrheit hat der Oberste Gerichtshof das von seinen Vorgänger:innen gefällte Urteil Roe versus Wade aus dem Jahr 1973 aufgehoben, das allen Frauen in den USA das Recht einräumte, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Dieses war bereits durch andere Entscheidungen und durch Bundesstaaten mit reaktionären Mehrheiten in ihren Gesetzgebungen und Gerichten eingeschränkt worden, doch nun haben dieselben Kräfte freie Hand.

Sie werden zweifelsohne dazu übergehen, die schwächeren und partiellen Errungenschaften der LGBTIAQ-Menschen und der People of Color in Bezug auf den Grundsatz der persönlichen Autonomie zu beschädigen. Dies ist ein großer Triumph für die religiösen Fanatiker:innen aller Glaubensrichtungen, die die amerikanische Politik bevölkern, trotz einer der ältesten und fortschrittlichsten Errungenschaften der Verfassung, der Trennung von Kirche und Staat.

Die knappe Mehrheit der Fanatiker:innen in dem nicht gewählten Gericht wurde von Donald Trump geschaffen, dem dreistesten sexistischen Präsidenten seit vielen Jahrzehnten, einem Mann, der stolz zugab, dass er Frauen mehrmals sexuell belästigt hatte. Er besaß die Unverfrorenheit zu behaupten, dass „Gott die Entscheidung getroffen hat“ und dafür verantwortlich sei. Dass dieser obszöne Clown nicht wegen offener Aufwiegelung zum Umsturz der Anerkennung seines ordnungsgemäß gewählten Nachfolgers durch den Kongress im Gefängnis sitzt, sagt viel über den Anspruch der USA aus, das weltweite Vorbild für Demokratie darzustellen.

Wenn die fast zwei Drittel der Amerikaner:innen, die sich gegen die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade ausgesprochen haben, es durchgehen lassen, wird das Leben realer, lebender US-Bürgerinnen gefährdet sein. Das Urteil wird nicht das Ende von Abtreibungen bedeuten, sondern nur das Ende legaler und sicherer. Frauen werden in dem Moment sterben, in dem jeder Staat diese ekelhaft falsch benannten „Pro-Leben-Gesetze“ einführt.

Staaten mit republikanischer Mehrheit können nun Gesetze erlassen, die den Schwangerschaftsabbruch weiter einschränken oder ganz verbieten. 13 haben bereits Gesetze im voraus verabschiedet, die ihnen dies praktisch sofort ermöglichen. Einige, darunter Arkansas, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma und South Dakota, haben dies bereits in Kraft gesetzt, und weitere 22 werden ihnen in Kürze folgen. Frauen in diesen Staaten werden versuchen müssen, in Staaten mit liberaleren Regelungen zu gehen, obwohl die reaktionären Staaten Gesetze vorbereiten, die selbst dies schwer bestrafen.

Abtreibungen werden in den meisten Teilen des Südens und des Mittleren Westens illegal sein, wo es für die Ärmsten, oft Women of Color, schwierig sein wird, in einen Staat zu reisen, in dem sie weiterhin legal bleiben. In vielen Staaten werden Gesetze erlassen, die die Frauen selbst kriminalisieren. Mehr als die Hälfte, 58 Prozent, aller US-Frauen im gebärfähigen Alter, etwa 40 Millionen Menschen, leben in diesen Staaten, und ihre Partner:innen und sogar Taxifahrer:innen die ihnen helfen, werden ebenfalls mit hohen Geldstrafen belegt. Der so genannten „Pille danach“ wird die Illegalisierung angekündigt, und sogar die Empfängnisverhütung wird von den Abtreibungsgegner:innen bedroht.

Es liegt auf der Hand, dass diese rechten Kräfte die Frauen in ihren reproduktiven Fähigkeiten einschränken wollen. Sie sind sich bewusst, dass die fehlende Kontrolle darüber durch die Frauen selbst die Grundlage für die Aufrechterhaltung einer patriarchalischen Gesellschaft ist, und dass sie die Uhr auf ihre archaischsten Versionen zurückdrehen. Die Religionen spüren instinktiv, dass das Leiden der Frauen unter diesem System die Zuflucht zu ihrem spirituellen Opium fördert und die Stimmen für die Rechten erhöht.

Aus all diesen Gründen ist das Recht der Frau auf körperliche Autonomie ein Menschenrecht, das historisch mit demselben Prinzip verbunden ist, das auch der Abschaffung der Sklaverei zugrunde lag: der persönlichen Freiheit. Kein Wunder also, dass die Staaten, die sich darauf vorbereiten, Frauen auf diese Weise erneut zu versklaven, oft diejenigen sind, in denen weiße Vorherrschaft und Polizeimorde an Schwarzen immer noch extrem stark ausgeprägt sind.

Aus demselben Grund sollte der Kampf um die Aufhebung dieses Urteils die Unterstützung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten in den USA finden, einer Mehrheit, die sich im Obersten Gerichtshof überhaupt nicht widerspiegelt und im Senat, im Repräsentantenhaus und in den Verfassungen der Bundesstaaten, in denen die Unterdrückung der Wähler:innenschaft grassiert, in keiner Weise anerkannt wird.

Auf internationaler Ebene müssen die Frauen- und Arbeiter:innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte zur Unterstützung unserer Schwestern in den USA mobilisieren. Die jüngsten Bewegungen in Spanien, Polen, Irland und Argentinien zeigen, was getan werden kann. Überall auf der Welt gibt es die gleichen reaktionären Mächte, die durch die Siege ihrer Gesinnungsfreund:innen in den USA ermutigt werden.

Die Botschaft von Vizepräsidentin Kamala Harris bringt die Antwort der Demokratischen Partei auf den Punkt: „Es ist noch nicht vorbei; die Wähler:innen werden das letzte Wort haben“. Mit Blick auf die Zwischenwahlen, die voraussichtlich die Kontrolle der Republikanischen Partei über den Senat stärken und ihr sogar das Übergewicht im Repräsentantenhaus verleihen werden, lautete ihre Botschaft: „Sie haben die Macht, Führer:innen zu wählen, die Ihre Rechte verteidigen und schützen werden.“

Nein! Die US-Frauen müssen antworten: „Wir haben eine viel größere Macht als das. Wir können dieses erzreaktionäre Urteil kippen und unsere Rechte auf der Straße und am Arbeitsplatz wiederherstellen, indem wir Kliniken und ihre Patient:innen, Pflegepersonal und Ärzt:innen durch direkte Massenaktionen verteidigen.“

Eine Massenbewegung von Frauen und ihren männlichen und transsexuellen Unterstützer:innen gegen das Urteil des Obersten Gerichts vom 24. Juni muss in einem ähnlichen Ausmaß ausbrechen wie die Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020. Sie sollte sich auf die Forderung nach einer Revolution erstrecken, die alle reaktionären Organe und Gesetze hinwegfegt, die sogar den Anspruch der USA, eine demokratische Republik zu sein, entstellen.

