Schluss mit prekärer Hauspflege!

Jürgen Roth, Infomail 1146, 15. April 2021

Schätzungen ergeben, dass in der Bundesrepublik jährlich zwischen 200.000 und 70.000 sogenannte Live-in-Betreuungskräfte in der Hauspflege arbeiten. Sie begleiten die hilfsbedürftigen Alten im Alltag, waschen sie, kaufen ein, kochen und leisten ihnen Gesellschaft. Es sind fast ausnahmslos Frauen, v. a. aus Polen. Viele haben erwachsene Kinder oder sind selbst Seniorinnen. Die meisten sind Quereinsteigerinnen ohne pflegerische oder medizinische Ausbildung.

Im Vergleich zum während der 1. Welle der Coronapandemie als systemrelevant gefeierten Krankenhaussektor und sogar zur ambulanten wie stationären Altenpflege, deren Relevanz sich weder in den Arbeitsbedingungen noch im Lohn niederschlägt, sind die Arbeitsverhältnisse in den Familien nochmals deutlich prekärer.

Vertragsarbeit

Die meisten mittel- und osteuropäischen Betreuungskräfte kommen über sogenannte Dienstleistungsverträge nach Deutschland, auch oft als „Müllverträge“ bezeichnet. Unternehmen können damit nämlich Renten- und Urlaubsansprüche umgehen. Eine polnische Agentur akquiriert einheimische Betreuungskräfte, während eine Partneragentur in der BRD einen Vertrag mit der Familie abschließt. Die PflegerInnen werden für eine bestimmte Zeit entsandt, bekommen am Monatsende rund 1.500 Euro Lohn, während die Familien oft das Doppelte bezahlen. Sozialabgaben werden in Polen gezahlt. Diese Art Verträge beschränkt sich nicht nur auf die Hauspflege. Das Statistische Amt der Europäischen Union schätzt, dass 2017 rund 27 % aller polnischen ArbeiterInnen in der EU über solche Werkverträge angestellt waren.

Das DGB-Netzwerk „Faire Mobilität“ berichtet, dass oft ein niedrigeres Gehalt angegeben wird als das tatsächlich ausgezahlte. Der Rest wird als Zulagen und Spesen für Fahrtkosten bzw. Verpflegung ausgewiesen, die nicht sozialversicherungspflichtig sind. Berüchtigt sind auch die Vertragsstrafen. Wer eine Vorerkrankung verschweigt und im Krankenhaus behandelt wird, muss die Behandlung selbst zahlen und bekommt oft noch eine Strafzahlung von ca. einem vollen Monatslohn auferlegt. Diese hohen Vertragsstrafen sollen zudem verhindern, dass Betreuungskräfte gegen schlechte Arbeitsbedingungen aufbegehren.

Arbeitszeit

Laut Arbeitszeitgesetz darf die Arbeitswoche auch für HauspflegerInnen 48 Stunden nicht überschreiten. Eine Mindestruhezeit von 11 Stunden zwischen 2 Arbeitstagen ist ebenso Pflicht, wie es ausreichende Pausenzeiten sind. Doch da das deutsche Arbeitsrecht das Zusammenleben und -arbeiten von Menschen im Haushalt nicht regelt, stellt sich die Frage: Was gilt als Arbeitszeit z. B. bei gemeinsamen Mahlzeiten? In Einzelfällen bekommen die BetreuerInnen vor deutschen Arbeitsgerichten sogar Recht: so eine Bulgarin, die statt der vereinbarten 30 Wochenstunden rund um die Uhr für eine Seniorin zur Verfügung stehen musste. Interessanterweise wurde das Urteil sowohl von „Faire Mobilität“, sprich der Arbeit„nehmer“Innenseite, als auch vom Geschäftsführer des Verbands für häusliche Betreuung und Pflege e.V., Frederic Seebohm, begrüßt.

Letzterer verwies darauf, dass eine pflegerische Tätigkeit nicht mit den üblichen Arbeitszeiten zu bewältigen sei. Wenn jede Stunde, die eine Betreuungskraft für die Versorgung der pflegebedürftigen Person zur Verfügung stünde, mit dem Mindestlohn bezahlt würde, bräche die Branche zusammen und Mittelstandhaushalte könnten sich dann auch keine 2 oder 3 Live-ins mehr leisten. Diese Aussage ist doppelt bedeutsam. Erstens zeigt sie, wie weit auf Seiten mancher Arbeit„geber“Innen die Sozialpartnerschaft reicht. Zweitens wird deutlich, dass Entlohnung und Arbeitsbedingungen umso prekärer werden, je näher sie in der unmittelbaren menschlichen Reproduktion lokalisiert sind, die der Kapitalismus der heiligen Familie als Institution des „Privatlebens“ überlässt, die seine Vorstellung von Gesellschaft nichts angeht.

Letztlich sind Seebohms Aussagen nichts anderes als eine stellvertretende Rechtfertigung der sexistischen und rassistischen Arbeitsteilung im Kapitalismus, die in der billigen Auslagerung der Pflege an osteuropäische Frauen ihren zugespitzten Ausdruck findet.

Alternativen?

Mittlerweile gibt es auch in Polen eine Gewerkschaft, die sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen polnischer Beschäftigter in Deutschland einsetzt, die „Alternatywa“. Ihre Mitbegründerin, Izabela Marcinek, beklagt zwar auch, dass nicht alle Frauen für diese Arbeit geeignet seien, dies nur für Geld täten, kein Interesse an alten Menschen hätten und zuweilen trinken und stehlen würden. Während also auch sie in die Klage einfällt, nicht ausreichend geeignete Betreuungskräfte zu finden, sieht sie jedoch zu Recht die Ursachen dafür in den prekären Arbeitsverhältnissen und appelliert an den polnischen Staat, die Dienstleistungsverträge abzuschaffen: „Viele Frauen denken: ,Wenn die Agentur mich nicht schützt, muss ich es selbst tun.’ Sie verlieren das Herz für die Arbeit.“

Das „Neue Deutschland“ (ND, 10./11. Oktober 2019, S. 12/13) nennt zwei Alternativen. Zum einen sei das „Selbstständigenmodell“, sprich die Anmeldung eines Gewerbes, in Deutschland bisher kaum genutzt. Österreich formalisierte 2007 die häusliche Betreuung als dritte Säule neben der ambulanten und stationären Altenpflege. Die staatliche Bezuschussung der BetreuerInnen und ein Anschluss an die professionelle ambulante Pflege sei so möglich. Seebohm findet dieses System ideal, handelt es sich doch um eine weitere Form prekarisierter Beschäftigung, um Scheinselbstständigkeit, um die „Ich-AG“ – und das spart allemal Sozialabgaben. WissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen wenden dagegen ein, dass zentrale Merkmale der Selbstständigkeit – keine Weisungsgebundenheit und freie Zeiteinteilung –  in der Praxis häuslicher Betreuung nicht einhaltbar seien.

„Faire Mobilität“ bevorzugt daher das „Arbeitgebermodell“. Die Familie ist hier Chefin und erteilt Weisungen. Die Live-in-Kraft erhält einen deutschen Arbeitsvertrag und Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Jahresurlaub. Angewandt wird ein solches Modell selten (z. B. bei der Caritas in Paderborn). Häufig müssen die Familien offenlegen, wie sie ihre/n pflegebedürftige/n Angehörige/n unterstützen, um zu zeigen, dass die Arbeitszeit der/s Live-in-Beschäftigten zumindest theoretisch einzuhalten ist; z. B. mit ambulanten Pflegediensten oder Eigenleistungen. Jede Entlastung der angestellten Person bringt jedoch eine zusätzliche finanzielle Belastung für die Familien mit sich, will sie das Einhalten der Arbeitszeit der/s BetreuerIn gewährleisten. Seebohm kritisiert – diesmal zu Recht –, mit diesem Beschäftigungsverhältnis seien alle Unsicherheiten auf die Angehörigen abgewälzt.

Vergeschlechtlichung und Ethnisierung

Die Soziologin mit Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Uni Frankfurt/M., Ewa Palenga-Möllenbeck, beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit die Frauen in der Hauspflege selber zur Ethnisierung und Vergeschlechtlichung ihrer Tätigkeit beitragen. Polnischen Frauen werde von deutscher Seite Pragmatismus und Warmherzigkeit zugeschrieben, doch das beruhe auf Gegenseitigkeit. Viele seien stolz darauf, es besser als deutsche Pflegekräfte und  Familienmitglieder zu machen und dies werte ihre prekäre Beschäftigung moralisch auf. Die nicht nur unterirdisch entlohnte, sondern auch emotional und psychisch belastende Arbeit würde von keiner deutschen Arbeitskraft geschultert. Diese „moral economy of care“, wie es auf soziologischem Neudeutsch heißt, nütze jenen Frauen, die Arbeit mache für sie Sinn, deshalb würden sie aufopferungsvoll alles geben. Damit stünden sie nicht nur die damit verbundene Bürde psychisch durch, sondern würden auch ihren Stolz, ihre eigene Marke als ausländische Arbeitskraft stärken.

In Bezug auf die Geschlechterrollen in den Familien in Polen oder der Ukraine merkt die Soziologin an, dass eine Frau, welche zuvor der Erwerbsarbeit nachging, die klassische Hausfrauenrolle dann ausfülle, wenn der Mann die klassische Brötchenverdienerrolle spielen könne. Ginge sie ins Ausland, kümmerten sich oft Nachbarinnen und Familienmitglieder, v. a. Großmütter, nicht die Männer um Familie und Kinder. Polnische Frauen teilen sich überdies häufig eine bezahlte Pflegestelle: kehre die Mutter zurück, übernehme sie von der Oma die Sorgearbeit im Haus und diese trete ihre Nachfolge im Ausland an.

Man muss Palenga-Möllenbeck dankbar sein für die detaillierten und tiefen Einblicke in die alltägliche Realität dieser besonderen Art Altenpflege, die oft im Graubereich des Legalen operiert. Die Wissenschaftlerin hält sich zudem wohltuend mit einer moralischen Wertung über Einstellungen und Gefühle der betroffenen Frauen zurück. Es ist der stumme Zwang der barbarischen kapitalistischen Verhältnisse, der sie nach letztlich billigem Trost suchen lässt. Es steht uns nicht an, das einfach und bloß moralisch zu verurteilen. Doch bei allem Verständnis dürfen wir ähnlich wie bei Ross und ReiterIn, die in die gleiche Richtung gehen, nicht vergessen, wer kommandiert – die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse – und wer gehorcht – ihre prekär ausgebeuteten Opfer!

Palenga-Möllenbeck fordert grundsätzliche Arbeit„nehmer“Innenrechte, regulierte Arbeitszeit, angemessene Bezahlung, systematische Lohnfortzahlung bei Krankheit und die Garantie, dass die Live-in-Pflegekräfte nicht pausenlos allein bereitstehen müssen, sondern auch andere Formen der Unterstützung einbezogen werden, etwa professionelle Pflegedienste oder teilstationäre Aufenthalte.

So weit, so gewerkschaftsnah und gut! Doch weiter: „Man läuft allerdings Gefahr, dass in so einem ,Pflegemix’ die weniger formalisierte, vergeschlechtlichte, ethnisierte Arbeit der Migrantinnen durch die professionelle Ergänzung weiter abgewertet wird. (…) Diese Arbeit komplett abzuschaffen, kommt mir gegenüber den betreuenden Pflegekräften aber bevormundend vor.“ (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1142884.altenpflege-osteuropaeisch-weiblich-aelter-und-aufopfernd.html)

Hier liegt der Hase im Pfeffer! Weil sich die Soziologin diese Arbeit schlicht nur als informelle vorstellen kann, weil die für den Pflegebereich zuständigen Gewerkschaften keine besseren Alternativen vorzuweisen haben als das „Arbeitgebermodell“ mit seinen Folgen für die Retraditionalisierung der Geschlechterrollen in den deutschen Familien, verfügen sie nicht über den Schlüssel, der ihnen im ersten Schritt die Tür zum Normalarbeitsverhältnis in der gesamten Branche öffnet. Diesen Schlüssel muss man sowohl den „SozialpartnerInnen“ wie dem bürgerlichen Staat entreißen! Die Methode nennt man übrigens Klassenkampf.

Alternativen!

Die vollständige Gleichstellung dieses weiblichen und rassistisch unterdrückten Prekariats mit allen anderen, tariflich gesicherten Lohnarbeitsverhältnissen setzt zunächst die finanzielle Stärkung der gesetzlichen Pflegeversicherung voraus. Wir haben unsere Vorstellungen im Artikel Ver.di und die gesetzliche Pflegeversicherung ausführlich dargelegt.

Doch müssen wir auch fordern, dass die Live-in-Pflege als 3. Säule abgeschafft gehört und dass alle Beschäftigten in der Gesundheits- und Altenpflege zu Fachkräften qualifiziert werden, die zwischen Krankenhaus, Altenheim, ambulanten Diensten und Familien rotierend einsetzbar sind. Wie im Gesundheitswesen herrscht gerade in Deutschland auch in der Altenpflege zwischen stationärem und ambulantem Bereich eine fast unüberwindbare Kluft. Diese muss vollkommen überbrückt werden. Die Betreuung bzw. Behandlung sollte so weit wie möglich am Lebensmittelpunkt der zu Betreuenden/PatientInnen erfolgen. Dazu erfordert es zum Beispiel:

  • einen Ausbau der vor- und nachstationären Behandlung/Betreuung z. B. durch tages-, nachtklinische wie beratende Einrichtungen
  • Alten- und Mehrgenerationen-Wohngemeinschaften
  • eine Stärkung der Vorsorge und der Visite der/s behandelnden Hausärztin/-arztes auch im Krankenhaus etc.
  • eine ärztliche Ausbildung, die in allen Bereichen, nicht nur in der Klinik, stattfindet
  • eine professionelle und patientenindividuelle Versorgung durch Apotheken zuhause (Homecare).

Dies alles würde Gesundheitsvorsorge und Pflege nicht nur sicherer machen und näher an die hilfesuchende Person bringen, sondern auch rationeller und volkswirtschaftlich günstiger ausgestalten.

Zudem geben diese Eckpunkte einen Vorgeschmack auf das Leben, das die traditionelle Familie nach und nach ersetzen wird, was wir auf diesem Sektor mit wirklicher Vergesellschaftung, Sozialisierung des gesamten Reproduktionssektors meinen. Im Kommunismus sollte es keinen Unterschied in Aufmerksamkeit, Liebe, Zuneigung und Fürsorge ausmachen, ob man mit Menschen  biologisch und gesetzlich verwandt ist oder nicht. Ohne Einbußen jeglicher Art wird die Gesamtgesellschaft zur neuen wirklich partnerschaftlichen Gemeinsacht werden, wir alle miteinander eng verwandt. Vielleicht enger als mit biologisch oder gesetzlich bestimmten Verwandten, die wir uns nur bedingt aussuchen können …




Vergesellschaftung der Hausarbeit

Ella Mertens, REVOLUTION Österreich, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9

Obwohl Frauen rund 60 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Haus- und Sorgearbeit – Kochen, Putzen, Kinder- und Krankenbetreuung – aufbringen als Männer, werden weder diese Arbeit noch die sie Ausübenden besonders geschätzt. Nicht nur nicht gewürdigt wird die Hausarbeit, sie wird größtenteils nicht einmal als Arbeit wahrgenommen. „Niemand bemerkt sie, es sei denn, sie wird nicht gemacht.“ (Barbara Ehrenreich, 1975)

Dieses Ungleichgewicht in der geschlechtlichen Aufteilung der Hausarbeit geht mit einem Ungleichgewicht in der Aufteilung der bezahlten Arbeit einher: In Deutschland ist rund die Hälfte aller Frauen teilzeitbeschäftigt – unter Müttern ist diese Zahl noch höher. Gleichzeitig arbeiten 88,8 % der Männer ausschließlich in Vollzeit – eventuelle Vaterschaft beeinflusst diese Zahl kaum. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bildet die Grundlage für ein Machtgefälle innerhalb der bürgerlichen Familie: die (Haus-)Frau ist finanziell von ihrem Mann abhängig, während gleichzeitig ein Großteil der Reproduktionsarbeit von ihr verlangt wird.

