Nein zum Gender Verbot an Schulen

Erik Likedeeler, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Es klingt absurd, ist aber wahr: Sachsens Kultusministerium hat sich dazu entschieden, eine geschlechtergerechte Sprache in Form von Sternchen, Doppelpunkt und Binnen-I an Schulen und deren Behörden zu verbieten. Der thüringische Landtag hat beschlossen, dass Landesregierung, Ministerien, Schulen, Universitäten und der öffentliche Rundfunk nicht mehr „gendern“ dürfen. Auch in Niederösterreich haben ÖVP und FPÖ durchgesetzt, dass die Nutzung von Sternchen und Binnen-I in den Landesbehörden untersagt wird. Ein FPÖ-Sprecher betonte, es gehe darum, den „Wahnsinn des Genderns“ zu beenden. Diese Gender-Verbote stellen eine weitere Folge des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks in unseren Schulen dar. Sie sind eingebettet in einen internationalen Rollback gegen die Rechte von FLINT-Personen, wie die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung in den USA oder Italien oder gesetzliche Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen oder Verbote von gleichgeschlechtlichen Ehen/Partnerschaften in osteuropäischen Staaten. So haben Rechtspopulist:innen auf der ganzen Welt die sogenannte „Trans- und GenderLobby“ zu einem ihrer Hauptfeinde erklärt. Auch unsere Schulen werden zur Zielscheibe ihrer Angriffe. Die zunehmenden Verwerfungen der kapitalistischen Krisen machen Teile des Kleinbürgertums und deklassierter Arbeiter:innen anfällig für diese Ideologie. So sorgen Inflation, zunehmende Konkurrenz, drohender Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau dafür, dass viele Cis-Männer ihre zugewiesene Rolle des heldenhaften und starken Ernährers nicht mehr erfüllen können. Die Angst vor dem männlichen Macht- und Identitätsverlust wird zu einem rechten Kulturkampf umgeformt. Die Rückkehr zu konservativen Wertvorstellungen, zu einer Welt in der doch alles noch besser war, wird ihnen dabei als Lösung verkauft. Der Wirbel um den angeblichen „Wahnsinn des Genderns“ dient als Ablenkung vom eigentlichen sozialen Elend. Die klassenlose Individualisierung des Kampfes um symbolische Repräsentation soll uns davon abhalten, die eigenen Klassenunterdrückung zu erkennen.

Den Rechtspopulist:innen geht es also nicht um eine vermeintlich „richtige“ oder „einfachere“ Sprache. Es geht ihnen darum, Frauen und Queers unsichtbarer zu machen und zurückzudrängen. Dabei greifen sie tief in die Mottenkiste der homophoben und sexistischen Vorurteile, indem sie ihre Gender-Verbote damit begründen, dass es angeblich die Kinder verwirre oder in ihrer Entwicklung beeinträchtige. Unter dem Schlagwort „Frühsexualisierung“ wird nicht nur Jagt auf Gender-Sternchen, sondern auch auf die gleichberechtigte Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungsmodelle im Unterricht gemacht. Die angeblichen Interessen der Schüler:innen werden hier argumentativ ins Feld geführt, ohne dass überhaupt die Schüler:innen gefragt wurden. Für den Kampf in der Schule bedeutet dies, dass wir uns nicht auf die Bildungsministerien verlassen können. Jede Errungenschaft kann scheinbar mit einem Regierungswechsel wieder zunichte gemacht werden. Schüler:innen müssen also selbst die Frage der Kontrolle über Lehrpläne und Verhaltensregeln in den Schulen stellen, um das Vordingen rechter und queerfeindlicher Ideologie in unsere Schulen zu stoppen. Was wir für eine gerechte und inklusive Bildung wirklich brauchen, sind Lehrpläne unter demokratischer Kontrolle von Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie Lehrer:innen und Schüler:innen. Selbige müssen selbstverwaltete Antidiskriminierungsstellen an den Schulen erkämpfen, um den Schutz von Mädchen, Frauen und queeren Personen an den Schulen zu garantieren. Es nicht das Gendern, was Schüler:innen Probleme bereitet, sondern es ist ein kaputtgespartes Bildungssystem, Lehrer:innenmangel und steigender Leistungsdruck. Doch das sächsische Bildungsministerium oder die FPÖ denken nicht einmal im Traum daran, an dieser Bildungsmisäre etwas zu verändern. Dieser Umstand entlarvt nur noch mehr, dass es ihnen lediglich im den Kampf um ideologische Vorherrschaft und das Zurückdrängen von Frauen und LGBTIA geht. Doch auch Sachsens Lehrerverband (nicht jedoch die Gewerkschaft GEW!) sieht positiv, dass das Gender-Verbot „Klarheit“ und „Barrierefreiheit“ bringen würde. Der Sprecher der FPÖ führte sogar die „Integration“ von Migrant:innen als Grund dafür an, wieso die Partei es bei „einfachen und verständlichen“ Sprachregeln belassen will.

In sprachwissenschaftlichen Studien konnte das Argument jedoch widerlegt werden, dass Gendern für das Gehirn mühsam wäre oder zusätzlichen Aufwand bedeuten würde. Anders als häufig angenommen führen geschlechtergerechte Formulierungen nicht zu langsamerer Verarbeitung, schwächerer Erinnerungsleistung oder schlechterer Lesbarkeit. Das Maskulinum hingegen führt durchaus zu Zögern bei der Verarbeitung und langsamer Reaktion, sobald es geschlechtsübergreifend gemeint ist.  Gleichzeitig sollten wir auch als Linke nicht der Illusion verfallen, dass ein bloßes Ändern unserer Sprache automatisch zu einer tatsächlichen Überwindung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse führt. Selbst, wenn nun mehr Leute geschlechtergerechte Sprache benutzen, ändert dies leider wenig am Gender Pay Gap oder der Tatsache, dass Frauen immer noch einen Großteil der Haus- und Care-Arbeit leisten. Anstatt jedoch wie manche Linke den “Kampf um eine inklusive Sprache” abzulehnen, sollten wir diesen viel eher in den Klassenkampf einbinden. Denn in Begriffen stecken implizite Sichtweisen und Wertungen, die beeinflussen können, wie wir bestimmte Gruppen und Ereignisse betrachten. Im besten Fall kann das Verwenden einer bestimmten Sprache unsere Sichtweisen einer breiteren Masse leichter zugänglich machen. Zudem vermittelt inklusive Sprache zusätzlich diskriminierten Personen, dass wir ihre Unterdrückung anerkennen und unsere Befreiungsbewegungen zusammendenken. In diesem Sinne dürfen wir uns keinesfalls der rechten Verbotskultur beugen, sondern müssen dem Gender-Verbot den Kampf ansagen! Denn das, was der bürgerliche Staat als Vertreter des Kapitals am meisten zu fürchten hat, ist eine Arbeiter:innenklasse und Jugend, die sich ihrer gemeinsamen Interessen bewusst ist und gegen die wahren Ursachen ihres Elends ankämpft.
.




Rezension: „Diversität der Ausbeutung“

Mo Sedlak, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1236, 13. November 2023

Die Ausbeutung der Arbeiter:innen hat immer schon auch deshalb funktioniert, weil sie in Segmente und Gruppen mit scheinbar gegensätzlichen Interessen aufgespalten sind. Rassistische Überausbeutung, koloniale Enteignung, sexistische Aufteilung der unbezahlten Reproduktionsarbeit und mit Gewalt und Stigmatisierung vollzogener Ausschluss von LGBTQIA+-Personen prägen bis heute die soziale Ordnung der kapitalistischen Gesellschaften. Gleichzeitig beeinflussen und segmentieren sie die Arbeiter:innenklasse. In Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbos Sammelband „Diversität der Ausbeutung“ weist Christian Frings schon im Vorwort darauf hin, dass diese „eigentümliche Zusammensetzung“ schon Marx als notwendige Voraussetzung für Ausbeutung und Mehrwertproduktion auffällt. (Mendívil und Sarbo 2022, 13)

Aus der Zusammensetzung der Klasse ergibt sich auch eine Aufspaltung der Arbeiter:innen. Die Arbeiter:innenbewegung hat diese immer bekämpft, je nach politischer Ausrichtung und geschichtlicher Verfasstheit mal mit mehr Ernsthaftigkeit und mal mit weniger Erfolg. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung in Folge des Zweiten Weltkriegs haben kam es ab den 1960er Jahren zu größeren und erfolgreicheren Bewegungen als je zuvor gegen die soziale Unterdrückungsmelange aus Neokolonialismus, kaum verschleiertem völkischen Erbe und dem Zwang der heterosexuellen Kleinfamilie. Der Kapitalismus im imperialistischen Zentrum passte seine sozialen Regeln und die Arbeitsteilung innerhalb der Klasse an. Seitdem sind Regierungen und loyale Oppositionen bestrebt, soziale Kämpfe vom Antikapitalismus zu trennen. Um die Rebellion zu verhindern, bieten Parteien und Konzerne jetzt Diversität an.

Das Buch selbst macht auf das Wortspiel im Titel aufmerksam (Witze werden immer lustiger, wenn sie erklärt werden!). „Diversität der Ausbeutung“ benennt sowohl die unterschiedlichen Ausbeutungsformen anhand von rassifizierter und geschlechtlicher Aufspaltung, aber auch die Rolle des neoliberalen „Diversitätsmanagements“ für die fortgesetzte Ausbeutbarkeit des Proletariats.

Das ist der Ausgangspunkt von Mendívils und Sarbos Kritik des herrschenden Antirassismus (das ist der Untertitel von „Diversität der Ausbeutung“, das 2022 im Berliner Dietz Verlag erschienen ist). Die Autor:innen machen den Widerspruch auf zwischen einem Kapitalismus, der die Arbeiter:innenklasse ohne Rassismus nicht beherrschen kann, und Arbeiter:innen die sich diese Herrschaft nicht gefallen lassen.

Zusammenfassung: marxistische Kritik und Kritik der Kritik

Das Buch ist auch eine scharfe Kritik an bürgerlichen und kleinbürgerlichen Linken. Diesen werfen die Autor:innen vor, die Sprache der Herrscher:innen übernommen zu haben bzw. ihre nächsten Entwicklungsstufen für sie zu schreiben. Im Gegenzug dazu hätten die größten Teile der postkolonialen, poststrukturalistisch-feministischen und intersektionalen Theoretiker:innen aufgegeben, in den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen nach der Ursache für Rassismus, Sexismus und Queerunterdrückung zu suchen. Dementsprechend würden auch ihre Lösungsansätze am Kern der Sache vorbeigehen und sich sicher innerhalb der Systemgrenzen bewegen. Den Gegenentwurf skizzieren die zwei Herausgeberinnen im ersten Kapitel, „Warum Marxismus“, als systematische Anwendung der materialistischen Methode.

Zum Beispiel bauen Mendívil und Sarbo im fünften Kapitel auf Barbara Foleys Kritik der Intersektionalität auf und stellen ihr die marxistische Kategorie der Verdinglichung entgegen. Intersektionalität zeichnet Bevor- und Benachteiligungen als Differenzlinien auf, deren Überschneidungen dann Mehrfachunterdrückung zeigen. Foley macht darauf aufmerksam, dass gerade die Zweidimensionalität der Darstellung die besonderen Formen von rassistischer Arbeitsteilung, behindertenfeindlicher Gesetzeslage und Ausbeutung des Mehrprodukts unterschlägt. Mendívil und Sarbo stellen dem das Verständnis der Verdinglichung entgegen, wo die Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zur Identität des Subjekts gemacht, ideologisch definiert und durch den gesellschaftlichen Umgang (zum Beispiel in Gesetzesform) materialisiert wird: „In Identitäten erscheint den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft also ihre gesellschaftliche Tätigkeit als Eigenschaft“ (Mendívil und Sarbo 2022, 110). Sie streiten weder die Existenz noch die Wirkmächtigkeit von Identitäten ab, suchen aber deren Ursache in Produktion und Reproduktion und finden den Weg zur Überwindung der Unterdrückung in der der gesellschaftlichen Produktionsweise.

Unabhängig davon, wer das Buch alles als Streitschrift gegen die Identitätspolitik gelobt hat, benennen die Beiträge Kämpfe von sozial Unterdrückten aber als Klassenkämpfe. Ökonomismus oder konservativen Vorstellungen von Haupt- und Nebenwiderspruch gehen die Autor:innen aus dem Weg. „Die Diversität der Ausbeutung“ versucht, eine materialistische Analyse von Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung, unabhängig von bürgerlichen Ideologien zu entwerfen.

Gleichzeitig gelingt es nicht ganz, das Verhältnis von Unterdrückung und Ausbeutung zueinander zu klären. Von der richtigen Analyse ausgehend, dass Ausbeutung nicht dasselbe wie Klassismus ist, bleibt die Differenzierung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung vage. Dass sich zwischen den Beiträgen verschiedener Kapitelautor:innen Widersprüche auftun, ist keine Überraschung und auch kein Vorwurf. Dadurch bleibt eine Kernfrage des Buches aber offen. „Das dieser Unterdrückung [von Frauen und Schwarzen Personen] zugrundeliegende Verhältnis von Kapital und Arbeit bleibt damit verschleiert. Die Charakterisierung von Klasse als einem Ausbeutungsverhältnis unterscheidet sich von der Unterdrückung als politischem Verhältnis – ausgedrückt in beispielsweise Geschlecht oder Rasse – und Diskriminierung als analytischer Kategorie.“ (Mendívil und Sarbo 2022, 112)

Wie die Autor:innen darstellen, sind rassistische und sexistische Arbeitsteilung, heterosexistische Familienstrukturen und auch auf Rassismus und Sexismus aufbauende Enteignung grundlegende Formen der Klassengesellschaft. Aber Ausbeutung und Unterdrückung gehen nicht nur Hand in Hand. Die Entstehung der Arbeiter:innenklasse kommt aus der gleichzeitigen Trennung von Produzent:in und Produkt, der Trennung von produktiver und reproduktiver Arbeit, und der Trennung von rassistisch überausgebeuteten Produzent:innen von der Verfügung über ihre Arbeitskraft.

Die Entstehung der Arbeiter:innenklasse bedeutet nicht nur das Werden von Menschen, die arbeiten müssen, um essen zu können (was Søren Mau in seinem ebenfalls kürzlich bei Dietz erschienenen „Stummer Zwang“ als ebenso zwingend wie staatliche Gewalt und ideologische Rechtfertigung analysiert). Sie zwingt Menschen auch zur geschlechtlichen Arbeitsteilung, um sich reproduzieren zu können, in rassistische Segmentierung, um der kolonialen und postkolonialen Gewalt zu entgehen, und in heterosexistische Kleinfamilienstrukturen, in denen die Reproduktion am günstigsten zu haben ist. In „Diversität der Ausbeutung“ werden diese Mechanismen beschrieben und mit der Verdinglichung auch die Verbindung zu Ideologie und Identität gelegt. Die analytische Trennung von ökonomischer Ausbeutung und politischer Unterdrückung bleibt aber dahinter zurück.

Kernpunkte

Das Buch ist nicht in Teile oder Abschnitte aufgeteilt, verfolgt aber zwei Projekte, die sich auch nach Seitenzahlen grob abgrenzen lassen. In den ersten drei Kapiteln legen Mendívil und Sarbo, dann Sarbo alleine, und dann Mendívil und Hannah Vögele ihr grundlegendes Verständnis von Marxismus, Rassismus und sozialer Reproduktion dar. Zu diesem ersten Teil gehört auch das Vorwort von Christian Frings, der die Individualisierung von linker Kritik als Folge der gesellschaftlichen Neoliberalisierung (Thatchers „There is no such thing as society“, „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“) genauso benennt wie die zentrale Rolle der segmentierten Arbeiter:innenklasse für ihre Ausbeutbarkeit im ersten Band von Marx‘ „Kapital“. Er positioniert das neoliberale „Diversitätsmanagement“ als Reaktion auf die explosiven sozialen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre, macht aber auch klar, dass diese nicht den Klassenkampf geschwächt hätten, sondern im Gegenteil für die rassistische und sexistische Friedenspolitik zum Problem wurden.

Im ersten Kapitel, „Warum Marxismus“, skizzieren die Herausgeberinnen ihre Kritik an der diversitätsorientierten Linken. Dass an die Stelle der Genoss:innenschaft, also des gemeinsamen Klassenkampfes, die Allyship (das Bündniswesen) getreten ist, wird als liberale Praxis mit radikaler Rhetorik benannt. Die materialistische Analyse, die Mendívil und Sarbo mit Marxismus meinen, leitet Rassismus und Sexismus aus der kapitalistischen Produktionsweise ab. Die Überwindung des Kapitalismus entzieht auch der sozialen Unterdrückung die Wurzeln (das schafft diese Unterdrückung aber nicht automatisch oder unmittelbar ab). Eine Kritik, die auf die korrekte Repräsentation von Migrant:innen, People of Color und sexistisch Unterdrückten abzielt, stabilisiert die Produktionsweise und damit den Ursprung von immer neu erfundenen sozialen Spaltungs- und Unterdrückungsmechanismen.

Im zweiten Kapitel, „Rassismus und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse“, erklärt Bafta Sarbo, wie ungleiche Ausbeutung von schwarzen und indigenen Menschen zu einer rassistischen Ideologie und diese wiederum dazu führt, dass sie an den Rand gedrängt und überausgebeutet werden. Sie unterscheidet den Kolonialrassismus von kolonialer Landnahme und Überausbeutung von Sklav:innen auf der einen Seite und die Überausbeutung in einem formellen Lohnarbeitsverhältnis von Arbeitsmigrant:innen auf der anderen. Der Kolonialrassismus nimmt eine zentrale Rolle in Marx‘ Analyse von der ursprünglichen Akkumulation ein, also dem Anhäufen des notwendigen Kapitals, um dessen Dynamik zur weltweit dominanten Wirtschaftsweise zu machen durch Landnahme, Handelsrouten und brutale Enteignung von Rohstoffen. Wiederholte Dynamiken der ursprünglichen Akkumulation, des „Profits durch Entfremdung“ (Anwar Shaikh macht auf dessen zentrale, aber unterbewertete Rolle in der marxistischen Ökonomie aufmerksam) sehen wir aber bis heute, beispielsweise in der Landnahme für industrielle Produktion oder Agrarindustrie. Bis heute wird diese rassistisch legitimiert und zwingt neue Gruppen in die Arbeitsmigration und damit in die rassistische Schlechterbehandlung.

Rassismus bleibt aber über diese historische Pfadabhängigkeit hinweg wirksam und wirkmächtig. Die rassistische Ideologie ist in den imperialistischen Ländern zentral und durch die weltweite Hegemonie des Imperialismus auch global wirksam. „Der Kapitalismus ist nicht farbenblind, denn er ist auf die Überausbeutung eines Teils der Arbeiterklasse und die ideologische Legitimation dafür angewiesen. Bei rassistischer Gewalt handelt es sich für das Kapital allerdings um eine Zerstörung von Arbeitskraft und damit der wichtigsten Grundlage der Kapitalakkumulation. Deshalb müssen sich im Kapitalismus Differenz und Gleichheit stets die Waage halten.“ (Mendívil und Sarbo 2020, 60)

Daraus ergibt sich auch eine klare Handlungsanweisung: die Veränderung der materiellen Verhältnisse statt einer Beschränkung auf rassistisches oder antirassistisches Bewusstsein. Sarbo bezieht sich hier auf die Sätze vor Marx‘ berühmtem „Es kommt darauf an, sie zu verändern“, nämlich: „Diese Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, das heißt, es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen.“ (Marx 1845, 20)

So wie Kolonialrassismus und Rassismus gegen Arbeitsmigrant:innen nicht nur wichtig, sondern eine Ursache für die Entstehung der Arbeiter:innenklasse sind, analysieren Mendívil und Vögele im dritten Kapitel den Sexismus als Ausdruck der geschlechtlichen Arbeitsteilung. „Diese Auseinandersetzungen ermöglichen es erst zu verstehen, wie die Trennung in eine Sphäre der Produktion und die der Reproduktion, in private und öffentliche Bereiche und in nicht-entlohnte und entlohnte Arbeit mit den jeweils zugeschriebenen Körpern eine spezifisch rassifizierte und binäre Geschlechterordnung festschreibt.“

Dass die Reproduktionsarbeit privatisiert ist, macht ihre Funktion nicht weniger gesellschaftlich. Die Ergebnisse der unbezahlten Hausarbeit, von Erziehung über Nahrung bis zur Unterkunft, sind kein privates Luxusvergnügen, sondern Voraussetzung für die tägliche Ausbeutung.

Die Soziale Reproduktionstheorie, auf die sich Mendívil und Vögele berufen, erklärt die geschlechtliche Arbeitsteilung aus dem gesellschaftlichen Bedarf an Reproduktion. An Teilen dieser Theorie gibt es aber auch eine harsche marxistische Kritik, die zum Beispiel Aventina Holzer im Revolutionären Marxismus, Band 53, darlegt. Eine Gleichsetzung von produktiver und reproduktiver Arbeit, weil beide für die Kapitalakkumulation unverzichtbar sind, ignoriert den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Ausbeutung und Akkumulation. In Lise Vogels zentralem „Marxismus und Frauenunterdrückung“ wird die Trennung von politischer und ökonomischer Frauenunterdrückung auch zum Argument, warum die Frauenbewegung eine teils klassenübergreifende, teils klassenkämpferische Form braucht. Diese Schlussfolgerungen finden sich in „Diversität der Ausbeutung“ nicht, es bleibt aber auch unklar, was Mendívil und Vögeles „reproduktionstheoretische“ Herangehensweise von anderen Teilen der Literatur analytisch trennt.

Rassistischer Kapitalismus

Im zweiten Teil des Buchs nehmen sich Fabian Georgi die zentrale Rolle von Grenz- und Migrationsregimen, Mendívil und Sarbo die Intersektionalität, Lea Pilone den strukturellen Rassismus der deutschen Polizei, Celia Bouali den integrierten EU-Arbeitsmarkt und Sebastian Friedrich den Erfolg der AfD im zunehmend krisenhaften Kapitalismus vor.

In diesen konkreten Auseinandersetzungen, und vor allem in der Kritik der akademischen Analyse von Unterdrückung, entstehen zentrale Punkte des Buches. Georgi beleuchtet die Rolle des Rassismus für einen Ausschluss vom gesellschaftlichen Mehrprodukt, das in imperialistischen Ländern auch zur Ruhigstellung der am besten gestellten Arbeiter:innen aufgebraucht wird und zur sozialen Kontrolle in den Arbeiter:innenvierteln.  Wo Lea Pilone die Entstehung der US-Polizei aus Sklav:innenjäger:innen als Instrument zur Erzwingung für koloniale Lohnarbeit nachzeichnet, zeigt Celia Bouali, wie das EU-Grenzregime gleichartig gewaltsam Menschen in die Überausbeutung zwingt.

Mendívil und Sarbo beziehen sich auf Barbara Foley, um die Intersektionalitätstheorie als Analyse und „Brille“ zu verwerfen. In dieser Theorie werden (systematische) Besser- und Schlechterbehandlung in Differenzlinien gegenübergestellt. Wo sich diese Linien, beispielsweise zwischen Staatsbürger:in und geflüchteter Person oder zwischen Adeligem und Arbeiter:innenkind überschneiden, verortet man die Mehrfachunterdrückung. Es ist zweifellos richtig, dass die Überschneidung von Unterdrückungsverhältnissen sich nicht nur aufaddiert, sondern dialektisch neue Identitäten und Schlechterstellungen hervorbringt: „Intersektionalität taucht also in einer Zeit auf, in der viele der Alltagsprobleme um reale Gewaltverhältnisse nicht ausreichend von Sozialist:innen aufgegriffen oder unzureichend erklärt wurden.“ Die zweidimensionale Darstellung unterschlägt aber das jeweils Eigentümliche an Sexismus, Klassengesellschaft oder Behindertenfeindlichkeit.

Auf dieser Kritik aufbauend verwerfen die Autor:innen die Intersektionalität als analytisch ungeeignet und erklären ihr Verständnis von Identität in der Produktionsweise anhand der Kategorie von Verdinglichung. Das stellt auch der individuellen Betrachtungsweise des Poststrukturalismus einen kollektiven Analyserahmen (und damit eine kollektive Handlungsperspektive) entgegen: „Der Marxismus, von dem sich die Postmoderne abgrenzt, vertritt einen universellen sozialistischen Standpunkt.“ (Mendívil und Sarbo 2022, 116)

Das führt aber auch zu einer künstlichen Trennung zwischen ökonomischen und politischen Verhältnissen, zwischen fundamentaler Ausbeutung und phänomenhafter Unterdrückung. Auch wenn Letztere für Mendívil und Sarbo untrennbar zur Ausbeutung gehört, bleibt der ökonomische Charakter von sexistischer und rassistischer Arbeitsteilung aus den ersten Kapiteln etwas außen vor. „Eine marxistische Analyse fasst die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse als zentrales Moment kapitalistischer Produktion und kann von da ausgehend die Spezifik von unterschiedlichen Teilen der Klasse beschreiben, ohne dabei das Allgemeine zu verwerfen. Die Frage der Ausbeutung in den Vordergrund zu stellen, bedeutet nicht, dass Unterdrückungsverhältnisse nicht auch relevant für die Analyse des Kapitalismus wären.“

Die mehrfach gespaltene Klasse

In „Diversität der Ausbeutung“ werden Rassismus und Sexismus nicht bloß aus den Klassenverhältnissen hergeleitet. Stattdessen wird die zentrale und unverzichtbare Rolle von Kolonialismus und ins Private abgeschobener Reproduktionsarbeit für die kapitalistische Produktionsweise dargestellt. Durch die marxistische Kategorie der Verdinglichung wird erklärt, wie aus der Rolle im Produktionsprozess Identitäten entstehen, die über die Rechtfertigungsrolle der bürgerlichen Ideologie hinaus wirken. Tatsächlich schafft der Kapitalismus Schicksalsgemeinschaften von rassistisch und sexistisch unterdrückten Arbeiter:innen über ihre gemeinsame und besondere Stellung in der Produktionsweise.