Es ist die amerikanische Arbeiter:innenklasse, die diesen Kampf anführen muss, indem sie Massendemonstrationen mit Massenstreiks unterstützt, insbesondere in den Bundesstaaten, die diese abscheuliche Entscheidung anwenden – Staaten, die oft auch über drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze verfügen.

Es geht dabei um mehr als nur um „Sicherheit in Zahlen“. Es gibt die Kraft, alle Säulen des Hauses der Unfreiheit zu stürzen, das von Republikaner:innen und Demokrat:innen gleichermaßen errichtet wurde, als sie die wirklichen Errungenschaften der amerikanischen Geschichte einschränkten und rückgängig machten: die Abschaffung der Sklaverei, die große Gewerkschaftsbewegung der 1930er Jahre, die Errungenschaften der Bürgerrechte der 1960er Jahre und die Errungenschaften der Frauen und LGBTQI in den 1970er Jahren. Aber nichts wird von Dauer oder sicher sein, bis die Klasse und das System, das diese Monster hervorgebracht hat, der sexistische und rassistische Kapitalismus, endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden.




Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Ursachen abschaffen!

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Dass während der Corona-Pandemie häusliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen drastisch angestiegen ist, wird mittlerweile allgemein anerkannt. Eine Studie der UN-Frauenorganisation (Einheit der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der Frauen, kurz: UN Frauen; United Nations Entity for Gender Equality and the Empowerment of Women, UN Women) verweist auf eine Zunahme der Hilferufe bei nationalen Hotlines von 25–30 %.

Das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Mädchen war schon vor der Pandemie erschreckend. Nach internationalen Studien wird jede dritte Frau mindestens einmal geschlagen, vergewaltigt oder ist auf andere Weise Gewalt ausgesetzt.

Naturgemäß sind diese Zahlen Indikatoren und Schätzungen, weil ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird. Schon vor Corona fand Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor allem im engsten Umfeld, im Heim und der Familie statt, die oft als Orte der Geborgenheit und des Schutzes idealisiert werden. Häusliche Gewalt gegen Frauen bildete also schon in den letzten Jahren deren häufigste Form – und das in vielen Ländern (darunter auch in Deutschland) mit einer steigenden Tendenz.

Der weitere dramatische Anstieg im letzten Jahr wird oft mit der räumlichen Nähe und Enge sowie größerem Stress durch Homeoffice und soziale Isolation begründet. Offensichtlich hat die Pandemie den Fokus auf diese privateste aller Sphären richten müssen, um zu verdeutlichen, dass die Wohnung allzu oft keinen Schutzraum für Frauen (und Kinder), sondern für den Täter darstellt, der Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verbirgt.

Dennoch bleibt die Frage: Ist Gewalt gegen Frauen ein Phänomen, das mit einer prekärer werdenden Situation zunimmt und somit ökonomische, sicherlich auch psychologische Gründe hat? Oder ist sie per se mit Männlichkeit verbunden und in deren Natur angelegt? Wie hängt Gewalt gegen Frauen mit Kapitalismus, Ausbeutung und systematischer Unterdrückung zusammen?

Diesen Fragen wollen wir uns im folgenden Artikel widmen, weil davon auch abhängt, welche Politik, welches Programm zur Bekämpfung dieser Gewalt und ihrer Ursachen notwendig ist.

Gewalttätigkeit des Mannes: genetisch bedingt?

Unterdrückung von und Gewalt gegen Frauen hat aus radikal-feministischer Sicht ihre Grundlage oftmals in Faktoren wie der Rolle der Frau bei der Reproduktion auf der einen und dem Wesen des Mannes bzw. der Frau auf der anderen Seite. Essentialistische Argumente, wonach Männer „aggressiver“ sind und „ihre Dominanz ausnutzen“, blenden soziale Gegebenheiten zugunsten biologischer nahezu vollständig aus. Einige gehen sogar so weit, Frauen und Männer als eigenständige Klassen anzusehen, losgelöst von ihrer Stellung im Produktionsprozess oder ihrem Zugang zu Produktionsmitteln.

Die deterministische Perspektive, wonach Männer „von Natur aus“ zu Gewalt neigen und aggressives Handeln im männlichen Geschlecht verwurzelt ist, lehnen wir als MarxistInnen aus verschiedenen Gründen ab. Wenn dem so wäre, hätten wir es mit biologischen Konstanten zu tun. Unabhängig von allen äußeren Umständen und somit sozialen Gegebenheiten würden Männer zu allen Zeiten der Geschichte per Geburt den Hang zu Gewaltbereitschaft in sich tragen, im vermeintlichen Gegensatz zur „weiblichen Natur“. Ein Ende des Geschlechterkampfes wäre, folgt man diesem Denkschema in aller Konsequenz, schwer möglich, da die gegebene „männliche Natur“ unveränderbar wäre.

Janet Sayer widerlegt solche und ähnliche Annahmen in ihrem Buch „Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives“. Schon die simple Tatsache, dass durch die Mechanisierung körperliche Kraft eine geringere Rolle im Produktionsprozess spielte, verdeutlicht, dass „natürliche“ Kraftunterschiede spätestens seit der Industrialisierung nicht mehr als (alleiniges/primäres) Argument für die althergebrachte Arbeitsteilung, anhaltende Unterdrückung und Gewaltausübung gegen Frauen herangezogen werden können.

Rezepte des liberalen Feminismus

Am einfachsten wird die Unzulänglichkeit der Argumentation des liberalen Feminismus offenbar: persönliche Freiheit und rechtliche Gleichstellung würden gewissermaßen automatisch zur Emanzipation der Frau führen. Abgesehen von bis heute geführten Debatten um Frauenquoten, die sich oft nur auf eine Minderheit ohnehin privilegierter Vorstandsposten beziehen, hat sich die liberale Gleichheitsillusion nicht bestätigt. Dennoch lohnt ein Blick auf das Argumentationsmuster liberaler FeministInnen.

Anders als der biologisch-deterministische Ansatz radikaler FeministInnen vertritt der liberale Feminismus, wie Sayers hervorbebt, vorrangig die Sichtweise, dass die geschlechtliche Unterdrückung ein Hindernis für den freien Markt und dessen Entfaltung darstellt. Dieser Aspekt kann nicht genug betont und ebenso kritisiert werden: Es geht bei dieser Idee weder um die Befreiung der Frau als Selbstzweck oder humanistisch-emanzipatorischen Akt, sondern vor allem um das „Funktionieren“ der Ökonomie und die rein formelle Gleichheit. Liberaler Feminismus kann nicht erklären, weshalb trotz formell verankerter Gleichberechtigung der Geschlechter in den Verfassungen „liberaler“ Demokratien Ungleichheit weiterhin existiert, Gender Pay Gap, Teilzeitfalle und „Gläserne Decke“ seien hier nur als Schlagworte genannt.