Die Pandemie hat diese Doppelbelastung nochmal massiv verstärkt. Gleichzeitig gibt es einige Stimmen, die glauben, dass Homeoffice die Situation für Frauen verbessert, da sich diese dann „flexibler“ aussuchen können, wann sie denn die unbezahlte Mehrarbeit erledigen können. An dieser Stelle wollen wir aufzeigen, dass das nur eine Scheinlösung ist und was wirklich hilft, das Problem zu lösen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir klären, warum es überhaupt diese Form der unbezahlten Arbeit gibt.

Was ist Reproduktionsarbeit?

Der Begriff der Reproduktionsarbeit geht auf Karl Marx zurück und bezeichnet die Wiederherstellung der Arbeitskraft (also die Fähigkeit produktive Arbeit zu verrichten), sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen Bereich. Es zählen dazu alle Tätigkeiten, die direkt zum Erhalt des menschlichen Lebens dienen (Waschen, Kochen, Pflegen, Erziehen). Sie kann gegen Lohn oder unbezahlt stattfinden. Die Reproduktionsarbeit stellt in der Regel keine produktive Arbeit für das Kapital dar, weil sie meist keinen Mehrwert generiert (obwohl es auch Unternehmen gibt, wo Reproduktionsarbeit einen Profit für das Kapital schafft wie z. B. bei privaten Krankenhauskonzernen). Produktiv bedeutet hier vor allem die Stellung welche die Arbeit zum Kapital hat und keine moralische Wertung.

Auch wenn die Reproduktionsarbeit in bestimmten Entwicklungsphasen (z. B. Expansion nach dem 2. Weltkrieg) selbst Tendenzen zur Vergesellschaftung unterliegt, so verbleiben wesentliche Teile im privaten Haushalt. Gerade in Krisenperioden wird versucht, diese Arbeiten ins Private zurückzudrängen, wo sie nicht entlohnt werden muss. Das trifft besonders die Tätigkeit, die wir tagtäglich zum Überleben brauchen: jene unsichtbare, selbstverständliche Angelegenheit der Hausarbeit, die mehrheitlich von Frauen verrichtet wird.

Die für den Kapitalismus typische Struktur stellt dabei die bürgerliche Kleinfamilie dar. Dabei erfüllt sie unterschiedliche Aufgaben. So dient sie für die Familien der Arbeiter*innenklasse dazu, die Ware Arbeitskraft zu reproduzieren. Gleichzeitig wird dadurch die geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen reproduziert und an die nächste Generation vermittelt.

Aber was ist mit Kindergärten, Krankenhäusern und Schulen? Ist das nicht widersprüchlich, dass es die gibt, wenn versucht wird, alle Kosten zu sparen? Diese Teile der Care-Arbeit, die gesellschaftlich organisiert werden, resultieren aus Kämpfen der Arbeiter*innenbewegung, verstärkter Nachfrage nach (weiblicher) Lohnarbeit sowie den gestiegenen Anforderungen an die Arbeitskraft. Beispielsweise Schulbildung ist ein Bereich, der (zumindest teilweise) staatlich organisiert wird, u. a. damit die einzelnen Kapitalist*innen nicht die Ausbildungskosten tragen müssen, was einen Konkurrenznachteil gegenüber ihrer Konkurrenz mit sich bringen würde, die ausgebildete Arbeitskräfte einstellt, aber nicht für ihre Ausbildung bezahlt. Deswegen tritt an ihrer Stelle der Staat als ideeller Gesamtkapitalist und trägt die Kosten, welche auch durch Steuern von der Arbeiter*innenklasse eingetrieben werden.

Insgesamt sind diese Care-Bereiche oftmals schlecht bezahlt und unterliegen wie beispielsweise die Arbeit im Krankenhaus dem Druck, profitabel zu wirtschaften. Generell werden Frauen nicht nur in schlechter bezahlter Berufe gedrängt, sondern verdienen auch bei gleicher Arbeit deutlich weniger, was wiederum die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt der Arbeiter*innenklasse insgesamt reproduziert.

Was tun?

Individuelle Lösungen wie Homeoffice, Putzhilfen, Absprachen mit dem männlichen Partner oder Einbeziehung von Freund*innen mögen vielleicht unmittelbar helfen. Aber sie sind keine gesamtgesellschaftliche Lösung, ja sie können, wenn wir z. B. den überausgebeuteten Sektor weiblicher Haushaltshilfen betrachten, sogar die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen.

Oft sind sie nur für jene möglich, die sich des Problems überhaupt bewusst sind und es sich „leisten“  können, weil sie entweder Geld haben, sich von dieser Arbeit freizukaufen oder über ein Umfeld verfügen, das genügend Zeit dafür bietet.  Es gibt auch Feminist*innen, die eine Lösung versucht haben zu finden. Mit ihrem Werk „Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft“ prägten  Mariarosa Dalla Costa und Selma James die Debatte um die Hausarbeit entscheidend. Aus dieser Theorie entstand erstmals 1974 in Italien die Forderung nach Lohn für Hausarbeit. Diese ist allerdings ebenfalls problematisch. Anstatt die Rolle der Hausfrau abzuschaffen und eine neue Verteilung der reproduktiven Arbeit zu bieten, institutionalisiert sie sie und festigt sie somit. Die geschlechtliche Arbeitsteilung  bleibt erhalten und somit kämpft diese Forderung nicht für eine konsequente, langfristig Verbesserung für Frauen. Was also tun? Wenn wir die Doppelbelastung von Frauen beenden wollen, dann müssen wir das Problem an der Wurzel packen: der bürgerlichen Familie.

Wie stellen wir uns das vor?

Das heißt nicht, dass wir als Kommunist*innen die Familie verbieten wollen. In der kapitalistischen Gesellschaft dient, sie wie oben beschrieben, für die Arbeiter*innenklasse als Ort, wo die eigene (und zukünftige) Arbeitskraft reproduziert werden kann. Sie ist trotz all ihrer Widersprüchlichkeit der Raum, in dem man sich auch erholen kann. Statt also individuelle Absprachen zu treffen oder zu hoffen, dass man irgendwann genug Geld verdient, sich Haushaltshilfen zu leisten, macht es Sinn, gesamtgesellschaftliche Lösungen zu finden – also die Reproduktionsarbeit auf alle Hände aufzuteilen.

Dazu braucht man nicht an eine utopische Zukunft in mehreren Jahrzehnten zu denken, um sich eine vergesellschaftete Hausarbeit vorstellen zu können. Bereits 1930 gab es in Wien ein Wohnprojekt, das – zumindest im kleinen Stil – diese Forderungen aufgriff: den Karl-Marx-Hof. In dem Gemeindewohnbau gab es zusätzlich zu Wohnungen mehrere gemeinschaftliche Einrichtungen wie kommunale Waschküchen, Jugendheime und Kinderbetreuungsstellen, die von den Bewohner*innen gemeinsam organisiert und genutzt wurden. Für diese Einrichtungen sprechen gleich mehrere Sachen: Erstens wird die Zeit, die wir individuell in die Reproduktion stecken, gesenkt, die wir dann woanders nutzen können. Zweitens beenden wir damit ebenso die geschlechtliche Arbeitsteilung und damit die Grundlage für die nervigen Geschlechterrollen, in die wir im Kapitalismus gedrängt werden.

Wie ist das realisierbar?

Im Kapitalismus hat das Ganze Grenzen. Schließlich geht’s den Kapitalist*innen nicht darum, dass wir glücklich sind, sondern um ihre Profite. Zwar gibt es Tendenzen, wie beispielsweise in Kriegszeiten, in denen mehr Bereiche der Reproduktion kollektiviert wurden. Dies diente aber nur kurzfristig dazu, mehr Frauen in die Produktion zu ziehen. Nach dem Kriegsende wurde das Ganze wieder geändert und die Frauen entlassen.

Damit es also nach unserem Interesse läuft, müssen wir die Vergesellschaftung der Hausarbeit selber kontrollieren. Konkret heißt das, dass wir alle Kürzungen im Bereich der öffentlichen Reproduktionsarbeit und alle Privatisierungen bekämpfen müssen. Stattdessen müsste ein massiver Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, des Gesundheitswesens und der Freizeiteinrichtungen erkämpft werden.

Ebenso unterstützen wir im Hier und Jetzt den Kampf für einen Mindestlohn, angepasst an die Inflation für alle Arbeiter*innen. Für alle, die keine Arbeit haben, fordern wir ein Mindesteinkommen in derselben Höhe. Damit kann auch sichergestellt werden, dass niemand aufgrund ökonomischer Abhängigkeit gezwungen ist, bei seiner Familie zu leben, und so Gewalt, Druck oder Mehrarbeit ausgesetzt sein muss.

Auch wenn im Kapitalismus einzelne Verbesserungen erkämpft werden können, erfordert eine konsequente Vergesellschaftung der Hausarbeit die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft. Warum? Eine Vergesellschaftung der Hausarbeit würde auch bedeuten, dass die Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft vergesellschaftet wird, ihr Warencharakter und die Konkurrenz innerhalb der Klasse eingeschränkt würden.

Daher ist die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit untrennbar mit gesamtgesellschaftlicher Planung und Organisation verbunden. Nur so kann die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion dauerhaft durchbrochen werden. Pädagogische und andere versorgende Einrichtungen müssen umstrukturiert und anders geplant werden, und die Neuaufteilung der Hausarbeit muss durch Räte, die die Arbeiter*innen selbst repräsentieren und ihre Beschlüsse umsetzen, in Angriff genommen und abgesichert werden.

Wir müssen also weiter kämpfen und das Ausbeutungssystem des Kapitalismus revolutionär überwinden, um allen Menschen eine freie, selbstbestimmte Zukunft gewährleisten zu können!

Quellen

https://arsfemina.de/rassismus-und-sexismus/vergesellschaftung-der-hausarbeit

http://onesolutionrevolution.de/hausarbeit-und-frauenstreik/

http://onesolutionrevolution.de/frauenstreik-2019-aber-richtig/

https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-unbezahlte-arbeit-frauen-leisten-mehr-3675.htm

https://www.zeitschrift-luxemburg.de/wiedergelesen-die-frauen-und-der-umsturz-der-gesellschaft/

http://www.dasrotewien.at/seite/karl-marx-hof




Social Reproduction Theory: moderner Marxismus oder feministische Sackgasse?

Aventina Holzer, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Frauenstreiks, Proteste gegen Gewalt an Frauen und Aktionen für gleiche Bezahlung finden überall auf der Welt statt. Es ist kein Geheimnis, dass die Gründe für diese Proteste weiterhin existieren und sich teilweise verschärfen, und es ist essenziell, dass sich Gruppierungen mit diesen Themen beschäftigen und Bewegungen aufzubauen versuchen. Die Analysen, woher diese Probleme kommen, unterscheiden sich aber stark. Radikal-feministische Zugänge, die oft von einem losgelösten Patriarchat sprechen (ähnlich wie Vorstellungen im bürgerlichen Feminismus, obwohl dort viele nicht mal soweit gehen würden), haben in der Analyse zum Beispiel wenig mit sozialistisch-feministischen oder marxistischen Zugängen zu tun. Es ist wichtig, den Ursprung der Frauenunterdrückung zu analysieren, um ableiten zu können, welche Forderungen und Kämpfe nötig sind, um die jetzige Situation von sexistisch unterdrückten Menschen zu verbessern, aber andererseits auch dieses System als Ganzes zu überwinden. Denn es gilt: Kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus!

Social Reproduction Theory (Theorie sozialer Reproduktion; SRT) erhebt den Anspruch, die Unterdrückung der Frau auf einer materialistischen Ebene zu erklären. Es handelt sich um keine eigene Strömung, sondern eher eine theoretische und auch oft akademische Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion im Kapitalismus und, wie diese von „orthodoxer“ marxistischer Theorie abweicht oder sie weiterentwickelt. Sie versucht dabei auch, den Ursprung der Frauenunterdrückung in der Klassengesellschaft aufzudecken, der laut vielen TheoretikerInnen, die sich mit Social Reproduction Theory beschäftigen, auch von außerhalb dieser Sphäre herkommt und mit der Fähigkeit zu gebären zusammenhängt bzw. Frauen historisch in eine untergeordnete Rolle drängt.

Die Entwicklung der SRT hängt stark mit der des sozialistischen Feminismus zusammen, der in den 1970er Jahren als Antwort auf den Radikalfeminismus entstand. Beide Strömungen teilen die Kritik, dass die ArbeiterInnenbewegung zu diesem Zeitpunkt männlich dominiert ist und wenig Platz für „feministische“ bzw. Frauenkämpfe ließe. Auch wird oft (nicht immer, wie wir später sehen werden) die Auffassung vertreten, dass der Marxismus alleine Frauenunterdrückung nicht ausreichend erklären könne – viele RadikalfeministInnen würden ihn sogar ganz ablehnen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es aber natürlich politische Abgrenzungen und unterschiedliche Vorgehensweisen. So sehen RadikalfeministInnen das Hauptproblem im Patriarchat und die Unterdrücker in den Männern, während der sozialistische Feminismus sich immer auch auf Klassengesellschaft und -unterdrückung bezieht und eine Art Hybrid zwischen Marxismus und Feminismus darstellt.

Auch wenn beide Zugänge sehr problematische Züge aufweisen, gibt es einen Grund, warum sie phasenweise einen starken Anhang genießen. Genauso wie Teile von Identitätspolitik und Queertheorie greifen sie auch reales Versagen der Führung der ArbeiterInnenbewegung, unterdrückten Menschen eine Stimme zu geben und ihre Kämpfe als gerechtfertigt zu sehen. Es ist klar, dass die Sozialdemokratie und der Stalinismus keinen guten Eindruck hinterlassen haben, wenn es um die Fragestellungen geht, wie man unterdrückte Personen, in diesem Fall Frauen, gewinnen und sie in die Organisationen einbeziehen kann.