Das dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen, das im Kapitel zur Intersektionalität ausgebreitet wird, erklärt die dialektischen Wechselwirkungen zwischen Klassengesellschaft und sozialer Reproduktion. Auch das beschränkt sich nicht auf eine Rückwirkung der Unterdrückung auf die Ausbeutung, sondern ernennt die Unterdrückung zur notwendigen Voraussetzung für die fortgesetzte Mehrwertproduktion. Diese Einsicht findet sich, wie von Frings im Vorwort zitiert, bereits bei Marx als Notwendigkeit der eigentümlichen Zusammensetzung des Proletariats.

Eine marxistische Analyse der geschlechtlich, rassistisch und heteronormativ geformten Arbeiter:innenklasse kann aber noch einen Schritt weiter gehen. Kolonialrassismus und Sexismus sind nicht nur Vorbedingungen für die Entstehung der Arbeiter:innenklasse, sie sind ein untrennbarer Teil der Klassenwerdung.

Markus Lehner zeigt in seinem Artikel „Arbeiterklasse und Revolution – Thesen zum Marxistischen Klassenbegriff“ (Revolutionärer Marxismus, Band 28) das Totalitäre am marxistischen Begriff der Arbeiter:innenklasse. Es gibt den/die gesellschaftliche Gesamtarbeiter:in nur als Gegenstück im dialektischen Verhältnis Lohnarbeit-Kapital, die Arbeiter:innenklasse ist also negativ definiert. Nicht die Ausbeutbarkeit der Arbeiter:innen schafft die Kapitalakkumulation, sondern es wird eine ausbeutbare Arbeiter:innenklasse geschaffen, die den Bedürfnissen des Industriekapitals nach Mehrwertproduktion entspricht.

Den historischen Vorgang legt Marx im achten Teil des ersten Bands des „Kapital“ dar. Durch Profite aus Handel und kolonialem Raub konnte sich in Europa produktives Kapital etablieren, das freie Arbeiter:innen für ihre Arbeitskraft entlohnt, aber einen Mehrwert über die Produktionskosten hinaus erzielt. Um den „Profit aus Produktion“ zu vermehren und zur gesellschaftlich bestimmenden Wirtschaftsweise zu machen, wurden aus Subsistenzbauern und -bäuerinnen in Europa und den Kolonien enteignete Arbeiter:innen gemacht. Dieses Machen war ein gezielter politischer Prozess, keine „natürliche“ Entwicklung von irgendwelchen wirtschaftlichen Bewegungsgesetzen.

Hierbei kommt es zu einer mehrfachen Spaltung (wir haben uns hier einen genauso doppeldeutigen Witz erlaubt wie Mendívil und Sarbo mit der Diversität der Ausbeutung). Es werden die Produzent:innen von ihren Produktionsmitteln gespalten, wird also den Bäuerinnen und -bauern ihr Landnutzungsrecht entzogen („Einhegung“). Diese jetzt mittellosen Familien haben keine andere Wahl, als ihre Arbeitskraft an Kapitalist:innen zu verkaufen. Die Kapitalist:innen behalten aber das Produkt der Arbeit ein, die Trennung der/des Produzent:in vom Produktionsmittel wird dadurch zur Trennung von Produzent:in und Produkt.

Gleichzeitig wird die Produktion von der Reproduktion getrennt. In der feudalen Zeit wird für den eigenen Bedarf produziert und für den Feudalherren, der sich den Überschuss aneignet. Das Produkt zum eigenen Verbrauch, wie Essen oder Kleidung, wird auf demselben Feld oder im selben Haushalt hergestellt. In den Arbeiter:innenvierteln ist das nicht mehr so. Die Tätigkeiten für die Reproduktion finden zuhause statt, die Produktion für den Verkauf am Arbeitsplatz. Diese Trennung wird geschlechtlich vorgenommen, und diese geschlechtliche, frauenunterdrückende Spaltung wird auch zur notwendigen Voraussetzung, dass Arbeiter:innen am nächsten Tag wieder zur Arbeit erscheinen können. So ist diese sexistische Spaltung zeitlich und analytisch Teil der Entstehung der Arbeiter:innenklasse, die Arbeiter:innen sind von Beginn an sexistisch definiert und in sich sexistisch gespalten.

Die Mehrwertproduktion wird in Firmen organisiert, die Reproduktion in Kleinfamilien. Die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Kleinfamilie ist binär und heteronormativ organisiert. Sich außerhalb von Kleinfamilien zu reproduzieren, ist nachteilhaft, was Søren Mau als stummen Zwang des Kapitals beschreibt, entsprechende sexuelle Identitäten existieren außerhalb der Reproduktionsnormalität. Die Arbeiter:innenklasse ist damit von Beginn an heteronormativ definiert, und nicht zufällig geht die Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise mit einer Fortschreibung und gleichzeitigen Umformung der Frauenunterdrückung aus vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen einher.

Dasselbe gilt für den Kolonialrassismus und die Arbeitsmigration. Die Enteignung von indigenen (kolonialisierten) Produzent:innen geht über die Trennung von ihren Produktionsmitteln und ihrem Produkt hinaus. Die Produzent:innen verlieren als Sklav:innen (verschleppt) oder Zwangsarbeiter:innen (lokal) die Verfügung über ihre Arbeitskraft. Gleichzeitig wird die Arbeiter:innenklasse in einen „doppelt freien“ und einen unfreien Teil aufgespalten. Bis heute gehört Zwangsarbeit unter Androhung von Abschiebung oder in rassistischen Gefängnissystemen zur kapitalistischen Normalität.

Die vielfältige Formung der Arbeiter:innenklasse führt auch zu einer Diversifizierung. Eine strukturelle Arbeitsteilung innerhalb der Klasse spaltet sie auch in sich, es existieren tatsächliche Besser- und Schlechterstellungen innerhalb des Proletariats. Oft erfolgt auch die Durchsetzung dieser Strukturen innerhalb der Klasse, nicht bloß wegen der Wirkmächtigkeit der bürgerlichen Ideologie, sondern wegen der Materialität der Verdinglichung.

Aber im Gegensatz zur herrschenden Klasse haben die Arbeiter:innen ein Interesse an der Aufhebung der Klassengesellschaft. Diese Aufhebung beginnt nicht erst mit dem bewussten Kampf für Revolution und Sozialismus, sondern mit der Rebellion gegen die kapitalistischen Verhältnisse. In solchen Kämpfen formen sich die Keimformen proletarischen Bewusstseins, das in Richtung der Grenzen des Kapitalismus geht. In revolutionärer Organisierung des fortgeschrittensten Teils der Klasse und dessen Entwicklung einer revolutionären Theorie und Praxis (in Wechselbeziehung zu den spontanen Kämpfen) kann die ganze Klasse für ein revolutionär-proletarisches Bewusstsein gewonnen werden.

Daraus ergibt sich die Möglichkeit von tatsächlichen Kämpfen der „privilegierten“ Arbeiter:innen gegen die Spaltung ihrer eigenen Klasse aus Eigeninteresse. Hier geht auch eine Analyse der Einheit von Ausbeutung, geschlechtlicher und rassistischer Arbeitsteilung in eine Einheit von Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung über.

Fazit: Ein marxistisches Verständnis von Rassismus und Unterdrückung

Mendívil und Sarbo haben mit ihrem Buch einige wichtige Schritte gemacht, für die die Linke sich bedanken kann. Erstens haben sie dem Import der akademischen Identitätspolitik aus den USA einen umfassenden ihrer Kritiken folgen lassen. An die Stelle einer einseitigen Bewegungsrichtung antirassistischer, antisexistischer und queerer Kritik ist eine Darstellung der Gesamtdebatte getreten.

Sie arbeiten außerdem die zentralen Bruchpunkte zwischen Marxismus und Identitätspolitik heraus. Diese finden sich nicht in der Existenz von Identitäten (die die Autorinnen aus Arbeitsteilung und Verdinglichung herleiten), sondern bei der Individualisierung und Gleichsetzung von Unterdrückungsformen. Außerdem zeigen sie die Wurzeln von Rassismus und Sexismus in der kapitalistischen Produktionsweise auf genauso wie die Parallelen zur „Kritik des rassistischen Bewusstseins“ im philosophischen Idealismus, den Marx in der „Deutschen Ideologie“ aufs Korn nimmt.

Die Beiträge im zweiten Teil des Buches demonstrieren nicht nur die Anwendbarkeit der materialistischen Analyse, sondern tragen aus den speziellen Analysen wieder grundsätzliche Einsichten ein. Die Rolle von Grenzregime, Polizeiapparat und EU-internem Arbeitsmarkt für den Rassismus des 21. Jahrhunderts ist klar und eindeutig. Auch hier entspricht das Verhältnis von Allgemeinem wie Besonderen der marxistischen Methode.

Was offen bleibt, ist das Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung, und damit eine eigenständige Kritik an Haupt-Nebenwiderspruchstheorien über den (zweifellos vorhandenen) Konservativismus ihrer Vertreter:innen hinaus. Entsprechend bleibt auch die Positionierung innerhalb der Sozialen Reproduktionstheorie vage, weil die Differenzierung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung nicht glasklar dargestellt wird.




Feminizide im Herrschafts- und Kapitalinteresse

Martin Suchanek, Neue Internationale 278, November 2023

50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Dabei bilden diese sog. partnerschaftlichen, intimen und verwandtschaftlichen Femizide nur einen Aspekt des Gesamtproblems. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Er will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Diese Form der Frauenmorde bildet aber nur einen großen Teil aller Feminizide. Einen zweiten, großen Bereich stellen solche dar, die zur Durchsetzung eines Ausbeutungs- oder Herrschaftsinteresses außerhalb der Familie, Parter:innenschaft oder Verwandtschaftsbeziehung begangen werden.

Mord als Botschaft

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen zu sentzen: Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher:innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder Mord an Frauen sollen in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen suchen oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter:innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgen.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Andere Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner:innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetzte Mittel im Krieg und Bürger:innenkrieg dar.

Die Verknüpfung mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Deren Veröffentlichung ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungenen öffentlichen Untersuchungen. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide müssen in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter:innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter:innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bäuer:innenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bäuer:innenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit Ersteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter:innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen, steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




Sexualisierte Gewalt als Foltermethode: Doppelmoral im Nahen Osten

Leonie Schmidt, Infomail 1234, 18. Oktober 2023

Nach dem Angriff auf ein Musikfestival nahe der Negev- Wüste durch Einheiten der Hamas verbreiten sich die Meldungen, es sei gegenüber den Festivalbesucher:innen nicht nur zu Mord und Verschleppungen gekommen, sondern auch zu Vergewaltigungen. Sexualisierte Gewalt stellt ein barbarisches „Kampfmittel“ dar, genauso wie willkürliche Gewalt und Töten von Zivilisten:innen.

Die Anwendung sexualisierter Gewalt im Krieg verurteilen wir – und zwar gerade auch von Unterdrückten. Natürlich ist uns bewusst, dass Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe von reaktionären Kräften systematisch angewandt wurden und werden. Aber gerade, wenn es sich wie im Falle des Kampfes der Palästinenser:innen um einen gerechtfertigten Kampf um Befreiung von zionistischer und imperialistischer Unterdrückung handelt, so wiegen solche umso schwerer, als sie den gesamten Befreiungskampf erschweren und diskreditieren.

Vorwürfe gegenüber Hamas

Zugleich müssen aber auch solche Vorwürfe geprüft und nicht einfach verbreitet werden. Die meisten wurden bislang vom israelischen Außenministerium und von prozionistischen und US-amerikanischen Medien verbreitet. So zum Beispiel im Tablet Magazine vom Journalisten Liel Leibovitz, der auch Artikel schreibt, wo er die Politik Netanjahus lobt, sich über dessen Wiederwahl freut, zugibt, den republikanischen US-Senator Ted Cruz ganz toll zu finden, und die DSA (Democratic Socialists of America) für ihre Forderungen nach Enteignung von Wohnraum angreift. Warum sagen wir das an dieser Stelle?

Leibovitz bezieht sich in seinem Artikel vom 8.10.23 auf einen anonymen Augenzeugen, der sagte, es habe in der Nähe des Festivalgeländes Vergewaltigungen gegeben. Es war lange jedoch der einzige mit dieser Aussage, und dieser Artikel ist die Quelle für alle anderen, die mit diesen Anschuldigungen um sich werfen. Es gibt bisher keine Verifizierung des Augenzeugen, konkretere Beweise oder andere, die Ähnliches berichten. Selbst von Seiten der IDF gibt es diesbezüglich keine Bestätigung. Die LA Times strich sogar eine Passage und veröffentlichte eine Notiz, dass der Vorwurf nicht näher begründet und deswegen gelöscht wurde.

Aktuell bleibt offiziell ungeklärt, ob die Hamas zu sexualisierter Gewalt gegenüber verschleppten Zivilist:nnen greift. Medienberichte beziehen sich entweder auf den Artikel von Leibovitz, teilweise mit der Anmerkung, die Details nicht selbst bestätigen zu können (beispielsweise The Telegraph oder aber die TAZ –  allerdings ohne Anmerkung zur Quellenlage), oder auf zwei Videos, die diese Mutmaßungen zwar zulassen, aber nichts Konkretes zeigen. Die Times of Israel beispielsweise gibt sich etwas zurückhaltender: Expert:innen für Kriegsverbrechen geben an, auf Basis der Videos, wo in einem ein lebloser Frauenkörper angespuckt und in einem anderen eine Frau an den Haaren über den Boden geschleift wird, die aus dem Schritt blutet, könne es nicht ausgeschlossen werden, dass es zu sexualisierter Gewalt gekommen, es aber jedoch zu früh sei, um Genaueres zu bestätigen, so Prof. Yuval Shany der Hebrew University of Jerusalem (lt. Reporter Jeremy Sharon). Natürlich ist es nicht grundsätzlich auszuschließen, dass die Hamas zu diesen Mitteln gegen die unbeteiligten Zivilist:innen greift, denn konfliktbezogene sexualisierte Gewalt kommt in kriegerischen Situationen nicht selten vor, jedoch gehörte es in der Vergangenheit eher nicht zu ihren Mitteln im Gegensatz zum Islamischen Staat, wo diese Folterpraktik gang und gäbe ist (Gibbons 2018).

Laut Nachrichtenagentur Reuters dürften sich Vorwürfe von Vergewaltigungen nach forensischen Untersuchungen bestätigen, auch wenn ungeklärt ist, ob sie auf Befehl der Hamas ausgeübt wurden oder nicht. In jedem Fall bestreitet Hamas (im Unterschied zu Organisationen wie dem Islamischen Staat), diese begangen zu haben. In jedem Fall sind diese Gewalttaten zutiefst zu verurteilen, egal von wem sie verübt wurden – und es liegt auch im Interesse der Unterdrückten und des Widerstandskampfes, die Ausübenden solcher Akte zur Rechenschaft zu ziehen und drakonische Strafen zu verhängen (so wie z. B. in der Roten Armee unter Lenin und Trotzki). Aber das ist nicht die Aufgabe des unterdrückenden zionistischen Staates, sondern der Unterdrückten selbst.

Doppelmoral

Was wir jedoch ebenso verurteilen, ist die Doppelmoral, mit der hier, vor allem auch international, vorgegangen wird. Es ist nämlich überhaupt keine Seltenheit, dass sexualisierte Gewalt gegen sowohl palästinensische Frauen als auch Männer von israelischen Staatsdiener:innen angewandt wird. Oftmals passiert dies an den Checkpoints, die dafür da sind, die Bewegungsfreiheit von Palästinenser:innen einzuschränken.

Beispielsweise kam es 2018 zu einem Fall, dass zwei israelischen Soldaten des Qalandia Checkpoints (zwischen nördlichem Westjordanland und Jerusalem) vorgeworfen wurde, palästinensische Frauen gezwungen zu haben, sich auszuziehen und während ihrer Leibesvisitation im Genitalbereich berührt zu haben (Hammami 2019). Auch kommt es zu Erpressung oder „Angeboten“, gegen sexuelle Gefälligkeiten Vorteile zu erlangen, was ganz klar ein Ausnutzen von Notlagen darstellt. Des Weiteren erleben palästinensische Frauen sexualisierte Gewalt, wenn sie ihre Verwandten im Gefängnis besuchen (Al Issa & Beck 2020), hier durch Gefängniswärter:innen und Sicherheitspersonal. Aus Angst davor, dass sie keine Besuchsrechte mehr bekommen, haben sie nicht einmal die Möglichkeit, gegen Täter:innen vorzugehen.

Auch während Befragungen kommt es zu Vergewaltigungsdrohungen, ungewollten Berührungen sowie Vergewaltigungen durch die vernehmenden Personen (Benoist 2018). So wurde beispielsweise 2015 eine Palästinenserin von zwei Soldatinnen vergewaltigt, eine davon war auch noch Ärztin. Diese sollte auf Anweisung eines Schin-Bet-Agenten eine Leibesvisitation von Vagina und Anus durchführen, besagter Agent wurde auch noch befördert (Breiner 2022. Schin Bet = [deutsch] Sicherheitsdienst; israelischer Inlandsgeheimdienst). Genau wie nicht nur israelische Männer in diesen Fall Täter sind, sondern auch israelische Frauen, so zählen auch palästinensische Männer mit zu den Betroffenen (Madar 2023). Weishut (2015) untersuchte 1.500 Akten und fand darin mindestens 60 Fälle, welche sexualisierte Gewalt gegen palästinensische Jungen und Männer zwischen 15 und 43 implizierten. Am häufigsten kam es darunter zu verbaler sexueller Belästigung, in Form von Vergewaltigungsandrohung gegen die Betroffenen oder ihre Familien, sollten sie nicht aussagen, sowie erzwungener Nacktheit. Jedoch kam es auch zu physischer Gewalt, einerseits in Form von Gewaltausübung im Genitalbereich, einer simulierten Vergewaltigung, aber auch einer tatsächlichen mit einem Gegenstand.

Doch darüber wird geschwiegen, denn wo können sich die Unterdrückten auch hinwenden? Sie haben nur noch mehr Repressionen zu fürchten, wenn sie sich gegen die Besatzungsmacht stellen, und dass sie dann in den Gefängnissen und während Untersuchungen noch mehr sexualisierte Gewalt erfahren, ist nicht auszuschließen – zumal der israelische Staat seinen Bediensteten das Recht auf physische Folter sogar einräumt, wenn sie nötig sei (Falah 2008). Sexualisierte Gewalt wird hier also weniger zur Bedürfnisbefriedigung, sondern vielmehr als Druckmittel und Repression benutzt, da sie zu besonders traumatischen Situationen für die Betroffenen führt und Palästinenser:innen so eingeschüchtert werden können, da sie sich ohnmächtig fühlen sollen, damit sie sich nicht mehr gegen die Apartheid wehren. Ein weiteres Ziel gerade in Verhören bleibt natürlich das Geständnis von Straftaten und Verrat von anderen Beteiligten. Des Weiteren werden die zionistischen Staatsdiener:innen Israels mit Propaganda gefüttert, weswegen sie auch ihren antimuslimischen Hass durch die besonders perfiden und sadistischen Foltermethoden der sexualisierten Gewalt ausleben. Ähnliches konnte im Irakkrieg vonseiten von US-Soldat:innen beobachtet werden.

Darüber wird jedoch geschwiegen, werden keine Twitterthreads und pastellfarbene Instaslides erstellt. Denn für viele stellt die tagtägliche Unterdrückung der Palästinenser:innen einfach nicht so einen Skandal dar wie ein Angriff auf ein Musikfestival, weil man aus einer europäischen Perspektive sich besser in die Haut der Festivalbesucher:innen versetzen kann. Auch Wissenschaftler:innen scheint das Thema nicht zu interessieren. Sie leugnen es teilweise aufgrund von angeblich nicht aufzufindenden Informationen (Medien 2021).

Warum wird darüber geschwiegen?

Dr. Kathryn Medien (2021) mutmaßt, dass es sich hierbei um eine Taktik zur Abgrenzung gegen Handlungen, die nicht den westlichen Werten entsprechen, handelt. Und zwar argumentiert sie, dass Israel sich selbst darstellen möchte als westlich, humanistisch und demokratisch, weswegen es zu solchen Fällen nicht kommen dürfe.

Interessant ist hierbei, dass sie sich auf einen Artikel von Nadje Al-Ali (2016) bezieht, welche sich damit auseinandersetzt, warum das Interesse an Unterdrückung Irakischer Frauen während der US-Invasion auf einmal anstieg, obwohl sich diese auch schon vorher um internationale Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer Lage bemühten. Sie erklärt das mit einer Form des Otherings: Es ginge darum, die andere Kultur allgemein rassistisch zu verunglimpfen, sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten darzustellen. Sowas kann man zum Beispiel auch erkennen, wenn die AfD in Deutschland behauptet, alle Geflüchteten würden deutsche Frauen vergewaltigen. Das passiert zum Beispiel auch, wenn Israel als Paradies für LGBTIA+-Personen hingestellt wird, während im Gazastreifen und in der Westbank alle von ihnen direkt niedergeschossen werden würden. Solange also die internationalen Medien davon schweigen, wie Palästinenser:innen von Mitarbeiter:innen israelischer staatlicher Behörden tagtäglich drangsaliert, unterdrückt und eben auch sexuell belästigt oder gar vergewaltigt werden, solange kann man kaum glauben, dass sie sich wirklich für Betroffene sexualisierter Gewalt starkmachen wollen. Solange muss man glauben, dass sie ins selbe Horn stoßen wie der israelische Verteidigungsminister, der verkündete, alle Bewohner:innen des Gazastreifens seien wie Tiere, gegen die man kämpfen müsse. Sollten sich die Vorwürfe jedoch bewahrheiten, gilt dennoch, nicht dem palästinensischen Widerstand an sich die Solidarität zu entziehen, sondern diese Gewalttaten zu verurteilen und schonungslose Kritik an der Führung zu üben und Konsequenzen für die Täter zu fordern.

Literaturverzeichnis

Al Issa, Ferdoos Abed-Rabo & Beck, Elizabeth (2020): Sexual Violence as a War Weapon in Conflict Zones: Palestinian Women’s Experience Visiting Loved Ones in Prisons and Jails, Affilia, Vol. 36 (2), DOI: 10.1177/0886109920978618.

Ali-Ali, Nadje (2016): Sexual violence in Iraq: Challenges for transnational feminist politics. European Journal of Women’s Studies, Vol. 25(1), DOI: 10.1177/1350506816633723.

Benoist, Chloé (2018): Palestinian Women Haunted by Abuse in Israeli Jails, Middle East Eye 8.2.2018, https://www.middleeasteye.net/features/palestinian-women-haunted-abuse-israeli-jails (zuletzt aufgerufen 10.10.23).

Breiner, Josh (2022): Shin Bet Officer Suspected of Ordering Search of Palestinian Woman’s Private Parts Gets Promoted, Haaretz 28.9.22, https://www.haaretz.com/israel-news/2022-09-28/tyarticle/.premium/shin-bet-offi cer-suspected-of-ordering-search-of-palestinians-private-parts-getspromoted/00000183-838e-d6b4-ab9f-ebbef3c30000 (zuletzt aufgerufen 10.10.23).

Falah, Ghazi-Walid (2008): Geography in Ominous Intersection with Interrogation and Torture: Reflections on Detention in Israel, Third World Quarterly, Vol. 29(4), DOI: 10.1080/01436590802052706.

Goldberg, Jonah (2023): Who’s to blame for the Hamas attack on Israel? That debate is already going off the rails, LA Times 9.10.23, https://www.latimes.com/opinion/story/2023-10-09/israel-hamas-attacks-failure-security-surveillance-blame (zuletzt aufgerufen: 18.10.23).

Gibbons, Christine (2018): CEDAW, the Islamic State, and Conflict-Related Sexual Violence, Vanderbilt Journal of Transnational Law, Vol. 51 (5), https://scholarship.law.vanderbilt.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1121&context=vjtl (zuletzt aufgerufen 10.10.23).

Hammami, Rema (2019): Destabilizing Mastery and the Machine: Palestinian Agency and Gendered Embodiment at Israeli Military Checkpoints, Current Anthropology, Vol. 60 (19), DOI: 10.1086/699906.

Leibovitz, Liel (2023): Eyewitness Account of the Rave Massacre, Tablet Magazine 8.10.23, https://www.tabletmag.com/sections/israel-middle-east/articles/israel-music-festival-massacre-eyewitness-account (zuletzt aufgerufen 10.10.23).

Madar, Revital (2023): Beyond Male Israeli Soldiers, Palestinian Women, Rape, and War: Israeli State Sexual Violence against Palestinians, Conflict and Society 9, DOI: 10.3167/arcs.2023.090105.

Medien, Kathryn (2021): Israeli settler colonialism, “humanitarian warfare,” and sexual violence, Palestine. International Feminist Journal of Politics, Vol. 23(5), DOI: 10.1080/14616742.2021.1882323.

Reuters (2023): Israeli forensic teams describe signs of torture, abuse, Reuters 15.10.23, https://www.reuters.com/world/middle-east/israeli-forensic-teams-describe-signs-torture-abuse-2023-10-15/ (zuletzt aufgerufen: 18.10.23).

Sharon, Jeremy (2023): Footage of Hamas assault on civilians shows likely war crimes, experts say,The Times of Israel 8.10.23, https://www.timesofisrael.com/footage-of-hamas-assault-on-civilians-shows-likely-war-crimes-experts-say/ (zuletzt aufgerufen 10.10.23).

Weishut, Daniel J. N. (2015): Sexual torture of Palestinian men by Israeli authorities, Reproductive Health Matters, 23:46, DOI: 10.1016/j.rhm.2015.11.019.




Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 6, Sommer 1989

Alle ausgebeuteten Klassen sehen sich Unterdrückung gegenüber. Die systematische Verweigerung von wirklicher politischer und wirtschaftlicher Gleichheit und persönlicher Freiheit ist sowohl ein Ausdruck als auch eine Verstärkung der Ausbeutungsverhältnisse zwischen der herrschenden Klasse und den direkten Produzenten. Zusätzlich zu dieser Klassenunterdrückung aber gibt es andere systematische wirtschaftliche, soziale, gesetzliche und politische Ungleichheiten, die speziell Frauen, Jugendliche, verschiedene rassistisch unterdrückte und nationale Gruppen sowie Lesben und Schwule betreffen.

Diese spezifischen Formen der sozialen Unterdrückung sind ein grundlegendes Merkmal der Klassengesellschaften und in den sozialen Strukturen der Familie und des Nationalstaates verwurzelt. Die Unterdrückung der Frauen war die erste Form systematischer Unterdrückung und entstand im Zusammenhang mit der Herausbildung von Klassen. Sie bleibt die grundlegendste Form der sozialen Unterdrückung. Aber die jeweiligen Formen der sozialen Unterdrückung wurden mit jeder Produktionsweise verändert. Sie erreichten ihre entwickeltste und in mancher Weise unverhüllteste Form in der imperialistischen Epoche.

Die gesellschaftlichen Strukturen, auf denen die soziale Unterdrückung aufbaut, sind für den Kapitalismus wesentlich. Ihre Funktionen sind innig und untrennbar mit dem Prozeß der Ausbeutung verbunden, aber sie schaffen eine Unterdrückung, die nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt ist. Frauen aller Klassen sehen sich Diskriminierung und Benachteiligung gegenüber, und zwar als Resultat der Rolle, die sie innerhalb der Familie ihrer Klasse einnehmen. Aber es sind die Frauen der Arbeiterklasse, und ebenso Jugendliche, Schwarze und Lesben und Schwule aus dem Proletariat, die sich der stärksten sozialen Unterdrückung gegenübersehen.

Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse mit dem entscheidenden Interesse und der Kraft zur Überwindung jenes Systems, das alle diese Formen der Unterdrückung aufrechterhält. Nur unter der Führung der Arbeiterklasse können besonders unterdrückte Sektionen der ausgebeuteten Klassen in den Kampf für die Diktatur des Proletariats gezogen werden, der die Voraussetzung für eine Beendigung aller Unterdrückung ist. Die Arbeiterklasse muß daher jederzeit an der vordersten Front des Kampfes gegen alle Ungleichheiten, gegen Unterdrückung und Ausbeutung stehen.

Dennoch versagen die existierenden Arbeiterorganisationen, den Kampf gegen die soziale Unterdrückung aufzunehmen. Tatsächlich ist es häufig der Fall, daß die reformistischen Bürokraten, die die Arbeiterbewegung beherrschen, aktiv zu feindlicher Haltung unter den Massen gegenüber den Bedürfnissen und der Notlage der Unterdrückten ermutigen. Die Unterdrückten sind in einem solchen Ausmaß Opfer von Sexismus, Rassismus und Heterosexismus, daß ihre Teilnahme in Gewerkschaften und am politischen Leben blockiert wird. Die Aufgabe der revolutionären Avantgarde liegt in der Bekämpfung dieser Vorurteile und darin, die Massenorganisationen der Arbeiterklasse in die Vorderfront des Kampfes gegen Unterdrückung zu bringen.

Die Unterdrückten selbst sind nicht notwendigerweise schon allein deswegen, weil sie die unterdrücktesten Sektionen der Gesellschaft bilden, in der Avantgarde der Kämpfe. Die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung erzeugt nicht nur revolutionäre Kämpfer und Kämpferinnen, sondern auch rückständige und gehorsame Schichten. Vieles ist der Ausdruck reaktionärer Ideen oder des Rückzugs ins Privatleben. Nur die klassenbewußtesten Elemente der Unterdrückten werden in der Avantgarde der Kämpfe für ihre eigene Befreiung zu finden sein. Diese Teilnahme der Avantgarde innerhalb des gesamten Klassenkampfes gibt die Möglichkeit, daß ihre Interessen aktiv von der Arbeiterklasse aufgegriffen werden.

Spezielle Methoden der Agitation und der Propaganda sowie besondere Arbeitsformen müssen verwendet werden, um die sozial Unterdrückten für das kommunistische Programm zu gewinnen. Es können aber auch spezielle Organisationsformen notwendig sein, um die Unterdrückten sowohl dazu zu mobilisieren, ihre eigene Unterdrückung zu bekämpfen, als ihnen auch zu ermöglichen, auf einer gleichberechtigten Basis mit allen anderen Arbeitern und Arbeiterinnen in die Reihen der organisierten Arbeiterbewegung einzutreten. Innerhalb der Bewegung des Proletariats müssen Revolutionäre das Recht der Unterdrückten verteidigen, sich zu organisieren und sich gesondert zusammenzuschließen, um Druck dafür zu erzeugen, daß ihre Forderungen von der ganzen Klasse aufgegriffen werden. Unter bestimmten Bedingungen waren auch eigene Arbeiterorganisationen der Unterdrückten notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Solche speziellen Methoden und Organisationsformen haben nichts mit Separatismus gemeinsam. Sie sind ein Mittel, um die Kampfeinheit in der Arbeiterklasse zu erleichtern und abzusichern, daß die Arbeiterbewegung als ganzes den Kampf der Unterdrückten anführt.

An erster Stelle hat die revolutionäre Partei die Pflicht sicherzustellen, daß sie in ihrer Tagesarbeit und in ihrer internen Organisation gegenüber den Bedürfnissen der Unterdrückten aufgeschlossen ist. Wenn revolutionäre Massenparteien existieren, können für diese daher Parteisektionen oder parteigeführte Bewegungen gebildet werden. Diese Sektionen werden die Unterdrückten für den kommunistischen Kampf als Parteimitglieder organisieren und den Kampf gegen die Unterdrückung in das Herz der Arbeiterbewegung tragen.

Wenn revolutionäre Kommunistinnen und Kommunisten noch eine kleine Minderheit in der Arbeiterbewegung sind, müssen an die Stelle der Bildung von Massensektionen der Partei, die die Ausübung von speziellen Arbeitsformen organisiert, andere Formen der Einheitsfront treten. In vielen Ländern führte die gemeinsame Erfahrung der Unterdrückten zur Entwicklung von Bewegungen und Kampagnen unter Frauen, Lesben und Schwulen, Jugendlichen und rassistisch Unterdrückten. Die Partei kann nicht die Führung dieser Bewegungen den kleinbürgerlichen Utopisten, den Sozialdemokraten oder den Stalinisten überlassen.

Wir unterstützen die Bildung von kämpfenden Einheitsfronten gegen die Unterdrückung und argumentieren, daß sie sich auf das Proletariat stützen, von diesem geführt und auf der Verwendung der Methoden des Klassenkampfes aufbauen müssen. In bestimmten Fällen können diese Einheitsfronten die Form von vollständig entwickelten Bewegungen (mit regionalen Gruppen, Kongressen und Exekutivkomitees etc.) annehmen. Aber in jedem Fall muß die Organisationsform mit den konkreten Umständen in Verbindung gesetzt werden. Wie lange solche Organisationen benötigt werden, hängt vom Grad ab, in dem wir erfolgreich sind, die Arbeiterbewegung als ganzes für unser Programm zu gewinnen. Außerdem werden wir, wenn unsere zeitlich begrenzten Verbündeten den Kampf zu spalten oder auszuverkaufen versuchen, nicht davor zurückschrecken, auch selbst zum Mittel der Spaltung dieser Einheitsfronten zu greifen.

Wir stellen diese Taktik allen Formen der autonomen und klassenkollaborationistischen Bewegungen der Unterdrückten gegenüber. Wo bürgerliche Kräfte in Bewegungen der Unterdrückten involviert sind, versucht die revolutionäre Avantgarde die Arbeiterklasse und andere Unterdrückte von jedem Bündnis mit ihnen wegzubrechen. In der Tat bekämpfen wir durch den Aufbau von proletarischen Bewegungen und durch den schonungslosen Kampf für die kommunistische Führung innerhalb dieser die Tendenzen des Separatismus und der Volksfront, die unter den Unterdrückten auftreten. Unser Ziel ist der Aufbau kommunistischer Bewegungen, obwohl nicht alle an einer solchen Bewegung Teilnehmenden Mitglieder, und damit unter der Disziplin der revolutionär-kommunistischen Partei, sein werden.

Der Kampf gegen Diskriminierung

Andere Sektionen der Gesellschaft sind, auch wenn sie nicht sozial unterdrückt sind, trotzdem im Kapitalismus das Opfer von Diskriminierung. Die Alten, die Behinderten und die Kranken, die nicht die Voraussetzungen des Kapitalismus für die Lohnarbeit erfüllen, werden ausgestoßen und als Belastung für die Gesellschaft behandelt. Bedeutende Teile der Armen werden für Handlungen stigmatisiert und kriminalisiert, die sie nur unternehmen, um zu überleben. Andere werden als geistig krank bezeichnet und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die bürgerliche Gesellschaft nutzt die Marginalisierung dieser Gruppen, um ihr Konzept von „Normalität“ und ihren moralischen Kodex der ganzen Arbeiterklasse aufzuerlegen und ihre Strategie des teile und herrsche fortzusetzen.

Zum Beispiel macht die erzwungene Isolation der Alten sie zu einer Beute des Konservativismus, die Menschen mit Behinderungen aufgezwungenen Beschränkungen erlauben es, sie als nicht gewerkschaftlich organisierte billige Arbeitskräfte zu verwenden. Revolutionärinnen und Revolutionäre müssen den Kampf der Alten, Kranken und Behinderten gegen die Diskriminierung, von der sie betroffen sind, unterstützen. Dies wird ihre Integration in die Arbeiterklasse erleichtern und damit den Kampf gegen den gemeinsamen Feind stärken. Revolutionäre sollen für die Sicherstellung kämpfen, daß die Arbeiterbewegung allen Mitgliedern der Arbeiterklasse den größtmöglichen Zugang zu ihren Organisationen, Treffen und zu ihrem sozialen Leben gewährleistet. Die revolutionäre Partei sollte dabei ein Beispiel für den Rest der Arbeiterbewegung geben.

Revolutionärinnen und Revolutionäre versuchen, die militanten Kämpfer und Kämpferinnen aus den Reihen jener, die von der Diskriminierung betroffen sind, zu gewinnen. Während sie alle Kämpfe für Reformen und Verbesserungen unter dem Kapitalismus unterstützen, versuchen Kommunistinnen und Kommunisten zu erklären, daß das Profitmotiv es dem Kapitalismus unmöglich macht, die Bedürfnisse jener zu erfüllen, die er auf den Müllhaufen wirft. Außerdem schafft sein gieriger Charakter Krankheit und Behinderung. Nur eine sozialisierte und geplante Produktion kann die notwendigen Ressourcen freisetzen, um diese Gruppen vollständig in die Gesellschaft zu integrieren und die Grundlage für ihre Befreiung zu legen.

Frauen

In der imperialistischen Epoche sind Millionen Frauen in der ganzen Welt dazu verurteilt, die Misere des Kinderaufziehens und der Haushaltsführung unter Bedingungen enormer Entbehrungen zu erleiden. Frauen tragen weltweit die Hauptlast unzulänglicher Wohnverhältnisse, ungenügender Lebensmittelversorgung und des Kampfes zur Abwehr bzw. der Bewältigung der Auswirkungen von Krankheiten. Für die Mehrheit von ihnen ist Überausbeutung in der Fabrik und auf den kapitalistischen oder kleinbäuerlichen Landwirtschaftsbetrieben ebenfalls die Norm.

Den Frauen aller Klassen wird die ökonomische, soziale, rechtliche und politische Gleichheit mit den Männern verwehrt. Der globale Charakter der Unterordnung der Frauen läßt diese als natürliche Folge ihrer Rolle in der Fortpflanzung erscheinen. Doch die systematische gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen begann erst mit der Geburt der Klassengesellschaft und der Schaffung der patriarchalen Familie als grundlegende Einheit, in der die Reproduktion, das Aufziehen der Kinder und der Kampf um das tagtägliche Überleben stattfinden. In den verschiedenen Formen der Klassengesellschaft veränderten sich zwar auch die speziellen Merkmale der Frauenunterdrückung, doch in ihrem Innersten beinhalteten sie alle die privatisierte Hausarbeit, also einen Lebensbereich, der die wesentlichste oder ausschließliche Verantwortung der Frauen ist.

In der imperialistischen Epoche verrichten Frauen einen großen Anteil der Arbeit am Land und in den Fabriken, doch bleibt ihre erste Verantwortung die gegenüber ihrem Haushalt und ihrer Familie. Das bedeutet, daß die Geschlechter ein ungleiches Verhältnis zur bezahlten Arbeit haben, was die Wurzel der fortgesetzten Frauenunterdrückung darstellt. In vielen Halbkolonien behält die Familie die Funktion einer produktiven Einheit, wobei Frauen und Kinder integraler Bestandteil der kollektiven Produktion sind. Doch noch immer sind Frauen hauptsächlich für Hausarbeit und Kinderaufziehen verantwortlich und nehmen daher eine den männlichen Haushaltsvorständen untergeordnete Position ein.

Der Kapitalismus hat sich als unfähig und unwillig erwiesen, die im Haushalt verrichtete Arbeit systematisch zu vergesellschaften. Er ist daher unfähig, die Unterdrückung der Frauen zu beenden. Die Bereitstellung vergesellschafteter Wäschereien, von Kinderbetreuungseinrichtungen und Kantinen hat sich als zu großer Abfluß vom Mehrwert der Bosse erwiesen, als daß sie es sich außer in der Ausnahmesituation eines Krieges leisten würden.

Für die Frauen, die nicht der Arbeiterklasse angehören, nimmt die Unterdrückung eine stark verschiedene Form an. Sogar in manchen herrschenden Klassen werden den Frauen die vollen Rechte über Eigentum und Erbe verweigert und sie werden von ihren Ehemännern als dekorative Besitztümer und Produzentinnen der Nachkommen gehalten. Auch wenn ihre fortgesetzte Unterdrückung weit von der Plackerei und dem Elend der Arbeiterinnen dieser Welt entfernt ist, ist sie doch ebenso eine Folge ihrer Rolle in der Familie. Die Produktion von Nachkommen bedarf der striktesten Beibehaltung der Monogamie der Ehefrauen. Die Frauen aus der herrschenden Klasse können jedoch viele der schlimmsten Aspekte ihrer Unterdrückung durch die Beschäftigung von Frauen aus der Arbeiterklasse ausgleichen, die deren Hausarbeit und das Aufziehen von deren Kindern verrichten. Außerdem können sie niemals wirkliche Verbündete der Frauen aus der Arbeiterklasse sein, da ihr Platz in der bürgerlichen Gesellschaft ihre vollständige Bindung an eben jene Gesellschaft bedeutet, die die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung ist.

In den imperialistischen Ländern erhöhte sich seit dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der Frauen, die in einem Lohnarbeitsverhältnis stehen, beträchtlich. In vielen Ländern geht nun die Mehrheit der verheirateten Frauen einer bezahlten Beschäftigung nach. Während diese Entwicklung Tendenzen in Richtung der Unterminierung der wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit der Frauen in sich trägt, erwiesen sich die Umstände, unter denen dies geschah, als zweischneidig. Nun müssen sie in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit sowohl die Arbeit in Büro oder Fabrik als auch die Hausarbeit verrichten. Da es nur einen kleinen Anstieg im Ausmaß der Hausarbeit, die von den Männer verrichtet wird, gab, müssen Frauen nun sogar mehr Stunden für die Errungenschaft, nun selbst lohnabhängig zu sein, arbeiten. Und da Frauen noch immer wesentlich geringere Löhne als Männer erhalten, bleibt auch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit weitgehend eine Fiktion. In den meisten imperialistischen Ländern verstärken gesetzliche Beschränkungen die anhaltende Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern oder Vätern.

Zusätzlich zu ihrer Rolle im Bereich der Reproduktion der Arbeitskraft hat die Familie auch eine wesentliche Funktion bei der Erhaltung der sozialen Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Familie handelt als Verstärkerin der vorherrschenden Ideen der herrschenden Klasse, indem sie die jeweiligen Rollen der Männer, Frauen und Kinder erhält sowie Gehorsam und Unterwürfigkeit einprägt. Sogar dann, wenn die Kernfamilie wie in vielen imperialistischen Ländern aufgehört hat, die häufigste Form des Haushalts zu sein, liegt ihre Stärke immer noch darin, als „Ideal“ jeden Aspekt des Lebens der Frauen zu beeinflussen. Angefangen von der Art der Ausbildung der Mädchen über die von Frauen ausgeübten Berufe bis zu den von ihnen angestrebten Beziehungen – all dem drückt die „Norm“ der bürgerlichen Familie ihren Stempel auf. Diese Familie baut auf Monogamie und Heterosexualität auf und übt einen starken Anpassungsdruck auf Frauen und Mädchen aus. Die Rollen von Frauen und Männern in der Familie beschränken die Entwicklung beider Geschlechter, doch haben sie besonders repressive Auswirkungen auf Frauen.

Die Familie führt zu einer Spaltung in der Arbeiterklasse, die durch die Ideologie des Sexismus erhalten wird. In der Arbeiterbewegung ist das nicht nur eine Frage von rückständigen Ideen über die Rolle von Frauen, sondern schließt ein, daß beim Ausschluß von Frauen aus vielen Gewerkschaften mitgewirkt oder dieser entschuldigt wird. Dieser Sexismus führt zu einem Versagen im Kampf für gleichen Lohn und zu einer Weigerung, Frauen im Kampf zu unterstützen. Obwohl die Frauenunterdrückung nicht durch die Einstellung männlicher Arbeiter verursacht wird, wird sie beständig durch ihren Sexismus befestigt. Dies zeigt sich oft in brutalster Form durch häusliche Gewalt und Mißbrauch.

Die männlichen Arbeiter genießen in Folge der Frauenunterdrückung wirkliche Vorteile. Sie haben einen höheren Status im Haushalt und im gesellschaftlichen Leben. Sie sichern sich bessere Jobs und Löhne und tragen eine geringere Last bei der Hausarbeit. Diese Privilegien helfen mit, sexistische Vorstellungen und Verhaltensweisen in der Arbeiterklasse zu bestärken. Jedoch werden die Männer der Arbeiterklasse bei weitem wichtigere Errungenschaften von der endgültigen Befreiung der Frauen erhalten – die kollektive Verantwortung für Wohlfahrt, Freiheit in den Beziehungen, sexuelle Befreiung und die wirtschaftlichen Errungenschaften des Sozialismus. All dies bedeutet, daß – historisch betrachtet – die Männer der Arbeiterklasse keinen entscheidenden Nutzen aus der Frauenunterdrückung ziehen, sondern bei der Verwirklichung ihrer grundlegenden Klasseninteressen behindert werden. Denn es ist die herrschende Klasse, unterstützt von ihren Agenten in der Arbeiterbürokratie, die aus der zwischen Männern und Frauen geschaffenen Spaltung ihren Nutzen zieht.

Der Kampf gegen Frauenunterdrückung in den Halbkolonien

Von frühester Kindheit an sind proletarische Frauen gezwungen, für erbärmliche Löhne zu arbeiten, und müssen nach einem extrem langen Arbeitstag die Hausarbeit erledigen oder noch zusätzliche Arbeit auf sich nehmen, um ein Auskommen für die Familie zu gewährleisten. Nicht besser ergeht es armen Bäuerinnen, die oft zusätzlich zur Hausarbeit das Land bearbeiten müssen, da ihre Männer gezwungen sind, in den Städten zu arbeiten. Armut, miserable Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit zwingen viele Frauen in die Prostitution.

Der Imperialismus untergrub zwar die ökonomische Grundlage für traditionelle, patriarchale Systeme in diesen Ländern, doch blieben alte Formen der Frauenunterdrückung, wie Mitgift, Brautpreis, Klitorisbeschneidung und Polygamie, erhalten. Die Witwenverbrennung in Indien ist ein brutales Bespiel dafür. Unter den Frauen in den Halbkolonien ist der Analphabetismus noch größer als unter den Männern. Trotz medizinischer Fortschritte hat die Masse der Frauen in den Halbkolonien keine Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit. In Afrika und Asien sterben jedes Jahr eine halbe Million Kinder bei der Geburt. Nur eine sehr dünne gesellschaftliche Oberschicht kann Nutzen aus den Vorteilen des Kapitalismus, wie z.B. Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, ziehen.

Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, daß tausende Frauen an den antiimperialistischen Kämpfen in Vietnam, Nikaragua, Palästina und auf den Philippinen teilgenommen haben und einen hohen Preis, oft sogar mit ihrem Leben, bezahlen mußten. Doch ihre Interessen wurden immer verraten. Die kleinbürgerlichen und stalinistischen Bewegungen haben sich bei der Durchführung der Frauenbefreiung als völlig unfähig erwiesen. Die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen den Analphabetismus unter den Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiß zu kommen.

Gegen solchen Verrat setzen wir den Kampf für die Frauenbefreiung als untrennbaren Bestandteil der proletarisch-revolutionären Strategie. Proletarische und bäuerliche Frauen müssen um ökonomische Forderungen ebenso organisiert werden wie für Schutzmaßnahmen gegen Vergewaltigung, erzwungene Sterilisierung, Frauenhandel und für eine zwangsweise Beschränkung des Sextourismus.

Auch wenn Frauen aus den Halbkolonien dieser Misere entkommen, werden Millionen Immigrantinnen und Wanderarbeiterinnen in das Arbeitskräftepotential der imperialistischen Kernländer hineingezogen. Dort erfüllen sie die niedrigsten Aufgaben für sehr geringen Lohn und unter miserablen Arbeitsbedingungen.

Einwanderungskontrollen und Beschränkungen für Visa und Arbeitsbewilligungen stellen eine andauernde Bedrohung für Wanderarbeiterinnen dar. Insbesondere wird ihnen der Zugang zu vielen Arbeiten verwehrt, und sie werden so in Arbeitsbedingungen hineingezwungen, die sie von den anderen Arbeiterinnen und Arbeitern, den Gewerkschaften, ja der Arbeiterbewegung überhaupt isolieren. Sie werden oft für häusliche Dienste bei reichen Familien eingestellt, wo sie unorganisiert bleiben und stark ausgebeutet werden. Oft haben sie keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung oder auf Schutz vor willkürlichen Entlassungen. Außerdem werden ihnen politische Rechte und Sozialleistungen verwehrt. In allen Ländern fordern wir das Recht der häuslichen Angestellten und Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter auf gewerkschaftliche Organisierung, einen Achtstundentag, einen Leben ermöglichenden Mindestlohn und das Recht auf Sozialleistungen. Von der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung fordern wir, daß sie spezielle Maßnahmen zur Organisierung dieses Teils der Arbeiterklasse setzt.

Für eine proletarische Frauenbewegung!

Um die Frauenunterdrückung zu beenden, muß die grundlegende Trennung der Hausarbeit von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Produktion abgeschafft werden. Nur wenn Frauen voll und gleich in die Produktion einbezogen sind und die Hausarbeit in einer sozialistischen Planwirtschaft kollektiv organisiert ist, können Frauen von Unterdrückung frei sein. Allein das sozialistische Programm garantiert die Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Kindererziehung. Doch können wir sogar unter dem Kapitalismus diesem Ziel näher kommen, indem wir für das Recht der Frauen auf Lohnarbeit kämpfen. Wo die Bosse behaupten, daß es keine Arbeit für Frauen gibt, argumentieren wir für eine gleitende Skala der Arbeitsstunden, also eine Aufteilung der vorhandenen Arbeit ohne Lohnverlust. Die Teilzeitarbeit für Frauen wird von den Bossen verwendet, die Ausbeutung von Arbeiterinnen durch niedrigen Lohn und mangelnde Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen, während diese Frauen ein flexibles Arbeitskräftepotential darstellen. Wir fordern volle Arbeitsplatzsicherheit für Teilzeitarbeit, verbunden mit einem Kampf für die Verringerung der Arbeitszeit für alle Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Lohnverlust. Wir fordern die Bereitstellung vergesellschafteter Betreuung von Kindern und anderen Abhängigen, um Frauen die gleiche Teilnahme mit den Männern an der gesellschaftlichen Produktion zu ermöglichen.

Sogar dort, wo Frauen in großem Ausmaß in die Lohnarbeit hineingezogen worden sind, wurden sie nicht ökonomisch unabhängig. Es muß ihnen gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit garantiert werden, um sie vor der gegenwärtig erlittenen Überausbeutung zu schützen. Dies ist im Interesse der gesamten Arbeiterklasse. Denn weit entfernt davon, einen Schutz für die Löhne der Männer darzustellen, wie es viele reformistische Gewerkschaftsführer behauptet haben, haben die niedrigen Löhne der Frauen eine Tendenz zur Untergrabung der Lohnraten der Männer und damit auch des Lebensstandards der gesamten Klasse. Für einen gleichen Mindestlohn für Männer und Frauen, dessen Höhe durch die Arbeiterklasse bestimmt wird. Das Einkommen der Frauen muß daher durch eine gleitende Lohnskala, durch die steigende Preise an steigende Löhne gekoppelt sind, geschützt werden. Die Frauen der Arbeiterklasse werden in den Komitees zur Festsetzung der Preissteigerungen und der Lohnforderungen wesentliche Teilnehmerinnen sein. Für die Frauen in den Halbkolonien gibt es ein zusätzliches dringendes Bedürfnis nach gleichen Rechten auf Landbesitz und -eigentum.

Die Ungleichheit, die Frauen und Mädchen in Erziehung und Ausbildung erfahren, verunmöglicht es ihnen, dieselben Arbeiten wie Männer zu bekommen. Frauen müssen aber durch Aus- und Weiterbildung gleiche Möglichkeiten erhalten – von den Bossen bezahlt und unter der Kontrolle der Gewerkschaften, der Arbeiterinnen und Lehrlinge. Mädchen müssen gleichen Zugang zur Bildung haben, und in Ländern mit weitverbreitetem weiblichen Analphabetismus müssen Alphabetisierungsprogramme für Frauen eingerichtet werden.