Idealismus, Strukturalismus und historischer Materialismus

Die Mehrzahl feministischer Theorien ist entweder strukturalistisch (Männer sind unabänderlich gewalttätig) oder idealistisch (der Wille der Männer stiftet allein Geschichte), führt somit zu einem „umgekehrten“ Geschlechterkampf. Darüber hinaus sind diese Ansätze allesamt ungeschichtlich, d. h. sie lassen außer Acht, dass Frauenunterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein Resultat menschlicher Geschichte, also menschengemacht sind.

Frauenunterdrückung ebenso wie jedwede soziale Unterdrückung muss geschichtlich erklärt werden. Als MarxistInnen orientieren wir uns bei der Analyse an einer Geschichtsschreibung,  die ausgehend vom grundlegenden Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, der Arbeit und der von ihr eingegangenen Gesellschaftsverhältnisse die Gesamtheit aller Gesellschaftsbeziehungen untersucht (Totalitätsverständnis). Diesem Verständnis gemäß ist die Geschichte nicht nur die von Staaten und Politik, nicht nur die „großer Männer“ und ihres Willens, ihrer Charaktereigenschaften, sondern aller Gesellschaftsmitglieder, v. a. der arbeitenden Klassen, der Frauen, Jugendlichen und Kinder.

Marxistische Erklärung

Wir als MarxistInnen können Phänomene wie Gender Pay Gap erklären, was liberaler und radikaler Feminismus nicht können: Sie liegen darin begründet, dass Frauen und Männer dem Produktionsprozess verschiedenartig ausgesetzt sind. Frauen sind aufgrund Jahrtausende währender geschlechtlicher Arbeitsteilung seit Beginn der Sesshaftigkeit, die die Voraussetzungen für den Übergang zur Klassengesellschaft im Ackerbau schuf (neben der auch nomadisierend betriebenen Viehzucht, die von Beginn an eine männliche Domäne war), ans Haus gefesselt.

Damit konzentrieren sie sich auf den inneren Kern der Reproduktion des unmittelbaren Lebens (Kindererziehung, Hausarbeit für den privaten Bedarf der einzelnen Familien), während Männer den „Gesellschaft stiftenden“ Teil der Arbeit (Hofarbeit als wesentliche Quelle des Mehrprodukts, der Revenue für die jeweils ausbeutenden Klassen, Handel, Handwerk – also gesellschaftliche Tauschoperationen bedingende Tätigkeiten) überwiegend verrichten. Innerhalb der LohnarbeiterInnenfamilie, in der die Urproduktion eigener Lebensmittel mangels Besitz an Grund und Boden weitestgehend weggefallen ist, fehlt sogar jeglicher Produktionsanteil der proletarischen Hausfrau im eigenen Zuhause. Sie ist „nur“ noch für die unentlohnte Subsistenzreproduktion und den darüber vermittelten Anteil an der (Wieder-)Herstellung der Ware Arbeitskraft verantwortlich.

Ihre Diskriminierung in einer Gesellschaft wie der bürgerlichen, die nur die Produktion von (mehr) Geld und v. a. Kapital als sozial wertvoll im wahrsten Sinne des Wortes anerkennt, ist also noch umfassender als in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Ihre Arbeitskraft gilt nicht nur als quantitativ geringer, sondern qualitativ: sie schöpft keinen Tauschwert. Bei der Proletarierin im Produktionsprozess wirkt sich zusätzlich die geschichtlich ererbte und ans Wertgesetz angepasste geschlechtliche Arbeitsteilung als strukturell ungleicher Lohn aus.

Bürgerliche Demokratie schafft unterdrückerische Spaltungslinien nicht ab

Auch in Gesellschaften mit bürgerlicher Demokratie und formaler Gleichstellung der Geschlechter stößt diese Gleichheit in der kapitalistischen Produktionsweise und der damit einhergehenden Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse an ihre Grenzen.

Der Kapitalismus profitiert von einer zementierten Ungleichheit der Geschlechter wie auch von der Konkurrenz entlang weiterer Spaltungslinien: Jung gegen Alt, Stadt- gegen Landbevölkerung, Volk und Nation gegen MigrantInnen, um nur einige zu nennen. Der Fokus auf immer nur einen dieser Teilaspekte bzw. eine Spaltungslinie verschleiert die eigentlichen Klassenwidersprüche, deren Dynamiken die jeweiligen Geschichtsepochen prägen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich, dass eben nicht alle, d. h. nicht alle Frauen, gleichermaßen von Gewalt betroffen sind. Bestimmte Formen von (sexualisierter) Gewalt treffen hauptsächlich oder besonders stark Frauen aus der ArbeiterInnenklasse oder der Bauern-/BäuerInnenschaft – und hier wiederum aus den unteren Schichten: z. B. Frauenhandel, Zwangsprostitution, systematische Gewalt von kriminellen Banden in Slums und Armenvierteln, Vergewaltigungen und Gewalt als Mittel in (Bürger-)Kriegen. Hinzu kommt, dass die ökonomische Abhängigkeit der Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, aber auch aus Teilen des KleinbürgerInnentums von ihren Männern viel größer ist – nicht, weil die Männer schlechter als jene der Bourgeoisie wären, sondern aufgrund ihrer Klassenlage.

Es handelt sich also auch bei diesem Themenkomplex um eine Klassenfrage, die nicht isoliert vom Gesamtsystem betrachtet werden darf. Der Kapitalismus ist für uns MarxistInnen nicht nur ein Produktionssystem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Seine Logik wirkt in alle Lebensbereiche, prägt unser Denken und Handeln und formt unsere Gesellschaft demnach auch abseits des Arbeitsplatzes mehr, als uns oftmals bewusst ist.

Soziale Unterdrückung und Ideologie

Der Kampf gegen Gewalt muss sich gegen die Ursachen der Unterdrückung wenden. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle von Ideologie, die den Fortbestand der kapitalistischen Gesamtordnung sichert. Gemeinhin werden die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse – auch von den Ausgebeuteten – als legitim erachtet. Opfer und Täter werden individualisiert, was dazu führt, dass selbst bei konkreten Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen kein organisiertes Handeln aus dem Kollektiv heraus erfolgt, sondern Vereinzelung vorherrscht. Allein das erschwert schon das Erstatten einer Anzeige enorm. So individualisiert der Untersuchungs- und Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche Polizei und Justiz die Frauen und reproduziert strukturell die Ohnmachtserfahrung des Opfers.

Aus marxistischer Sicht ist eine der Hauptursachen von Frauenunterdrückung die dem Kapitalismus inhärente Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Haus- und Sorgearbeit. Diese schafft neben schlechterer Position für Frauen auf dem Arbeitsmarkt (s. o.) Abhängigkeiten – beispielsweise vom Lebenspartner oder Ehemann.

Wesentlich zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsverhältnisse tragen subtil wirkende gesellschaftliche Mechanismen bei wie z. B. geschlechtsspezifische Sozialisierung und damit die Reproduktion stereotyper Verhaltensweisen. Es sind eben keine natürlichen Vorprägungen, die automatisch für geschlechtliche Unterdrückung verantwortlich sind. Physische Gewalt ist dabei „nur“ ein Extrem, die sichtbarste Spitze des Eisberges von (Frauen-)Unterdrückung.