Trotz berechtigter Kritik war der Versuch der sozialistischen FeministInnen, eine marxistische Synthese mit feministischen Positionen zu finden, nicht erfolgreich. Oft wurde neben der ökonomischen Unterdrückung noch ein davon losgetrenntes, tiefer liegendes oder in jedem Fall parallel zum Klassenwiderspruch existierendes soziales Verhältnis als eigentliche Ursache der Frauenunterdrückung verortet. Oft wird das unter dem abstrakten Begriff Patriarchat zusammengefasst und im schlimmsten Fall suggeriert, man könne dieses überwinden, ohne die ökonomische Ebene zu verändern und den Klassengegensatz zu überwinden. Patriarchale Strukturen gibt es auf jeden Fall, sie sind allerdings untrennbar mit dem jeweiligen System der Klassenausbeutung verwoben und ihre jeweiligen Ausformungen werden letztlich von der Struktur der Klassengesellschaft bestimmt, nicht umgekehrt. Beides baut aufeinander auf.

Wird das Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung nicht korrekt bestimmt, kann das im schlimmsten Fall die Kämpfe der Unterdrückten spalten (Wie sollen Männer gegen eine systematische Unterdrückungsform kämpfen, zu der sie per Definition keinen Zugang haben oder in der sie ohne Unterschied ihrer Klassenposition sogar die Unterdrücker sind?). Sonst ist es aber auch eine Argumentation, die sehr schnell in Widersprüchen endet (Warum gibt es diese spezielle Ebene nur bei Frauenunterdrückung? Heißt das, andere Unterdrückungsformen haben auch andere Ursachen? Wie wird das dann argumentiert und was ist die materielle Basis dafür?). Schließlich ist der Behauptung eines neben dem kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis parallel existierenden grundlegenden Unterdrückungs- oder Ausbeutungsverhältnisses in der realen Gesellschaft eine Tendenz zur Bildung klassenübergreifender Bündnisse aller Frauen immanent. Jede feministische Strömung – auch der sozialistische Feminismus – muss daher notwendigerweise den grundlegenden Charakter des Lohnarbeit/Kapitalverhältnisses relativieren.

Auch wenn der sozialistische Feminismus keinen qualitativen Bruch mit dem Radikalfeminismus vollzogen hat, war und ist seine Praxis in Bezug auf Frauenkämpfe etwas, worauf sich MarxistInnen beziehen und aus ihren Erfolgen, aber auch ihren Fehlschlägen lernen müssen. Ähnlich verhält es sich mit der SRT, die als Produkt der sozialistisch feministischen Bewegung entstanden ist. Lise Vogel, eine ihrer BegründerInnen, beschreibt diesen Prozess in ihrem 1983 erschienenen Buch „Marxism and the Oppression of Women – Toward a Unitary Theory“1 so:

„Dieses Projekt begann vor mehr als 10 Jahren. Wie bei vielen anderen Frauen in den späten 1960er Jahren fiel mein Engagement für die aufkommende Frauenbewegung mit meiner Entdeckung der marxistischen Theorie zusammen. Zunächst dachten viel von uns, man brauche die marxistische Theorie einfach nur zu erweitern, um sie für unsere Anliegen als Frauenbewegung nutzbar zu machen. Schnell merkten wir jedoch, dass dieser Zugang viel zu mechanisch war und vieles unbeantwortet ließ. Die marxistische Theorie, die wir vorfanden, und auch das sozialistische Vermächtnis an Werken zur Unterdrückung der Frauen bedurfte einer grundlegenden Umgestaltung. Einige wandten sich aufgrund dieser Erkenntnis vollständig vom Marxismus ab. Andere blieben bei dem Versuch, von der sozialistischen Theorie Gebrauch zu machen. Sie verfolgten nun das Ziel, die Unzulänglichkeiten der sozialistischen Tradition durch eine ,sozialistisch-feministische Synthese’ zu überwinden. Obwohl ich mit diesem Ansatz sympathisierte, verfolgte ich weiterhin das ursprüngliche Vorhaben, die marxistische Theorie zu erweitern. Dafür war es jedoch notwendig zu untersuchen, was marxistische Theorie überhaupt ist. Überdies machte mir eine gründliche Lektüre der wichtigsten Texte des 19. Jahrhunderts zur sogenannten ,Frauenfrage’ klar, dass die theoretische Tradition äußerst widersprüchlich ist. … Dennoch bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass nicht sozialistisch-feministische Synthesen, sondern eine[r] Wiederbelebung der marxistischen Theorie in den bevorstehenden Kämpfen für eine Befreiung der Frauen als theoretische Orientierung am besten dient.“2

Vogel versucht also, in ihrer Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion den Marxismus weiterzuentwickeln und ihn nicht, wie viele andere, aufzugeben. Das ist auch der Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema.

Bevor wir uns allerdings weiter Lise Vogel widmen können, müssen wir einige Begriffe klären, da sie teilweise sehr unterschiedlich verwendet werden.

Soziale Reproduktion beschreibt in der marxistischen Terminologie zwei essenzielle Abläufe im Kapitalismus. Einerseits die Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Menschen brauchen bestimmte Dinge (Schlaf, Essen etc.), um „sich selbst“ bzw. in diesem Fall eher ihre „Fähigkeit zu arbeiten“ reproduzieren zu können. Hierzu zählt natürlich auch die intergenerationale Reproduktion, also Kinder zu bekommen, die im weiteren Verlauf, ihre Arbeitskraft anbieten können. Andererseits beschreibt soziale Reproduktion auch die des Systems als Ganzem, also die Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft (unter anderem auch durch Ideologie). Die zwei Bedeutungen sind logischerweise nicht voneinander trennbar. Schließlich kann sich ein System, das auf Ausbeutung der Arbeitskraft basiert, auch nur selbst reproduzieren, wenn diese im Laufe der Zeit erneuert und seine Legitimität immer von Neuem bestärkt wird. In der SRT liegt aber der Hauptfokus auf der ersteren.

Gesellschaftlich notwendige Arbeit ist also gleichzeitig unter den zwei vorangehenden Bedeutungen zu sehen. Im Grunde ergibt sich der Unterschied im Rahmen des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital daraus, dass die soziale Reproduktion zum einen vom Standpunkt des/der individuellen LohnarbeiterIn aus betrachtet wird, zum anderen vom Standpunkt der Gesamtklasse.

Notwendige Arbeit muss im kapitalistischen Produktionsprozess geleistet werden, um sich selbst zu reproduzieren (also der Teil des Arbeitstags, für den tatsächlich Lohn gezahlt wird). Alles was darüber hinausgeht, ist Mehrarbeit. Dies betrifft die Verhältnisse in der kapitalistisch vergesellschafteten Produktion. Nur in dieser Sphäre werden sowohl der (Tausch-)Wert der Arbeitskraft wie der Mehrwert, den sich das Kapital aneignet, erzeugt. Die Arbeit des/r Lohnabhängigen bei sich zuhause (Haus-, Erziehungs- und Sorgearbeit) ist ebenso notwendig wie nützlich, fügt der Arbeitskraft allerdings „nur“ Gebrauchswerte hinzu.

Im Folgenden wird für Reproduktionsarbeit auch häufig der Begriff Hausarbeit verwendet werden. Darunter fallen die unterschiedlichsten „Aufgaben“, die der Reproduktion der Ware Arbeitskraft dienen, wie Putzen, Kochen, aber auch Kindererziehung oder Sorgearbeit. Der Grund für die Zusammenfassung unter den Begriff Hausarbeit liegt darin, dass die besondere Stellung von Reproduktionsarbeit sehr stark damit zusammenhängt, dass sie einen Prozess darstellt außerhalb des unmittelbaren kapitalistischen Verwertungskreislaufs (in diesem Fall im häuslichen Rahmen). Reproduktionsarbeit, die kommerzialisiert, also in letzteren integriert wird, unterliegt ähnlichen bis gleichen Gesetzmäßigkeiten wie die in der kapitalistischen Produktion. Die Auseinandersetzung mit dem Thema sozialer Reproduktion versucht, den Ist-Zustand und das Entstehen von Frauenunterdrückung zu erklären. Deshalb wird der Fokus auf der Beschreibung der häuslichen Sphäre, biologischen Charakteristika der Frauenunterdrückung und Frauenkämpfen speziell liegen.

Die Arbeit von Lise Vogel umfasst zwei bedeutende Stärken, die ihren Ansatz positiv vom sozialistischen Feminismus oder jedenfalls von dessen Mainstream abheben. Erstens erkennt sie die zentrale Bedeutung der gegensätzlichen Stellung von Frauen aus der herrschenden und beherrschten Klasse an. Auch wenn es für die klassenübergreifende Solidarität eine „gewisse Basis“ in den Erscheinungsformen der Unterdrückung gibt (Gewalt gegen Frauen, rechtliche Diskriminierung, sexistische Ideologie), so gibt es einen fundamentalen Unterschied, der aus ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen den Klassen folgt: „Nur Frauen der untergeordneten Klasse beteiligen sich an der Aufrechterhaltung und Erneuerung der unersetzlichen Kraft, die die Klassengesellschaft am Laufen hält – der ausbeutbaren Arbeitskraft.“3 Die Frage der Reproduktionsarbeit bildet daher wesentlich eine für die proletarischen Frauen. Die Frauen aus den Mittelschichten und dem KleinbürgerInnentum nehmen eine Zwischenstellung ein. Für die Frauen aus der herrschenden Klasse existiert das Problem faktisch nicht, sie lassen auch in der Sphäre der Reproduktion andere (zumeist Frauen) für sich arbeiten.

Zweitens geht sie zurecht davon aus, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Kapitalakkumulation die Reproduktionsarbeit bestimmt. Deren Form, Zusammensetzung und innere Struktur „sind de facto direkt von der Entwicklung der kapitalistischen Akkumulation betroffen.“4 Damit kann sie erklären, warum unter bestimmten Bedingungen Frauen zurück an den Herd gedrängt, unter anderen wiederum deren Lohnarbeit im Gegenteil massiv ausgeweitet wird, warum also damit zusammenhängend die Hausarbeit auch im Kapitalismus partiell vergesellschaftet wird und warum also andererseits diese Prozesse unter veränderten Akkumulationsbedingungen tendenziell rückläufig sind.

Lise Vogel

In ihrem Buch versucht Lise Vogel, einen Grundstein für eine marxistische Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion zu legen. Bezeichnend ist, dass sie eine gängige Argumentation vom sozialistischen Feminismus dezidiert nicht mitträgt. Den Vorwurf, dass Marx geschlechtsblind sei und seine Kategorien deshalb nicht für die Erklärung von Frauenunterdrückung herbeigezogen werden können, lehnt sie ab. Sie versucht stattdessen, einerseits zusammenzutragen, welche Auseinandersetzung mit Frauenunterdrückung es in der marxistischen Theorie gab, andererseits daraus eine einheitliche marxistische Analyse abzuleiten.

Diese Herangehensweise verfolgen zwar nicht alle TheoretikerInnen der SRT gemeinsam, aber die Notwendigkeit, bei der Untersuchung der ökonomischen Umstände anzufangen, die ökonomische Basis zu durchleuchten, um Frauenunterdrückung wirklich zu verstehen, ist eine der größten Stärken dieses Ansatzes. Es wird versucht, die Produktionsverhältnisse als menschliche zu verstehen und dementsprechend auch Frauenunterdrückung auf diese Ebene zu heben und nicht eine „externe“ ökonomische, durch die Unterdrückung innerhalb der Klassengesellschaft verursachte, neben einer gesonderten, eigentlich („intrinsisch“) über der jeweiligen ausbeuterischen Produktionsweise stehende zu argumentieren.

Für Lise Vogel präsentieren sich die Schlussfolgerungen ungefähr so: Menschen haben die Fähigkeit, mehr Gebrauchswert zu produzieren, als sie für ihre Erhaltung brauchen – jedenfalls ab einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. In einer Klassengesellschaft wird diese Fähigkeit zugunsten der herrschenden Klasse genutzt. Sie eignet sich das daraus resultierende Überschussprodukt, Surplus, an, das im Kapitalismus die Gestalt des Mehrwerts annimmt. Es braucht eine ausgebeutete Klasse, die ständig zur Verfügung steht, um ein System, das auf diesem Kreislauf aufbaut, zu erhalten. Diese muss sich aber natürlich erneuern (ArbeiterInnen leben nicht für immer), durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden. Hier wird der Unterschied zwischen Mann und Frau ausschlaggebend. Frauen, die während sie schwanger sind, eine eingeschränkte Fähigkeit zum Arbeiten haben, schaffen einen Widerspruch für die herrschende Klasse. Einerseits möchte diese ihre Mehrwertaneignung maximieren, andererseits braucht sie auch diese Art Reproduktion, um langfristig ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Über die Klassenkämpfe, die diese Widersprüche aufzulösen versuchen, entstanden im Lauf der Geschichte viele unterschiedliche Formen der Reproduktionssphäre.

Lise Vogel analysiert einige historische Gemeinsamkeiten, die fast jede Klassengesellschaft teilt. Fast immer hängt es mit der Verantwortung des Mannes zusammen, für den materiellen Erhalt der Familie zu sorgen, und Frauen kommt die Aufgabe zu, einen größeren Teil der notwendigen Reproduktionsarbeit zu leisten. Diese Aufteilung resultiert in einer institutionalisierten Form von männlicher Dominanz über Frauen.

Sie weist auch darauf hin, dass der Ort der sozialen Reproduktion auch stark mit den gesellschaftlichen Bedingungen selbst unterm Kapitalismus schwankt. In einer Kriegssituation war es historisch gesehen öfter wichtig, Frauen in den Produktionsprozess zu ziehen und die Familie als Ort der familiären Reproduktion hintanzustellen, was sich aber je nach Situation auch wieder ändern kann. So ist die Familie sehr häufig Fixpunkt von sozialer Reproduktion, da damit auch eine starke ideologische Festigung (also Reproduktion des Gesellschaftssystems) einhergeht.

Die Familie als speziellen Ort der Hausarbeit leitet Lise Vogel aus ihrem Verständnis von notwendiger Arbeit her. Notwendige Arbeit ist, wie bereits erklärt, die Arbeit, die zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft – im Kapitalismus – notwendig ist. Soweit, so gut. Die auf einer gesellschaftlichen Ebene notwendige, damit wertschaffende Arbeit, die ja Teile der Reproduktion umfasst, setzt sie aber auch in dieselbe Kategorie wie die individuell notwendige Arbeit im häuslichen Produktionsprozess. Der große Unterschied ist aber, dass für den einen Teil der notwendigen Arbeit ein Lohn gezahlt wird und für den anderen nicht. Diese Situation (Zahlen von Lohn und Separieren von Lohn- und Hausarbeit) läuft nun laut ihr auf das Wirken in speziellen Orten der Reproduktion und Hausarbeit abseits der eigentlichen Produktionssphäre hinaus – hier meistens der Familie.

Es handelt sich nicht um ein unabsichtliches Vermischen von individuellen Komponenten mit gesellschaftlichen, sondern um ein Verständnis, welches die sozialen Konsequenzen aus der notwendigen Trennung der Reproduktion von Lohnarbeit zwischen Produktions- und Heimsphäre aufzuzeigen versucht. Das sind die Ansätze von dem, was unter Social Reproduction Theory zu verstehen ist.