Da Frauen noch immer die Hauptverantwortung in der Kindererziehung tragen, ist eine kostenlose Kinderbetreuung für alle unter der Kontrolle der Arbeiterinnen und Gewerkschaften und voller Lohn für die Karenzzeit notwendig, damit Frauen die gleiche Möglichkeit haben, Lohnarbeit anzunehmen. Weiters sollte eine Karenzierung auch für Väter möglich sein. Wir fordern, daß der Staat volles Arbeitslosengeld in einer Höhe, die von der jeweiligen nationalen Arbeiterbewegung bestimmt wird, all den Frauen bezahlt, denen es aufgrund der Unfähigkeit des Kapitalismus, soziale Unterstützung für abhängige Kinder und andere Verwandte zu leisten, nicht möglich ist, eine entlohnte Arbeit anzunehmen. Diese Forderung muß mit dem Kampf der Arbeiterklasse für soziale Einrichtungen, die es Frauen mit Kindern, kranken oder behinderten Verwandten ermöglichen zu arbeiten, verbunden werden. Wir treten für die kollektive Bereitstellung von Wäschereien und Restaurants ein, subventioniert vom Staat und unter Arbeiterkontrolle.

Die reproduktive Rolle der Frauen bedeutet auch, daß es verschiedene Arten von Arbeit gibt, die ihre Gesundheit oder die ihrer Kinder gefährden. Um dadurch entstehenden Schaden zu verhindern, müssen Schutzbestimmungen eingeführt werden. Wo diese vom bürgerlichen Staat gewährt wurden, geschah das einerseits aufgrund des Drucks der Arbeiterklasse, andererseits aufgrund der Einsicht von Teilen der herrschenden Klasse, daß die ungezügelte Ausbeutung zwar kurzfristigen Profitinteressen dient, aber langfristig die Reproduktion der Arbeiterklasse – und somit die Basis der Profitwirtschaft selbst – gefährdet. Zusätzlich erkannten die großen Kapitalisten, daß diese Gesetze mithelfen, kleinere Konkurrenten aus dem Geschäft zu werfen. Die Arbeiterklasse muß jedoch die Einhaltung der Schutzgesetze überwachen, da sonst die Bosse das Proletariat betrügen und immer wieder Wege finden werden, die Gesetze zu umgehen, um die Ausbeutung der Frauen zu maximieren. Die Arbeiteraristokratie und die Gewerkschaftsführer haben die Idee einer Schutzgesetzgebung dazu verwendet, Frauen aus bestimmten qualifizierten Berufen auszuschließen, um die Standesinteressen in ihrem Bereich zu schützen. Frauen dürfen aus keinem Beruf oder Gewerbe ausgeschlossen werden. Arbeiterinnenkomitees, nicht die Gewerkschaftsbürokraten, müssen entscheiden, welche Aufgaben eines jeweiligen Berufs den Frauen schaden könnten.

Den Frauen wird die Kontrolle über ihre eigenen Körper systematisch verwehrt. Sie werden gezwungen, ungewollte Kinder zu gebären, oder gehindert, Kinder auf die Welt zu bringen, die sie wollen. Weiters werden Frauen zu arrangierten Eheschließungen gezwungen und an Scheidungen gehindert. Kurz gesagt: Den Frauen wird die Kontrolle über ihre eigene Fruchtbarkeit verweigert. Die Frauen müssen wählen können, ob sie ein Kind gebären oder nicht, um gleichberechtigt mit den Männern in der Produktion, am sozialen und politischen Leben teilnehmen zu können. Die Bereitstellung von kostenloser Verhütung und Abtreibung für alle Frauen auf Wunsch ist unbedingt notwendig. In weiten Teilen der halbkolonialen Welt erleiden Frauen Unterdrückung, die das Ergebnis vorkapitalistischer Produktionsweisen und der Präsenz religiöser Ideologien ist. Wir sind gegen die Zwangsbeschneidung von Frauen, die ein Teil dieser Unterdrückung ist. Die Halbkolonien leiden auch unter dem Druck des Imperialismus, ihr sogenanntes „Bevölkerungsproblem“ auf Kosten der Rechte der Frauen zu lösen. Keine Frau darf zwangssterilisiert werden. Frauen werden von der Teilnahme am sozialen Leben durch rechtliche, soziale und religiöse Normen ausgeschlossen und werden oft psychisch und physisch mißbraucht. Zwangsheirat, Verkauf und Handel mit Frauen müssen gesetzlich verboten und diese Gesetze von der Arbeiterklasse durchgesetzt werden. Die vollen gesetzlichen Rechte und Sozialleistungen müssen für alle Frauen unabhängig von Alter und Familienstand zugänglich sein. Nieder mit dem Schleierzwang für Frauen und ihrem Ausschluß von jedem Teil des öffentlichen Lebens.

Die Frauen können nur befreit werden, wenn diese Forderungen für ihre unmittelbaren Interessen einen Teil des Programms für die proletarische Machtergreifung bilden. In den vereinten Kampf der Arbeiter für dieses Ziel können die proletarischen und bäuerlichen Frauen durch den Kampf für unmittelbare Ziele und Übergangsforderungen gezogen werden. Wenn die Frauen für diesen vereinten proletarischen Kampf nicht gewonnen werden, können sie ein passiver oder gar rückständiger Teil der Klasse bleiben, der für den Einfluß bürgerlicher Propaganda, im besonderen der Religion, offen ist. Werden Frauen jedoch für diese Aktionen gewonnen, können sie die männlichen Arbeiter von der sexistischen Ideologie, die die Arbeiterbewegung spaltet und schwächt, wegbrechen und gleichzeitig wirkliche Errungenschaften für sich auf dem Weg zu den Zielen der sozialistischen Revolution und der Frauenbefreiung sichern.

Die Frauen müssen für die Gewerkschaften gewonnen und dort organisiert werden, um ihren Forderungen gegenüber den Gewerkschaftsführern Nachdruck zu verleihen. In Industrien, wo Frauen mit Männern zusammenarbeiten, lehnen wir die Forderung nach einer eigenen Frauengewerkschaft ab, selbst wenn der Sexismus der Gewerkschaftsbürokraten die Teilnahme von Frauen sehr schwer macht. Der Kampf für die Vereinigung von Arbeiterinnen und Arbeitern muß geführt werden, während wir das Recht der Frauen auf gesonderte Treffen, auf Organisierung in den Gewerkschaften und auf allen Ebenen der Arbeiterbewegung verteidigen. Wir müssen fordern, daß die Gewerkschaftsführer Kampagnen für die Rekrutierung von Frauen (unter Einschluß der Teilzeitarbeiterinnen, die die vollen Mitgliedsrechte erhalten und reduzierte Mitgliedsbeiträge zahlen sollten) finanzieren und unterstützen.

Wir anerkennen, daß das Erbe der kapitalistischen Rolle der Frauen als die hauptsächlichen Pflegerinnen und Kindererzieherinnen bedeutet, daß viele Frauen durch die Organisierung der Versorgung in Zeiten scharfer Klassenkämpfe und revolutionärer Krisen in die Auseinandersetzung gezogen werden. Aber die revolutionäre Partei muß für spezielle Maßnahmen agitieren, die sicherstellen, daß Frauen eine vollwertige Rolle in allen Bereichen des Kampfes spielen und von keiner Art der politischen Betätigung wegen ihrer Versorgungsrolle zurückgehalten werden.

Eine proletarische Frauenbewegung ist von zentraler Bedeutung, wenn die Frauen eine positive und wesentliche Rolle im revolutionären Kampf spielen sollen. Sie muß außerdem von Revolutionärinnen geführt werden, die mit einem Programm für die proletarische Diktatur bewaffnet sind. Eine Bewegung, die breite Arbeiterinnenschichten umfaßt, ist ein unentbehrliches Mittel zur Organisierung jener Frauen, die von der Produktion ausgeschlossen sind, das heißt der Hausfrauen, der arbeitslosen und behinderten Frauen. Eine solche Bewegung, die auf den Frauen aufgebaut ist, die in Fabriken, in Büros, in der Landwirtschaft, in den Gemeinden und in den Gewerkschaften organisiert sind, kann gleichzeitig für die Interessen der Frauen, gegen die Vorurteile männlicher Arbeiter und für den revolutionären Sturz des Kapitalismus kämpfen. In entscheidenden Schlachten des Klassenkampfes organisieren sich Frauen oft in eigenen Komitees und Gruppen. Welche Form diese Frauenorganisationen anfänglich auch annehmen: Revolutionäre müssen für ihre Umwandlung in eine proletarische Bewegung eintreten, die die Frauen aller Schichten der Arbeiterinnen, der armen Bauernschaft und der unterdrückten Teile des Kleinbürgertums in die Bewegung hineinzieht.

In der gegenwärtigen Periode, wo Revolutionäre nicht die Führung der großen Masse der Arbeiterinnen stellen, stellt sich dennoch die Aufgabe eine solche Bewegung zu organisieren. Wir fordern von den sozialdemokratischen und stalinistischen Führerinnen und Führern des Proletariats, daß sie die Mittel und die Unterstützung für den Aufbau solch einer Bewegung zu Verfügung stellen. Auf diese Art können wir in eine Einheitsfront mit den militantesten Teilen der proletarischen Frauen eintreten und versuchen, diese durch gemeinsame Aktionen und kommunistische Propaganda von ihren falschen Führern loszureißen und schließlich zu gewinnen.

Die Frauen aus anderen Klassen, vor allem die Bäuerinnen, aber auch die städtischen Kleinbürgerinnen besonders der imperialisierten Länder, werden unter der Führung der proletarischen Frauen in diesen Kampf gezogen werden. Der feministischen Linie einer klassenübergreifenden Bewegung zu folgen, würde die Preisgabe der Interessen der Arbeiterinnen bedeuten. Ein zeitweiliges Bündnis mit Teilen der bürgerlichen Frauenbewegung ist nur in einigen halbkolonialen Ländern möglich. Aber dazu müssen diese Bewegungen für zumindest bürgerlich-demokratische Rechte kämpfen und mobilisieren (z.B. der Kampf der Kongreß-Partei in Indien gegen die Witwenverbrennung). Weiters muß für eine Einheitsfront die Propaganda- und Organisationsfreiheit aller zum Kampf bereiten Tendenzen gegeben sein. Es darf keine Beschränkungen für Trotzkisten und Trotzkistinnen in ihrer revolutionären Arbeit geben.

Wir lehnen die Vorstellung einer „autonomen“ Frauenbewegung ab, da diese die Möglichkeit einer Gewinnung der Frauenbewegung für das revolutionäre Programm ausschließt und die Intervention kommunistischer Frauen als disziplinierte Mitglieder ihrer Organisation zu verhindern sucht. Kommunistinnen versuchen die Mehrheit der proletarischen Frauenbewegung dafür zu gewinnen, das revolutionäre Programm zu unterstützen und Kommunistinnen in ihre Führung zu wählen.

Die Losung der „Autonomie“ beinhaltet auch den Ausschluß der Männer von den Organisationen (und oft auch den Veranstaltungen) der Frauen. Die proletarischen Frauen können weder den Kapitalismus zerstören, noch ihre eigene Unterdrückung beenden, ohne sich im Kampf mit dem Rest ihrer Klasse, den Männern, zu vereinen. Der Ausschluß der Männer von den Aktivitäten einer Frauenbewegung erzeugt eine unnötige Barriere auf dem Weg des Kampfes gegen den Sexismus, der auch die Erziehung der Arbeiter im Prozeß des gemeinsamen Kampfes mit den Frauen beinhalten muß.

Kinder und Jugendliche

Die Söhne und Töchter der Arbeiter und Bauern erfahren die schärfsten Formen der kapitalistischen Ausbeutung und des Mißbrauchs. Den Jugendlichen werden die elementarsten Rechte auf Unabhängigkeit verwehrt. Die Jugendlichen haben keine gesetzlich garantierten Rechte, über ihre Löhne zu verfügen, keinen unabhängigen Zugang zu staatlichen Unterstützungen und de facto kein Recht zu wählen, wo und wie sie ihr Leben leben wollen. Trotzdem werden Jugendlich für reif genug gehalten, in die bewaffneten Streitkräfte zwangseingezogen zu werden, um dort zu Millionen für die militärische Verteidigung der bürgerlichen Ordnung geopfert zu werden.

Die soziale Struktur, die die Unterdrückung der Jugend erzeugt und aufrechterhält, ist die Familie. Diese Unterordnung ist wie bei der Unterdrückung der Frauen kein Kennzeichen des menschlichen Lebens schlechthin, sondern ein Produkt der Klassengesellschaft. In den einzelnen Familien werden die Kinder und Jugendlichen aufgezogen und grundlegende Kenntnisse erlernt. Zusätzlich dient sie dazu, den Jugendlichen jene Regeln einzuimpfen, mit denen sie sich im Erwachsenenalter halten sollen. Die proletarischen Kinder werden aufgezogen, um gehorsame Arbeiter zu sein. Die männlichen Kinder der Bourgeoisie werden gelehrt, erfolgreiche Industriekapitäne und Generäle der Streitkräfte zu sein, und die Mädchen dazu herangezogen, gehorsame Hausfrauen oder Produzentinnen zukünftiger Erben zu sein.

Die Jugendlichen der Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft sind der schärfsten Unterdrückung ausgesetzt: Die Unterdrückung in der Familie geht mit der Überausbeutung in der Produktion und einem geringen Bildungsniveau einher. Diese Jugendlichen sind das Rückgrat der Billiglohnindustrien. Das spiegelt die Lage der Jugend in der Familie wider: Bei ihren Löhnen ist generell die Zugehörigkeit zu einer größeren ökonomischen Einheit vorausgesetzt. Das verstärkt umgekehrt die Abhängigkeit der Jugendlichen von den Eltern. Die proletarischen Jugendlichen an den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen erhalten wenig oder kein Einkommen, eine qualitativ schlechte Ausbildung und eine Erziehung, die bestimmt ist, den Interessen der Bourgeoisie zu dienen.

In ihrer extremsten Form ist die Stellung der Jugend- und Kinderarbeit eine Form der Sklaverei, bei der alle Löhne an das Familienoberhaupt, normalerweise den Vater, bezahlt werden. Wo die Kinderarbeit üblich ist, wie in vielen Halbkolonien, kümmern sich die Bosse überhaupt nicht um das Wohl der heranwachsenden Kinder, sondern treiben sie in Krankheit und frühen Tod. Die Armut der Eltern ist so drückend, daß sie keine Alternative dazu sehen, ihre Kinder in die Hölle der Überausbeutung zu schicken. Die Gesetze zum Schutz der Kinder werden sowohl von den Unternehmern als auch von den Eltern ignoriert. Das bestätigt die Marx’sche Erkenntnis, daß das Recht in einer Gesellschaft niemals höher als ihre ökonomische Basis sein kann.

Eine andere Konsequenz dieser wirtschaftlichen und rechtlichen Abhängigkeit ist die Unterdrückung des Sexuallebens der jungen Menschen. In der Klassengesellschaft ist das ein notwendiger Ausgangspunkt, um den Jugendlichen Konformität und Unterordnung einzuimpfen. Den Kindern wird die Bildung eines rationalen Verständnisses ihrer sexuellen Gefühle bzw. deren Verbindung mit sozialer Verantwortung nicht gestattet. Der kindlichen Sexualität wird jeder freie Ausdruck verwehrt; selbst jene Gefühle werden unterdrückt, die mit der heterosexuellen Norm, die die bürgerliche Gesellschaft vorschreibt, nicht widersprechen. Statt dessen werden die jungen Leute moralischen und religiösen Tabus unterworfen, die zur Vernebelung ihres Bewußtseins mit irrationalen Ängsten dienen. Das ganze Seelenleben des Kindes wird dazu gezwungen, sich um seine Eltern zu konzentrieren und an diese zu binden. Dadurch werden die bürgerlichen Vorstellungen des Individuums und der Privatheit gegen jedes kooperative und kollektive Ideal anerzogen.

Um die Jugendlichen von ihrer ökonomischen, sozialen, rechtlichen und sexuellen Unterordnung zu befreien, bedarf es der Umwälzung der Gesellschaft, um sicherzustellen, daß der individuelle Familienhaushalt nicht länger der ausschließliche Ort zur Durchführung der Hausarbeit und der Kindererziehung bleibt. Dies würde es zugleich mit der Herausbildung der Bedingungen für die Frauenbefreiung auch den Jugendlichen ermöglichen, unabhängig von ihren Eltern zu sein, mit soviel oder sowenig Kontakt zu ihnen, wie sie wollen, aber mit von der Gesellschaft bereitgestellter Wohnung, Reinigungsdienst, Nahrung, Kleidung, Freizeiteinrichtung und Kinderbetreuung für alle.

Wirtschaftliche Unabhängigkeit, angemessene Ausbildung und Freiheit von Überausbeutung sind Schlüsselforderungen für die Jugend. Für all jene in Lohnarbeitsverhältnissen muß gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit unter Arbeiterkontrolle erreicht werden, um die gewaltigen Lohndifferenzen zwischen jugendlichen und erwachsenen Arbeitern zu überwinden. Jugendliche, die erstmals ins Erwerbsleben eintreten, sollten nur eine verringerte Stundenzahl arbeiten und das Recht auf längeren Urlaub als erwachsene Arbeiter haben. Bis zum Ende der Schulpflicht müssen für Jugendliche und Kinder die Arbeitsstunden streng begrenzt und die Arbeitsbedingungen durch die Arbeiterklasse und Komitees von jugendlichen Arbeitern überwacht werden. Schutzgesetze sind notwendig, die Nachtarbeit, lange Arbeitszeit und andere Tätigkeiten, die für die Entwicklung und Gesundheit der Jugendlichen schädlich sein könnten, verbieten. Diese müssen von den Arbeitern und Jugendlichen kontrolliert werden.

Erziehung und Ausbildung der Jugend ist eine Sache der ganzen Arbeiterklasse. Die Bosse müssen gezwungen werden, Ganztagsschulen und finanzielle Unterstützung, zuerst für die Familien und dann für die Schüler selbst, bereitzustellen. Bildung muß kostenlos sein, alle Ausgaben sollen vom Staat bezahlt werden. Es sollte eine allen zugängliche Gesamtschule sein, die bis zu einem von der Arbeiterbewegung festgesetzten Alter verpflichtend zu besuchen ist. Wir kämpfen für die Abschaffung von Tests und Prüfungen, die zur Aufnahmebeschränkung in den Bildungsinstitutionen geschaffen wurden. Allen, die nach dem schulpflichtigen Alter in Ausbildung stehen, muß ein ausreichendes Stipendium in einer Höhe, die von Komitees der Studenten, Arbeiter und Lehrer festgesetzt und gegen die Inflation geschützt ist, gezahlt werden.

Bildung muß für Mädchen und Buben gleichermaßen zugänglich sein, und die Arbeiterbewegung muß für die Integration der schulischen Ausbildung (Koedukation) der Buben und Mädchen kämpfen. Diese muß weltlich sein – keine religiöse Propaganda in Schulen, keine staatlichen Mittel für religiöse Schulen! Wir kämpfen gegen bürgerliche Vorurteile in den Lehrplänen, für Unterricht über die Geschichte der Arbeiterbewegung und das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung. In den Schulen und anderen Bildungsstätten kämpfen wir für die Integration von Schulbildung und Erfahrung in der Produktion, und zwar mit dem Ziel, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit – ein Kennzeichen bürgerlicher Erziehung – zu überwinden. Gleichzeitig muß die Arbeiterbewegung dagegen kämpfen, daß die Kapitalisten Studenten und Lehrlinge als billige Arbeitskräfte verwenden. Wir kämpfen für angemessene kulturelle und sportliche Ausstattung und für eine freie Diskussion über sexuelle, soziale und politische Fragen an den Schulen. Wir fordern die Ausbildung der Jugendlichen im Gebrauch von Waffen, wobei wir jedoch jede Anwesenheit der Polizei oder der Armee an den Schulen, Fachschulen und Universitäten ablehnen.

Wir kämpfen dafür, alle Erziehungsmittel unter die Kontrolle der Arbeiterklasse, der Studenten und Schüler zu stellen. Während wir gegen private Ausbildungsinstitutionen und für die Nationalisierung der Universitäten kämpfen, kämpfen wir für die Unabhängigkeit der Erziehungsinstitutionen vom kapitalistischen Staat. Die Führung der Ausbildungsinstitutionen muß unter die direkte Kontrolle der dortigen Arbeiter, Studenten und Lehrer und der Vertreter der Arbeiterbewegung gestellt werden. Diese müssen auf Massenversammlungen aller Beteiligten nach dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“ gewählt werden. Wir treten für das Recht der Schüler und Studenten ein, Gewerkschaften und politische Organisationen zu bilden, und für das Zutrittsrecht von Arbeitervertretern zu Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Vertreibt die Faschisten von den Schulen, Fachschulen und Universitäten! Die Kontrollorgane der Arbeiter, Studenten und Schüler müssen für das Recht kämpfen, ein Veto gegen die Ernennung reaktionärer Lehrer aussprechen zu können.

Die Studenten und Studentinnen als ganzes sind nicht automatisch natürliche Verbündete der Arbeiterklasse. Viele Studenten kommen aus den höheren und mittleren Klassen. Studenten, die nicht arbeiten müssen, sind in einer privilegierten Position, da sie nicht dem Tagesablauf der Arbeiterklasse unterworfen sind. Weiters haben viele Studenten und Studentinnen aufgrund ihrer Ausbildung Privilegien. Trotzdem können und müssen viele Studenten – zukünftige Wissenschafter, Techniker, Rechtsanwälte und Künstler – auf die Seite der revolutionären Arbeiterbewegung gewonnen werden und sie dadurch stärken. Seit der Zeit von Marx und Engels wurden die besten Elemente der Intelligenz jeder Generation für die Sache des Proletariats gewonnen. Die Massenkämpfe der Studenten und Studentinnen zeigen – in den degenerierten Arbeiterstaaten ebenso wie in den kapitalistischen Ländern -, daß die Studenten und Studentinnen im Kampf für den Sozialismus, Schulter an Schulter mit der proletarischen Avantgarde, eine wichtige Rolle spielen.

Wir kämpfen daher für die Einheit der Arbeiter und Studenten, ausgedrückt in permanenten Verbindungen zwischen der Arbeiterbewegung und den Studentenorganisationen. Dadurch können Studenten und Studentinnen auf die Seite der Arbeiterklasse gewonnen werden. Der Enthusiasmus und Idealismus der Studenten und Studentinnen wiederum können den Arbeitermilitanten helfen, ihre bürokratischen und konservativen Führer zu vertreiben. Die Studenten sollten sich der Taktiken des Klassenkampfes bedienen – Streik und Besetzung -, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie sollten für die Kontrolle der Studentengewerkschaften durch die Basis und gegen staatliche Einmischung und Kontrolle kämpfen. In einigen Ländern existiert eine Studentenbürokratie, die, obwohl sie kein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist, aktiv dieselbe Ideologie und politische Methode wie diese propagiert. Diese Führungen müssen gestürzt und die Studentenorganisationen für die Unterstützung der wirklichen Kämpfe der Arbeiter gewonnen werden.

Arbeitslose Jugendliche müssen für eine gründliche Bildung und Ausbildung, volle wirtschaftliche Unterstützung und für eine gleitende Arbeitszeitskala zur Aufteilung der Arbeit auf alle Hände unter Arbeiterkontrolle kämpfen. All jene, die aus den Bildungsinstitutionen entlassen werden und keine Arbeit finden, müssen volle Arbeitslosenunterstützung erhalten, um sicherzustellen, daß die Arbeitslosigkeit nicht zur vollständigen wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Familie führt.

In der Familie sind es die Eltern, die für die Unterdrückung ihrer Kinder unmittelbar verantwortlich sind. Das trifft selbst dort zu, wo die Eltern fortschrittliche Ideen vertreten. Öfter allerdings unterdrücken die Eltern ihre Kinder auf brutale Art, bestrafen Ungehorsam mit Gewalt und Mißbrauch. Die Jugend benötigt daher volle gesetzliche und politische Rechte in der Familie und anderswo als Hilfe zur Brechung der Herrschaft und Macht, die die Eltern über sie ausüben. Die sozialen Einschränkungen, die die Familie auf die Jugendlichen oft in Verbindung mit der Religion ausüben, unterdrücken viele junge Männer und Frauen aufs Schärfste. Da ihnen die Familie das Recht auf die Ausübung der von ihnen gewählten sozialen und sexuellen Aktivitäten verwehrt, müssen soziale Zentren zur Verfügung gestellt werden, wo alle Einrichtungen für diese Aktivitäten frei zugänglich sind. In diesen sozialen Zentren sollten Information und Aufklärung über Sexualität zusammen mit kostenlosen Verhütungsmitteln und Hinweisen auf Abtreibungsmöglichkeiten erhältlich und zugänglich sein. Das gesetzliche (sexuelle) Mündigkeitsalter leistet nichts, um Jugendliche vor sexuellem Mißbrauch zu schützen. Es straft nur beidseitig gewollte sexuelle Beziehungen von Individuen unter einem bestimmten Alter. Schafft daher das (sexuelle) „Mündigkeitsalter“ ab!

Die Jugendlichen müssen volle politische und gesetzliche Rechte auch in der öffentlichen Sphäre erlangen. Wenn die Jugend reif genug ist, in die Armee der Bosse zwangseingezogen zu werden, um deren Ausbeutungssystem zu verteidigen, dann sind sie auch reif genug, um verantwortliche Entscheidungen in Friedenszeiten zu treffen. Das Wahlrecht sollte bei einem gesetzlichen Minimum von maximal 16 fixiert werden und darunter von der jeweiligen nationalen Arbeiterbewegung bestimmt werden. Das Recht, gesetzlich bindende Entscheidungen in finanziellen und öffentlichen Angelegenheiten zu treffen, muß ab demselben Alter garantiert werden.