Zunahme der Gewalt und Klassenkampf

Aber wie die Zahlen zeigen, handelt es sich um eine gigantische „Spitze“. Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen – auch im öffentlichen Bereich – muss vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen verstanden werden, die die inneren Spaltungen der ArbeiterInnenklasse und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung noch prekärer machen.

Die letzten Jahrzehnte waren hinsichtlich der Lage der Frauen im Berufsleben durch eine widersprüchlichen Entwicklung geprägt. Einerseits wurden öffentlich organisierte Teile der Reproduktionsarbeit zurückgefahren oder privatisiert (und damit verteuert), andererseits nahm aber die Zahl der erwerbstätigen Frauen, wenn auch oft in Teilzeitstellen, zu – in manchen halbkolonialen Ländern wie z. B. Indien sogar in einem sehr großen Ausmaß. Frauen leisten also nicht nur den größten Teil der privaten Hausarbeit, auch ihr Anteil an der gesamten Lohnarbeit steigt.

Dies unterminiert die bestehende Arbeitsteilung. Vor dem Hintergrund einer strukturellen Krise des Kapitalismus und erst recht der Verheerung durch die Pandemie bringt diese Entwicklung die Kräfte der Reaktion auf verschiedene Weise auf den Plan, die sie als angebliche „Feminisierung“ und einen imaginierten „Genderwahn“ brandmarken. Den aggressiven Antifeminismus des Rechtspopulismus können wir dabei nur verstehen, wenn wir die Klassenlage des KleinbürgerInnentums und der von Deklassierung bedrohten Mittelschichten in der Krise begreifen. Die Ausweitung von Lohnarbeit der Frauen wird – obwohl zumeist auf schlechter entlohnte, prekäre Arbeitsverhältnisse konzentriert und in den „besseren“ Berufen noch immer krass unterpräsentiert – zur angeblichen „Förderung“ oder gar Bevorzugung von Frauen (und rassistisch Unterdrückten) verkehrt. Die reale und durchaus berechtigte Abstiegsangst angesichts verschärfter Konkurrenz und Krise wird nicht den kapitalistischen Verhältnissen, sondern „den Frauen“ oder „den Minderheiten“ angelastet. Der Feminismus erscheint als Gefahr, die die hart arbeitenden Männer in den Ruin treiben würde. Da die Führungen der ArbeiterInnenklasse zumeist eine passive, wenn nicht gar chauvinistische Haltung gegenüber lohnabhängigen Frauen einnehmen, können rechtspopulistische oder gar (halb-)faschistische Kräfte auch rückständige ArbeiterInnen für ihre reaktionäre Demagogie gewinnen.

Die aktuelle Zunahme von Gewalt gegen Frauen muss auch in diesem Kontext begriffen werden. Die in den letzten Jahren entstehenden Frauen*streiks und die Bewegung Ni una menos, die in Argentinien ihren Ausgang nahm, weisen dem Kampf gegen Femizide sowie Gewalt gegen Frauen und sexuell Unterdrückte zu Recht eine zentrale Stelle zu.

Dieser inkludiert notwendigerweise den Schutz vor den Tätern. Dabei dürfen sich die Frauen nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen, sondern es müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden, die von der gesamten ArbeiterInnenbewegung und der Unterdrückten getragen werden.

Gegen häusliche Gewalt braucht es als direkte Maßnahme öffentlich finanzierte, selbstverwaltete Frauenhäuser und Beratungsangebote.

Eine weitere politische Forderung muss sich auf den flächendeckenden Ausbau an Kinderbetreuungsangeboten beziehen, damit Frauen eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, deren Lohn zum Leben reicht und nicht durch Teilzeit in Aufstockung und später Altersarmut durch Mindestrente endet, was überproportional Alleinerziehende trifft. Daran zeigt sich auch, mit welch finanziellen Einbußen eine Trennung vom Partner oftmals verbunden ist und warum viele Frauen trotz Gewalterfahrung in einer toxischen Beziehung verharren.

In den Gewerkschaften, in den Betrieben wie auch in den Wohnvierteln müssen Kampagnen und Beratungsstellen organisiert werden, die sich gegen jede Form von männlichem Chauvinismus und Gewalt gegen Frauen richten, die Opfer unterstützen und für eine Verhaltens- und Bewusstseinsänderung der Männer wirken.

Damit eine solche Kampagne erfolgreich sein kann, darf sie nicht nur als Frage individuellen Verhaltens begriffen werden, sondern auch als eine des kollektiven Ringens gegen den Einfluss reaktionärer Bewusstseins- und Verhaltensformen in der ArbeiterInnenklasse.

Der Kampf gegen diese Gewalt muss daher verbunden werden mit dem um gleiche Rechte, gleichen Lohn und Arbeitsbedingungen. Er muss verbunden werden mit der Forderung nach Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit, d. h. einer doppelten Überwindung der Vereinzelung – sowohl der häuslichen Tätigkeiten als auch der Gebundenheit der Frau an die (Klein-)Familie.

Zur Umsetzung dieser Forderungen müssen wir uns zusammenschließen und eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, die sich als Teil einer neuen revolutionären Internationale sieht und für die Befreiung aller Menschen eintritt.

Literaturquellen

Engels, Friedrich (1878): Gewaltstheorie, in: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Online verfügbar unter http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_136.htm

Sayers, Janet (1982): Biology and the Theories of contemporary feminism, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 173–203.

Sayers, Janet (1982): Physical strength, aggression, and male dominance, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 65–83.




Abtreibungsverbot in Polen: Massenproteste und Streiks für Selbstbestimmung

Aventina Holzer/Martin Suchanek, Infomail 1124, 30. Oktober 2020

Seit Tagen gehen in Polen tausende DemonstrantInnen auf die Straße. Auf ihren Schildern und Bannern ist zu lesen: „Sie haben Blut an ihren Roben“ und „Schützt die Frauen!“, „Verpisst Euch!“ und „Dies ist Krieg“. Der Grund für den anhaltenden Unmut ist eine von der Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, dt.: Recht und Gerechtigkeit) eingeleitete Untersuchung des Abtreibungsgesetzes auf Verfassungstreue. Am Donnerstag, den 22. Oktober, entschied das Verfassungsgericht fast einstimmig, dass Abtreibungen aufgrund von Fehlbildungen des Fötus dem von der Verfassung garantierten „Recht auf Leben“ widersprechen würden. Die frauenverachtende Entscheidung kam wenig überraschend. Bereits 2017 wurde Polen von der EU abgemahnt aufgrund der politischen Nähe der VerfassungsrichterInnen zur Regierungspartei. Jetzt sind Abtreibungen nur noch möglich, wenn die Schwangerschaft aufgrund einer vor Gericht erwiesenen Vergewaltigung oder von Inzest eintritt oder das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft oder Geburt ernsthaft bedroht wird.