Lise Vogel speziell ist es ein großes Anliegen, mit ihren Ideen einen Anstoß für eine einheitliche Theorie der sozialen Reproduktion zu liefern. Sie versucht, diese Theorie, die Produktion und Reproduktion auf einer Ebene analysiert, gegen die „Zwei-System-Theorie“ durchzusetzen, die laut ihr von vielen sozialistischen FeministInnen vertreten wird. „Zwei-System-Theorie“ kann verstanden werden als Zugang, der vorher beschrieben wurde und sich durch eine gesonderte Ebene der Frauenunterdrückung auszeichnet, die losgelöst von der ökonomischen existiert.

Diese zwei Kernelemente machen die SRT auch für MarxistInnen so spannend. Auch wenn wir den Vorwurf nicht teilen würden, dass Marx „geschlechtsblind“ gewesen wäre, ist es kein Geheimnis, dass sich die marxistische Beschäftigung mit dem Thema soziale Reproduktion in Grenzen hält. Hier liegt es an uns, die Theorie weiterzuentwickeln und ein einheitliches Verständnis von Reproduktion und Produktion zu schaffen. Das geht aber auch nur mit den Methoden und Werkzeugen, die wir durch den Marxismus gelernt haben. Die Ausgangsanalyse von der ökonomischen Basis abhängig zu machen, ist also unerlässlich und nur darüber können wir die unterschiedlichen Facetten und Ausdrücke von Unterdrückung erkennen.

Es gibt allerdings auch genug Beiträge zur Social Reproduction Theory die die Fragestellung etwas anders beantworten, als Lise Vogel es tut.

Ein gutes Beispiel für die Fehlschlüsse einer Analyse der Social Reproduction Theory ist die Debatte rund um Bezahlung für Hausarbeit.

Mariarosa Dalla Costa/Selma James

Wenn Arbeitskraft die einzige Ware ist, die auch außerhalb der Produktionssphäre produziert wird, wirft das laut TheoretikerInnen der Social Reproduction Theory mehr Fragen auf, als beantwortet werden. Sie setzen den Punkt, dass es ja keine klare Grenze gibt zwischen der Sphäre der Produktion und Reproduktion, in der Arbeitskraft regeneriert, reproduziert wird, da dies ja auch nicht ausschließlich in der familiären Sphäre passiert.

Maria Rosa Dalla Costa und Selma James spitzen diese Fragestellung in ihrem gemeinsamen Werk „Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft“5 zu. Dies ist auf jeden Fall ein früher Beitrag zur SRT, wenn auch nicht so fundiert argumentiert wie bei Lise Vogel und in theoretischer Hinsicht dieser in vielen Bereichen direkt entgegengesetzt. Sie beschäftigen sich darin vor allem mit der Produktivität von Hausarbeit und der Rolle der Frau als Hausfrau („Alle Frauen sind Hausfrauen“). Was heißt das? Schafft Hausarbeit Wert bzw. Mehrwert?

Sie sagen: ja! Frauen reproduzieren die Ware Arbeitskraft, sind also an einer Steigerung des Mehrwerts beteiligt. Laut ihnen sind Produktion und Dienstleistungen zuhause Teile der produktiven Konsumtion des Kapitals. Frauen sind demnach ein eigenes revolutionäres Subjekt, schließlich sind ja auch alle Frauen Hausfrauen. Die Verschleierung der Hausarbeit als nichtproduktive Arbeit ist eines der Hauptprobleme für die Überwindung des Kapitalismus und die politische Organisierung dagegen ist notwendig. Dafür stellen sie die Forderung nach einer Bezahlung (Lohn) für Hausarbeit auf. Das soll Frauen in den ökonomischen Kampf ziehen und hierbei seien ja durch den produktiven Charakter der Hausarbeit auch dieselben Kampfmethoden möglich wie bei Kämpfen im Betrieb. Ganz im Sinne von: Die Welt steht still, wenn keine häusliche Reproduktionsarbeit mehr geleistet wird und ohne diesen politischen Kampf steht sie eben nicht still.

Wir widersprechen dieser Analyse. Hausarbeit schafft weder Mehrwert noch Tauschwert der Ware Arbeitskraft und verfügt dementsprechend nicht über dieselben Kampfmethoden und Taktiken, um das System in die Knie zu zwingen. Hierbei ist die Frage von privater Konsumtion essenziell. Marx schreibt:

„Die Konsumtion des Arbeiters ist doppelter Art. In der Produktion selbst konsumiert er durch seine Arbeit Produktionsmittel und verwandelt sie in Produkte von höherem Wert als dem des vorgeschoßnen Kapitals. Dies ist seine produktive Konsumtion. Sie ist gleichzeitig Konsumtion seiner Arbeitskraft durch den Kapitalisten, der sie gekauft hat. Andrerseits verwendet der Arbeiter das für den Kauf der Arbeitskraft gezahlte Geld in Lebensmittel: dies ist seine individuelle Konsumtion. Die produktive und die individuelle Konsumtion des Arbeiters sind also total verschieden. In der ersten handelt er als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses.“6

Die Frage, ob und wie Mehrwert geschaffen wird, entscheidet sich also einzig und allein im unmittelbaren kapitalistischen Produktionsprozess. Da die Reproduktion in der häuslichen Sphäre außerhalb dessen steht, braucht man eine besondere Analyse, um diese zu verstehen. Wie bereits erwähnt, besteht der Versuch der SRT darin, die Analyse von Produktion und Reproduktion auf dieselbe Ebene zu holen. Dalla Costa und James tun dies, indem sie beide einfach gleichsetzen. Das ist eine heftige Verkürzung der Problematik und spiegelt in keiner Form die Realität wider.

Oft wird die Bezeichnung „produktive“ bzw. mehrwertschaffende Arbeit in einem moralischen Kontext verwendet. Das ist aber natürlich nicht richtig. Wie kann es sonst sein, dass die exakt selbe Arbeit in privaten Krankenhäusern zum Beispiel Mehrwert schafft, die Carearbeit zuhause allerdings nicht? Es ist klar, dass die Arbeit in beiden Fällen Gebrauchswerte erzeugt. Ihr Unterschied liegt aber nicht in der bezahlten bzw. unbezahlten Form, sondern im unterschiedlichen Verhältnis zum Kapital. Arbeit für eine/n KapitalistIn z. B. als HaushälterIn ist zwar bezahlt, aber vermehrt nicht sein/ihr Kapital, sondern dient ihren/seinen persönlichen Genüssen und wird nicht aus Bestandteilen des fungierenden Kapitals alimentiert, sondern aus der davon abgezwackten Revenue. Sie ist wie die unbezahlte der Hausfrau Dalla Costas’/James’ kein Moment des Kapitalkreislaufs. Beide sind auch nicht unproduktiv im Marx’schen Sinn, denn diese schafft zwar ebenfalls keinen Mehrwert, dient aber im Kapitalkreislauf dem Formenwechsel Geld – Ware – Geld und speist sich in Form des Profits aus dem Mehrwert (kommerzielle Handels- und Geldgeschäfte). Sie sind nichtproduktiv statt unproduktiv, stehen außerhalb der kapitalistischen Produktionsweise im engeren Sinn.

Ein Streik bei der Hausarbeit schadet zuallererst den ArbeiterInnen selbst und erst viel später dem System. Ein Streik in der Produktionssphäre hält die Mehrwertproduktion dagegen sofort an und trifft unmittelbar, sofort die KapitalistInnen. Die Unterschiede liegen auf der Hand.

Die Debatte über Lohn für Hausarbeit wird auch positiv von reaktionärer Seite aufgegriffen. Ein Problem, das auch von Dalla Costa/James anerkannt wird, ist, dass eine Entlohnung der Hausarbeit Frauen weiter von der Lohnarbeit in den Unternehmen isolieren könnte und auch mehr ökonomische Anreize zum Rückzug daraus bieten würde (da Frauen dort meist schlechter bezahlt werden als Männer), Vollzeitlohnarbeit zu leisten, während Männer „arbeiten“ gehen. Frauen aus dem gemeinsamen ökonomischen Kampf herauszuhalten und weiter an die häusliche Sphäre zu ketten, ist etwas, was sich mit konservativen Zielen einfach kombinieren lässt.

Die Aussage „alle Frauen sind Hausfrauen“ hat eine gewisse Berechtigung in dem Sinne, dass allen diese Aufgabe im Kontext von „Geschlechterrollen zugeschrieben“ wird – in Wirklichkeit wird diese Arbeitsteilung durch das Wertgesetz beständig produziert und drückt sich in geschlechtlich unterschiedlichen Löhnen und Erwerbsbiographien aus. Damit soll die Doppel- bzw. Mehrfachbelastung von (haus-)arbeitenden) Frauen im Kapitalismus angesprochen werden. Andererseits suggeriert sie ein gemeinsames revolutionäres Subjekt, das auch über Klassengrenzen hinausgeht. Diese Doppelbelastung gilt aber nur für lohnabhängige Hausfrauen. Eine Kapitalistin unterliegt keiner solchen, wenn sie sich Leute aus dem Proletariat anstellt, um diese Arbeiten für sich verrichten zu lassen. Zeitgleich verneint diese Betonung auf Hausfrauen den Fakt (was auch sicher an den Unterschieden in der Zeitperiode liegt, in der das Buch geschrieben wurde), wie viele Frauen in Arbeitskämpfe involviert sind und als Hauptort ihrer Organisierung den Arbeitsplatz und eben nicht die häusliche Sphäre sehen. Die Forderung nach einem Lohn für Hausarbeit könnte für viele von diesen auch eine (aus ökonomischer Perspektive heraus argumentierte) Rückkehr in die häusliche Sphäre bedeuten, wo sie viel schlechter zu erreichen und langfristiger und schwerer zu organisieren sind. Außerdem handelte es sich bei einer solchen Bezahlung nicht um Lohn im Marx’schen Sinn, sondern um eine Transferleistung, die wie alles im Kapitalismus vorwiegend aus dem Lohnfonds aufgebracht werden muss (wie Sozialversicherungs-, Rentenleistungen und Steuern). Von daher ist die Losung doppelt falsch.

Demgegenüber stehen Forderungen nach Vergesellschaftung der Hausarbeit, also darauf hinzuarbeiten, dass nicht Einzelpersonen, Familien und vor allem Frauen zuständig für „häusliche, individuelle“ Subsistenz- und Reproduktionsarbeit sind, sondern Strukturen zu schaffen und zu fördern, die eine Aufteilung auf mehrere Hände und Köpfe ermöglichen. Gemeinsame Waschküchen, Gemeinschaftsräume, in denen es Kochmöglichkeiten gibt, Ablösung und Unterstützung bei der Kinder- und Angehörigenbetreuung mit dem langfristigen Ziel unterschiedsloser gesamtgesellschaftlicher, sozialisierter „Eltern- und Verwandtschaft“, sind dabei konkrete Ansatzpunkte.

Aber nur weil der Lohn für Hausarbeit keine sinnvolle Forderung ist, heißt das nicht, dass es nicht auch spezielle Methoden braucht, um Frauen (speziell, die in der individuellen Reproduktionssphäre gebundenen) in den politischen und ökonomischen Kampf hineinzuziehen. Hierbei kommen wir zu den aktuellsten Ausprägungen der SRT, zu den TheoretikerInnen der Frauenstreikdebatte.

Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser

Die prominenteste Protestform der internationalen Frauenbewegungen sind Frauenstreiks. Sie haben häufig unterschiedliche Ziele und setzen sich aus verschiedensten politischen Strömungen zusammen. Ihr Zweck ist es aber immer, auf bestimmte Missstände bezüglich der Gleichbehandlung von Frauen aufmerksam zu machen. In Lateinamerika ist die Bewegung vor allem auf den Stopp von Femiziden (Morden an Frauen „nur“ wegen ihres Geschlechtes) und Machismo („toxische Männlichkeit“) ausgelegt. In vielen europäischen Ländern sind die Proteste auf ungleiche Bezahlung von weiblicher Arbeit zugespitzt.

Die Autorinnen von „Feminismus für die 99 % – Ein Manifest“7 versuchen, eine antikapitalistische Perspektive in diese Frauenstreiks hineinzutragen, die eine Brücke zwischen Arbeitskämpfen und Identitätspolitik schaffen soll.

Dabei fokussieren sie sich auch stark auf soziale Reproduktionstheorie in ihrer Erklärung, warum es die unterschiedlichsten Unterdrückungsformen gibt, und versuchen, innerhalb ihrer Thesen einen Vorschlag für die Bewegung aufzustellen. Durch den manifestartigen Charakter wird auch hier wesentlich weniger in die Tiefe gegangen und viele der aufgestellten Theorien der AutorInnen werden nicht ausreichend erklärt.

Sie argumentieren, dass es zu einer neuen feministischen Welle kommt, die auch eine neue Art des Streikens einführt. Das kann unter anderem Entzug von Sex, Lohnarbeit und Lächeln inkludieren. Sie stellen also in ihrer Argumentation den Streik von LohnarbeiterInnen auf eine Ebene mit dem Frauenstreik, der sowohl lohnabhängige als auch nichtlohnabhängige Frauen umfasst. Sie meinen, durch diese Gleichsetzung wird die Diskrepanz aufgezeigt, wieviel Arbeit eigentlich zur Reproduktion momentan geleistet und wieviel davon eben nicht entlohnt wird. Für sie ist das der erste wichtige Schritt, um eine Brücke zwischen Klassen- und Identitätspolitik zu schlagen.

Dieser Zugang steht sehr stark in der Argumentationslinie von Dalla Costa/James, auch wenn die TheoretikerInnen von „Feminismus für die 99 %“ andere Forderungen aufstellen. Sie versuchen, die neue Kampfform des Frauenstreiks in einen Kontext mit den heftigsten Problemen des Kapitalismus zu bringen und dadurch eine Gesellschaftsanalyse aufzustellen.

Dafür entwickeln sie elf Kernthesen. Die wichtigsten (zusammengefasst) sind, 1) dass wir eine gesamtgesellschaftliche Krise durchleben, 2) Geschlechterunterdrückung in ihren Wurzeln durch die Unterordnung von sozialer Reproduktion unter (un)produktive Arbeit fürs Kapital verursacht wird, 3) der liberale Feminismus bankrott ist und es einen antikapitalistischen und 4) internationalen Zusammenschluss braucht. In ihrem Buch stellen sie auch viele der Thesen in einen Gegensatz zur bisher existierenden feministischen, aber auch zur ArbeiterInnenbewegung, die für sie vor allem eine männliche darstellt.

Der erste Punkt der gesamtgesellschaftlichen Krise versucht, Kapitalismus nicht nur als Wirtschafts-, sondern als Gesellschaftssystem zu enttarnen. Der Neoliberalismus spielt hierbei eine Rolle, genauso aber die unterschiedlichen Auswirkungen der Krise unter anderem bezüglich Reproduktionssphäre, aber auch Klima. Dass der Kapitalismus nicht nur eine rein ökonomische Kategorie ist, ist auch in der marxistischen Theorie eine wichtige Erkenntnis, allerdings ist die ökonomische Basis eine der relevantesten Triebfedern. Die zugrundeliegenden ökonomischen Mechanismen des Gesellschaftssystems führen zu vielen unterschiedlichen Problemen wie Umweltzerstörung oder Sexismus.