Die Jugend, vor allem die männliche, ist das Kanonenfutter der bürgerlichen Armeen. Hunderttausende Jugendliche beiderlei Geschlechts wurden im Dienste der Reaktion zynisch geopfert, sei es für den US-Imperialismus in Vietnam oder durch das Fortführen eines Ablenkungskrieges im Iran. Es ist notwendig, die Jugend im Geist des proletarischen Anti-Imperialismus und Anti-Militarismus zu erziehen. Der Pazifismus stumpft nur den Geist ab und bereitet zukünftigen Schlächtereien den Weg. Die Jugend muß unter Anleitung der Arbeiterbewegung in militärischen Techniken trainiert werden. Sie wird das Rückgrat der Verteidigungseinheiten der Streikposten und den Kern der zukünftigen Arbeitermilizen darstellen.

In Zeiten akuter Krisen und Klassenkämpfe können arbeitslose Jugendliche, die keinerlei Erfahrung in der Produktion und mit Solidarität haben, zur Unterstützung faschistischer Banden oder als Streikbrecher mobilisiert werden. Um dieser Gefahr zu begegnen, muß die organisierte Arbeiterklasse die Jugend in die Gewerkschaften ziehen. Für junge Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich den Gewerkschaften anschließen, muß es reduzierte Mitgliedsbeiträge, aber vollständige Mitgliedsrechte geben. Die Jugendlichen müssen eigene Gewerkschaftssektionen organisieren, um ihre Forderungen voranzutreiben, sich zu schulen und andere junge Arbeiter und Arbeiterinnen zu rekrutieren.

Es gibt sehr große Möglichkeiten zur Gewinnung der Jugend für die revolutionäre Vorhut der Arbeiterklasse. Da sie natürlich mehr als jede andere Generation um die Zukunft besorgt ist, kann sie schnell für einen revolutionären bzw. sozialistischen Standpunkt gewonnen werden. Die Jugend ist in der Regel frei von dem Konservatismus, der den Geist von so manchem älteren Arbeiter gebrochen hat. Sie wurde nicht durch die jahrelange Erfahrung der reformistischen (Irre-) Führung und des Verrats zermürbt.

Eine revolutionäre Jugendbewegung muß aufgebaut werden. Sie ist ein Schlüssel zur Organisation des Kampfes für die Macht der Arbeiterklasse und die Befreiung der Jugend. Bewaffnet mit dem revolutionären Übergangsprogramm, wird diese Bewegung die Jugendlichen anderer Klassen, besonders der armen Bauern und der städtischen Kleinbourgeoisie, in sich hineinziehen. Die revolutionäre Jugendbewegung sollte auf jeder Ebene der Arbeiterbewegung repräsentiert sein. Dieses Prinzip gilt mit doppelter Kraft auch für die revolutionäre Partei, die damit der gesamten Arbeiterbewegung ein Beispiel geben soll.

Lesben und Schwule

Sexuelle Unterdrückung ist ein Merkmal aller Klassengesellschaften. Die Durchsetzung der Monogamie für die Frauen begleitete die Entstehung von Privateigentum und Klassen bzw. war wesentlich mit ihr verbunden. Im Kapitalismus existiert noch immer eine allgemeine sexuelle Unterdrückung, insbesondere der Frauen und Jugendlichen. Der Kapitalismus hat aber auch die systematische Unterdrückung von Lesben und Schwulen hervorgerufen. Welcher liberalen Gesten sich die kapitalistische Gesellschaft auch immer in Zeiten des Aufschwungs fähig gezeigt hat, sie bleibt doch an sich anti-homosexuell.

Da die Familie für den Kapitalismus ideologisch und wirtschaftlich sehr zentral ist, wird jede Gruppe, die die monogame, heterosexuelle „Norm“ der bürgerlichen Familie unterwandert, als äußerste Gefahr für die Gesellschaft gesehen und dementsprechend gebrandmarkt. Lesben und Schwule stellen eine Gefahr für den ideologischen Unterbau der Familie und für ihre ideale Kernstruktur dar, indem sie aufzeigen, daß Sexualität weder eine bloß auf die Schaffung von Nachwuchs gerichtete Aktivität, noch ein Mittel zur Zementierung der monogamen heterosexuellen Ehe ist. Sie bezeugen die Tatsache, daß Sexualität selbst ein Vergnügen darstellt. Das Faktum, daß lesbische und schwule Sexualität eindeutig nicht-reproduktiv ist, stellt eine Bedrohung für die Legitimität der bürgerlichen Familie dar.

Im Kapitalismus werden Lesben und Schwule systematisch denunziert, mißbraucht und kriminalisiert. Dies führt zu sexuellem Elend für Millionen Individuen und schürt schädliche Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse. Durch die Manipulation von Erziehung, Medien, Religion und Rechtssystem und durch die stillschweigende Duldung der Gewerkschaftsbürokratie, fördert die Bourgeoisie die Idee, daß Homosexualität „unnatürlich“ sei.

In den 80er Jahren verwendete die Bourgeoisie in den imperialistischen Ländern die Entwicklung der AIDS-Epidemie zur Verfolgung der Homosexuellen, insbesondere der Schwulen, die beschuldigt wurden, die Überträger der Krankheit zu sein. Innerhalb der Arbeiterklasse sind diese Argumente allgemein akzeptiert worden, und eine tief verwurzelte Angst vor Homosexualität (Homophobie) ist die Norm. Diese Homophobie schafft oft die Grundlage für einen aktiven, häufig gewaltsamen, Fanatismus gegen Lesben und Schwule in der Arbeiterklasse. Dennoch hat das Proletariat kein materielles oder fundamentales Interesse an der Aufrechterhaltung der lesbischen oder schwulen Unterdrückung oder in der Verewigung des anti-lesbischen und anti- schwulen Fanatismus.

Lesben und Schwule erleiden Unterdrückung in allen Bereichen, bis hin zu gesetzlichen Sanktionen. Während Lesben und Schwule aller gesellschaftlichen Klassen von ihr betroffen sind, ist sie doch für die Angehörigen der Arbeiterklasse am stärksten. Die Unterdrückung hat ihre Auswirkung auf die beruflichen Möglichkeiten. Männer und Frauen, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, bekommen schwerer Arbeit, werden am Arbeitsplatz isoliert und mißbraucht und verlieren leichter ihre Arbeit, ihre Unterkunft und ihre Kinder. Im Gegensatz zu unterdrückten Mitgliedern der herrschenden Klasse haben aber Lesben und Schwule der Arbeiterklasse keine andere Alternative, als Arbeit zu suchen. Folglich sind sie oft gezwungen, ihre Sexualität zu verleugnen und erleiden durch diese Verleugnung und Unterdrückung psychischen Schaden.

Die Arbeiterklasse muß für die Beendigung jeglicher Diskriminierung von Lesben und Schwulen kämpfen. Die Homosexualität ist ein grundlegendes demokratisches Recht. Der Staat soll keine Rechte haben, dort in die Sexualität von Menschen einzugreifen, wo eine freiwillige Zustimmung der Beteiligten besteht. Die Abschaffung des Mündigkeitsalters ist notwendig, um der Polizei und den Gerichten eine weitere Waffe, junge Lesben und Schwule zu schikanieren, aus der Hand zu schlagen. Die Diskriminierung muß in jedem Bereich, einschließlich des Arbeitsplatzes, der Unterkünfte und des Sorgerechtes für Kinder, bekämpft werden. Gesetzlich verankerte Rechte sollen von der Arbeiterklasse erkämpft und verteidigt werden. Der Staat muß gezwungen werden, in den Schulen Aufklärung über Sexualität anzubieten, ohne die Homosexualität zu verurteilen, wie es heute gang und gäbe ist. Die religiöse, anti- homosexuelle Engstirnigkeit muß aus den Klassenräumen verbannt werden.

Millionen von Lesben und Schwulen sind Teil der Arbeiterklasse. Die große Mehrheit bekennt sich nicht zu ihrer Sexualität – aus Angst vor Schikanen und Verfolgung. Jene, die es getan haben, erlitten infolge ihrer Offenheit Nachteile. Die Organisationen der Arbeiterklasse müssen für die Unterstützung der Rechte aller Homosexuellen – offen zu ihrer Sexualität stehen zu können, Widerstand gegen polizeiliche Schikanen oder faschistischen Terror zu leisten, das Recht auf Arbeit zu verteidigen und einen Mindestlohn zu erhalten – gewonnen werden. Eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts für Leute mit verschiedenen sexuellen Orientierungen muß die sexistische und heterosexistische Engstirnigkeit, die momentan in der Arbeiterklasse der ganzen Welt vorherrscht, ersetzen.

Die Lesben und Schwulen der Arbeiterklasse müssen das Recht auf eigene Treffen innerhalb der Organisationen der Arbeiterklasse haben, um gegen die Homophobie und für volle politische und soziale Gleichheit zu kämpfen. Um den Kampf über bestimmte Anliegen des eigenen Bereichs oder der unmittelbaren Umgebung hinauszutragen, müssen solche Zirkel mit denjenigen Einheitsfronten und Kampagnen verbunden werden, die ein Teil der proletarischen Bewegung für eine lesbische und schwule Befreiung sein könnten. Revolutionäre und Revolutionärinnen werden um die politische Führung in solchen Einheitsfrontorganisationen kämpfen, um Lesben und Schwule für ein Programm ihrer Befreiung und für den revolutionären Sozialismus zu gewinnen.

Die systematische Unterdrückung von Lesben und Schwulen wird nicht aufhören, solange die bürgerliche Familie als Modell für das gesellschaftliche Leben gefördert und verteidigt wird. Das ist ein Grund, warum der Kampf für die Beendigung dieser Form der Unterdrückung mit dem Programm für die Macht der Arbeiterklasse verbunden werden muß. Eine solche Revolution wird fähig sein, die lesbischen und schwulen Proletarier von den materiellen Entbehrungen, die ihnen als direktes Ergebnis ihrer Unterdrückung und Ausbeutung durch den Kapitalismus auferlegt sind, zu befreien. Und sie kann auch dem sexuellen Elend, das das Leben von Millionen zunichte macht, ein Ende bereiten.

Rassistische Unterdrückung

Moderne Nationen können nicht mit sogenannten Rassen gleichgesetzt werden. Rassistische Unterdrückung ist das Produkt des Entstehens der bürgerlichen Nation. In der merkantilistischen Periode des frühen Kapitalismus war in gewissen Ländern die Sklaverei eine Grundlage für die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Die Ausdehnung der kapitalistischen Kolonialreiche brachte für die Eingeborenenbevölkerung die systematische Verweigerung einfacher Menschenrechte und sogar Völkermord mit sich. Aber der Rassismus nahm in der imperialistischen Epoche seine gehässigste Form an: Wirtschaftliche Katastrophen, Revolutionen und Kriege haben einen modernen, pseudo-wissenschaftlichen Rassismus ins Leben gerufen. Er existiert sowohl als fieberhaftes Hirngespinst des Kleinbürgertums als auch als bewußtes Werkzeug der imperialistischen Bourgeoisie.

In unserem Jahrhundert ist das „Rassen“-Problem nicht ein Problem angeblicher rassischer Unterschiede, sondern es ist eine Funktion des Rassismus: die Unterdrückung von Menschen ihrer (angeblichen) „Rasse“ wegen. Die Opfer dieses systematischen Rassismus sind zahlreich. An vorderster Front stehen die Juden, die im Zweiten Weltkrieg einen Völkermord erleiden mußten, und die Schwarzen aus Afrika, aus der Karibik, aus den USA und die, die nach Europa emigriert sind. In Südafrika schuftet die schwarze Mehrheit schon lange unter der barbarischen Unterdrückung durch die Apartheid. Zusätzlich sog der Nachkriegsboom Millionen von Arbeitern aus den Halbkolonien in die imperialistischen Kernländer, aus einer Halbkolonie in die andere und aus weniger entwickelten in höher entwickelte imperialistische Länder. Diese Wanderarbeiter und eingewanderten Arbeiter sind auch rassisch unterdrückt.

Den Opfern rassistischer Unterdrückung werden systematisch demokratische Rechte verweigert. Der Rassismus von Polizei und Staat stürzen auf sie ein. Dies dient im weiteren dazu, gewalttätige Angriffe von einzelnen Rassisten, von Banden und organisierten Faschisten zu ermutigen. Die rassistisch Unterdrückten erleiden Diskriminierung in der Ausbildung und in allen Bereichen der sozialen Vorsorge. Sie sind bei der Arbeit einer Überausbeutung ausgesetzt. Wann immer der Kapitalismus in die Rezession gerät, leiden rassistische unterdrückte Minderheiten am meisten unter Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen.

Für die arbeitenden Massen der rassistisch Unterdrückten gibt es keine kapitalistische Lösung für ihre Unterdrückung. Die Tendenz des Kapitalismus, Immigrantengemeinden zu integrieren und in verschiedene Schichten zu spalten, begünstigt immer die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Schichten auf Kosten der ärmsten Massen. Und selbst diese Tendenz wurde wiederholt in ihr Gegenteil verkehrt, wenn der Kapitalismus in seinen Krisenperioden auf ungeschminkten Rassismus und Nationalchauvinismus zurückgreift. Die Schlachtung von sechs Millionen Juden unter Hitler zeigt das barbarische Potential der Epoche. Egal welches Niveau von „Chancengleichheit“ oder „bejahendem Handeln“ erreicht ist, die scharfen Wendungen des Imperialismus in Politik und Wirtschaft machen die Unterdrückten potentiell zu Opfern der völkermordenden „Endlösung“ des verzweifelten Finanzkapitals.

Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen betreiben innerhalb der unterdrückten Gemeinden Agitation und Propaganda für die strikteste Trennung der Klasseninteressen der Arbeiter von denen der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums und den Interessen des Klerus. Zu diesem Zweck kann die revolutionäre Partei spezielle Organisationen schaffen, aber sie wendet sich entschieden gegen den Ruf nach einer separaten politischen Partei irgendeiner rassistischen Gruppe, egal welchen ultra-radikalen politischen Inhalt sie hat. Separatismus und Nationalismus führen vom Gesichtspunkt des Kampfes zur Beendigung der Unterdrückung in eine Sackgasse.

Die Erfahrungen der Kämpfe der Schwarzen in den USA zeigen sowohl die Fallgruben als auch das revolutionäre Potential der Kämpfe gegen rassistische Unterdrückung auf. Während des langen Nachkriegsbooms lebten die Schwarzen unter einer „demokratischen“ Verfassung, und die formale Abschaffung der Sklaverei lag ein Jahrhundert hinter ihnen. Doch sogar in diesen Jahrzehnten des „Wohlstandes“ wurden die Schwarzen massiv entrechtet, überausgebeutet und in den Südstaaten einer Form von Apartheid ausgesetzt. Ausgehend vom passiven Protest, der von schwarzen Geistlichen und der Intelligenz geführt wurde, entwickelte sich der Widerstand der Schwarzen zu einer Massenrevolte und zu bewaffneten Zusammenstößen mit der Polizei und der National Guard.

Aber der Massenaufstand war mit einer massiven Führungskrise gekoppelt. Auf der einen Seite war das integrationistische Kleinbürgertum dazu bereit, zugunsten von Reformen und größerem Zugang zu lokalen und bundesstaatlichen Regierungen die Massenrevolte zu demobilisieren. Andererseits war die radikale Opposition zu diesem Ausverkauf – die Black Panthers, Malcolm X – nicht in der Lage, einen kompletten Bruch mit Separatismus und Guerillaismus zu vollziehen. Von der Masse der weißen Arbeiter und den Massen der schwarzen Gemeinden abgeschnitten, wurde die Avantgarde vom US-Staat zermalmt. Nachdem der US-Imperialismus diesen Sieg errungen hatte, verleibte er sich eine schwarze Bourgeoisie und eine Kaste professioneller Politiker ein und ließ die erdrückende Mehrheit in Amerikas zerrütteten Innenstädten verkommen.

Nur die Überwindung des Imperialismus, die Befreiung der Produktivkräfte von den Ketten des nationalen Kapitalismus, kann die materiellen Wurzeln der rassischen Unterdrückung beseitigen. Der Kampf gegen Rassismus muß daher einen integralen Bestandteil des Programms und der Aktivität der revolutionären Partei in jeder Periode bilden. Diese muß ihr Übergangsaktionsprogramm um die alltäglichen Kämpfe der rassistisch Unterdrückten konzentrieren, die sich gegen die Diskriminierung in Ausbildung, Löhnen, Beschäftigung und Arbeitsbedingungen wenden. Die Partei kann und muß unter den Männern, Frauen und Jugendlichen der rassistisch Unterdrückten Massen heldenhafter Kämpfer und Kämpferinnen finden und um dieses Programm versammeln.

Weil sie von Klassenkollaborateuren und Sozialchauvinisten geführt werden, spiegeln die offiziellen Arbeiterbewegungen der imperialistischen Kernländer den Rassismus und Chauvinismus der herrschenden Klasse wider und sind häufig ein Instrument der Herrschenden. Aber es gibt für die Unterdrückten keinen anderen Weg zur Befreiung, als durch einen Kampf die Mehrheit der Arbeiterklasse für gemeinsame Aktionen gegen den Rassismus zu gewinnen.

Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen kämpfen innerhalb der Arbeiterbewegung für gemeinsame Aktionen gegen alle rassistischen Angriffe und Gesetze, sowie für Arbeiterverteidigungstrupps gegen rassistische und faschistische Attacken. Wir kämpfen für volle Staatsbürgerschaft und demokratische Rechte für alle rassistisch unterdrückten und nationalen Minderheiten, für alle Immigranten- und Wanderarbeiter. Wir kämpfen für die Abschaffung aller Einwanderungskontrollen in den imperialistischen Ländern. In den Halbkolonien gilt unser Kampf den kolonialen Niederlassungen, und wir unterstützen die Einführung von zeitlichen und anderen Einschränkungen der Staatsbürgerschaft für weiße Siedler. Wir sind gegen alle neuen kolonialen Niederlassungen von Kapitalisten und reichen Farmern. Dies ist die einzige Ausnahme, die wir, und zwar in halbkolonialen Ländern, von unserer allgemeinen Opposition gegenüber Einwanderungskontrollen machen.

Es ist skandalös vorzuschlagen, daß die rassistisch Unterdrückten passiv ausharren und den Rassismus geduldig ertragen sollten, bis die Masse der weißen Arbeiter und ihre Organisationen für eine anti-rassistische Perspektive gewonnen worden sind. Wir fordern Unterstützung der Arbeiterbewegung für die Selbstverteidigung gegen rassische Angriffe. Um den rassistisch Unterdrückten zu helfen, sich innerhalb der Arbeiterbewegung gegen den Rassismus zu organisieren und vollständig an den Kämpfen der ganzen Arbeiterklasse teilzunehmen, sind wir für das Recht der Unterdrückten auf eigene Treffen und auf ihre Vertretung auf allen Ebenen der Arbeiterbewegung; das gilt auch für die revolutionären Partei selbst.

Der Klassenkampf und das vollständige System von Übergangsforderungen werden innerhalb der unterdrückten Gemeinschaften nicht außer Kraft gesetzt, egal unter welcher akuten gemeinsamen Unterdrückung sie auch leiden. Während die Möglichkeit besteht, mit nicht-proletarischen Organisationen innerhalb der Gemeinschaften begrenzte taktische Übereinkommen zu schließen, müssen diese auf gemeinsamer Aktion und striktester Trennung der Programme basieren. Zu jeder Zeit muß die Arbeiterklasse der unterdrückten Gemeinschaften gegen ihre eigenen Unterdrücker, welcher Nationalität oder ethnischer Herkunft auch immer, und für die Befreiung der Frauen, der Jugendlichen, der Lesben und der Schwulen mobilisiert werden.




Сексизмът убива, власта прекрива! Sexismus tötet, Macht korrumpiert!

… und die Regierung vertuscht das Problem: Protestwelle in Bulgarien gegen Gewalt gegen Frauen

Leonie Schmidt, Infomail 1230, 5. September 2023

Nach einem versuchten Femizid im Juni 2023 in Bulgarien, bei welchem eine 18-Jährige von ihrem Ex-Freund mit 21 Wunden durch ein Teppichmesser zugerichtet und mit Knochenbrüchen übersät wurde, flammte eine Protestwelle gegen Gewalt gegen Frauen auf. Besonders schockierend für die Protestierenden: Der mutmaßliche Täter kam einige Tage später wieder auf freien Fuß und wurde wegen angeblich „leichter“ Verletzungen des Opfers freigesprochen!

Seitdem gehen die Menschen auf die Straße. Das ist gerade für dieses Land etwas Ungewöhnliches, denn wie Organisator:innen des 8. März berichteten, kamen in den vergangenen Jahren nur wenige Personen zu ihren Kundgebungen. Jedoch begann die Entwicklung, dass es mehr und mehr Leute auf Proteste für Frauenrechte zog, bereits 2018, nachdem ein Schulmädchen mit Säure überkippt wurde. Auf den aktuellen Protesten sind vor allem junge Akivist:innen anzutreffen. Veranstaltet wird das Ganze unter anderem von der Organisation Feminist Mobilization. Sie fordert in erster Linie eine Verschärfung der Gesetzeslage, denn zum Zeitpunkt der Tat gab es noch nicht einmal einen Paragraphen, welcher häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch definierte. Aber in ihren Reihen finden sich auch Personen, die einen Kampf gegen Kapital und patriarchale Strukturen fordern.

Druck auf die Regierung wirkt – oder?

Mittlerweile hat sich die europaorientierte rechte Regierung Bulgariens dazu bequemt, einige Gesetzesänderungen durchzuführen. Täter und Betroffene müssen nun nicht mehr zusammenwohnen, damit es sich um häusliche Gewalt handelt. Eine zweite Reform wurde trotz Sommerpause durchgebracht: Künftig gilt es als Beziehungstat, wenn Täter und Opfer seit mindestens 60 Tagen in einer „intimen Beziehung“ zueinander stehen. Das ist offensichtlich ein Gesetz, das viele Schlupflöcher für die Täter beinhaltet. Die Tat ist nicht weniger schlimm, wenn sie am 40. Tag oder 1. Tag passierte. Der Nachweis, wann die Beziehung begann und ob es sich wirklich um eine intime (also sexuelle) Beziehung handelt, ist unfassbar schwierig. Wenn man als Betroffene vor Gericht eine Chance haben will, braucht man also einen guten anwaltlichen Beistand, den sich besonders Frauen der Arbeiter:innenklasse wohl kaum leisten können.

Aber dass es nun zu so einer Laissez-faire-Reform kommt, ist leider nicht verwunderlich: In Bulgarien richten sich Politiker:innen nicht erst seit heute gegen Frauen und explizit Betroffene häuslicher Gewalt. Seit Jahren mobilisieren rechte Parteien, aber auch die sog. sozialistische Partei Bulgariens, die linksnationalistisch und linkspopulistisch einzuordnen ist, gegen die Istanbul Konvention (ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), da damit die Grundlage zur Einführung für die „Ehe für alle“ geschaffen werden würde.

Warum es zu häuslicher Gewalt kommt

Um einen effektiven Weg zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zu finden, muss erst einmal geklärt werden, wie es überhaupt dazu kommt. Kleinbürgerliche Feminist:innen versuchen, das entweder mit der Natur des Mannes oder der Rückschrittlichkeit der Kultur oder Klasse zu erklären, in welchen die Gewalt stattfindet. Als Marxist:innen ist uns bewusst, dass häusliche Gewalt nur mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse erklärt werden kann. Denn sie findet nicht außerhalb der Gesellschaft statt, das Private ist nicht einfach unpolitisch, im Gegenteil: Häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter:innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche Waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter:innenklasse als Ganze neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter:innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Betrachten wir Bulgarien, so geht es vor allem um die Auswirkungen der Krise. Die Frauen müssen auch Lohnarbeit nachgehen, um die Existenz der Familie abzusichern, während gleichzeitig der Lohn des Mannes nicht mehr zu deren Ernährung ausreicht. Hinzu kommen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innnenklasse und die sozialen Absicherungen wie Sozialleistungen oder Krankenkassen, um die Profite des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern und dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Solche Krisen sind ein Kennzeichen für die Periode, in welcher wir uns aktuell befinden.

Die Krise der Familie bildet also die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter:innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage dringt. Somit kann sich der Täter noch ein letztes Mal über das Opfer stellen.

Durch diese Analyse wird also auch klar, warum die herrschende Klasse gar kein Interesse hat, grundlegend gegen häusliche Gewalt vorzugehen, denn auf der einen Seite gehört die Einsparung im Sozialsicherheitssystem schließlich zum Rettungsschirm des Finanzkapitals und auf der anderen Seite müsste sie sonst die Institution der bürgerlichen Familie angreifen, welche zu den Grundfesten des kapitalistischen Systems gehört. Des Weiteren ist es auch im Sinne des herrschenden Klasse, wenn Frauen auch in ihrer Familie unterdrückt bleiben und sich nicht von ihren Geschlechterrollen zu befreien versuchen. Diesen Punkt kann man gut erkennen an den Teilen der herrschenden Klasse Bulgariens, welche an der bürgerlichen Familie festhalten wollen, indem sie sich gegen die Istanbuler Konvention stellen. Diese Analyse macht auch klar, warum besonders die Ärmsten und am stärksten unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse von jener Gewalt betroffen sind.