Weitere Verschärfung

Die Situation ist sehr ernst. Polen hat mit der neuen Entscheidung eines der ohnehin schon restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. Schon seit Jahrzehnten werden bei einer Bevölkerung von 38 Millionen höchstens 2.000 Schwangerschaftsabbrüche legal durchgeführt. Im Jahr 2019 wurden von den insgesamt 1.100 legalen Eingriffen 97 % aufgrund des jetzt verbotenen Grundes – Missbildung der Föten – durchgeführt.

Das 1993 erlassene Gesetz, das nun vom Verfassungsgericht weiter eingeschränkt wurde, zwang die große Mehrzahl aller Frauen zur illegalen Abtreibung im Land, oder ins Ausland zu gehen. Die Zahl der Abtreibungen wird dabei auf durchschnittlich 140.000 pro Jahr gezählt, manche gehen auch von 200.000 aus. Dies zeigt einerseits, wie restriktiv die Gesetzeslage ohnedies schon war und wie eng sie ausgelegt wurde. Viele Betroffene berichten, dass ihnen auch nach Nachweisen von gesetzlich legitimen Gründen die Abtreibung verwehrt wurde. Andererseits zeigen die Zahlen auf, dass ungewollte Schwangerschaften nicht unbedingt weniger werden, sondern diese Schwangeren nur in die Illegalität gedrängt werden. Wie die Situation jetzt aussieht, müssen Schwangere, die einen Abbruch vornehmen wollen, aus eigener Tasche einen Auslandsaufenthalt mit dort vorgenommener Abtreibung zahlen oder sich auf illegale bzw. sogar selbst durchgeführte medizinische Eingriffe einlassen, die nicht nur rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können, sondern auch die Gesundheit und das Leben von Frauen bedrohen.

Auch wenn klar gegen diese drastische Verschlechterung aufgestanden werden muss, so muss man aber auch für viel mehr kämpfen. Es kann nicht sein, dass die Selbstbestimmung über den eigenen Körper durch veraltete Dogmen überschattet wird. Schwangerschaftsabbruch muss aus egal welchem Grund möglich sein und die Kosten müssen vom Staat übernommen werden. Hier handelt es sich um medizinische Versorgung, auf die jede Frau ein Anrecht haben sollte. Wenn ein Staat ungewollte Schwangerschaften vermeiden möchte, so braucht es kein Verbotsgesetz, sondern Information, gratis Verhütungsmittel und gute Sexualaufklärung an Schulen, die mehr als zwei Geschlechter und eine Sexualität bespricht.

Rechtsruck

Neben diesem Schlag ins Gesicht, den der neue Verfassungsentscheid darstellt, zeigen andere Maßnahmen, die durch die PiS angestoßen wurden, dass die Partei nicht nur frauenfeindlich ist, sondern aktiv gegen alle Unterdrückten Politik macht. Die Partei, die sich für „kirchliche“ Werte einsetzt, sticht durch eine Verklärung der eigenen Geschichte hin zu einem nationalistischen Ideal und der Verneinung von Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten, die nicht in ihre Norm passen, heraus.

Diese aggressive reaktionäre Politik entspricht dem rechtspopulistischen Charakter der gegenwärtigen Regierung. Mit dem faktischen Totalverbot von Abtreibungen geht es auch darum, eine reaktionäre, kleinbürgerliche Massenbasis bei der Stange zu halten und gegen eine angebliche Bedrohung von außen zu mobilisieren. Nationalismus und vor allem der Katholizismus bilden hierfür die ideologischen Anknüpfungspunkte, um hinter der bürgerlichen Regierung und dem Gericht eine klassenmäßig heterogene AnhängerInnenschaft – von der eigentlichen Elite und Staatsführung bis zu kleinbürgerlichen Schichten und rückständigen ArbeiterInnen in Stadt und Land – zu sammeln. Daher finden sich im Schlepptau von Kirche und PiS auch die extrem nationalistische und faschistische Kräfte unter den AbtreibungsgegnerInnen, die seit Jahren sexuell Unterdrückte und deren Aktionen angreifen – geduldet oder gar ermutigt von Polizei und Kirche.

Der reaktionäre Angriff auf die Rechte der Frauen wird als Kampf gegen eine angebliche kosmopolitische, vom „Genderwahn“ erfasste Elite inszeniert. Dabei trifft er in Wirklichkeit vor allem die arbeitenden Frauen, die Lohnabhängigen wie auch armen Bäuerinnen.

Die Proteste spitzen sich zunehmend zu. Seit Montag, den 26. Oktober, wurden in Warschau Blockaden errichtet. Für die nächsten Wochen wird mit Streiks gedroht, sollte das Verfassungsgericht (deren Entscheid nebenbei erwähnt gerade auch juristisch angezweifelt wird) nicht nachgeben. Mit Letzterem ist sicher nicht zu rechnen. Im Gegenteil, die polnische bürgerliche und rechtspopulistische Reaktion hat die Einschränkung des Abtreibungsrechts zu einer Kernfrage ihrer Politik gemacht. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński und eigentliche Strippenzieher der polnischen Innenpolitik rief seine AnhängerInnen am 29. Oktober zur Verteidigung der Kirchen und der Gesetzesverschärfung um „jeden Preis“ auf: „Lasst uns Polen verteidigen, den Patriotismus verteidigen und Entschlossenheit und Mut zeigen. Nur dann können wir den Krieg gewinnen, der direkt von unseren Gegnern erklärt wurde.“

Diese Drohung, diese Kriegsrhetorik in Trump’scher Manier müssen wir ernst nehmen. Freiwillig werden das Gericht und die Regierung die Verschärfungen nicht zurücknehmen, geschweige denn das Recht auf Abtreibung zugestehen. Diese Konfrontation mit der Reaktion kann nur mit den Mitteln des Klassenkampfes, nur durch radikale Protestaktionen, Massenmobilisierungen und politische Streiks gewonnen werden.

Potential nutzen

Die Chancen stehen dabei so schlecht nicht. Laut Umfragen lehnen fast 70 % der polnischen Bevölkerung nicht nur die Gesetzesverschärfungen ab, sondern stimmen auch der Aussage zu, dass Frauen selbst das Recht haben sollten zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen.

Die Dynamik und das Potential der Bewegung in Polen zeigen sich auch auf der Straße und bei den Aktionen. Am 26. Oktober fanden Blockaden, Demonstrationen, Kundgebungen in über 150 Städten und Gemeinden in Polen und Europa statt.

Am Mittwoch, den 28. Oktober, wurde zum landesweiten Streik aufgerufen und zu zahlreichen anderen Aktionen. Diese finden auch bei Lohnabhängigen und kleineren Basisgewerkschaften wie der Inicjatywa Pracownicza (IP = ArbeiterInnen-Initiative) Anklang. Entscheidend wird jedoch sein, ob es gelingt, den Streik und die Protestbewegung in den Betrieben zu verankern. Alle regierungskritischen Gewerkschaften, insbesondere auch die OPZZ, müssen offen für den Kampf eintreten und ihre Mitglieder mobilisieren. In den Betrieben und Büro sollten Versammlungen organisiert werden, um die Arbeitsniederlegung zu organisieren und Streikkomitees zu wählen.