Die These, dass Geschlechterunterdrückung aus einer systematischen Unterordnung von sozialer Reproduktion unter (kapitalistische) Produktion resultiert, wird nicht genau erklärt. Die starke Aufspaltung in eine Produktions- und Reproduktionssphäre geht laut den AutoInnen mit deren ungleicher Bewertung einher (speziell durch den Akt der Nichtbezahlung letzterer). Diese spezielle Situation habe sich im Kapitalismus soweit verschärft, dass es eigentlich notwendig sei, den Klassenbegriff neu zu definieren und Klassenkampf immer mit Kampf um soziale Reproduktion zu verknüpfen. Eine (Moralische? Ökonomische? Die AutorInnen erklären das nicht wirklich) Gleichbewertung von Reproduktionsarbeit würde gleiche Beteiligung an den politischen Kämpfen und die Verbindung der Bewegungen ermöglichen. Was ist Klasse dann aber für sie? Sie sagen zwar, sie beziehen sich nicht auf einen „altmodischen“ Klassenbegriff, tun aber auch so, als wären Frauenbewegung und Klassenkampf zwei unterschiedliche tätige Subjekte – wobei in Wirklichkeit keines ohne das andere existieren kann. Hierbei betonen sie auch, dass der neue Feminismus ein klar intersektionalistischer sein muss, haben aber keine Vorschläge bzw. Programmatik anzubieten. „Gewiss, unser Manifest bietet keinen präzisen Entwurf einer Alternative, da diese nur aus den Kämpfen um ihre Verwirklichung hervorgehen kann.”8

Ihre Abwendung vom liberalen Feminismus hin zu einem antikapitalistischen ist ein enormer Fortschritt. Allerdings muss kritisch bilanziert werden, dass hierbei aufgrund der schwammigen Analyse nicht ausgeschlossen ist, dass es sich dabei um mehr als ein Lippenbekenntnis handelt. Das Manifest für die neue Welle der Frauenbewegung spricht nicht über eine nachkapitalistische Gesellschaft und lehnt „veraltete“ marxistische Ideen zu dem Thema ab. Es bleibt also unklar, was eigentlich die Perspektive ist und wie man dorthin kommen soll (abgesehen von Frauenstreiks). Dabei ist es natürlich essenziell, dass sie eine internationalistische Sichtweise einzunehmen versuchen, aber ohne Vorschläge, wie Internationalismus umzusetzen ist bzw. welche Strukturen es dafür braucht, bleiben diese Ideen ohne praktische Handlungsanweisung – sind also nicht umsetzbar.

Was für einen Feminismus vertreten die AutorInnen also genau? Eine Mischung aus sozialistischem Feminismus, moderneren queertheoretischen Ideen und Intersektionalitätsansatz mit ein bisschen – subjektivem – Antikapitalismus und SRT! Das Buch ist trotzdem ein interessanter Beitrag zu letzterer, da der Fokus auf Frauenstreiks, die momentan elementarste Kampfform in der Sphäre der Reproduktion, wichtig ist und bei vielen anderen vergessen wird.

Frauenstreiks sind ein fortschrittliches Element des Klassenkampfes. Werktätige Frauen, die versuchen, auch ihre nichtwerktätigen Geschlechtsgenossinnen in den Klassenkampf hineinziehen über ihre Forderungen und konkreten Handlungen, sind eine Bereicherung für den Klassenkampf. Obwohl natürlich gemeinsame Streiks von Lohnarbeitern und Lohnarbeiterinnen mehr Wirkung ausüben, kann der politische Kampf nicht mit rein ökonomischen Zielen gewonnen werden. Frauen in der häuslichen Sphäre können durch diese Protestform erreicht und die bestimmte frauenspezifische Unterdrückung insbesondere der Hausfrauen in proletarischen Familien kann thematisiert werden. Allerdings ist der Frauenstreik kein Selbstzweck, wie häufig argumentiert wird: Entzug von Zuneigung und emotionaler Arbeit kann sicherlich als Kampfform in ungleichen Beziehungen oder zum Selbstschutz dienen, ist aber in den seltensten Fällen eine gesellschaftspolitische.

Wer ist Subjekt der Frauenbefreiung?

Die Arbeiten von Lise Vogel und erst recht das Manifest „Feminismus für die 99 %“ enthalten jedoch beide eine zentrale Schwäche, wenn es darum geht, das Subjekt der Frauenbefreiung sowie der Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen den Kapitalismus zu bestimmen. Korrekterweise stellt Vogel fest, dass die Frauenunterdrückung auf ihrer „besonderen Stellung … innerhalb der kapitalistischen gesellschaftlichen Reproduktion“9 fußt. Wie wir gesehen haben, weist sie auch jede Theorie zurück, die die Reproduktionssphäre als eine gesonderte, nicht von der Kapitalakkumulation bestimmte, begreift. Sie kommt an dieser Stelle der marxistischen Auffassung sehr nahe, die daraus herleitet, dass die arbeitenden Frauen eine Vorreiterinnenrolle im Kampf gegen Frauenunterdrückung spielen müssen, dass die Bildung einer proletarischen Frauenbewegung ein notwendiges Mittel im Befreiungskampf darstellt, sowohl um die Klassenunabhängigkeit der arbeitenden Frauen von allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften herzustellen wie auch um gegen Sexismus, Chauvinismus und männliche Privilegien innerhalb der ArbeiterInnenklasse vorzugehen.

Dies schließt Bündnisse mit Frauen anderer Klassen keineswegs aus. Insbesondere mit den Bäuerinnen und den radikalen, progressiven Frauen der Mittelschichten und aus dem KleinbürgerInnentum wird eine proletarische Frauenbewegung gemeinsame Kämpfe um demokratische und soziale Rechte führen müssen, was auch Aktionsbündnisse mit bürgerlichen Frauen (z. B. um gleiche politische Rechte, um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch) einschließt. Eine solche Taktik unterscheidet sich aber grundlegend von der Vorstellung einer klassenübergreifenden Frauenbewegung.

Die Analyse der Reproduktionsarbeit von Lise Vogel legt, auf den ersten Blick, eine solche Schlussfolgerung nahe. Sie zieht diese jedoch noch nicht. Vielmehr erfahren wir: „Der Mangel an Gleichheit ist die Grundlage der Frauenbewegungen, die Frauen aus unterschiedlichen Klassen und Schichten zusammenbringen.“10

Für sie existieren zwei Quellen der Frauenunterdrückung im Kapitalismus, nämlich eine auf ökonomischer Ebene, eine andere auf politischer. Mangelnde Gleichheit gilt ihr, im Gegensatz zu anderen Klassengesellschaften (!), als „ein Merkmal der Frauenunterdrückung in der kapitalistischen Gesellschaft.“11

Entscheidend für eine marxistische Analyse wäre hier jedoch zu bestimmen, wie sich die ökonomische und gesellschaftliche Basis der Frauenunterdrückung zur Ungleichheit verhält. Es bedarf eigentlich keiner großen Kunst zu erkennen, dass die politische, rechtliche Ungleichheit, die Diskriminierung, reaktionären Geschlechterrollen usw. den Überbau einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung darstellen und eine wirkliche Befreiung der Frau nur möglich ist, wenn der Kampf über den um gleiche bürgerlich-demokratische Rechte hinausgeht.

Vogel betrachtet die Kettung der Frau an die private Hausarbeit und die Ungleichheit in der politischen Sphäre als gleiche Strukturen oder gesellschaftliche Subsysteme, die die Frauenunterdrückung hervorbringen. Der Einfluss der falschen, strukturalistischen Lesart des Marxismus, von Althusser und Poulantzas ist hier unverkennbar, eine grundlegende methodische Schwäche ihres Buches, die sie mit den frühen Schriften der TheoretikerInnen des Linkspopulismus teilt.12 Sie wie die gesamte SRT fallen hier weit hinter die politischen Errungenschaften marxistischer TheoretikerInnen und der sozialistischen Frauenbewegung, einer Zetkin, Luxemburg oder Kollontai zurück, die alle auf einer Trennung von proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung beharrten. Vogel lässt uns hingegen mit einer klassenübergreifenden Bewegung zurück, die wie durch ein Wunder über den Kapitalismus hinausgehen soll.

„Diese Bewegungen (die Frauenbewegungen; Anm. d. Red.) unterscheiden sich durch ihre explizite oder implizite Interpretation von Gleichheit. Einige betrachten die Gleichheit zwischen Frauen und Männern als ein im Grunde zufriedenstellendes Ziel. Solche Bewegungen darf man zu Recht bürgerliche Frauenbewegungen nennen. Doch die Widersprüche des Spätkapitalismus werden wahrscheinlich auch diesen Frauenbewegungen zumindest zu einer gewissen Einsicht in den Unterschied zwischen bürgerlicher Gleichheit und tatsächlicher gesellschaftlicher Gleichheit verhelfen. Dies könnte für die Entwicklung einer Frauenbewegung, die sich zum Sozialismus hin orientiert, förderlich sein.“13

Warum die bürgerlichen Frauen im Spätkapitalismus den proletarischen näherstehen und zu kritischeren Positionen gedrängt werden sollen als die bürgerlichen Frauenbewegungen in vorgehenden Perioden, bleibt eine reine Wunschvorstellung, die im Buch nicht weiter begründet wird. Vogel unterstellt, dass die bürgerlichen Frauen ihr Klasseninteresse einfach hinter sich lassen könnten. Die Frauen der herrschenden Klasse werden ihre Privilegien, ihre herrschende Stellung, die auf der Ausbeutung der proletarischen Frauen (und Männer) gründet, niemals aufgrund einer „Einsicht“ aufgeben. Allenfalls werden einzelne mit den Männern und Frauen ihrer Klasse brechen.

Damit eine sozialistische Frauenbewegung entstehen kann, braucht es den Bruch mit allen Illusionen in bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte. Nur so können die Arbeiterinnen, die proletarischen Frauen eine eigene, führende Rolle im Kampf spielen. Während Vogel in ihrer Analyse der Reproduktion wichtige Schritte zu deren Verständnis liefert und die Notwendigkeit einer proletarischen Frauenbewegung eigentlich nahelegt, bricht sie mit dieser Analyse aufgrund ihres strukturalistischen Verständnisses von Kapitalismus. Politisch führt ihre Verteidigung klassenübergreifender Frauenbewegungen in keine sozialistische Richtung, sondern zur Unterordnung unter den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feminismus. In der Subjektfrage treten die Schwächen der SRT nicht nur bei Vogel, sondern erst recht im „Feminismus der 99 %“14 deutlich zutage. Wenn die neue Frauenbewegung zu einer wirklich sozialistischen, internationalistischen und revolutionären Kraft werden soll, muss sie diese Schwächen hinter sich lassen.

Fazit und Ausblick

Ein Großteil unseres Textes beschäftigt sich mit fehlerhaften Schlussfolgerungen der SRT aus dem einfachen Grund, dass klar herausgefiltert werden muss, auf welchem Fundament man weiterbauen kann. Die Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion muss eine kontinuierliche sein. Es ist notwendig, mit theoretisch falschen Schlussfolgerungen so früh wie möglich zu brechen.

Es ist in der Tat so, dass SRT der Einstiegspunkt für die fortschrittlichsten feministischen Kräfte darstellt. Auch wenn „Feminismus für die 99 %“ sicher keine marxistische Perspektive aufzeigt, ist die Intention, eine antikapitalistische Losung in die Frauenstreikbewegung hineinzutragen, etwas, worauf wir aufbauen müssen und können.

Die Abgleitflächen sind auch wichtig zu beachten. Bei oberflächlicher Auseinandersetzung liegt die Schlussfolgerung sicher nahe, eine eigene Ebene der Frauenunterdrückung heraufzubeschwören, die eines gesonderten Kampfes von Frauen bedarf und nicht mit der historisch-dialektischen Methode des Marxismus erklärt werden zu können scheint. Auch ist, wie anfangs erwähnt, der Zugang, über feministischen Sozialismus den Marxismus weiterentwickeln zu wollen, unzureichend und endet in der gleichen methodischen Weggabelung. Dafür ist jedoch v. a. die Entstellung der klassischen marxistischen Lehren durch Sozialdemokratie, Stalinismus und etliche zentristische Strömungen verantwortlich, die sie im wahrsten Sinne des Wortes wie einen toten Hund behandelt und vollständig verdreht haben.

Das Verstehen von sozialer Reproduktion ist klarer Weise theoretische Voraussetzung für die Überwindung der Unterdrückung der Frau. Die kritische Auseinandersetzung mit Autorinnen wie Lise Vogel und deren Analyse stellt dabei einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar, diesen Bereich besser auszuleuchten, zu verstehen und weiterzuentwickeln, aber die Frage der Befreiung der Frau lässt sich nicht allein darüber beantworten.

Kapitalistische Tendenzen, die Einbeziehung der Frau in die Lohnarbeit, der spezielle Charakter der Doppel- oder Mehrfachbelastung, sexistische Unterdrückung von Inter-, Trans- und nichtbinären Personen sind alles Erscheinungen, die Antworten brauchen, die über das reine Verstehen von sozialer Reproduktion hinausgehen. Wie Vogel auch argumentiert, gibt es einen Widerspruch zwischen der Steigerung des Mehrwerts, der Ausdehnung der Lohnarbeit u. a. durch Einbezug von Frauen in die Produktion und der Zeit, die in notwendige Reproduktionsarbeit gesteckt werden muss. Die Lösung davon ist natürlich (meistens) kein bewusster, sondern ein ideologisch verschleierter Prozess im Kapitalismus, der viele zusätzliche Probleme schafft. Nicht alle Frauen sind in derselben Form in Reproduktionsarbeit involviert. Es ist also vor allem eine Untersuchung notwendig, die die ökonomischen Ursprünge der Frauenunterdrückung in der Geschichte aufdecken soll und unser Verständnis von der kapitalistischen Wirtschaft und der aller vorhergehenden Gesellschaftsformationen stärkt.

Endnoten

1 Pluto Press, London u. a. 1983

2 Vogel, Lise: a. a. O., ; S. ix; auf Deutsch: Marxismus und Frauenunterdrückung – Auf dem Weg zu einer umfassenden Theorie, Unrast-Verlag, Münster/Westf. Oktober 2019, 1. Auflage, S. 23. Hiernach auch im Folgenden zitiert

3 Ebenda, S. 214

4 Ebenda, S. 220 (Fußnote 3)

5 Dalla Costa, Mariarosa; James, Selma, Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Merve Verlag, Internationale Marxistische Diskussion 36, Berlin/West 1973

6 Marx, Karl: Das Kapital Bd.1, 21. Kapitel, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1971, S. 596f.

7 Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy, Feminismus für die 99 % – Ein Manifest, Matthes & Seitz, Berlin 2019

8 Ebenda, S. 102

9 Vogel, Lise, a. a. O., S. 238

10 Ebenda, S. 241

11 Ebenda, S. 239

12 Vergleiche dazu unsere Kritik an Laclau/Mouffe: Suchanek, Martin, Sackgasse Linkspopulismus. Eine Kritik der Theorien von Laclau und Mouffe, in: Revolutionärer Marxismus 50, Verlag Global Red, Berlin 2018, S. 172 – 235

13 Vogel, Lise, a. a. O., S. 241

14 Siehe dazu: March, Urte (Red Flag Britain), Feminism for the 99 %, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, Berlin 2020




Social Reproduction Theory – Fehler und Ansätze zur Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer, Infomail 1104, 19. Mai 2020

„Social Reproduction Theory“ ist ein Zugang, der sich vornimmt, (meist) auf einer marxistischen Basis die Reproduktionssphäre besser zu analysieren, als es die sozialistische Bewegung bis jetzt geschafft hat. Der Anspruch ist richtig und wichtig. Für ein Verständnis von den ökonomischen Ursachen der Frauenunterdrückung und damit auch für die Strategie zu ihrer Überwindung braucht es eine bessere Analyse der sogenannten Reproduktionssphäre. Auch wenn viele der daraus resultierenden Ideen zu falschen Schlussfolgerungen und Konzepten führen, ist es wichtig, die geleistete Vorarbeit näher zu beleuchten, um eine Perspektive für eine echte marxistische Weiterentwicklung aufzuzeigen.