Lage in Bulgarien

Schauen wir uns nun die Lage in Bulgarien an. Tatsächlich gilt dies als ärmstes Land der EU. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei der Hälfte des EU-weiten Durchschnitts. 2022 betrug das jährliche  BIP/Kopf 13.079 Euro gegenüber 25.650 in der EU und 29.180 in der Euro-Zone. Des weiteren stagnieren die Löhne und Gehälter auf einem niedrigen Niveau. Interessant ist diesbezüglich auch, dass der Dienstleistungssektor dominiert: Vor allem outgesourcter Kundendienst in Form von Callcentern für imperialistische Staaten ist hier ansässig, welcher die Lohnabhängigen hier noch mehr ausbeuten kann. Dementsprechend müssen die Löhne auch auf einem derartig niedrigen Niveau bleiben, damit sich das Outsourcing für die Imperalist:innen der EU überhaupt lohnen kann.

Über 2,2 Millionen Lohnabhängige (mehr als die Hälfte!) verkaufen ihre Arbeitskraft in anderen EU-Ländern. Viele Frauen, welche aus Bulgarien emigrieren, übernehmen in reichen imperialistischen EU-Staaten Carearbeit im Niedriglohnsektor, also als Putzkräfte, Krankenpflegerinnen und so weiter. Auch hier sind sie vor ökonomischer Abhängigkeit, Gewalt und Ausbeutung nicht sicher, im Gegenteil. All das verdeutlicht die halbkolonialen Verhältnisse in Bulgarien.

Hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen in Bulgarien kann festgehalten werden, dass jede 3. Frau laut Befragungen bereits Opfer partnerschaftlicher Gewalt wurde. Des Weiteren wurden dieses Jahr bereits 14 Frauen Oper von Femiziden (Stand: August 2023). Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, dass dies keine offiziellen Zahlen sind, da in Bulgarien diese von niemandem/r erhoben werden. Lediglich Frauenrechtsorganisationen sammeln sie. Dementsprechend ist also auch klar, dass die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. Denn wie bereits eingangs erwähnt, gab es vor der aktuellen Protestwelle noch nicht einmal eine Definition im Strafgesetzbuch hinsichtlich häuslicher Gewalt!

Außerdem ist die sozialstaatliche Absicherung in Bulgarien besonders prekär, was Frauen am meisten trifft. Es fehlt an Kindergartenplätzen, was dazu führt, dass sie gezwungen sind, sich entweder unbezahlt „freizunehmen“, um ihre Kinder zu betreuen, oder flexiblere Arbeitsverhältnisse inklusive besonders schlechter Bezahlung anzunehmen. So oder so werden sie damit umso mehr an ihre Familie und ihre potentiell gewalttätigen Oberhäupter gebunden.

Perspektive der Proteste

Obwohl die Regierung versucht, durch Reformen die Protestierenden ruhigzustellen, gehen diese weiterhin auf die Straße und bringen auch antipatriarchale und antikapitalistische Forderungen mit ein, werfen die Frage auf, wem es am Ende nützt, dass Gewalt gegen Frauen herrscht und diese nur mehr als unzureichend vom bürgerlichen Staat bekämpft wird. Klar ist, die Proteste dürfen nicht bei dieser einen Frage stehen bleiben. Es gilt, eine breite Massenbewegung aus Frauen, Lohnabhängigen, und sozial Unterdrückten aufzubauen, welche für klare Forderungen und ein klares Programm hinsichtlich der Unterdrückung von Frauen und LGBTIA+-Personen eintritt. Hierbei müssen auch die Gewerkschaften aufgefordert werden, sich zu beteiligen. Des Weiteren darf diese Bewegung auch nicht im nationalen Rahmen stehen bleiben, sondern muss international aufgebaut werden. Diese Forderungen könnten sein:

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben. Frauenhäuser müssen vom Staat finanziert, aber von den Frauen selbst verwaltet werden.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Natürlich dürfen wir uns aber auch keine Illusion machen, dass wir patriarchale Gewalt im Kapitalismus einfach wegreformieren könnten. Es gilt, den Kapitalismus mitsamt seinen Institutionen zur Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Arbeiter:innenklasse zu zerschlagen und für eine solidarische Gesellschaft auf Basis von vergesellschafteter und demokratisch geplanter Produktion und Reproduktion sowie Rätemacht einzutreten. Das heißt auch, dass das Ideal der bürgerlichen Familie dann das Zeitliche gesegnet hat und sich Rollenbilder auflösen werden dadurch, dass die Reproduktionsarbeit bspw. durch gemeinsame Mensen und Waschküchen vergesellschaftet wird. Dazu braucht es mehr als Bewegungen – eine politische Kraft, die gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung führt, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Der Wahn vom „Gender-Wahn“

Warum sich Rechte aufs Gendern einschießen

Stefan Katzer, Neue Internationale 276, September 2023

Der Aufschwung der Rechten geht einher mit einem Erstarken nationalistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologien und Diskurse.

Doch das ist längst nicht alles. Besonders die Ablehnung der von diesen Akteur:innen so bezeichneten „Gender-Ideologie“ und die Bekämpfung der Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen stiften Zusammenhalt und wirken mobilisierend auf die verschiedenen Strömungen innerhalb der reaktionären Melange aus konservativen, christlichen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften.

Der Aufschwung der Antigender-Bewegung

Ursprünglich vor allem von Vertreter:innen der katholischen Kirche und konservativer Parteien ins Visier genommen, ist die „Gender-Ideologie“ heute eines der Hauptangriffsziele fast aller rechten und konservativen Parteien und Gruppierungen. Die ersten eindeutigen Anti-Gender-Kampagnen entstanden Mitte der 2000er Jahre in Ländern wie Spanien, Kroatien, Italien und Slowenien. Sie richteten sich zunächst hauptsächlich gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder die Sexualaufklärung an Schulen.

Mit den Massenprotesten in Frankreich im Jahr 2012 zur Verhinderung der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe erreichte die Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt. Im Anschluss daran breitete sie sich auch in Deutschland, Italien, Polen, Russland und der Slowakei aus.

In Bezug auf die USA konnte Joanna Wuest detailliert aufzeigen, wie Teile der herrschenden Klasse bereits seit der Präsidentschaft Ronald Reagans intensiv daran arbeiteten, ein reaktionäres Netzwerk aus religiösen Traditionalist:innen und rechten Gruppierungen aufzubauen. In diesem Zusammenhang kam es zur Gründung zahlreicher Thinktanks und Lobbygruppen, deren politisches Ziel vor allem darin besteht, den Unmut über die wachsende soziale Ungleichheit in eine für das Kapital genehme Bahn zu lenken. In den USA seien Kapitalverbände seit Langem bemüht, sich den Rückhalt für ihren Widerstand gegen jede Umverteilung von oben nach unten dadurch zu sichern, dass sie an konservative Gesellschaftsnormen appellieren.

Als Beispiel nennt Wuest die Heritage Foundation, die seit ihrer Gründung im Jahr 1973 zusammen mit gleichgesinnten Gruppierungen gegen die Homo-Ehe und gegen Bürger:innenrechte für trans Menschen kämpft und sich ansonsten vor allem für einen „freien Markt“ starkmacht. Milliardenschwere Familienunternehmen und -stiftungen wie die von Charles Koch, Betsy DeVos oder Lynde und Harry Bradley sowie Wirtschaftsverbände wie das American Legislative Exchange Council mischen auf diesem Feld mit und finanzieren transfeindliche Gruppierungen aller Art, bis hin zu transfeindlichen Radikalfeminist:innen wie etwa die Women’s Liberation Front.

Es ist also offensichtlich, dass auf Seiten des Kapitals und seiner politischen Handlanger:innen großes Interesse daran besteht, die Spaltung der Lohnabhängigen weiter zu vertiefen, um sich selbst aus dem Schussfeld zu nehmen. Denn das, was die Kapitalist:innen am meisten fürchten, ist eine geeinte, sich ihrer gesellschaftlichen Lage und Macht bewusst werdende Arbeiter:innenklasse, die die wirklichen Ursachen ihres Elends erkennt und bereit ist, dagegen zu kämpfen.

Angriffe auf die Rechte von LGBTIAQ-Personen, die reproduktiven Rechte von Frauen und die Reproduktionsmedizin sowie die Aufklärung über Sexualität und Geschlechtergleichstellung stehen seither im Fokus dieser kräftig bezuschussten Bewegung. Dabei werden nicht nur die Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen angegriffen, sondern häufig die Personen selbst.

Sowohl der Attentäter von Utøya, der 2011 insgesamt 77 Menschen ermordete, als auch jener von Christchurch, der 51 Menschen tötete, schwadronierten in ihren „Manifesten“ von der Gefahr des Feminismus und des Gender-Mainstreamings. Neben rassistischen waren somit auch antifeministische Ideologeme Bestandteil der irrationalistischen Weltanschauungen dieser rechtsextremen Massenmörder. Frauen- und Transfeindlichkeit sind integraler Bestandteil ihrer Ideologie.

Dies geht einher mit der Überhöhung einer Form heroisch-soldatischer Männlichkeit, die sich durch Härte und Durchsetzungsvermögen auszeichnet, und deren angeblicher Verlust in den durch Feminismus und Gender-Mainstreaming weichgespülten westlichen Gesellschaften beklagt wird. Bedroht seien nicht nur „echte Männer“, sondern ebenso die traditionelle Familie, die vermeintlich natürliche Geschlechterordnung sowie die spezifischen Rollenzuweisungen, die damit einhergehen.

Weiblichkeit wird dabei vor allem mit Nähe, Emotionalität und Fürsorglichkeit assoziiert, während Männlichkeit mit Durchsetzungsvermögen, Tatkraft und Autonomie in Zusammenhang gebracht wird. Die Rolle des Mannes wird darin gesehen, die Familie mit dem notwendigen Einkommen zu versorgen, während Frauen die Aufgabe zufällt, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern.

Sexistische Unterdrückung und Weiblichkeitsabwehr

Dieses tradierte Rollenverständnis korrespondiert mit der vorherrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der ihr zugrundeliegenden Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktion. Diese bildet die materielle Grundlage der Unterdrückung von Frauen und LGBTQIA+-Personen und der binären Unterscheidung der Geschlechter.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung zwar durchaus mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden. Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann aber nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt, sondern muss vielmehr aus der historischen Entwicklung begriffen werden.

Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit

Die gesellschaftlich notwendige, meist von Frauen geleistete Hausarbeit ist unter kapitalistischen Produktionsbedingungen vom Produktionsprozess real ausgeklammert und findet „privat“ statt. Obwohl sie als notwendige Arbeit für die Reproduktion der Gesellschaft unerlässlich ist, ist sie keine produktive Arbeit, da sie keinen Mehrwert für das Kapital produziert. Die Frauen erhalten für diese Tätigkeiten auch keinen Lohn. Falls sie einer Lohnarbeit nachgehen, leiden sie häufig unter einer Doppelbelastung. Im Beruf werden sie für die gleiche Arbeit zudem im Durchschnitt schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Ihr Lohn gilt häufig als Zuverdienst, während der Mann als „Ernährer“ der Familie gilt. Damit einhergehend werden die meist von Männern ausgeführten Tätigkeiten höher bewertet als jene meist von Frauen übernommenen und der Sphäre der „Weiblichkeit“ zugeschriebenen Tätigkeiten und Werte.

Die Frauenunterdrückung ist dabei keine „Erfindung“ des Kapitalismus. Dieser hat vielmehr die bereits zuvor bestehenden Formen der Ungleichheit aufgenommen und den Bedürfnissen der kapitalistischen Verwertung entsprechend transformiert. Aufgrund der langen Geschichte der Frauenunterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass vielen diese Form der sexistischen Unterdrückung als „natürlich“ erscheint. Dabei werden geschlechtliche Merkmale aber letztlich nur herangezogen, um ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis mit Verweis auf vermeintlich naturgemäße Eigenschaften, Vorlieben und Fähigkeiten zu legitimieren.

Krise der bürgerlichen Familie

Im Kapitalismus bildet die bürgerliche Familie eine zentrale Institution für die Vermittlung und Reproduktion der reaktionären, heteronormativen Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und heterosexuellen Orientierung auf der Grundlage der sexuellen bzw. geschlechtlichen Arbeitsteilung. Für Konservative und rechte Kräfte ist die bürgerliche (Kern-)Familie heilig. Sie gilt ihnen als vermeintlich überhistorische – wahlweise von Gott oder der Natur vorgesehene – Form des menschlichen Zusammenlebens. Dabei ist ihr Bestehen aufs Engste mit dem Aufkommen des Kapitalismus verbunden. Wie die derzeitige Krise der bürgerlichen Familie zudem deutlich macht, ist ihr Bestehen für den größten Teil der Lohnabhängigen und Unterdrückten in Wirklichkeit abhängig von einem bestimmten Stand der kapitalistischen Akkumulation.

Während es nach dem Zweiten Weltkrieg für große Teile der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren möglich wurde, das bürgerliche Familienideal zu realisieren, unterhöhlte die kapitalistische Expansion diese Form des Zusammenlebens, da nun auch Frauen zunehmend als Arbeitskräfte gebraucht wurden.

In den letzten Jahrzehnten verschlechterten sich die Lebensbedingungen für viele Familien dramatisch. Die kapitalistische Verwertungskrise und die ihr von politischer Seite entgegengesetzten Maßnahmen in Form von Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und der Zerstörung sozialer Sicherungssysteme unterhöhlen objektiv die bürgerliche Familie als Form des Zusammenlebens. Damit einhergehend werden auch die Geschlechterrollen der Familienmitglieder unterminiert.

Vor diesem Hintergrund bilden der seit den frühen 2010er Jahren erstarkende Antifeminismus und Antigenderismus eine Form der projektiven, reaktionären Verarbeitung persönlicher und gesellschaftlicher Krisenerfahrungen, deren zentraler Mechanismus darin besteht, verstärkte soziale Ängste speziell von Männern aufzugreifen und sie umzuformen. Die Infragestellung der herrschenden Rollenbilder und des diesen zugrundeliegenden Systems der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wird tabuisiert. Mehr noch, sie wird mit eine angeblich „besseren“ Zeit ideologisch verknüpft. Wer Familie und reaktionäre Geschlechterrollen angreift, attackiert in dieser Weltanschauung auch die soziale „Sicherheit“.

In die allgemeine ängstigende Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen ist somit eine spezifische Form männlicher Furcht verwoben. Um dies besser nachvollziehen zu können, ist es notwendig, auf die grundlegenden Momente männlicher Subjektkonstitution näher einzugehen.

Männlichkeit als soziales Konstrukt

Zentral ist dabei die Einsicht, dass „Männlichkeit“ keine überhistorische Eigenschaft von Personen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen darstellt, sondern ein äußerst wandelbares kulturelles und psychosoziales Konstrukt, das im Laufe der Sozialisation hergestellt und mittels Identifizierung mit bestimmten Personen und/oder (von diesen verkörperten) Idealen aktiv angeeignet wird. Die Ausbildung einer Geschlechtsidentität erfolgt somit in der Interaktion des Kindes mit den primären Bezugspersonen in der von Normen der „Männlichkeit“ geprägten Gesellschaft.

Diese Interaktion ist gekennzeichnet durch die einseitige Abhängigkeit des Kindes von den Eltern (oder anderen primären Bezugspersonen). Da der Säugling seine grundlegenden physiologischen Bedürfnisse nicht eigenständig befriedigen kann, ist er darauf angewiesen, von anderen mit Nahrung, Wärme und emotionaler Zuwendung versorgt zu werden. In dieser körperlichen Interaktion zwischen primärer Bezugsperson und Säugling werden zugleich die Triebe des Säuglings geweckt, geformt und mit bestimmten (phantasmatischen) Objekten verknüpft.

Die primären Bezugspersonen sind für das Kind so zum einen „Objekte“, mit denen es positive Erfahrungen verbindet, da es von diesen genährt und versorgt wird. Zugleich kommt es selbst dann, wenn die primären Bezugspersonen sich bei der Versorgung des Kindes größte Mühe geben, unweigerlich zu Situationen, in denen die Befriedigung eines Bedürfnisses nicht unmittelbar erfolgen kann und der Säugling frustrierende Erfahrungen macht.

Das „Objekt“ ist somit ambivalent besetzt. Ein früher Modus des Umgangs mit dieser Ambivalenz – und als etablierte Form der Abwehr zugleich Grundlage für spätere Projektionen – ist die phantasmatische Spaltung des zugleich befriedigenden wie Unlust bereitenden Objektes. Dabei wird das „böse“, die Befriedigung elementarer Bedürfnisse versagende Objekt außen verortet. Es ist für das Kind mit der Erfahrung existenzieller Not verbunden und wird deshalb von diesem gehasst. Umgekehrt wird das „gute“, befriedigende Objekt innen verortet, d. h. dem eigenen Ich zugerechnet. Diese Phase der narzisstischen Selbstidealisierung ist mit der Konstitution des Ich aufs Engste verknüpft, da der Säugling erst in dieser Interaktion mit der Außenwelt allmählich eine Vorstellung von innen und außen, von Ich und Objekt entwickelt.

„Das Subjekt entsteht so in der Spannung zwischen Narzissmus und Objektliebe, zwischen Trennungsbestreben gegenüber den primären Beziehungspersonen und zugleich der ständigen Angewiesenheit auf sie. […] Auch wenn das Subjekt später lernt, die beiden Teile mehr zusammenzubringen […], das dargestellte Dilemma, das auch als Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt beschrieben werden kann, bleibt für immer bestehen. Das Begehren hat einen Riss, einen Mangel im werdenden Subjekt produziert, der nicht mehr zu kitten ist.“ (Brunner 2019: S. 24f.)

Das Entscheidende für das Verständnis der den Antigender-Diskurs prägenden affektiven Dynamik besteht nun darin, die Ausbildung der männlichen Geschlechtsidentität als einen Abwehrmechanismus zu begreifen, der auf die mit dem beschriebenen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt auftretenden innerpsychischen Spannungen mit der Ausbildung einer „männlichen Identität“ antwortet, welcher die Abwertung des mit Abhängigkeit assoziierten „Weiblichen“ und die Privilegierung des mit Autonomiewünschen verknüpften „Männlichen“ von Beginn an eingeschrieben ist.

Durch die Internalisierung der symbolischen Geschlechterdifferenz und der damit zusammenhängenden Ausbildung einer Geschlechtsidentität kommt es nun zu einer nachträglichen Umschreibung aller bisheriger Erfahrungen des Kindes entlang des gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechtergegensatzes. Im Zuge dieser Umschreibung werden narzisstische Autonomiewünsche „männlich“, Wünsche nach Verschmelzung mit dem Objekt „weiblich“ codiert.

Überlagerung von kapitalistischer und persönlicher Krise

Wie bereits dargelegt, bedeutet die kapitalistische Krise und die politische Form ihrer Verarbeitung für große Teile der Lohnabhängigen und auch des Kleinbürger:innentums eine enorme Verunsicherung und eine Verschlechterung ihrer Reproduktionsbedingungen. Was lange Zeit als „normal“ galt, gerät plötzlich ins Wanken. Dem Ernährermodell mit seinen spezifischen Rollenerwartungen wird das Wasser abgegraben. Viele Männer können den gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht mehr gerecht werden, da die gesellschaftlichen Grundlagen sich gewandelt haben. Die Ideale, mit denen sie sich identifizieren, sind unerreichbar geworden. Anstatt autonom über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können, bricht eine gesellschaftliche Krise über sie herein, der sie in ohnmächtiger Passivität gegenüberstehen. Es sind genau solche Verhältnisse, die als schwächend, als Verlust der mit dem eigenen Geschlecht verbundenen Integrität und Unabhängigkeit empfunden werden.

Um aus dieser spannungsvollen und für die eigene Psyche beinahe unerträglichen Zwangslage herauszukommen, bieten sich nun allerdings verschiedene Möglichkeiten.

Sofern es nicht zu einer Reflexion der gesellschaftlichen Ursachen der persönlichen Krisenerfahrungen kommt, die Betroffenen also nicht zu der Einsicht gelangen, dass es weder ihre eigene noch die Schuld von irgendjemand anderem/r ist, dass sie die an sie gestellten Erwartungen nicht mehr erfüllen können, sondern die kapitalistische Krise ihnen die Erfüllung ihrer Rollenerwartungen verunmöglicht, bereitet der Antigenderismus ein politisches Angebot, das es erlaubt, die unerträglichen Schuldgefühle und die damit verbundenen Affekte wie Angst und narzisstische Wut in eine bis zum Hass reichende Feindseligkeit gegen andere Gruppen (Feminist:innen, Frauen, LGBTQIA+-Personen) umzuwandeln. Die strafenden Überichanteile werden somit projektiv ausgelagert und die Ängste vor dem Verlust der eigenen Autonomie „[in] einen berechtigt erscheinenden Kampf gegen einen im Außen (wieder-)gefundenen Gegner als vermeintlichen Verursacher des eigenen und des kollektiven Leids transformiert.“ (Pohl 2010: S. 11)

Im Antifeminismus und Antigenderismus wird somit „die in die ,Normalmännlichkeit’ unserer Gesellschaft eingelagerte paranoide Abwehr von Weiblichkeit und allem, was die männliche Autonomievorstellung und das daran geknüpfte Machtversprechen ankratzt, in einen politischen Diskurs überführt.“ (Brunner 2019: S. 29)

Die kapitalistische Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen ist, befördert somit die Zunahme reaktionärer Diskurse und sexistischer Gewalt.

Es ist daher auch kein Zufall, dass vor allem kleinbürgerliche und Mittelschichten die eigentlichen massenhaften Träger:innen des reaktionären Antigenderismus sind. Selbst der viel zu gering entfaltete Klassenkampf bildet in der Arbeiter:innenklasse einen Rahmen kollektiver Erfahrung und der, wenn auch reformistisch und bürokratisch begrenzten, Weitergabe historischer Erfahrung. Die kleinbürgerlichen Schichten haben diese kollektive Erfahrung nicht. Im Gegenteil. Als Eigentümer:innen an Produktionsmitteln, als Ausbeuter:innen von Arbeitskräften hängen sie selbst am Privateigentum – auch wenn sie mehr und mehr in der Konkurrenz unter die Räder zu kommen drohen.

Die Zunahme reaktionärer Einstellungen stellt keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen den vorherrschenden Sexismus und seine tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen. Darüber hinaus bildet die Steigerung des Bewusstseins und der Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse auch die Voraussetzung dafür, Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten eine alternative Perspektive zur reaktionären populistischen Regression zu bieten.

Wir können das toxische Ideologieamalgam aus Rassismus, Antisemitismus und Sexismus der Rechten nur bekämpfen, wenn wir zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nehmen, auf denen diese Ideologien beruhen. Der Kampf gegen Frauen- und Queerfeindlichkeit muss daher als integraler Bestandteil des Kampfes gegen die kapitalistische Klassenherrschaft begriffen und entsprechend geführt werden.

„Nur eine Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen, die historische Unterdrückung der Frau und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, auf der sie beruht, bewusst überwindet, kann den Boden entziehen, auf dem reaktionäre Geschlechterrollen, die bürgerliche Familie und eine repressive Sexualmoral wachsen. Nur die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse kann den Übergang zu einer solchen Gesellschaft und damit auch zu einer Ordnung frei von jeglicher sozialer Unterdrückung ermöglichen.“ (https://arbeiterinnenmacht.de/2020/07/28/die-unterdrueckung-von-transpersonen/)

Es geht bei dem Kampf gegen Sexismus und Queerfeindlichkeit also nicht nur um individuelle „Awareness“ und den kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Rollenerwartungen, sondern wesentlich um die Errichtung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen sich jede:r Einzelne unabhängig von seinem/ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht in der Solidarität aller frei entfalten kann.

Literatur

Brunner, Markus (2019): Enthemmte Männer. Psychoanalytisch-sozialpsychologische Überlegungen zur Freudschen Massenpsychologie und zum Antifeminismus in der «Neuen» Rechten. Online: https://www.psychoanalyse-journal.ch/article/view/jfp.60.2/1178 (21.08.2023)

Pohl, Rolf: Männer – das benachteiligte Geschlecht? Weiblichkeitsabwehr und Antifeminismus im Diskurs über die Krise der Männlichkeit (Vorabdruck aus: Bereswill, Mechthild und Neuber, Anke (Hg.) (2010): In der Krise? Männlichkeiten im 21. Jahrhundert. Reihe: Forum Frauen- und Geschlechterforschung. Westfälisches Dampfboot. Münster). Online: http://www.agpolpsy.de/wp-content/uploads/2010/06/pohl-krise-der-mannlichkeit-vorabdruck-2010.pdf

Wuest, Joanna (2023): Gezielte Grausamkeit. Das Kapital und die trans*feindliche Agenda. Online: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gezielte-grausamkeit/




Barbie: Dauerwerbesendung für pinken Kapitalismus? Eine marxistische Filmkritik

Leonie Schmidt, ursprünglich veröffentlicht auf onesolutionrevolution.de Infomail 1228, 26. Juli 2023

Nachdem der neue Barbiefilm (Greta Gerwig, 2023 USA) in den Kinos anlief und dabei einen unglaublich erfolgreichen Raketenstart hinlegte, gab es direkt die ersten Kritiken von Konservativen, die sich beschwerten, der Film würde sich gegen Männer richten, sei zu woke und würde unchristliche Werte vermitteln. Die positiven Kritiken hingegen versprachen stattdessen ein feministisches Spektakel voller Kritik am Patriarchat, radikalisierend oder gar revolutionär. Nach diesen zwiegespaltenen Rezensionen wollte sich unsere Autorin Leonie Schmidt selbst überzeugen. Hier könnt ihr die vollständige Kritik lesen.

Worum geht es?