Die Frage des Einretens für die Rechte der Frauen und vor allem der Arbeiterinnen bedeutet in den Betrieben und in der ArbeiterInnenklasse zugleich auch einen Kampf, Lohnabhängige von den Gewerkschaften zu brechen, die die PiS unterstützen und für eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung unabhängig von allen bürgerlichen Parteien einzutreten.

Die unverhohlene Kriegsdrohung Kaczyńskis bedeutet auch, dass die Frauenbewegung und alle, die auf die Straße gehen oder streiken, mit Angriffen durch rechte, nationalistische und sexistische Kräfte sowie Provokationen durch die Polizei rechnen müssen. Sie müssen ihre demokratischen Rechte auch gegen etwaige Demonstrations- und Streikverbote unter dem Vorwand des Pandemieschutzes verteidigen. Es braucht daher eine von unten organisierte und landesweit koordinierte Bewegung, die sich auf Streik- und Aktionskomitees der Demonstrationen und Kundgebungen stützt, sowie koordinierte Selbstverteidigungsstrukturen zur Abwehr drohender rechter Angriffe.

Internationale Solidarität

Die Bewegung in Polen bedarf auch unserer internationalen Solidarität. Im Kampf für das Abtreibungsrecht dürfen wir uns auf die EU und die „demokratischen“ Staaten Westeuropas nicht verlassen. Merkel und von der Leyen werden für das Abtreibungsrecht, das ohnedies nicht hoch auf ihrer Agenda steht, keinen weiteren Konflikt vom Zaun brechen. Die Zustimmung der polnischen Regierung zur EU-Krisenpolitik ist ihnen tausend Mal wichtiger als die Zukunft der polnischen Frauen.

Die wirklichen Verbündeten sind die Menschen, die in vielen Ländern Europas, in Deutschland, Österreich, Irland, Frankreich, Italien und einigen mehr an Solidaritätsdemonstrationen und Kundgebungen teilnahmen, um auch von außen Druck auf die polnische Regierung auszuüben. Betroffen sind einige – gemeint sind wir alle. Wir lassen uns das Selbstbestimmungsrecht auf den eigenen Körper nicht nehmen – in Solidarität mit den Frauen in Polen und voller Unterstützung für ihren geplanten Streik.




Bangladesch: Massenprotest gegen Vergewaltigung

Joe Crathorne/KD Tait, Infomail 1122, 19. Oktober 2020

Die Todesstrafe wurde für Vergewaltigungsfälle in Bangladesch als Reaktion auf eine Woche von Demonstrationen gegen weit verbreitete und zunehmende sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen eingeführt.

Die Proteste brachen in der Hauptstadt Dhaka aus, nachdem Bildmaterial, das eine Gruppe von Männern zeigt, die eine Frau sexuell missbrauchen, über soziale Medien verbreitet wurde. Die Wut breitete sich schnell aus, und an mehreren Orten in ganz Bangladesch wurde zu Protesten aufgerufen.

Frauen- und StudentInnenorganisationen gehörten zu den ersten, die zu Demonstrationen aufriefen, darunter das Zentralkomitee der StudentInnengewerkschaft, das diesen Aufruf am 11. Oktober veröffentlichte:

„Die StudentInnengewerkschaft Bangladesch sendet einen internationalen Aufruf zur Solidarität an unsere FreundInnen und GenossInnen in der ganzen Welt, sich uns in diesem Kampf gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe anzuschließen. Ihre Solidarität in Form von Demonstrationen, Online-Botschaften, aufgezeichneten Erklärungen wäre ein wesentlicher Teil unseres Kampfes in Bangladesch. Die Regierung versagt dabei, ihren BürgerInnen Sicherheit und Schutz zu bieten, und mobilisiert stattdessen Polizei und Schlägertrupps, um unsere Proteste anzugreifen. Daher rufen wir alle Genossen und Genossinnen auf, sich uns anzuschließen und in diesem Kampf zusammenzustehen.“

Als Reaktion auf eine Reihe von Vergewaltigungen von Studentinnen in der Hauptstadt haben studentische Organisationen das ganze Jahr über eine herausragende Rolle bei Protesten gespielt.

Struktureller Sexismus

Der starke Anstieg der Fälle im letzten Jahr – von 942 im Jahr 2019 auf über 1.000 in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 – kann zum Teil auf die sozialen Veränderungen in einem Land zurückgeführt werden, in dem traditionelle patriarchalische Werte mit einer wachsenden Zahl von Frauen in den Bereichen Arbeit und Bildung in Konflikt geraten. Sexuelle Gewalt ist ein Mittel, um Frauen zu terrorisieren, damit sie einen den Männern untergeordneten Status akzeptieren.

Aber wie in praktisch allen Ländern schafft der systemische Sexismus im Rechtssystem eine Kultur der Straflosigkeit. Die Verurteilungsrate für angezeigte Vergewaltigungen liegt in Bangladesch unter einem Prozent, was durch institutionellen Sexismus innerhalb der Polizei und der Justiz sowie durch Gesetze aus der Kolonialzeit, die AnwältInnen dazu ermutigen, den moralischen Charakter der AnklägerInnen anzugreifen, erschwert wird.

Infolgedessen sehen sich die Überlebenden mit Stigmatisierung und Arbeitsplatzverlust konfrontiert und werden, insbesondere in ländlichen Gebieten, von den Familien oft gezwungen, ihren Vergewaltiger zu heiraten.

Die Entscheidung der Regierung von Bangladesch zur Einführung der Todesstrafe, die von vielen Protestierenden gefordert wurde, aber von der Rechtsreformkoalition in Bezug auf Vergewaltigung, einer Frauenrechtsgruppe des Landes, ausdrücklich abgelehnt wird, greift religiöse und konservative Vorurteile unter den Protestierenden auf, anstatt die von Frauenorganisationen geforderten demokratischen Reformen zu übernehmen.

Das Beispiel des benachbarten Indien, das ebenfalls Wellen von Massenprotesten gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe erlebt hat, zeigt, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die Todesstrafe von Vergewaltigung abschreckt. Tatsächlich machen Todesurteile Verurteilungen durch Geschworene weniger wahrscheinlich, und in einem Land, in dem die Einschüchterung der Opfer weit verbreitet ist, kann sie Überlebende davon abhalten, Angriffe zu melden.

Frauenorganisationen in Bangladesch setzen sich für eine Reihe demokratischer Reformen ein, die von der ArbeiterInnenbewegung aufgegriffen werden sollten, darunter der ZeugInnenschutz, die Ausweitung der Definition von Vergewaltigung, das Verbot der Verwendung von Leumundszeugnissen und die Einführung von Einwilligungspflicht und Sexualerziehung in Schulen.

So wie die Verteidigung von Frauen nicht in den Händen der Familie liegen kann, kann sie auch nicht dem Staat oder seinen Zwangsinstrumenten überlassen werden, egal wie viele Kurse zur Sensibilisierung von PolizeibeamtInnen besucht werden.