Geschichte

TheoretikerInnen der „Social Reproduction Theory“ (SRT) beschäftigen sich schon seit den 1970er Jahren mit dem Verhältnis von Reproduktionssphäre und Frauenunterdrückung. Zwar nicht gleichzusetzen mit dem sozialistischen Feminismus – schließlich sind nicht wenige der TheoretikerInnen der SRT in autonomen oder rein akademischen Strukturen zu verorten –, so steht die SRT doch in einem Naheverhältnis zu ihm.

Der sozialistische Feminismus selbst entstand als Antwort auf den Radikalfeminismus und dessen Ablehnung eines gemeinsamen Kampfs mit den männlichen Arbeitern für Frauenbefreiung. Allerdings griff er auch viele der Kritikpunkte des Radikalfeminismus auf. Die ArbeiterInnenbewegung wäre männlich dominiert und Aktivistinnen würden, aufgrund von vorherrschendem Sexismus, nicht gut in die Arbeit eingebunden werden. Für viele war die Antwort darauf eine teilweise separate Organisierung. Auch hielten viele die Kritik aufrecht, dass Marx‘ politische Ökonomie „geschlechtsblind“ sei und den speziellen Charakter der Hausarbeit bzw. Reproduktionssphäre nicht bedachte.

Dies führt teilweise zu einer Abwendung von Marx‘ Theorien und Methoden. Stattdessen wird die Analyse vorgelegt, dass es sich bei der Reproduktionssphäre eigentlich um eine autonome, von der Produktionssphäre unabhängige Ebene handelt. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass auch die Dynamik der Frauenunterdrückung, die aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Bindung der Frau an die Reproduktionssphäre entspringt, eine unabhängige ist und dementsprechend nicht mit denselben Mitteln bekämpft werden kann wie Klassenunterdrückung. Das kann zu einem Verständnis führen, das potenziell die Bewegung spaltet und versucht, einen Kampf gegen den Mann der eigenen Klasse anstelle der wirklichen UnterdrückerInnen anzuzetteln.

Aber auch wenn der sozialistische Feminismus keine Alternative bietet, sind die Fragen, die von dieser Strömung aufgeworfen wurden bzw. werden, und auch die Gründe für ihre Entstehung sehr wichtige Ansatzpunkte für eine antisexistische ArbeiterInnenbewegung.

Es ist dringend notwendig, das in Grundzügen entwickelte Verständnis von Frauenunterdrückung weiterzudenken und nicht in rein ökonomistische Antworten abzudriften wie in Teilen der trotzkistischen Tradition.

Was ist Social Reproduction Theory?

„Dieses Projekt begann vor mehr als 10 Jahren. Wie bei vielen anderen Frauen in den späten 1960ern Jahren fiel mein Engagement für die aufkommende Frauenbewegung mit meiner Entdeckung der marxistischen Theorie zusammen. Zunächst dachten viele von uns, man brauche die marxistische Theorie einfach nur zu erweitern, um sie für unsere Anliegen als Frauenbewegung nutzbar zu machen. Schnell merkten wir jedoch, dass dieser Ansatz viel zu mechanisch war und vieles unbeantwortet ließ. Die marxistische Theorie, die wir vorfanden, und auch das sozialistische Vermächtnis an Werken zur Unterdrückung von Frauen bedurften einer grundlegenden Umgestaltung. Einige wandten sich aufgrund dieser Erkenntnis vollständig vom Marxismus ab. Andere blieben bei dem Versuch, von der marxistischen Theorie Gebrauch zu machen. Sie verfolgten nun das Ziel, die Unzulänglichkeiten der sozialistischen Tradition durch eine ‚sozialistisch-feministische’ Synthese zu überwinden. Obwohl ich mit diesem Ansatz sympathisierte, verfolgte ich weiterhin das ursprüngliche Vorhaben, die marxistische Theorie zu erweitern. Dafür war es jedoch notwendig, zu untersuchen, was marxistische Theorie überhaupt ist. Überdies machte mir eine gründliche Lektüre der wichtigsten Texte des 19. Jahrhunderts zur ‚Frauenfrage’ klar, dass die theoretische Tradition äußerst widersprüchlich ist. … Dennoch bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass nicht sozialistisch-feministische Synthesen, sondern eine Wiederbelebung der marxistischen Theorie in den bevorstehenden  Kämpfen für die Befreiung der Frauen als theoretische Orientierung am besten dient.“ (Lise Vogel, Marxismus und Frauenunterdrückung, 2019, Unrast Verlag Münster)

So versucht Lise Vogel – eine der wichtigsten und marxistischsten TheoretikerInnen der SRT –, die Entwicklung der Theorie zu erklären.

Social Reproduction Theory ist keine eigene Strömung, sondern eher eine theoretische und auch oft akademische Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion im Kapitalismus und, ob deren korrektes Verständnis von „orthodoxer“ marxistischer Theorie abweicht oder sie weiterentwickelt. Sie versucht dabei auch, den Ursprung der Frauenunterdrückung in der Klassengesellschaft aufzudecken, der laut vielen TheoretikerInnen, die sich mit Social Reproduction Theory beschäftigen, aus dieser Sphäre stammt und Frauen aufgrund der Fähigkeit zu gebären auch in diese Rolle historisch gedrängt hat.

Reproduktion im Marxschen Sinne kann mehrere Sachen bedeuten: auf der einen Seite (in der ArbeiterInnenfamilie) die Reproduktion der Ware Arbeitskraft (für den nächsten Tag oder die nächste Generation), andererseits meint Reproduktion auch die beständige Erneuerung der kapitalistischen Gesellschaftsformation (Kreislauf der Kapitalverwertung etc.). Die TheoretikerInnen der SRT beziehen sich vor allem auf die erstere Bedeutung, obwohl natürlich beide Varianten stark verknüpft sind.

Eine Stärke gegenüber anderen feministischen Analysen ist natürlich, dass der Ausgangspunkt ganz klar die ökonomische Analyse ist und auch die Unterdrückung daraus abgeleitet wird. Es wird versucht, Produktionsverhältnisse als menschliche Verhältnisse zu verstehen und dementsprechend gibt es auch keine eigene ökonomische Ebene abseits davon verschiedenen der Unterdrückung innerhalb der Klassengesellschaft. Die speziellen Ausprägungen der Frauenunterdrückung (z. B. von mehrfach Unterdrückten wie Migrantinnen etc.) können im Kontext von mangelnden demokratischen Rechten und deren Auswirkung auf die Gesellschaft und umgekehrt weiterverstanden werden, argumentieren die TheoretikerInnen der SRT.

Sie wollen in der theoretischen Analyse von einer dualen Betrachtungsweise („dual systems approach“), welche die Sphären der Reproduktion und Produktion auf unterschiedliche Ebenen stellt und daraus auch einen separaten Kampf für Frauenbefreiung heraufbeschwört, wegkommen. Stattdessen wird versucht, mit den Methoden, die in Marx‘ politischer Ökonomie begründet liegen, ein einheitliches Verständnis von Produktions- und Reproduktionssphäre zu finden bzw. es weiterzuentwickeln. Schließlich wirft es viele Fragen auf, wenn die Ware Arbeitskraft die einzige ist, die weitgehend außerhalb der Sphäre der Mehrwertproduktion hergestellt wird. Die SRT stellt sich diese Frage zu Recht, auch wenn sie selbst auch problematische Antworten entwickelt.

Lohn für Hausarbeit und Frauenstreiks

Die Fragestellung selbst ist auch nicht neu und wurde schon vor der SRT im feministischen Diskurs aufgeworfen. Mariarosa Dalla Costa warf zum Beispiel 1972 die Frage auf, ob die  Hausarbeit eine Form produktiver Arbeit wäre auf. Produktivität ist natürlich im Marx’schen Sinne zu verstehen als Mehrwert schaffende Arbeit für das Kapital und nicht im Sinne einer moralischen Bewertung (obwohl die Begriffe häufig vermischt werden – gerade in dieser Debatte). Daher stellt die private Hausarbeit ganz eindeutig keine Form produktiver Arbeit dar.

Dalla Costa argumentiert jedoch, dass Frauen durch ihre Reproduktionsarbeit der Ware Arbeitskraft Wert hinzufügen und damit den Mehrwert vergrößern würden. Das heißt, für Dalla Costa schafft private Reproduktionsarbeit genauso Mehrwert, wie es die in der kapitalistischen Produktion tut. Die Konsumtion zuhause ist Teil der produktiven Konsumtion. Frauen bilden somit ein eigenes revolutionäres Subjekt, Hausarbeit würde nur als nicht produktive Arbeit verschleiert und es ist notwendig, sich dagegen zu organisieren. Dafür stellt sie die Forderung nach einer Bezahlung der Hausarbeit auf (Lohn für Hausarbeit). Diese soll Frauen in den ökonomischen Kampf ziehen und es seien ja durch den produktiven Charakter der Hausarbeit auch dieselben Kampfmethoden möglich. Die Welt stehe still, wenn keine häusliche Reproduktionsarbeit mehr geleistet wird, und ohne diesen politischen Kampf könne es keine revolutionäre Perspektive geben.

Es macht keinen Sinn zu versuchen, Hausarbeit mit Produktion gleichzusetzen. Es führt auch zu problematischen Schlussfolgerungen. Die Reproduktion steht aufgrund von historischen Bedingungen außerhalb der kapitalistischen Produktionssphäre und es findet hier individuelle Konsumtion statt, keine produktive (die laut Marx das Verwerten von Produktionsmitteln ist, um den Produkten einen höheren Wert hinzuzufügen und zeitgleich auch die Konsumtion der Ware Arbeitskraft durch den/die KapitalistIn).

Dass Hausarbeit keinen Mehrwert schafft, heißt nicht, dass sie nicht unerlässlich für das Bestehen der Gesellschaft ist. Aber es braucht eben andere Kampfmethoden. Wenn Hausarbeit bestreikt wird, schadet es zuallererst den ArbeiterInnen selbst und nicht primär dem Kapital. Es wird ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse aufgemacht und nicht gegen die KapitalistInnen. Das sind eben auch Probleme, die Reproduktionsstreiks der privaten Hausarbeit mit sich bringen.

Allerdings ist es wichtig, die politischen Möglichkeiten dieser Form der Proteste anzuerkennen. Auch wenn ein Bestreiken der Hausarbeit nicht denselben ökonomischen Effekt hat wie ein Streik der ArbeiterInnen, so sind doch auch sehr, sehr viele Frauen berufstätig – es ist eine gute Möglichkeit, um auf Fragen der Doppelbelastung hinzuweisen, die Einbeziehung von Frauen in den politischen Kampf voranzutreiben und das Erreichen von Leuten, die sonst an die häusliche Sphäre gebunden sind, zu ermöglichen.

Es ist aber keine Voraussetzung, Lohn für Hausarbeit zu fordern, um an solchen Demonstrationen und Aktionen teilzunehmen. Diese Forderung hat vielmehr den Charakter, Frauen noch eher an die häusliche Sphäre zu fesseln und ihnen damit die Möglichkeit zu erschweren, an politischen Kämpfen teilzunehmen – kein Wunder, dass diese Forderung auch von reaktionären Kräften aufgeworfen wird. Wir stellen dem die Forderung nach einer Vergesellschaftung der Hausarbeit entgegen.

Ausblick

SRT hat also viele Ansätze und auch viele Sackgassen. Es ist aber notwendig, sich mit diesem Zugang auseinanderzusetzen, da innerhalb dieser Debatte bis jetzt die intensivsten und auch am engsten an Marx orientierten Untersuchungen geleistet wurden. TheoretikerInnen wie Nancy Fraser, Tithi Bhattacharya und viele mehr werden auch jetzt wieder stark diskutiert. Den besten Ansatz bietet aber vermutlich Lise Vogels Werk „Marxismus und Frauenunterdrückung“ (UNRAST-Verlag, Münster 2019) und auch mit den Problemen, die dieses Buch hat, ist es ein wichtiger Beitrag zur gesamten Debatte und ein ernsthafter Versuch, von einer dualen Betrachtungsweise wegzukommen. Wir werden uns in Zukunft genauer mit ihren Theorien beschäftigen und versuchen, die historisch-materialistische Erklärung von Frauenunterdrückung zu erweitern und daraus ein Programm abzuleiten, um Sexismus – und damit auch Kapitalismus – endgültig ein Ende zu machen!




Feminismus für die 99 Prozent – eine Kritik

Urte March, Red Flag, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung, Nr. 8, März 2020

Frauenbewegungen auf der ganzen Welt sind auf dem Vormarsch.
Seit 2017 haben Frauenstreiks Millionen auf die Straße gebracht, um eine
gleichberechtigte Gesellschaft zu fordern und die geschlechtsspezifischen
Auswirkungen des Neoliberalismus und der Austerität aufzuzeigen.

Während konservative und populistische Regime von Indien bis
zu den Vereinigten Staaten hart erkämpfte soziale und reproduktive Freiheiten
als Teil eines globalen Wandels hin zu konservativem Nationalismus attackieren,
greifen feministische Bewegungen zunehmend nach systemischen Erklärungen für
die Unterdrückung von Frauen.

Dies ist die historische Konjunktur, für die der „Feminismus für die 99 % – Ein Manifest“ (1) geschrieben worden ist. Cinzia Arruza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser, drei in den USA ansässige Akademikerinnen, die in der Frauenstreikbewegung einflussreich und als feministische Theoretikerinnen sehr etabliert sind, stellen sich die Aufgabe, „eine neue, antikapitalistische Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit“ zu „entwickeln – eine, die über die aktuelle Krise hinaus – und in eine neue Gesellschaft führt“. (S. 12)

Antikapitalismus und Internationalismus

„Feminismus für die 99 %“ wurde in über 20 Sprachen veröffentlicht und international weit verbreitet, so dass es sich lohnt, die Bedeutung der Popularität der Broschüre zu bewerten, bevor man die im Manifest dargelegten Perspektiven hinterfragt.

Die Autorinnen beginnen damit, dass sie den liberalen oder „korporativen“ Feminismus – beschrieben als den Wunsch nach einem besseren Gleichgewicht der Geschlechter innerhalb der ausbeuterischen Strukturen der Gesellschaft – als völlig unzureichend für die Lösung der drängenden sozialen Probleme der heutigen Welt abtun. Auf den ersten Seiten nennen sie den Kapitalismus, jenes „System, das den Chef hervorbringt, nationale Grenzen produziert und die Drohnen herstellt, die diese Grenzen überwachen“, als den Feind, der besiegt werden muss, um die Befreiung der Frauen zu erreichen. (S. 10 f.)