In einem Land namens Barbieland lebt die stereotypische Barbie (Margot Robbie) zusammen mit verschiedenen anderen Versionen von Plastikpuppen und ihren Begleitern, den Kens (und Allan (Michael Cera)). Obwohl ihr Leben unter den vielen anderen Barbies und Kens perfekt erscheint, hegt sie eines Tages Selbstzweifel und wird von Angstgefühlen geplagt, da sie auf einmal Makel bekommt, die sie vorher nicht hatte. Dies führt dazu, dass sie Barbieland verlassen muss, um wieder perfekt zu werden und zusammen mit ihrem Begleiter Ken (Ryan Gosling) in die reale Welt reisen muss. Während dieser Reise verwandeln sie sich auf magische Weise in echte Menschen und landen in Los Angeles. Das sexistische Verhalten der Menschen und die Unterschiede zur Welt in Barbieland irritieren Barbie. Gleichzeitig begibt sie sich auf die Suche nach ihrer langjährigen Besitzerin, von der sie glaubt, sie in der frechen Teenagerin Sasha (Ariana Greenblatt) gefunden zu haben. Währenddessen entdeckt Ken während eines Spaziergangs durch die Stadt, dass die reale Welt im Gegensatz zu Barbieland von einem Patriarchat dominiert wird. Durch diese Reise verändert sich so einiges in Barbieland: Ken will dieses Paradies ebenfalls in ein Patriarchat mit Pferden und Mango-Bier verwandeln. Nun geht es darum, Barbieland vor dem Aufstand der Kens zu retten. Die Incel- und Macho-Revolution kann am Schluss durch den Zusammenhalt der Barbies abgewendet werden und die stereotypische Barbie erkennt, dass sie keine Barbie mehr sein möchte und darf nun in der echten Welt leben.

Zu hohe Erwartungen

Eine feministische Revolution in Hollywood, mit Barbie, dem Symbol der weiblichen Geschlechtsrolle? Zugegebenermaßen, das schien mir eigentlich die ganze Zeit für viel zu hoch gegriffen. Aber nachdem ich gesehen hatte, wie alle Menschen, denen ich online so folge, die irgendwie progressiv und teilweise auch antikapitalistisch bis revolutionär sind, den Film in den Himmel lobten, waren meine Erwartungen sehr hoch. Auch von Greta Gerwig als Filmemacherin hörte man bisher nur Gutes, ich hatte zwar bislang nur Lady Bird (Greta Gerwig, 2017 USA) gesehen, aber fand die antisexistischen Untertöne und das Portrait der Mutter-Tochter-Beziehung darin sehr gelungen. Die Besetzung des Barbiefilms ist außerdem hochkarätig und die Pressetour vor dem Filmstart, gab einem das Gefühl, dass Margot Robbie und Ryan Gosling sich genau mit ihren Rollen und deren tieferen Bedeutungen auseinandergesetzt haben. Auch hatte ich gehört, dass Gerwig und Robbie sich mit einigen Szenen gegen Mattel und Warner Bros durchsetzen, weil sie diese für absolut relevant für die Aussage des Films hielten (zum Beispiel die Szenen mit der alten Frau an der Bushaltestelle, mit der Barbie kurz nach ihrer Ankunft in der echten Welt spricht). Nachdem ich den Film gesehen hatte, dachte ich mir allerdings nur: das war alles?!

Positive Elemente

Bevor wir zu den Kritikpunkten kommen, soll es aber erst einmal um die positiven Elemente des Filmes gehen. Rein von der Ästhetik her sind Barbieland und die Barbies und Kens hervorragend umgesetzt. Mit viel Liebe zum Detail wurden Set und Outfits dem ikonischen Spielzeug angepasst und die Bewegungen der Schauspieler:innen haben immer etwas subtil puppenhaftes, ohne vollständig unnatürlich zu wirken.

Der ganze Film ist gespickt mit Humor, um seine Inhalte zu übermitteln und die Gags haben Realitätsbezug, wirken zwar manchmal etwas überspitzt, aber seien wir ehrlich: viele von uns mussten sich schon mal im Detail anhören, was einen staubtrockenen Film so hochinteressant macht, wie die Barbie, welcher Der Pate (Francis Ford Coppola, 1972 USA) gemansplaint wird. Diese geteilte Erfahrung macht das Ganze erst so komisch. Im Allgemeinen ist es tatsächlich sehr erfrischend, wenn Männer einmal so eindimensional, plump und unselbstständig dargestellt werden, wie es in unzählige Filme mit Frauen immer noch getan wird. Die Reaktion von vielen (konservativen) Männern zeigt, dass sie es scheinbar nicht so toll finden, wie ihnen hier der Spiegel vorgehalten wird.

Auch der Plot hat zumindest eine noble Idee und Grundaussage: Perfektion ist absolut unmenschlich und in der Realität nicht erstrebenswert, was auch für Frauen gilt, die vermeintlich dem Stereotyp entsprechen, und jede Frau jeden Alters ist auf ihre eigene Art und Weise wunderschön. Auch die individuelle Erfahrung von Frauen im Patriarchat wird an mehreren Stellen gut gezeigt. Als Barbie und Ken beispielsweise in Los Angeles ankommen und Roller skaten und Barbie sich auf einmal, das erste Mal in ihrem Leben, unwohl fühlt, weil sie von Männern angegafft wird und Ken, der daneben steht, davon gar nichts mitbekommt und sich pudelwohl fühlt. Diese Szene führt letztendlich dazu, dass ein Mann Barbie auf den Po schlägt, woraufhin sie sich umdreht und ihm einen Faustschlag verpasst. Barbie lässt sich also schon einmal nichts gefallen.

Ebenso findet sich eine subtile Polizeikritik, als die Polizisten Barbie nach der Verhaftung mit anzüglichen Kommentaren überhäufen, was eigentlich erst der Grund war, weswegen sie zurecht ausgerastet ist und verhaftet wurde. Die Polizei kann also im Kampf gegen das Patriarchat auch nicht helfen. Die Wutrede von Gloria (America Ferrera) zum Thema kognitive Dissonanz für Frauen im Patriarchat, die gleichzeitig alles sein sollen, aber immer zu wenig sind, bringt die alltäglichen Anforderungen an Frauen auf den Punkt.

Herausgearbeitet wird außerdem, was bei Männern zumindest auf einer psychologischen Ebene zu Frauenhass führen kann: zu wenig Anerkennung und ein fragiles Ego. Wie erschütternd das ist, wenn ein eigentlich guter Freund sich auf einmal zu einem Männerrechtsaktivisten und Chauvinist entwickelt, muss Barbie am eigenen Leib erfahren.

Der Film scheut auch nicht vor plakativer Systemkritik zurück. Als Ken sich in der realen Welt über das Patriarchat und seine Jobmöglichkeiten informiert, wird ihm gesagt, ganz so einfach, wie er sich das vorstellt, dass er einfach nur ein Job bekommt, weil er ein Mann ist, ist es dann doch wieder nicht. Allerdings wissen die Männer es heutzutage einfach nur besser zu verschleiern, dass sie sehr wohl Vorteile haben. Wer schon einmal über Gleichberechtigung diskutiert hat, kennt sie, die Männer die sagen: „Ne, ne wir sind doch alle gleichberechtigt, das Patriarchat gibt es schon lange nicht mehr.“ Somit ist es mal ganz erfrischend zu hören, was der CEO zu Ken sagt.

Ebenfalls eine Kritik am Choice Feminismus (alles ist feministisch, solange sich eine Frau bewusst dafür entscheidet) findet sich mehrfach. Bereits zu Beginn wird die Grundidee der Barbie-Puppe „Du kannst alles sein was du willst“ hinsichtlich der Karriere zwar gelobt, aber es wird von der Erzählerstimme dennoch darauf hingewiesen, dass das Patriarchat selbst mit diesen Karrieremöglichkeiten für Frauen eben nicht einfach abgeschafft wurde. Auch zeigt der Film auf, dass es nicht im Interesse von Frauen ist, sich den Männern zu unterwerfen, auch wenn sie das selber in dem Moment vielleicht anders sehen.

Positiv herauszustellen ist außerdem, dass Barbies Lebensinhalt nicht Männer sind, an Ken hat sie schon einmal gar kein Interesse und auch an niemand anderem. Wie sollte sie auch, ist sie doch eine Puppe so ganz ohne Genitalien. Daher kommen ihr die Anmachversuche in der echten Welt auch einfach sehr seltsam vor. Das zeigt aber vor allem, dass Filme die für eine weibliche Zuschauerinnenschaft gemacht wurden, eben nicht immer nur romantische (Sub)Plots haben müssen, um zu funktionieren. Es wirft auch die Frage auf, ob Barbie überhaupt hetero ist. Klar wird sie von Mattel eigentlich so dargestellt, aber wenn wir uns mal scharf dran erinnern, wie wir mit Barbies gespielt haben …

Barbie – der Film zum Rebranding von Mattel

Der Sinn dieses Films wird uns eigentlich auf dem Silbertablett serviert: Barbie soll weiterhin ein relevantes Spielzeug sein, auch in einer Zeit, in welcher, zumindest oberflächlich, feministische Diskurse Einzug in die gesamte Gesellschaft erhalten haben. Das kann man sehen an der Teenagerin Sasha, die keinen Bock auf Barbie hat, natürlich einerseits, weil sie schon zu alt ist, aber andererseits auch, weil es komplett uncool ist, zuzugeben, dass man Barbies mag, wenn man sich gleichzeitig für Feminismus interessiert. Am Ende kann sie aber doch noch überzeugt werden. Deswegen wird im Film auch die ursprüngliche Vision von Barbie-Erfinderin Ruth Handler so betont: Barbie sollte eine Alternative zu den Puppen darstellen, mit denen die Mutterrolle normalerweise eingeübt wurde und durch die anfänglichen Editionen, wo es vor allem um Berufe ging, und dass Frauen eben alles sein können, was sie möchten, mit der weiblichen Geschlechterrolle brechen. Allerdings verschweigt der Film, dass diese Vision nicht lange anhielt und mit dem Abschied von Ruth Handler von Mattel Lifestyle, Mode, Sport und Tiere in den Interessenfokus von Barbie gerieten. Außerdem war ein kompletter Bruch mit der weiblichen Geschlechtsrolle sowieso für Barbie niemals vorgesehen: das fängt mit ihrem Aussehen an, welches immer als Schönheitsideal galt. Barbies frühere Idealmaße hätten bei einem echten Menschen dazu geführt, dass dieser nicht lebensfähig ist. Diese wurden zwar mittlerweile überarbeitet, um realistischer zu werden, dennoch haben unzählige viele kleine Mädchen mit Barbie gelernt, dass es total wichtig ist, immer gut gestylt zu sein und regelmäßig die neuste Mode zu kaufen. Barbie bereitet sie also auf ein Leben im Patriarchat als Frau und im Kapitalismus als Konsumentin vor. Das mag nicht so offensichtlich auf die Mutterrolle abzielen, aber wenn man sich einmal anschaut, welche Berufe Barbie so ausübt, wird auch hier schnell klar, dass Care-Arbeit gerne gesehen wird: eine der ersten Berufe, die Barbie hatte, war Krankenschwester.

Im Film wird immer wieder klar, hier soll etwas verkauft werden: die Barbies und ihre Outfits, die gezeigt werden, existieren größtenteils alle wirklich. Auch die Szene, in der Ken Barbies Outfits aus dem Dreamhouse wirft, betont das noch einmal über deutlich, indem die Namen der Outfits explizit eingeblendet werden. Noch dazu gibt es sehr offensichtliche Product-Placements von Chanel, Birkenstock und Chevrolet.

Mattel will also ein bisschen mit dem Klischee brechen, Barbie sei nur ein anti-feministisches Püppchen und stattdessen zeigen, dass Barbie immer auch daran gebunden ist, wer mit ihr spielt. So können sie sich einerseits aus der Verantwortung ziehen und andererseits den individualistischen Charakter ihrer Produkte betonen. Deswegen ist die feministische Grundhaltung des Films auch alles andere als subtil, was für Greta Gerwig eigentlich sehr ungewöhnlich ist.

Misslungene Kritik am Patriarchat

Das Wort Patriarchat kommt mehrmals im Film vor und mit ihm auch eine völlig falsche Kritik daran. So wird an einer Stelle gesagt, dass die Menschen sich das Patriarchat bewusst ausgedacht hätten. Als hätten sich die Männer eines Tages mal an einen Tisch gesetzt und bestimmt, dass es ab heute Patriarchat geben soll, genauso wie die Kens versuchen, das umzusetzen (nur dass sie sich Mango-Bier trinkend an einen Pool statt an einen Tisch setzen). Das ist jedoch nicht korrekt. Das Patriarchat hat sich über Jahrtausende entwickelt, zu dem was es heute ist und war keine bewusste Entscheidung, sondern rührt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Entwicklung der Produktionsmittel her. In den Urgesellschaften lebten Männer und Frauen gleichgestellt, die Arbeitsteilung erfolgte aufgrund von körperlichen Fähigkeiten, das heißt auch Frauen gingen jagen, außer sie waren schwanger, Entscheidungen wurden kollektiv getroffen. Erst eine Produktionsweise, die es erlaubte, mehr zu produzieren als direkt verzerrt werden konnte, sorgte dafür, dass es Vorräte und somit auch Verwalter der Vorräte gab, die von der Arbeit freigestellt werden konnten, was in den meisten Fällen Männer waren. Diese bekamen auch Vorrechte bezüglich des Zugriffs auf die Vorräte, welche sich in manchen Fällen weitervererben ließen. Dadurch wurden die Frauen immer mehr in die Reproduktionsarbeit (Ernährung, Haushalt, Erziehung, Pflege) gedrängt und um die Erblinie der Vorteile und des Eigentums zu sichern, entwickelte sich das ganze patrilinear und monogam (zumindest für Frauen). Die Frauenunterdrückung entwickelte sich über die Klassengesellschaften immer weiter, somit darf die Frauenunterdrückung von den Klassengesellschaften auch nicht abgetrennt gesehen werden. Das passiert aber in diesem Film. Klar, wie soll es auch in einem Werbefilm für pinken Kapitalismus auf einmal antikapitalistisch werden? Mehr als Aufregung über die Symptome des Patriarchats und Kritik an Unternehmensvorständen, weil sie keine Frauen haben, gibt es also hier nicht. Schon gar keinen Ansatz dafür, wie das Patriarchat überwunden werden kann. Wie auch, wenn es sich angeblich nur um eine abstrakte Idee handelt. Noch dazu wird das Patriarchat als für alle Frauen gleich dargestellt. Aber in Wirklichkeit gibt es gravierende Unterschiede. Gerade Frauen der herrschenden Klasse haben es sehr einfach, sich aus ihrer Rolle der Reproduktionsarbeit frei zu kaufen durch Kindermädchen und Leihmütter, in Unternehmen beuten sie als CEOs selber andere Frauen aus, zur Not können sie für eine Abtreibung mal eben in ein anderes Land jetten, während die Frauen der Arbeiter:innenklasse doppelt ausgebeutet werden, einmal in der Produktion und einmal in der Reproduktion und ihre reproduktiven Rechte massiv eingeschränkt werden. Des Weiteren können auch andere Unterdrückungsmechanismen wie Rassismus oder Ableismus die sexistische Unterdrückung begleiten und auf diese einwirken, was natürlich mit der stereotypischen Barbie in der Hauptrolle unmöglich aufzuzeigen ist. Natürlich gibt es Repräsentation von diesen Frauen im Film und das ist auch positiv herauszustellen, da Repräsentation für gesellschaftlich Unterdrückte einen positiven Einfluss hat, aber der Dreh- und Angelpunkt bleibt die weiße Blondhaarige. Die trans Frau Hari Nef spielt Dr. Barbie, aber Dr. Barbie bleibt genauso eine Nebenrolle wie viele WOC im Film, wenngleich diese ebenso beeindruckende Jobs haben (wie zum Beispiel Präsidentin-Barbie (Issa Rae)).

Im Film wird uns außerdem vermittelt, dass das Problem die Männer an sich sind und nicht die Klassengesellschaft, was auch daran zu sehen ist, dass in Barbieland das Matriarchat für Frieden und florierenden Wohlstand sorgt, während das beim Versuch des Patriarchats nicht der Fall ist.

Die Lösung: Selbstakzeptanz?

Würde man das Ende wohlwollend interpretieren, könnte man sagen: „Super, Barbie hat es geschafft sich aus ihrer Rolle zu befreien, indem sie anerkannt hat, dass sie ihr nicht mehr entsprechen kann und will und kann jetzt selber herausfinden, wer sie wirklich ist, in dem sie als Mensch in der realen Welt leben darf.“ Und auch Ken braucht einfach nur Selbstfindung und Selbstakzeptanz um kein Chauvi mehr zu sein.

Aber die Geschlechterrollen können innerhalb des Patriarchats und des Kapitalismus gar nicht abgeschüttelt werden, denn sie prägen uns Tag ein, Tag aus, auch wenn sie ab und zu im neuen Gewand daherkommen. Das Sein beeinflusst das Bewusstsein, wie Karl Marx schon sagte. Somit ist die einzige Möglichkeit sich den Geschlechterrollen dauerhaft zu entziehen, die Klassengesellschaft zu zerschlagen, da die Produktionsverhältnisse die materielle Grundlage für diese sind. Sicherlich kann die Akzeptanz, dass man diesen Rollen niemals entsprechen wird, es einem zeitweise etwas angenehmer machen. Und Männer können ihre toxische Männlichkeit reflektieren und sich bemühen, Frauen besser zu behandeln. Aber es ist doch eine zutiefst individualistische Lösung, die die Zuschauer:innen eher hilflos zurücklässt. Das widerspricht noch dazu der ursprünglichen Kritik am Choice Feminismus, mit welcher der Film eigentlich überzogen war.

Fazit

Der Film macht zwar Spaß, aber das Gefühl, dass es sich hierbei um einen Werbefilm für einen pinken Kapitalismus und eine Umdeutung von Barbie handelt, bleibt leider bestehen. Es muss zwar nicht jeder Film eine Lösung präsentieren, aber wenn er es schon tut, dann sollte diese nicht so unglaublich uneffektiv sein. Auch die letzte Szene wirft noch einmal Fragezeichen auf. Barbie, als Mensch in der realen Welt, hat einen Termin. Was wird es sein, vielleicht ein Vorstellungsgespräch oder ein Date? Nein, sie geht zum Gynäkologen. Dass sie sich so sehr darüber freut, ist vielleicht nachvollziehbar, in Anbetracht der Tatsache, dass sie vorher keine Genitalien hatte und die Reproduktion der Art sicherlich ein relevanter Teil des Menschseins ist. Aber für mich hat es sich so angefühlt, als ob Barbies Erfahrung als Frau jetzt wieder nur auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduziert würde und sie somit auch wieder in eine Mutterrolle gepresst werden könnte.

Der Film hat vielversprechende Ansätze, aber mit Mattel und Warner Bros im Boot ist es wohl unmöglich, einen antisexistischen und antikapitalistischen Film zu drehen, der Barbie zu einer Revolutionärin macht (auch wenn die komische Barbie (Kate McKinnon) in ihrem komischen Haus zumindest schon mal das richtige Outfit für diesen Plot gehabt hätte).




USA: Angriffe auf Frauen und LGBTIAQs

Resa Ludivien, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Danke, Trump! Doch auch unter Biden wird’s nicht besser. Ganz im Gegenteil. Das Urteil Roe vs. Wade letztes Jahr wurde unter der Biden-Regierung außer Kraft gesetzt, dank der durch Trump nominierten Richter:innen der Obersten Gerichtshofs. Doch auch überall im Land gibt es nicht nur betroffene Frauen, die bangen, sondern auch eine reaktionäre Basis, die das Urteil als Erfolg feierte.

Derzeit läuft der Wahlkampf für die nächste Präsidentschaftswahl wieder heiß an. Donald Trumps republikanischer Mitbewerber Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, will mit einer noch radikaleren Abtreibungspolitik punkten. Erst kürzlich unterzeichnete er einen „sex weeks abortion ban“ – eine Zeitspanne, in der Frauen vielleicht noch nicht einmal gemerkt haben, dass sie schwanger sind, geschweige denn eine gut durchdachte Entscheidung hätten treffen und eine/n der wenigen Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen, finden können.

My body, my choice

Keine Frauenkörper heißt keine Kinder. Wer außer „der Frau“, wer außer gebärfähigen Menschen, sollte dann über Schwangerschaft oder einen Abbruch entscheiden? Laut der US-Rechten alle – Männer und der bürgerliche Staat – alle außer sie selbst. Im Bundesstaat Arkansas können Ehemänner und Lebenspartner sogar gegen die schwangere Frau rechtliche Schritte einleiten, wenn sie eine Abtreibung plant.

Wer keine Kinder möchte oder sich nicht in der Lage fühlt, sie zu bekommen und großzuziehen, hat hierfür mannigfaltige Gründe: Krankheit, Suchtprobleme, eine Gewaltbeziehung und … und … und. So lange Frauen von der Zeugung an – denken wir an Vergewaltigungen, Babytrap oder Druck – über die Entscheidung bis hin in die (un)gewollte Mutterschaft bevormundet und diskriminiert werden, werden sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt.

Während selbsternannte „Lebensschützer:innen“ die Rechte des Ungeborenen beschwören, erlöschen diese in einer Gesellschaft, in der Kinderziehung wesentlich Privatsache ist, mit der Geburt. Selbst wenn formale Gleichheit herrscht, macht sich die Ungleichheit von Klasse und Herkunft umso deutlicher bemerkbar.

Auch hier zeigt sich die Doppelmoral. Kinder sind kein Statussymbol oder Objekt und haben ein Recht darauf, geliebt und gut behandelt zu werden. Warum also eine Frau zwingen, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie das kann und möchte? So viel zum moralischen Gebrabbel.

Doch dieser Angriff hat System. Antifeministische Akteur:innen – vor allem männlichen Geschlechts – sind in den letzten Jahren auf dem Vormarsch. Der Krisenmodus, der seit 2008 anhält, hat soziale und politische Unsicherheit mit sich gebracht – auch für die Mittelschichten –, die Rechtsströmungen zu einer politischen Agenda verdichten und so davon profitieren. In ihren extremsten Ausformungen sehen wir das bei rechtspopulistischen oder gar protofaschistischen Regierungen, aber auch antifeministischen, queerfeindlichen und rechtsextremen Anschlägen.

Angriffsziel Flintas

Parallel zu dem massiven Angriff auf Frauenrechte stehen queere Menschen in den USA unter Beschuss. Die Devise „My body, my choice“ (Mein Körper, meine Entscheidung) wird hier ebenso mit Füßen getreten, wenn wir an die Möglichkeiten von trans Personen denken in einem System, welches sie von der Schule bis ins Krankenhaus bekämpft.

Zusätzlich sind es die enormen Gesundheitskosten, die eine Extrahürde darstellen. Arbeiter:innen sind hiervon im Allgemeinen betroffen, doch Frauen und queere Menschen im Besonderen. Durch die ökonomische Diskriminierung und gesellschaftliche Marginalisierung gepaart mit einer fundamentalistischen Ablehnung, die in den USA besonders stark ist, ist ihre ökonomische Beschränktheit in den USA noch viel stärker ausgeprägt als in anderen imperialistischen Ländern, z. B. in Europa.

Wer sind denn nun die Träger:innen an der Basis?

Jede dumme Idee braucht noch „Dümmere“, die sie tatsächlich umsetzen. Oder besser gesagt diejenigen, die das Leben für Frauen jetzt immer weiter zur Hölle machen, sind die radikalen Bauernopfer einer populistischen, letztlich nicht minder kapitalistischen Politik.

Sicherlich gibt es auch den Typ „klassischer“ Frauenschläger, der seinen Frust an ihnen rundum auslässt und, ohne groß darüber nachzudenken, sexistische Sprüche klopft. Allerdings hat es in den letzten Jahren einen weltweiten Backlash gegeben, der zu einer starken Politisierung des Frauenhasses geführt hat. Sicherlich ist geschlechtliche Diskriminierung der Frau dem Kapitalismus inhärent. Das hängt, wie Engels es einst beschrieb, mit patriarchalen Strukturen und der bürgerlichen Familie zusammen. Derzeit jedoch spitzt sich dieses Phänomen zu und wird unter dem Sammelbegriff „Antifeminismus“ gefasst. Hierbei geht es nicht nur gegen Vertreter:innen einer bürgerlichen oder radikal-kleinbürgerlichen Frauenbewegung, sondern gegen sämtliche Errungenschaften der Frauenrechte und Frauen per se.

Die Erosion und Krise der bürgerlichen Kernfamilie – selbst Resultat der Entwicklung des Kapitalismus – unterminiert natürlich auch die scheinbar natürliche Vorherrschaft des (weißen) Mannes. Ideologisch wird dieser Zusammenhang gleich mehrfach auf den Kopf gestellt. Erstens wird die bürgerliche Kleinfamilie selbst als überhistorisches Phänomen idealisiert. Damit werden auch gleich die Stellung des Mannes, die reaktionären Geschlechterrollen und binäre Geschlechtsidentitäten naturalisiert. Zweitens wird daraus gefolgt, dass jeder „Angriff“, jede Reform im Interesse von Frauen, trans Personen, aber im Grunde auch aller unterdrückten Klassen ein Anschlag auf eine natürliche Ordnung wäre, an deren Spitze der weiße Cismann stünde. Auch wenn dieser im globalen Kapitalismus gegenüber den wirklich Herrschenden nicht viel zu melden hat, so kann er wenigstens noch „privat“ nach unten treten.

Gruppierungen des radikalen Antifeminismus

Diese ohnmächtige, aber umso rabiatere und brutalere Wut zeigen auch die Hauptströmungen dieses Antifeminismus in den USA: Extreme Rechte, religiöse Fundamentalist:innen und Incels. Als rechte Populist:innen bis hin zu Faschist:innen sind erstere die radikalste Ausprägung des Kleinbürger:innentums. Eine Schicht, die ständig in der Angst lebt abzurutschen, in der Konkurrenz an die Wand gedrückt zu werden, zugleich aber besonders starr am Privateigentum klebt. Die dazugehörige Ideologie ist dementsprechend radikal frauenfeindlich, gepaart mit einer rassistischen und völkischen Konnotation.