Perspektive

Auf dem Campus und in den ArbeiterInnenvierteln sollten Selbstverteidigungsgruppen aus Frauen und Männern gebildet werden, um gegen antisoziales, unterdrückendes und gewalttätiges Verhalten vorzugehen, das sich gegen Frauen und unterdrückte Gruppen richtet.

Da Vergewaltigung und sexuelle Gewalt in engem Zusammenhang mit der sozialen Stellung von Frauen stehen, muss die ArbeiterInnenbewegung den Kampf nicht nur für demokratische Reformen, den massiven Ausbau staatlich finanzierter Zufluchtsorte, öffentliche Dienste zur Entlastung der Frauen von der Bürde der Hausarbeit, sondern auch für gleiche Bezahlung, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und für die volle und gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an der Gewerkschaftsbewegung aufnehmen, einschließlich der Selbstorganisation von Frauen und anderen unterdrückten Gruppen in eigenen Abteilungen und separaten Treffen (Caucuses) zur Bekämpfung von Vorurteilen und Sexismus.

Die Proteste in Bangladesch und Indien müssen im Kontext einer wachsenden weltweiten Bewegung gegen Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gesehen werden, die den physischen Ausdruck der Unterordnung der Frauen unter die Männer in der Klassengesellschaft darstellen.

Die Tatsache, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und in zunehmendem Maße auch gegen Kinder auf dem Vormarsch ist, von der halbkolonialen Welt bis zu den imperialistischen Zentren, zeigt, dass die Unterdrückung von Frauen zwar unterschiedliche kulturelle Formen annehmen kann, ihr Wesen aber der Klassengesellschaft immanent ist. Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise untermauert die Frauenunterdrückung den Profit durch unbezahlte Arbeit im Haus und Überausbeutung am Arbeitsplatz.

Während im Westen durch begrenzte staatliche Gesundheits- und Sozialfürsorge, Bildung, Scheidungs- und Reproduktionsrechte einige Fortschritte erzielt wurden, macht die brutale Ausbeutung der halbkolonialen ArbeiterInnenklasse durch die imperialistischen Staaten solche Reformen in der sog. Dritten Welt zu einer Utopie, solange das Profitsystem und die Spaltung in antagonistische Klassen bestehen.

Die Unterdrückung der Frauen ist keine nationale, sondern eine globale Frage. Nur eine auf internationaler Ebene koordinierte Bewegung von Frauen-, ArbeiterInnen- und Jugendorganisationen, die auf sozialistischen Prinzipien der Frauenbefreiung und des Kampfes gegen den Imperialismus basiert, kann einen konsequenten Einsatz gegen patriarchalische Gewalt führen.

Der Aufruf zur internationalen Solidarität von StudentInnen aus Bangladesch zeigt einen Schritt in diese Richtung, und es ist die Pflicht der KommunistInnen und SozialistInnen in der ganzen Welt, insbesondere im Westen, diesem Aufruf nachzukommen.




Gesellschaftliche Unterdrückung und linke Organisationen

Jonathan Frühling, Infomail 1108, 24. Juni 2020

Gesellschaftliche Unterdrückung ist nahezu allgegenwärtig und auch als AktivistInnen in linken Organisationen sind wir nicht frei davon, weil wir durch eben diese Gesellschaft geprägt werden. Wir alle sind durch das Schulsystem gegangen, welches bekanntermaßen neben Bildung auch die Funktion hat, ein bürgerliches Bewusstsein zu vermitteln. Rassistische und sexistische LehrerInnen, Konkurrenzkampf und Mobbing sind hier einige Schlagworte, die den meisten Menschen bekannt sind. Doch auch die Hetze gegen Geflüchtete in den Zeitungen, die Darstellung von Frauen in untergeordneten Rollen in Filmen und Serien oder ein sexistischer Kommentar durch ArbeitskollegInnen hinterlassen in unserem Denken ihre Spur. Diese Prozesse finden praktisch ständig und überall um uns herum statt. Zwar kann man linke Tageszeitungen lesen, explizit sexistische Filme vermeiden und dem Arbeitskollegen seine Meinung sagen, aber ganz entziehen kann man sich der Gesellschaft natürlich nicht.

Natürlich bestehen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse grundlegend unabhängig vom subjektiven Verhalten einzelner Menschen oder erst recht der Mitglieder linker politischer Gruppen. Sie lassen sich daher auch nur durch den gemeinsamen Kampf und letztlich nur durch den Sturz des kapitalistischen Systems selbst überwinden und die Errichtung einer Gesellschaftsordnung, die der Unterdrückung nicht mehr bedarf. Letzteres deutet nicht, dass die Unterdrückungsverhältnisse wie auch Unterschiede innerhalb der ArbeiterInnenklasse – z. B. zwischen Hand- und Kopfarbeit – mit einer sozialistischen Revolution automatisch verschwinden, aber die Enteignung des Kapitals und die bewusste gesellschaftliche Planung stellt eine notwendige Voraussetzung für ihre Überwindung dar.

Der Kampf gegen die Reproduktion unterdrückerischen Verhaltens in der ArbeiterInnenbewegung schafft also nicht die Wurzeln der gesellschaftlichen Unterdrückung aus der Welt, ist aber unerlässlich, um diesen überhaupt bewusst führen zu können.

Es versteht sich deshalb von selbst, dass es auch innerhalb linker Organisationen Probleme mit Unterdrückungsmechanismen gibt, die durch die eigenen Mitglieder ausgeübt werden.

Dies nicht zu leugnen, ist kein Eingeständnis des eigenen Scheiterns, sondern nur ehrlich und öffnet den Weg für notwendige Diskussionen: Es stellt überhaupt erst die Frage, wie entsprechende Unterdrückungsmechanismen in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bekämpft werden können und müssen. Ansonsten werden unterdrückerisches Verhalten und entsprechende Bewusstseinsformen unwillkürlich reproduziert.

Wir wollen daher im Folgenden einige Formen darstellen, die wir bei uns, aber auch in der ArbeiterInnenbewegung selbst für notwendig im Kampf gegen soziale Unterdrückung erachten.

Das Caucusrecht

Als Grundlage sollte es ein Caucusrecht für alle sozial Unterdrückten, wie z. B. Frauen oder People of Colour, geben. Das bedeutet, dass diesen Personen das Recht eingeräumt wird, sich innerhalb der Organisationen gesondert zu treffen. Das gibt ihnen die Möglichkeit, geschützt vor potenziellen UnterdrückerInnen zu diskutieren. Es soll so ein Schutzraum geboten werden, indem Betroffene ungehemmt Hilfe und Beistand bei individuellen und kollektiven Unterdrückungserfahrungen außerhalb und innerhalb der Organisation erhalten können. Wichtiger ist jedoch der Aspekt, dass die Betroffenen dort selbst (politische) Vorschläge erarbeiten, wie die Unterdrückung innerhalb und außerhalb der Organisation bekämpft werden soll. Solche innerorganisatorischen Strukturen sind keine Selbsthilfegruppen für Betroffene, sondern solche, die den Finger auf mögliche Wunden legen können. Daher räumen wir nicht nur unseren GenossInnen intern das Recht ein, bei Bedarf einen Caucus ins Leben zu rufen, sondern stellen dies auch als Forderung auf. Das Recht zur Caucusbildung sollte unterdrückten Schichten der Gesellschaft in allen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ermöglicht werden. So können unsere Organisationen einerseits von eigenem Fehlverhalten lernen wie auch das Ziel ermöglichen, die ArbeiterInnenklasse in ihrer Gesamtheit zu organisieren.