Die Autorinnen beschreiben die Unterdrückung der Frauen als wesentlich für das Funktionieren des Kapitalismus und betonen, dass die Befreiung der Frauen ein Kampf zwischen widerstreitenden Kräften in der Gesellschaft ist und nicht das langsame Wachstum der Chancengleichheit. Die Broschüre kehrt häufig zu der Idee der „Transformation des zugrunde liegenden Gesellschaftssystems“ zurück, das die Unterdrückung der Geschlechter diktiert. In der Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein globales System ist, bekräftigen sie die zentrale Bedeutung der Frauenstreiks für einen neuen globalen Widerstand und erkennen die Notwendigkeit internationalen Handelns an, indem sie erklären, dass der Feminismus für die 99 Prozent „entschieden internationalistisch ist“. (S. 27)

Hier gibt es viel, dem man zustimmen kann. Die rhetorische
Betonung von Antikapitalismus und Internationalismus in der Broschüre, wie vage
oder falsch sie auch immer definiert sein mag, zeigt ein wachsendes Bewusstsein
in der Frauenbewegung für die Beziehung zwischen kapitalistischen sozialen
Verhältnissen und Frauenunterdrückung auf. Gleichzeitig enthüllen die Mängel in
der Herangehensweise der Autorinnen den anhaltenden Einfluss der
Identitätspolitik und des postmodernen Akademismus auf die Frauenstreikbewegung.

Für den Erfolg einer weltweiten antikapitalistischen
Bewegung wird es nicht ausreichen, die destruktiven und unterdrückerischen
Tendenzen des Kapitalismus anzuerkennen – es muss die richtige Strategie für
seinen Sturz und seine Ersetzung durch ein neues System vorangetrieben werden.

Soziale Reproduktion

Im Nachwort der Broschüre identifizieren sich die Autorinnen als soziale Reproduktionstheoretikerinnen, und der Inhalt, den sie dieser Identifikation geben, definiert ihre Methode und ihre Schlussfolgerungen. Wie andere TheoretikerInnen der sozialen Reproduktion argumentieren sie, dass die marxistische Tradition fehlerhaft ist, weil ihre Erklärung der Rolle der gebärenden, erziehenden und anderen unbezahlten sozialen Arbeit im Gesamtzyklus der Produktion unvollständig ist. Die zentrale Aussage ihrer besonderen Variante der Theorie der sozialen Reproduktion ist, dass „die kapitalistische Gesellschaft aus zwei untrennbar miteinander verwobenen und doch sich wechselseitig ausschließenden Imperativen besteht“ – der Notwendigkeit, Profit zu schaffen (Produktion), und der Notwendigkeit, dass die Menschen sich selbst erhalten müssen (soziale Reproduktion), und dass diese Spaltung auf eine tief sitzende „Spannung im Herzen der kapitalistischen Gesellschaft“ hinweist. (S. 87, 91)

Die praktische Bedeutung dieses Ansatzes wird in erster Linie durch den Kontrast zum „traditionellen“ marxistischen Denken gefördert, dem die Autorinnen vorwerfen, den Kapitalismus als „lediglich ein Wirtschaftssystem“ vorzustellen und nicht anzuerkennen, dass der Kapitalismus „eine institutionalisierte Gesellschaftsordnung“ ist, „zu der auch jene scheinbar ,außerwirtschaftlichen‘ Verhältnisse und Praktiken gehören, von denen die offizielle Ökonomie getragen wird“. (S. 82) Diese Aussage für sich genommen ist einfach eine eigennützige Vulgarisierung des Marxismus, der in der Tat immer erkannt hat, dass die Produktionsverhältnisse den Überbau der Ideologie, den Staat und eine Vielzahl anderer sozialer Institutionen, darunter die Familie, hervorbringen. Ebenso würde keinE MarxistIn der Aussage widersprechen, dass es „die entlohnte Arbeit des Plusmachens [ … ] ohne die (überwiegend) nicht entlohnte Arbeit des Menschenmachens nicht geben“ könnte. (S. 89 f.)

Die Autorinnen argumentieren ferner, dass MarxistInnen die Produktionssphäre fälschlicherweise als dominant über die Reproduktionssphäre betrachten und die „traditionelle ArbeiterInnenbewegung“ dazu bringen, den wirtschaftlichen Kampf um bessere Löhne gegenüber sozialen Kämpfen zu privilegieren, auf Kosten der Interessen der Frauen. Hier gibt es eine echte Meinungsverschiedenheit. Für MarxistInnen, wie Engels erklärt, geht „die materialistische Anschauung der Geschichte [ … ] von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist“. (2)

In diesem Sinne ist es die Sphäre der Produktion, die die
Sphäre der Reproduktion beherrscht und formt. MarxistInnen sehen die Gewinnung
von Profit und die Akkumulation von Kapital als treibende Kraft und
bestimmendes Merkmal des kapitalistischen Systems. Es war die Entwicklung der
Klassengesellschaft, die zur Entstehung der Familie als einer für die
herrschende Klasse wesentlichen Institution führte. Der Übergang zum
Kapitalismus konsolidierte die Kernfamilie als die effizienteste Art und Weise
der Verwaltung der sozialen Reproduktion.

Dies bedeutet nicht, dass die Familie nicht ein Ort der
Unterdrückung ist oder soziale und politische Forderungen zweitrangig sind. Der
revolutionäre Marxismus versucht, den Kampf der ArbeiterInnenklasse nicht nur
für bessere Arbeitsbedingungen, sondern für die Abschaffung des gesamten
sozialen Systems, das die ArbeiterInnen unterdrückt und ausbeutet, anzuführen.
Der politische Kampf über jede Manifestation der aus dem kapitalistischen
System resultierenden Ungerechtigkeiten, einschließlich der sozialen
Unterdrückung der Frauen und der Aneignung ihrer unbezahlten Arbeit durch das
Kapital, ist wesentlich für die Bildung von Klassenbewusstsein und den
Zusammenhalt einer sozialistischen Bewegung.

In der Tat geht es in Lenins Schlüsselwerk „Was tun?“ fast ausschließlich darum, dieses Argument vorzubringen: „Daher ist es begreiflich, dass die Sozialdemokraten sich nicht nur nicht auf den ökonomischen Kampf beschränken können [ … ] Es ist notwendig, jede konkrete Erscheinung dieser Unterdrückung auszunutzen [ … ] auf den verschiedensten Lebens- und Tätigkeitsgebieten, dem beruflichen, dem allgemein-bürgerlichen, dem persönlichen, dem der Familie, dem religiösen, dem wissenschaftlichen usw.“ (3)

Wo die Autorinnen „altmodische Verständnisse“ des
Kapitalismus kritisieren, denen gemäß sie sich die ArbeiterInnenklasse
„ausschließlich aus denen zusammensetze, die für Löhne in Fabriken oder
Bergwerken arbeiten“, antworten sie nicht auf die marxistische Tradition,
sondern auf die stalinistischen und reformistischen Entstellungen des
Marxismus. Die Tendenz zum Ökonomismus ist nicht ein Merkmal revolutionärer,
sondern einer im Wesentlichen bürgerlichen Politik, die sich darauf beschränkt,
bessere Bedingungen für die ArbeiterInnen innerhalb der Grenzen des
Kapitalismus zu suchen.

Die wirtschaftlichen Auseinandersetzungen durch den Kampf um
die soziale Reproduktion zu ersetzen, ohne eine revolutionäre Strategie
voranzutreiben, das kann diesen Fehler nicht überwinden, sondern verlagert ihn
lediglich auf ein anderes Terrain von Teilreformen.

Kapitalismus und Krise

Die Ablehnung des „Feminismus für die 99 %“ dessen, was das Manifest als den ökonomischen Determinismus der marxistischen Tradition bezeichnet, führt dazu, dass es den Begriff der kapitalistischen Krise neu theoretisiert und lässt die Autorinnen einer sinnvollen Definition des Kapitalismus beraubt bleiben. Sie behaupten, dass die allgemeine Krise historisch gesehen bedeutende Möglichkeiten für eine gesellschaftliche Transformation geboten hat und dass die Existenz von Krisenbedingungen den Imperativ für FeministInnen und Radikale schafft, darauf zu reagieren und den Prozess zu „lenken“. Die Autorinnen stellen ihr Manifest als Strategie zur „Lösung“ der allgemeinen Krise vor, die wir heute durchleben.

Obwohl die Autorinnen sagen, dass sie auf eine „Krise des Kapitalismus“ reagieren, bestehen sie darauf, dass sie „diese Begriffe nicht im üblichen Sinn“ (S. 82) verstehen, und zeigen mit dem Finger auf die marxistische Konzeption der inneren Widersprüche des Kapitals. Stattdessen erkennen sie „als Feministinnen“ an, dass der Kapitalismus auch „weitere, außerökonomische Widersprüche und Krisentendenzen“ (S. 83) beherbergt, was bedeutet, dass die kapitalistische Krise „nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine ökologische, politische und auf die gesellschaftliche Reproduktion bezogene“ ist. (S. 84) Für sie besteht die Wurzel all dieser Krisen im Bestreben des Kapitals, freie Ressourcen aus verschiedenen Quellen (Frauen, Umwelt, ärmere Länder) zu extrahieren und sie in den Prozess der Akkumulation einzubringen, der auf lange Sicht nicht nachhaltig ist und Krisen in jeder dieser parallelen sozialen Sphären verursacht.

MarxistInnen würden zustimmen, dass die Tendenz zur Krise in
die Natur des kapitalistischen Systems selbst eingebettet ist und die
Überausbeutung „freier“ Arbeit und Ressourcen ein Merkmal des Kapitalismus ist.
Aber die Marx’sche Theorie hat eine viel spezifischere Definition von Krise. Sie
behauptet, dass die Quelle der Krise der innere Widerspruch des Kapitals selbst
ist, definiert durch die Ausbeutung der lebendigen Arbeit. In ihrer ständigen
Suche nach Mehrwert werden die KapitalistInnen dazu getrieben, die
Arbeitsproduktivität zu erhöhen, indem sie das Niveau der in der Produktion
eingesetzten Technologie erhöhen.

Dabei sinkt der Anteil des Kapitals, der in die
Arbeitskosten fließt, im Vergleich zu dem, der in Maschinen und Rohstoffe eingeht.
Da es aber nur  ArbeiterInnen aus
Fleisch und Blut sind, die einen Mehrwert schaffen, bedeutet dies im Laufe der
Zeit einen Rückgang der Rentabilität des Kapitals – die Profitrate sinkt tendenziell.
Wenn die Profitrate sinkt, kann das Kapital kein ausreichendes
Rentabilitätsniveau aufrechterhalten, und eine Krise bricht aus. Die Symptome dieser
Wirtschaftskrise – Kapitalabzug, Zins- und Preiserhöhungen – sind das Ergebnis
des verzweifelten Versuchs des Kapitals, seine Rentabilität aufrechtzuerhalten,
was für die ArbeiterInnen verheerende Auswirkungen in Form von Arbeitslosigkeit
und sinkenden Lebensstandards mit sich bringt und in soziale und politische
Unruhen übergreift.

Für MarxistInnen ist das, was der „Feminismus für die 99 %“ als „Krise der sozialen Reproduktion“ beschreibt – wenn „eine Gesellschaft der gesellschaftlichen Reproduktion die öffentliche Unterstützung“ entzieht und „zugleich diejenigen, die das Gros der Reproduktionsarbeit leisten, für anstrengende, aber niedrig bezahlte Arbeit, die zudem noch mit langen Arbeitstagen einhergeht“ (S. 93 f.), rekrutiert – ein untrennbarer Teil der Krise des Kapitals. Das Kapital versucht, sinkende Gewinnraten auszugleichen, indem es den Mehrwert auf Kosten der ArbeiterInnen zurückgewinnt, sowohl die tatsächlichen Löhne als auch den Soziallohn kürzt (einschließlich kostenloser oder subventionierter Kinderbetreuung, staatlicher Bereitstellung von Sozialleistungen usw.). Dies hat den beschriebenen Effekt, dass die Belastung durch unbezahlte soziale Reproduktionsarbeit zunimmt und überwiegend auf Frauen entfällt. Daher sind die Kämpfe gegen die Schließung öffentlicher Dienste, für die Sozialisierung der Kinderbetreuung usw. kein gesonderter feministischer Imperativ, sondern Teil des Klassenkampfes insgesamt.

Im „Feminismus für die 99 %“ hingegen liegt die Notwendigkeit eines antikapitalistischen Ansatzes nicht in einer Antwort auf die Gesetze des Kapitalismus begründet, sondern in einer allgemeinen sozialen Krise, die sich aus einer Vielzahl von Krisen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zusammensetzt und sich zu einer „gesamtgesellschaftlichen Krise“ (S. 27) summiert. Obwohl sie argumentieren, dass FeministInnen in jeder dieser Arenen kämpfen müssen und es für alle diese Kämpfe wesentlich ist, sich miteinander zu verbinden, sehen sie jede dieser Auseinandersetzungen in einer eigenen und separaten Sphäre stattfinden. Als Feministinnen sind sie am meisten damit beschäftigt, in der Krise der sozialen Reproduktion eine Führungsrolle zu übernehmen und die Führung von Kämpfen in parallelen Bereichen wie Antirassismus oder Umweltschutz anderen zu überlassen.

Aber wenn jeder Kampf in einer separaten Sphäre stattfinden
kann, um eine bestimmte Krise zu lösen, dann ist jeder soziale Kampf
gleichermaßen wichtig für die „Überwindung“ des Kapitalismus, und der Erfolg
der „sozialen Transformation“ erfordert nur eine bessere Koordination zwischen
den verschiedenen Bewegungen, nicht aber eine bewusste Strategie zur
Entmachtung der herrschenden Klasse. Die Frage, was die Bewegungen wirklich tun
müssen, um zu einer „nichtkapitalistischen Gesellschaft“ zu gelangen, wird
weiter dadurch verdunkelt, dass die Broschüre den Kapitalismus nie wirklich
definiert. Obwohl die Arbeitswerttheorie zusammengefasst wird, erscheint der
Kapitalismus im gesamten Buch vor allem unter dem Deckmantel seiner Symptome,
einer Ansammlung schrecklicher sozialer Folgen, gegen die verschiedene
Bewegungen sich aufzustellen ermutigt werden.

Wo in der Broschüre vom Kapitalismus als System gesprochen
wird, tritt er als eines in Erscheinung, das aus miteinander verbundenen,
konstitutiven Teilen besteht, und nicht als eines, das als ein einziges nach
den Gesetzen der kapitalistischen politischen Ökonomie funktioniert. Wenn sie
ihre Erklärung dafür, warum sich der Kapitalismus in einer so tiefen Krise
befindet, ausarbeiten, beziehen sie sich manchmal auf den Neoliberalismus, das
Finanzkapital oder den Imperialismus. Aber diese Begriffe werden nicht klar
definiert oder mit politischem Inhalt versehen – Neoliberalismus wird nur als
eine „besonders räuberische Form des Kapitalismus“ (S. 27) und Imperialismus
als wirtschaftlich ausbeuterische Beziehungen zwischen Ländern definiert, die
durch Rassismus bedingt sind.