Dabei wird die „Marginalisierung“ und angebliche „Diskriminierung“ der weißen Bevölkerung durch Afroamerikaner:innen, Latinas und Menschen aus Asien herbeiphantasiert. Dies fällt in den USA aufgrund der Sklaverei und Migration auf fruchtbaren Boden, wobei die Geschichte der weißen europäischen Kolonisation ausgeblendet wird. Die rassistische Vorstellung des „großen Austausches“, die sich vor allem gegen Muslime/a richtet – bildet das „europäische“ Gegenstück zu den Vorstellungen der US-Rechten.

Damit erscheinen Antidiskriminierungsgesetze in den USA als Mittel zur Zurückdrängung der „weißen Rasse“. Wie wirkmächtig diese Vorstellung mittlerweile ist, zeigen die jüngsten Urteile des Obersten Gerichts in den USA.

Eine andere radikale, männliche Ausprägung sind sog. Incels (ungewollt zölibatär lebende Männer), die sich in den letzten Jahren u. a. in Internetforen radikalisiert haben. Sie sehen es als ihr Recht an, Sex mit Frauen zu haben, inszenieren sich als Opfer von Frauenrechten und schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Attentate wie das in Atlanta haben das gezeigt. Auch der Trend hin zu Femiziden und die Glorifizierung von sog. „Pickup-Artists“ macht das (Über-)Leben von Frauen und Queers immer schwieriger.

Diese Entwicklungen verbinden sich mit dem wachsenden Einfluss von fundamentalistischen evangelikalen Gruppierungen. Ideologisch begründen sie ihren reaktionären Wahn mit einer biblisch vorgeschriebenen Unterordnung der Frau und faseln vom „Schutz ungeborenen Lebens“. Der Einfluss dieser Gruppe in den USA ist viel zu groß, als dass man sie unterschätzen könnte. An ihnen hängen Kapital und Infrastruktur vom Krankenhaus bis zur Universität und enormer politischer Einfluss.

Das Thema Abtreibung zeichnet in diesen Kreisen eine besonders bittere Note. Von jungen Menschen bzw. allen, die unverheiratet sind, wird oft erwartet, keusch bis zur Ehe zu leben. Gelingt das doch nicht, muss vorher muss geheiratet werden, um den Schein aufrechtzuerhalten. Doch auch ohne dass bereits ein Kind unterwegs ist, ist Sex ein Grund zur Heirat. Kein Wunder also, dass die Menschen früh heiraten und das, ohne wahrscheinlich je aufgeklärt worden zu sein über konsensualen Sex.

Nicht in allen US-Staaten gilt eine Altersgrenze fürs Heiraten. So ist es möglich, dass Mädchen mit Einwilligung der Eltern bereits verheiratet werden. UNICEF hat zwischen 2000 und 2015 mindestens 200.000 Kinderehen in den USA gezählt. Noch schlimmer für die Mädchen ist, dass Gesundheitsrechte in fundamentalistischen Kreisen oft noch eingeschränkter sind oder ihnen ganz verwehrt werden. Der Einfluss der evangelikalen Gruppierungen ist besonders stark im sog. Bible Belt, dessen Kern die ehemaligen Südstaaten bilden.

Der Sturm auf das Kapitol 2021 hat gezeigt, wie präsent, laut und gewaltbereit die US-amerikanische Rechte ist, wie gut vernetzt und wie breit ihr Spektrum. Es ist wahrscheinlich schwer auszumachen, wer genau zu welcher dieser drei Hauptgruppen gehört, da die Überschneidung der Ideologie zu einer Mainstreambewegung geführt hat, v. a. in den USA.

Warum es erstmal schlimmer wird, bevor es vielleicht besser werden kann

Der bürgerliche Liberalismus und die Demokratische Partei Bidens wollen die bürgerliche Familie durch Reform „modernisieren“ und geben sich so als Verteidiger:innen der Frauenrechte, ohne jedoch die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Unterdrückung anzutasten.

Die US-amerikanische Rechte will hingegen das Rad der Geschichte zurückdrehen. Der Kampf gegen das Recht auf Abtreibung und andere Frauenrechte erscheint als „Kulturkampf“, hinter dem sich ein Erzwingungs- und Überlebenskampf des Patriarchats in extremer Ausprägung verbirgt.

Erzwingung insofern, als es den radikalsten Männern schon lange egal ist, ob eine Frau wirklich Interesse an ihnen zeigt oder nicht. Desinteresse wird als Niederlage angesehen – eine, die der weiße Cismann nicht ertragen kann und die es daher eigentlich gar nicht gibt. Kein Wunder also, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur weit verbreitet ist, sondern diese auch zunehmend – in Deutschland jüngst von einem Drittel der befragten Männer – gerechtfertigt wird.

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung wird gleichzeitig zum Überlebenskampf von Frauen. Es geht um Selbstbestimmung und ihren Platz in der Gesellschaft. Der Kampf um Abtreibung bildet dabei auch einen zur Verteidigung bzw. Rückeroberung weiblicher Selbstbestimmung.

Zum Kampf gegen Angriffe auf Frauenrechte braucht es allerdings eine Massenbewegung von Frauenorganisationen, der LGBTIAQ- und antirassistischen Bewegung, von Linken und Gewerkschaften. Um konservativen, rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international.

  • Schluss mit den Angriffen auf Flintas!

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!

  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung!

  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!

  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



5 Gründe, warum wir als Marxist:innen gegen das nordische Modell sind

Leonie Schmidt, Neue Internationale 274, Juni 2023

Nach wie vor ist es eine relevante Diskussion in der feministischen und linken Bubble, wie zum Sexkauf und zu Sexarbeit gestanden wird und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Dominierend sind hierbei einerseits ein Spektrum, was Sexarbeit als Arbeit wie jede andere hinstellt und von selbstbestimmten Dienstleister:innen ausgeht, welche größtenteils keine Gewalterfahrungen während ihrer Tätigkeit erleben, wohingegen auf der anderen Seite Stimmen laut werden, die alle Sexarbeiter:innen zu Opfern stigmatisieren, die wenn sie nicht direkt oder indirekt (bspw. durch Armut oder Drogensucht) gezwungen sein sollten, lediglich versuchen würden, ihre Traumata zu verarbeiten. Diese Argumentation basiert u. a. auf diversen Studien von Melissa Farley, welche den Anschein haben, dass alle Personen in der Prostitution Gewalterfahrungen sowie psychische Probleme erleben. Jedoch ist die Stichprobe von Farley höchst umstritten, da sie ihre Interviewpartner:innen teilweise aus Aussteigerprogrammen bezieht (u. a. Farley 2004). Dass die Personen, die sowieso aufhören wollen, von den schrecklichen Zuständen berichten, die ihnen wiederfahren sind, ist logisch, lässt aber keinen Allgemeinschluss zu. Die Personen, die dennoch Farleys Argumentation folgen, repräsentieren oft radikalfeministische und bzw. oder kleinbürgerliche Tendenzen und fordern auch in Deutschland eine Regelung nach dem „nordischen Modell“.

Einige grundlegende Annahmen

Bevor wir uns dies näher anschauen, wollen wir einige Sachen kurz darstellen, die für die Auseinandersetzung mit diesem relevant sind. Wir wollen in diesem Text differenzieren zwischen Prostitution und Zwangsprostitution, da das für uns nicht dasselbe ist. Prostitution verstehen wir als den einvernehmlichen Verkauf direkter, zwischenmenschlicher sexueller Dienstleistungen, während das für Zwangsprostitution nicht gilt, denn diese ist nicht einvernehmlich. Diese klare Trennung kann aber nicht in jedem Fall getroffen werden, da Zwangsverhältnisse nicht nur durch physischen Zwang, sondern auch durch ökonomische Abhängigkeiten und Armut entstehen können.

Demnach verstehen wir Sexarbeit in einem ökonomischen Sinne jedoch als Arbeit, in jenem Sinne, dass nicht der Körper, sondern eine Ware in Form einer Dienstleistung „produziert“ wird, wofür die Ware Arbeitskraft notwendig ist, wenn die Dienstleistung in einem Lohnarbeitsverhältnis stattfindet. Dies passiert in einem abgesteckten Rahmen, in welchem eine zeitliche Begrenzung und eine der Praktiken festgelegt wird. Voraussetzung dafür, dass eine sexuelle Dienstleistung verkauft wird, ist also Konsens, mit anderen Worten: Konsens kann nicht gekauft werden. Wenngleich die Optik der Sexarbeiter:innen eine Rolle in ihrer Tätigkeit spielt, so gilt das ebenso für andere Dienstleistungsberufe wie bpsw. Models oder Schauspieler:innen, doch auch diese verkaufen nicht ihren Körper, wenngleich dieser ein Teil der Produktion der Dienstleistung ist. Sind die Sexarbeitenden angestellt oder scheinselbstständig, streicht sich ein/e Kapitalist:in bspw. als Bordellbetreiber:in oder Zuhälter den Mehrwert ihrer Arbeit ein, besitzt die Produktionsmittel (bspw. Räumlichkeiten, Verhütungsmittel etc.) und bestimmt die Arbeitsbedingungen. Insofern kann Sexarbeit als Lohnarbeit angesehen werden. Das soll nicht verharmlosen, dass es während dieser Tätigkeiten nicht selten zu Gewalt und Übergriffen kommt und das auch in einer patriarchalen Klassengesellschaft keine Seltenheit ist, sondern betonen, dass Konsens lediglich die Möglichkeit eröffnet, dass Sexarbeitende selbstbestimmt für ihre Arbeitsrechte eintreten können, insofern sie sich in keinem Zwangsverhältnis befinden und sich genau gegen diese Gewalt und schlechten Arbeitsbedingungen organisieren können. Das bedeutet außerdem, dass Sexarbeit nicht der Grund für die Unterdrückung von Frauen und queeren Personen ist, sondern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion im Kapitalismus sowie das daraus resultierende Ideal der bürgerlichen Familie und der damit einhergehenden Geschlechterrollen.

Natürlich dürfen nicht die Augen davor verschlossen werden, dass es auch bessergestellte Sexarbeitende gibt, welche ohne Zuhälter:in selbstständig agieren und mehr Freiheiten bzgl. der Arbeitsbedingungen und Gestaltung der Dienstleistung genießen. Diese sind auch oft im öffentlichen Diskurs zu finden und propagieren Sexarbeit als etwas per se Ermächtigendes. Sie machen allerdings nur einen sehr geringen Teil der Sexarbeitenden aus und somit kann man von deren Sichtweisen und Erfahrungen nicht auf die Gesamtheit schließen.

Genauso gibt es auch Personen, die sich in Zwangsverhältnissen befinden. Wie stark sie vertreten sind, ist schwer auszumachen, denn sie befinden sich unter dem Radar. Zwangsprostitution und Menschenhandel stellen klar Verbrechen und Vergewaltigungen dar und sind oft mit Sklaverei vergleichbar. Zwangsprostitution ist grundsätzlich abzulehnen und zu bekämpfen, dies steht nicht zur Diskussion. Aber nur weil imperialistische Mächte bis ins 19. Jahrhundert Sklav:innen auf Baumwollplantagen quälten, ist es keine logische Schlussfolgerung, die Forderung nach einem Verbot der Arbeit auf Baumwollplantagen aufzustellen.

Was ist überhaupt das „nordische Modell“?

Das „nordische Modell“ wurde erstmals in Schweden in den 1990er Jahren eingeführt und besteht grob gesagt aus 3 Säulen, welche aber von Land zu Land variieren können: Entkriminalisierung der Sexarbeitenden, Kriminalisierung der Sexkäufer und Zuhälter, Förderung und Finanzierung von Ausstiegshilfen. Aktiv sind verschiedene Formen des „nordischen Modells“ neben Schweden unter anderem auch in Norwegen, Frankreich, Irland, Island, Israel und Kanada. Eingeführt werden diese Gesetze auf Basis einer feministisch-humanistischen Grundlage, die davon ausgeht, dass die Nachfrage sinken wird, sobald der Sexkauf selbst unter Strafe steht, und somit die Sexarbeiter:innen von alleine nach anderen Berufen suchen, dass das gesellschaftliche Stigma rund um Sexkauf förderlich ist, um Freier abzuschrecken und Männer umzuerziehen, und Sexkauf in jedem Fall Gewalt bzw. eine Vergewaltigung darstellt. Außerdem soll so Menschenhandel in den Griff bekommen werden. Dadurch, dass das „nordische Modell“ bereits in Kraft getreten ist, gibt es eine Datengrundlage, um dieses auszuwerten. Allerdings lassen diese Daten viel Raum für Interpretation und werden ganz unterschiedlich ausgelegt, von Befürworter:innen des „nordischen Modells“ anders als von Leuten, die dieses ablehnen.

1. Das Sexkaufverbot reduziert nicht die Anzahl der Sexarbeiter:innen

Ein erklärtes Ziel durch die Kriminalisierung der Sexkäufer ist, durch eine gesunkenen Nachfrage auch das Angebot zu senken. Und so scheint es auch in mehren Fällen zu funktionieren: In Schweden und Nordirland sank die Anzahl der Straßenprostituierten nach der Einführung eines Sexkaufverbots. Allerdings sank nicht die Gesamtanzahl der Prostituierten, sondern es gab eher eine Verschiebung: in Nordirland bspw. in den Onlinebereich (Ellison et al. 2019) und in Schweden kam es nach einem kurzen Abfall auch wieder zu einem Anstieg in der Straßenprostitution und diese dürfte mindestens wieder auf demselben Niveau erfolgen wie vor der Installation des Gesetzes (Global Network of Sex Work Projects 2015). Zudem macht in Schweden die Straßenprostitution sowieso nur einen sehr geringen Teil der Branche aus (ebenda).

Die Idee, Dinge würden durch Verbote verschwinden, ist aber so oder so von vorne bis hinten ein Fehlschluss, wie man bspw. auch beim Verbot von Drogen oder Alkohol sehen kann, denn konsumiert wird trotzdem, nur eben viel unsicherer als vorher. Denn durch ein Sexkaufverbot werden eben nicht die Strukturen, die zur Prostitution führen, ausgehebelt. Das sind zum einen die ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus, die dafür sorgen, dass ein Lebensunterhalt erworben werden muss, und zum anderen das Patriachat, welches überhaupt erst für die gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution sorgt, verankern. Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung des Patriachats mit ein. Hier wird klar, dass dieses genau wie die bürgerliche Familie untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels bilden bürgerliche Familie und Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw. Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht. Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Geburten und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht. Das manifestiert sich auch in der widersprüchlichen bürgerlichen Sexualmoral und dem Madonna-Whore-Komplex, in welchem eine reine Ehefrau für das öffentliche Ansehen  einer perversen und zügellosen Prostituierten für das Ausleben der gesellschaftlich geächteten Fantasie gegenüberstehen. Solange also Kapitalismus und Patriachat bestehen bleiben, wird es auch eine Nachfrage nach Sexkauf geben.

2. Das Sexkaufverbot ist nicht hilfreich gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel

Eigentlich soll das Sexkaufverbot gegen Zwang, Gewalt und Menschenhandel vorgehen, aber wie die Beispiele Irland und Island zeigen, könnte eher das Gegenteil der Fall sein. Irland war vor der Einführung des Sexkaufverbots auf der bestmöglichen Stufe hinsichtlich Bekämpfung gegen Menschenhandel nach Einordnung des US-Außenministeriums, fiel aber um zwei Stufen zurück ebenso wie Island nach der Einführung des Sexkaufverbots (United States Department of State 2017 und United States Department of State 2020). Eigentlich liegt es auf der Hand: durch die Kriminalisierung wird Sexarbeit in den Untergrund gedrängt, wo zwielichtige Gestalten das Sagen haben und Zwangsverhältnisse an der Tagesordnung sind, was ebenso Menschenhandel fördern dürfte.

Wenn wir uns die Praxis anschauen, ist noch deutlicher, wie wenig hilfreich das „nordische Modell“ beim Kampf gegen Menschenhandel ist. Natürlich sind so die Hürden für Sexkäufer größer, Missstände zu melden, da sie eine Bestrafung fürchten (Global Network of Sex Work Projects 2015), wohingegen in einem entkriminalisierten oder legalisierten Rahmen wie in Italien auch Freier vermutete Zwangsprostitution melden (Krause-Schöne 2014). Interessanterweise wird in Italien auch aus allen politischen Richtungen gefordert, das Verbot von Bordellen wieder aufzuheben, um gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution besser vorgehen zu können (Migge 2018).

Auch die Polizei selber sagt, dass ihre Ressourcen so unnötig gebunden werden, denn wenn es keinen Fokus auf Zwangsprostituierte gibt, werden alle überprüft und es ist eben nicht so leicht nachzuvollziehen, wer das auf Basis von Konsens tut und wer nicht (Krause-Schöne 2014).

An dieser Stelle wollen wir uns natürlich nicht auf die Argumentation der Polizei verlassen genauso wenig, wie wir uns im Kampf gegen sexuelle Gewalt auf sie verlassen können. Denn die Zahlen sprechen Bände: Selbst in den für viele alltäglichen sexistischen gesellschaftlichen Verhältnissen führen Anzeigen sexueller und im allgemeinen patriarchaler Gewalt nicht zu sonderlich hohen Verurteilungen, im Gegenteil: Die Verturteilungsraten in Deutschland sinken sogar (Schwarz 2020). Das mag an der Definition davon liegen, wo diese Strafttatbestände beginnen, aber es liegt ebenso an den Beamt:innen, die die Ermittlungen schleifen lassen oder Betroffene retraumatisieren. Weswegen also sollten wir uns nun drauf verlassen, dass die Polizei auf einmal ihre vermeintliche Rolle als Freund und Helfer ernst nehmen sollte?! Aus unserer Sicht besteht ihre Rolle in bürgerlichen Demokratien darin, die herrschenden Verhältnisse zu schützen. Dazu zählen die kapitalistischen Besitzverhältnisse genauso wie das Patriachat und die Ausbeutung von Arbeiter:innen. Es gibt also keinen Grund zur Annahme, dass sie in dieser Hinsicht einmal auf der richtigen Seite stehen könnte.

3. Das Sexkaufverbot schützt Sexarbeiter:innen nicht gegen Gewalt durch Polizei und Freier und verschlechtert die Arbeitsbedingungen

Polizeigewalt gegen Prostituierte ist somit auch in Ländern, wo Sexkauf verboten ist, keine Seltenheit. Vorkommen können bspw. sexualisierte oder physische Gewalt, willkürliche Arreste, Bestechung, Abnahme von Kondomen, keine Hilfe bei Anzeigenaufnahme, nicht konsensuelle HIV-Tests (Platt et al. 2018). Das führt dazu, dass die Arbeitsumgebung der Sexarbeitenden massiv unsicher wird und sie isoliert werden, weil gemeinschaftliche Unterstützung und Sicherheitsmaßnahmen durch andere Sexarbeitende (das gemeinsame Anmieten einer Wohnung zum Beispiel) oder sogar romantische Beziehungen als Zuhälterei gewertet werden könnten. Des Weiteren gaben 70 % der befragten Sexarbeiter:innen in einer Studie in Frankreich, wo auch ein Sexkaufverbot gilt, an, dass sich ihr Verhältnis zur Polizei entweder verschlechtert habe oder es keine Verbesserung zu vorher gab (Le Bail et al. 2019). Ebenso können 38 % der Sexarbeitenden die Verwendung von Kondomen schlechter durchsetzen (ebenda), was zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, sich HIV oder andere sexuell übertragbare Krankheiten einzufangen, führen kann (Platt et al. 2018).

Des Weiteren wird das Screening der potentiellen Sexkäufer durch das „nordische Modell“ massiv erschwert (Global Networkt of Sex Work Projects 2015), was dazu führt, dass zwielichtige Kunden nicht einfach so aussortiert werden können. Gleichfalls sanken die Preise und Sexarbeitende sehen sich gezwungen, Kunden zu bedienen, die sie unangenehm finden, und Praktiken außerhalb ihrer Grenzen durchzuführen aufgrund der erhöhten Konkurrenzsituation (ebenda). Wir können also sehen: Selbst wenn offiziell die Sexarbeitenden nicht Opfer des „nordischen Modells“ sein sollen, so sind sie es doch am Ende, auf deren Rücken bürgerliche Moralvorstellungen verhandelt werden und deren Leben zusätzlich erschwert wird. Deswegen setzen wir uns für eine gewerkschaftliche Organisierung der Sexarbeiter:innen ein, wie es auch mancherorts in der Gewerkschaft ver.di der Fall ist. So kann ein selbstbestimmter Kampf für bessere Arbeitsbedingungen (gegen Lohndumping durch festgeschriebene, angemessene Entlohnung der Arbeit, bestimmt durch die Arbeiter:innen selbst) inklusive Schutzmaßnahmen (bspw. in Form von Selbstverteidigungskomitees) geführt werden.

4. Die Ausstiegsangebote richten sich nicht nach den realen Bedürfnissen der Sexarbeiter:innen

Eine Sache, die immer wieder von Befürworter:innen betont wird, ist, wie toll doch die Ausstiegsangebote als eine der Säulen des „nordischen Modells“ sind. Doch schaut man sich diese genauer an, wird man schnell feststellen, dass diese alles andere als wirksam sind. So sind Zugänge zu den Angeboten in Schweden einerseits dadurch erschwert, dass an ihnen nur teilnehmen kann, wer sofort mit der Prostitution aufhört. Das ist offensichtlich unrealistisch, weil es für viele aus finanziellen Gründen nicht unmittelbar möglich ist. Außerdem gilt die Möglichkeit in Schweden lediglich nur für Staatsbürger:innen, wohingegen Personen mit Migrationshintergrund statt Hilfsangeboten eben mal die Abschiebung droht (Vuolajärvi 2019). Das führt sogar zu einer Praxis, in welcher Polizeibeamt:innen mit Absicht nach nicht-schwedischen Personen suchen, um diese leichter abschieben zu können (ebenda). Das „nordische Modell“ wird an dieser Stelle also völlig zweckentfremdet und offenbart auch hier wieder die eigentlichen Interessen von Polizei und herrschender Klasse. Auch in Frankreich sind die Ausstiegsangebote alles andere als beliebt: Teilweise nahmen weniger als 100 Personen an den Programmen teil (Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen 2021).

5. Das Sexkaufverbot verschiebt das Problem

Wie bereits dargestellt, verschiebt das Sexkaufverbot die Tätigkeit in die Illegalität und liefert somit die Sexarbeitenden dubiosen Freiern und Zuhältern schutzlos aus und erschwert den Zusammenschluss von Sexarbeitenden, um kollektiv für ihre Rechte einzutreten, massiv. Aber das Problem wird nicht nur innerhalb der Länder verschoben, sondern das „nordische Modell“ fördert auch Sextourismus in zumeist halbkoloniale Länder, wo die Arbeitsbedingungen viel eher sklavenartig sind und es fast ausschließlich Zwangsprostitution gibt. Denn die Freier verlieren nicht auf einmal ihre Nachfrage nach gekauftem Sex, nur weil er auf einmal verboten ist, und fahren lieber in den Urlaub, um dort ihren Bedürfnissen nachzugehen.

Das „nordische Modell“ ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Fazit: Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als Marxist:innen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit Sexarbeiter:innen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die Sexarbeiter:innen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für Arbeiter:innenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und sie sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von Marxist:innen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher Sexarbeiter:innen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.

Literaturverzeichnis

Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen. (2021): Stellungnahme zum Antrag „Nein! Zum Sexkaufverbot des Nordischen Modells“ der Fraktionen der CDU und FDP in NRW. https://berufsverbandsexarbeit.de/wp-content/uploads/2021/01/210114_Stellungnahme-desBesD-zu-No-Nordic-Model-NRW.pdf; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Ellison, G., Ní Dhónaill, C., & Early, E. (2019): A Review of the Criminalisation of the Payment for Sexual Services in Northern Ireland; http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3456633 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Farley, M. (2004): Prostitution and trafficking in nine countries: Update on violence and posttraumatic stress disorder; Journal of Trauma Practice, 2(3-4), 33-74

Global Network of Sex Work Projects (2015): The Real Impact of the Swedish Model on Sex Workers; https://www.nswp.org/sites/nswp.org/files/Swedish%20Model%20Advocacy%20Toolkit%20Community%20Guide%2C%20NSWP%20-%20November%202015.pdf (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Krause-Schön, E. (2014): Das sind häufig sehr junge Mädchen; TAZ, 17.6.2014, S. 5; https://taz.de/Das-sind-haeufig-sehr-junge-Maedchen/!338223/? (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Le Bail, H., Giametta, C., & Rassouw, N. (2019): What do sex workers think about the French Prostitution Act? A Study on the Impact of the Law from 13 April 2016 Against the „Prostitution System“ in France [Research Report]; Médecins du Monde, pp. 96;  http://hal.archives-ouvertes.fr/hal-02115877f (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Migge, T. (2018): Prostitution in Italien: Katholiken für Bordelle; Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/prostitution-in-italien-katholiken-fuer-bordelle-100.html#:~:text=Seit%2060%20Jahren%20gibt%20es,ausgenutzt%20werden%2C%20etwa%20durch%20Zuh%C3%A4lter. (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Platt, L., Grenfell, P., Meiksin, R., Elmes, J., Sherman, S. G., Sanders, T., Mwangi, P., Crago, A. L. (2018): Associations between sex work laws and sex workers’ health: A systematic review and meta-analysis of quantitative and qualitative studies; PLOS Medicine, 15(12), e1002680; https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1002680 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Schwarz, C. (2020): Sexualisierte Gewalt in Deutschland: Kaum Verurteilungen von Tätern; TAZ;  https://taz.de/Sexualisierte-Gewalt-in-Deutschland/!5727344/ (zuletzt aufgerufen 31.5.23)

United States Department of State. (2017): Trafficking in Persons Report; https://www.state.gov/reports/2017-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

United States Department of State. (2020): Trafficking in Persons Report;  https://www.state.gov/reports/2020-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Vuolajärvi, N. (2019): Governing in the Name of Caring—the Nordic Model of Prostitution and its Punitive Consequences for Migrants Who Sell Sex; Sexuality Research & Social Policy Journal of NSRC, 16(2), 151-165; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)