Maßnahmen gegen sexuelle Grenzüberschreitungen

Auch sexuelle Grenzüberschreitungen können in linken Organisationen vorkommen. Es ist daher wichtig, dass sich die Organisation bei der Klärung und Sanktionierung entsprechender Vorfälle an ein im Vorhinein demokratisch abgestimmtes Verfahren hält. Dabei sollte festgehalten werden, welche Personen oder Gremien damit beauftragt sind, solche Vorwürfe aufzuklären, oder wann und in welcher Form die Mitgliedschaft darüber informiert wird. Welche Personen Sanktionen aussprechen dürfen (zumeist sind dies Schiedskommissionen oder die Leitungen), sollte auch festgelegt werden. Natürlich müssen alle an diesem Prozess beteiligten Personen der Organisation in ihrer Gesamtheit rechenschaftspflichtig sein.

Bei der Behandlung sexueller Grenzüberschreitungen sollten Untersuchungskommissionen eingerichtet werden, die mehrheitlich aus gesellschaftlich Unterdrückten bestehen. Sollte das z. B. in einer kleinen Ortsgruppe nicht möglich sein, so kann diese auch aus GenossInnen aus anderen Städten zusammengesetzt werden. Wir lehnen zwar das Prinzip der Definitionsmacht über einen Vorwurf durch die betroffene Person ab, aber die beschuldigten GenossInnen sind zur aktiven Mitarbeit an der Aufklärung eines Vorwurfs verpflichtet. Schließlich sind Mitglieder für die Zeit der Untersuchung eines Vorwurfs suspendiert (d. h. sie verlieren in diesem Zeitraum ihre Mitgliederrechte).

Die Stellung  sozial unterdrückter Personen in linken Organisationen

In den meisten politischen Organisationen (auch linken) sind sozial unterdrückte Menschen wie z. B. Frauen, Jugendliche, People of Color und Menschen aus der LGBTQIA+-Bewegung unterrepräsentiert, was auch mit ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung zusammenhängt. Es ist deshalb wichtig, dass sich Unterdrückte in besonderem Maße zu politischen AktivistInnen entwickeln können und der Reproduktion gesellschaftsspezifischer Arbeitsteilung aktiv entgegengesteuert wird. So sollten technische Aufgaben (wie z. B. das Drucken eines Flyers), wann immer möglich, nicht an Frauen delegiert werden. So können sie sich mehr auf ihre politische Entwicklung konzentrieren und aktiv nach außen hin auftreten – und die Organisation sollte diese Entwicklung auch bewusst vorantreiben.

Sie sollten dabei von den anderen Mitgliedern bestärkt werden und Unterstützung erhalten, wenn sie dies wünschen. Politische Schulungen, die ausschließlich von und für sich als weibliche verstehende Mitglieder offen sind, können für Frauen ein zusätzliches Schulungsmoment sein. Die Organisierung von Kinderbetreuung, damit Mütter (und Väter) an Ortsgruppentreffen, Veranstaltungen oder Schulungen teilnehmen können, sollte vor allem durch die männlichen Teile einer linken Organisationen sichergestellt werden.

Die Aufgabe der gesellschaftlich Privilegierten

Aber auch die relativ privilegierten Teile der Gruppe, die nicht selten auch als Unterdrücker oder Träger rückständiger Bewusstseinsformen in Erscheinung treten, müssen natürlich in die Verantwortung genommen werden. Dabei reicht es im Kampf gegen Sexismus beispielsweise nicht aus, sich mit feministischer Theorie auszukennen. Sexistische Verhaltensmuster spiegeln sich nämlich trotzdem in dem Handeln linker Männer allzu oft wider. Deshalb müssen sich Männer über ihr eigenes unterdrückerisches Verhalten bewusst werden und aktiv dagegen ankämpfen. Deshalb haben wir damit begonnen, antisexistische Männertreffen  abzuhalten. Auf diesen Treffen sollen Männer ihre Sozialisierung und ihr eigenes Verhalten kritisch analysieren. So kann z. B. das Bewusstsein geschärft werden, inwiefern Blicke bereits als sexuelle Belästigung wahrgenommen, ob Frauen häufiger unterbrochen oder ob die Vorschläge von Frauen und anderen unterdrückten Schichten genauso ernst genommen werden wie die der Männer. Diesen Prozess können Frauen natürlich aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit dieser Unterdrückung, wenn nötig, kritisch unterstützen. Vor allem aber geht es auch darum, nicht nur Bewusstsein für eigenes Verhalten zu schärfen, sondern vor allem die eigene Praxis in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, im Kampf gegen Sexismus und andere Formen der Unterdrückung im Betrieb, an der Uni, an der Schule zu entwickeln.

Schluss

Der Kampf gegen Unterdrückung in der eigenen Organisation sollte einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Erstens wollen wir eine Welt schaffen, die frei von Unterdrückung ist. Das bedeutet aber auch, dass RevolutionärInnen zu bewussten VorkämpferInnen gegen alle Formen der Unterdrückung erzogen werden. Das ist zwar in erste Linie eine politische Frage, aber es gehört auch dazu, selbst zu lernen, die Anliegen, die Sprache von Unterdrückten aufzunehmen und zu unterstützen. Wenn eine Organisation ihre Mitglieder nicht aktiv und immer wieder darauf vorbereitet, wird sie auch unfähig sein, die ArbeiterInnenbewegung und die Gesellschaft insgesamt zu verändern. Zweitens können wir nur so den unterdrückten Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft eine politische Organisation bieten, in der ihre Unterdrückung, wenn auch nicht aufgehoben, so zumindest gemindert ist und aktiv bekämpft wird.

Drittens kann und muss jedoch eine revolutionäre Organisation besonders Unterdrückten die Möglichkeit geben, sich zu politischen AktivistInnen zu entwickeln und den Klassenkampf in ihrem Sinne mitzuprägen. Nur so werden RevolutionärInnen Zugang zu diesen Schichten erhalten, von ihnen lernen und gemeinsam unterdrückerische Verhaltensweisen und die Verhältnisse, die sie hervorbringen, bekämpfen können. Mithilfe der GenossInnen aus verschiedenen unterdrückten Schichten kann das revolutionäre Programm weiter ausgearbeitet, bereichert und konkretisiert werden, so dass sichergestellt wird, dass es der gesamten ArbeiterInnenklasse entspricht (und nicht unbewusst an deren privilegierte Teile angepasst wird).