Dies zeigt, dass – trotz der ständigen Betonung ihrer „antikapitalistischen“ Ausrichtung – der Ausgangspunkt der Autorinnen eine Ablehnung des historischen Materialismus und der Kapitalkritik von Marx ist. Da diese Konzepte am Ende den revolutionären Charakter und die Aufgaben des Subjekts in Gestalt der ArbeiterInnenklasse innerhalb des Kapitalismus umreißen, folgt daraus natürlich, dass die Autorinnen die ArbeiterInnenklasse als geschichtliche Trägerin des gesellschaftlichen Wandels ablehnen. Keine Passage fasst dies besser zusammen, als die, wo die Autorinnen, nachdem sie anerkannt haben, dass ihr Manifest auf den Schultern von Marx und Engels steht, ihre Anerkennung sofort einschränken: „Da wir uns heute einer gespalteneren und heterogeneren politischen Landschaft gegenüber sehen, ist es für uns nicht so einfach, uns eine weltweit geeinte revolutionäre Kraft vorzustellen.“ (S. 78)

Populismus

Nachdem er so die Zentralität der Klasse im Kampf gegen den Kapitalismus beseitigt hat, ersetzt „Feminismus für die 99 %“ diese durch „einen Universalismus, der seine Form und seinen Inhalt aus der Vielzahl der Kämpfe von unten erhält“. Konkret wird dies durch eine aggregierte Masse von sozialen Bewegungen verkörpert, die die „99 %“ repräsentieren. Die Autorinnen skizzieren die Konturen ihrer Allianz, indem sie sagen „Wir lehnen nicht nur den reaktionären Populismus ab, sondern auch den fortschrittlichen Neoliberalismus. Tatsächlich beabsichtigen wir unsere Bewegung genau dadurch aufzubauen, dass wir das Bündnis mit diesen beiden aufkündigen“. (S. 72) Die Schreiberinnen berufen sich auf einen progressiven oder „antikapitalistischen“ Populismus, die politische Ideologie der Mittelschichten.

Ihr erklärtes Ziel ist es, die Frauenstreiks zu verstärken und Sympathie und Unterstützung zwischen der Frauenbewegung und anderen sozialen Kämpfen aufzubauen, um „sich jeder Bewegung anzuschließen, die für die 99 % kämpft“. Da die Autorinnen ihre antikapitalistische Strategie als ein Bündnis von sozialen Bewegungen definiert haben, die in verschiedenen Bereichen kämpfen, steht es ihnen frei, die Tugenden der verschiedenen Bewegungen nacheinander zu preisen, wobei sie der Frage ausweichen, wie sich die Bewegungen zueinander verhalten sollen, und sich stattdessen auf die Aufgaben von FeministInnen im Kampf um die soziale Reproduktion konzentrieren.

In der gesamten Broschüre gibt es eine Spannung zwischen dem Wunsch der Schreiberinnen, FeministInnen als FührerInnen dieser antikapitalistischen Allianz zu positionieren, und ihrer Neigung zu einem diffusen Horizontalismus. Manchmal wird die Frage „Werden dann Feministinnen an vorderster Front beteiligt sein?“ (S. 31) als entscheidend für den Erfolg ihres antikapitalistischen Aufstandes gestellt. Doch im gesamten Buch bleibt die Frage unbeantwortet, wer die kollektiven Aufgaben ihres so genannten „antikapitalistischen Aufstands“ festlegen oder leiten wird, und es gibt keine Diskussion über die Organisationsformen, die notwendig sind, um ein Bündnis so unterschiedlicher Bewegungen aufrechtzuerhalten. Das Zusammentreffen der Vielzahl von Bewegungen wird als eine spontane Annäherung von Subjekten vorgestellt: „Nur durch bewusste Bemühungen, Solidarität aufzubauen, durch den Kampf in und durch unsere Vielfalt, können wir die kombinierte Kraft erreichen, die wir brauchen, um die Gesellschaft zu transformieren“.

Obwohl wir  mit „Feminismus für die 99 %“ darin übereinstimmen, dass es wichtig ist, Solidarität zwischen den verschiedenen Bewegungen aufzubauen, ist unser Endziel nicht nur, die Vielfalt zu feiern und voneinander zu lernen, sondern unsere Unterschiede zu überwinden und die große Vielfalt spontaner und themenspezifischer Bewegungen zu einer einzigen, facettenreichen Bewegung zu vereinen, die sich ihres gemeinsamen Ziels bewusst wird. Das Ziel muss der Sturz des Kapitalismus sein, der notwendig sein wird, um eine dauerhafte Befreiung aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erreichen, einschließlich derer, die auf der Grundlage von Geschlecht, Gender und Sexualität unterdrückt werden. Es ist gerade die politische Führung, die durch die Zusammenführung der verschiedenen Elemente unter einem gemeinsamen Programm die politischen Ziele der verschiedenen Bewegungen erhöhen und sie auf den Sozialismus ausrichten kann.

Hier ist die Frage der Handlungsfähigkeit von größter
Bedeutung. Welche Gruppe kann sich vereinen und eine globale
antikapitalistische Bewegung anführen? Die Antwort, die der Marxismus gibt, ist
die ArbeiterInnenklasse – sowohl Frauen als auch Männer, die aus allen
Nationalitäten und Rassen stammen. Ihr revolutionäres Potenzial ergibt sich aus
ihrer Rolle in der Produktion, durch die die Klasse die kollektiven Fähigkeiten
und das Ethos erwirbt, um sich gegen ihre AusbeuterInnen zu vereinigen. Der
familiäre Rahmen spaltet und atomisiert, anstatt die Klasse zu vereinen, wenn er
vom Arbeitsplatz und der Gemeinschaft der ArbeiterInnenklasse getrennt ist.

Aber die Notwendigkeit unbezahlter und bezahlter Arbeit für
die KapitalistInnen gibt den ArbeiterInnen und ihren Familien – als Klasse und
nicht nur als Belegschaft – die Macht, sich zu wehren. Die ArbeiterInnenklasse
hat gezeigt, dass sie wie keine andere Klasse ihre eigenen Organisationen
aufbauen kann, und sie ist die einzige soziale Gruppierung, die eine
sozialistische Revolution erfolgreich geführt hat. Kein heterogenes „Volk“,
keine „Bewegung von Bewegungen“, die von Klassenunterschieden und Antagonismen
zerrissen ist, kann diese ersetzen und die Agentur eines wirklich
antikapitalistischen Projekts sein.

Indem sie die ArbeiterInnenklasse als universelles Subjekt
innerhalb des Klassenkampfes ablehnen, weisen die Autorinnen das Ziel des
Sozialismus zurück, d. h. die Übernahme der Staatsmacht durch die
ArbeiterInnenklasse und die demokratische Planung der Wirtschaft. Da sie sowohl
den bürgerlichen Feminismus als auch den Marxismus ablehnen, ist ihre Ideologie
letztlich eine solche des kleinbürgerlichen Feminismus, der Klasse nur als eine
von vielen Identitäten mit überlappenden und konkurrierenden Interessen sieht
und daher unfähig ist, eine Einheit im Kampf zu schmieden. Ihr Machtanspruch
kann nur ein allgemeiner „antisystemischer“ Linkspopulismus sein, in dem den 99 %
– d. h. allen Bevölkerungsklassen, die durch die sozialen Bewegungen
vertreten werden mit Ausnahme der MilliardärInnen – die zentrale Rolle
zugeschrieben wird, aber notwendigerweise ohne ein gemeinsames Ziel, geschweige
denn eine Strategie zur Erreichung dessen. Und genau hier, in der Frage der
Taktik und Strategie, zeigt sich die eklatanteste Schwäche des Buches.

Frauenstreiks

„Feminismus für die 99 %“ stellt die Frauenstreiks als eine wesentliche Taktik für den Aufbau einer „neuen, nichtkapitalistischen Gesellschaftsform“ dar und argumentiert, dass sie die Vorstellung der Menschen von Streiks auf der ganzen Welt neu beleben können. In Übereinstimmung mit der eklektischen Methode der Autorinnen bleibt im Buch unklar, ob die Frauenstreiks als eine Protestbewegung aufgebaut werden sollten, um den halbautonomen Kampf für Reformen im Bereich der sozialen Reproduktion voranzutreiben, oder ob sie ein bewusster Versuch sind, den Kapitalismus zu schwächen.

Für MarxistInnen hat ein Streik eine spezifische Funktion
als direkte Konfrontation zwischen ArbeiterInnen und Kapital. Durch den Streik
berauben die ArbeiterInnen die Bosse ihrer Profite und versuchen durch die
Androhung weiterer Störungen einige Zugeständnisse seitens der KapitalistInnen
zu erreichen. Wenn ein Streik zu einer Massenstreikbewegung verallgemeinert
wird, stellt sich die Frage, wer in der Gesellschaft die Macht. Unter den
richtigen Bedingungen und unter der richtigen Führung kann sie der Auslöser für
einen revolutionären Aufstand sein. Streiks am Arbeitsplatz haben diese
störende Wirkung, weil der Rückzug der produktiven Arbeit die Produktion von
Mehrwert behindert, der das Wesen des Kapitalkreislaufs ausmacht. Unbezahlte
Arbeit im Haushalt bringt per Definition keinen Profit, daher ist ihre
Niederlegung kein direkter Schlag gegen das Kapital.

„Feminismus für die 99 %“ scheint diese Prämisse zu akzeptieren, wenn es sagt, dass die Rolle der Frauenstreiks darin besteht, „die unverzichtbare Rolle“ sichtbar zu machen, „die geschlechtsspezifische, unbezahlte Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften spielt“ (S. 17). In Wirklichkeit werden die Frauenstreiks als eine Protestbewegung dargestellt und nicht als ein bewusster Versuch, Kapazitäten zur Störung der kapitalistischen Wirtschaft aufzubauen. Aber da „Feminismus für die 99 %“ keine Vorstellung von den Gesetzen und Grenzen des Kapitals hat, sondern nur „ehrgeizige Projekte der sozialen Transformation“, behauptet es, dass ein solcher Protest immer noch ein transformativer Akt sein kann, „vor allem durch eine Erweiterung der Vorstellung dessen, was überhaupt als Arbeit zählt“. (ebd.)

Obwohl der Marxismus beschuldigt wird, eine künstliche Aufteilung der Bewegung in den wirtschaftlichen und sozialen Kampf als getrennte Sphären aufrechtzuerhalten, begeht „Feminismus für die 99 %“ in Wirklichkeit den gleichen Fehler in umgekehrter Richtung, indem es versucht, den sozialen reproduktiven Kämpfen Vorrang einzuräumen. Die Autorinnen übertreiben zwar die Fähigkeit des Entzugs von sozialer reproduktiver Arbeit, den Kapitalismus zu stören, untergraben aber gleichzeitig das tatsächliche politische Potenzial der Frauenstreiks, indem sie ihre Funktion künstlich auf die einer Protestbewegung zur Hebung des feministischen Bewusstseins beschränken. Selbst die grundlegendsten politischen Forderungen, die auf eine Verbesserung der materiellen Position der Frauen in der Gesellschaft abzielen wie allgemeine kostenlose Kinderbetreuung und gleiche Bezahlung, fehlen auffallend außer in ihrer negativen Form, als Beispiele für Dinge, die der Gesellschaft derzeit fehlen.

Tatsächlich kann die Nutzung der Rolle der Frauen in der
kapitalistischen Wirtschaft als Lohnarbeiterinnen
zur Organisation von Frauenstreiks die Grundlage einer Strategie zur Ausweitung
der Bewegung sein, die eine größere Zahl von ArbeiterInnen – einschließlich
Männern – in die Streiks hineinzieht. Einige der erfolgreichsten Frauenstreiks
haben in Ländern stattgefunden, in denen sie von großen Gewerkschaften
unterstützt wurden wie in Spanien und der Schweiz. Die Frauen hörten nicht nur
mit der Hausarbeit auf, sondern verließen ihre Arbeit auf der Grundlage
sozialer und wirtschaftlicher Forderungen: gleiche Bezahlung, soziale
Absicherung der Kinderbetreuung, Beendigung der Schikanen am Arbeitsplatz und
der häuslichen Gewalt.

Die Verbindung von sozialen und wirtschaftlichen Forderungen
verleiht der Bewegung einen politischen Charakter und stellt Frauen an die
Spitze eines Kampfes, der die Frage aufwirft, welches Sozialsystem all diese
Forderungen gleichzeitig erfüllen und die Errungenschaften dauerhaft machen
könnte. Wenn sich die Streiks am Arbeitsplatz ausbreiten, wird die
Unterstützung von arbeitslosen Frauen, die zu Hause arbeiten, die Umwandlung
der Bewegung in einen allgemeinen politischen Konflikt beschleunigen.

Wenn eine solche Bewegung erfolgreich wäre, würde sie
zweifellos auf den Widerstand des bürgerlichen Staates stoßen. Dieser Punkt
wäre ein entscheidender. Die Bewegung müsste sich entweder auf die
Machtübernahme oder auf eine Niederlage vorbereiten. Auch über das Wesen des
Staates schweigt „Feminismus für die 99 %“. Das Beste, was man daraus
schließen kann, ist, dass der Staat irgendwie obsolet wird, wenn verschiedene
soziale Bewegungen eine bestimmte Schwelle des Radikalismus und der
Zusammenarbeit überschreiten.

Schlussfolgerungen

„Feminismus für die 99 %“ beginnt mit der Behauptung: „Die Organisatorinnen des huelga feminista [Frauenstreiks] bestehen darauf, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen“ (S. 10). Doch trotz ihrer Rhetorik ist der Antikapitalismus der Autorinnen eher ein utopischer Anspruch als eine revolutionäre Strategie.

Wie soll der Kapitalismus beendet werden? Kein Streik –
weder ein Streik, der die Produktion stoppt, noch einer, der in erster Linie
eine Massendemonstration ist – kann dies allein erreichen.
Massendemonstrationen von Frauen als Hausfrauen wie auch als Lohnarbeiterinnen
sind als Beweis unserer potenziellen Macht von unschätzbarem Wert. Aber wenn
diese wirklich auf der Beendigung des Kapitalismus „bestehen“ sollen, müssen
sie sich zunächst in politische Streiks verwandeln, die bewusst eine Regierung
und den Staat zur Kapitulation zwingen wollen und dann in einen Aufstand, eine
Revolution.

Wenn der Streik wirklich ein wesentliches Element der
Vorbereitung und ein potenzieller Katalysator für eine antikapitalistische
Revolution ist – und tatsächlich ist er das –, dann muss die
ArbeiterInnenklasse die zentrale oder führende Kraft darin sein. Sicherlich
wird sie Verbündete aus anderen unterdrückten und ausgebeuteten Klassen
brauchen, aber die ArbeiterInnenklasse muss die hegemoniale Klasse sein, weil
der Kapitalismus historisch gesehen nicht ohne sie auskommt, während die
ArbeiterInnenklasse auf den Kapitalismus verzichten kann.

Nur die ArbeiterInnenklasse kann die Massenproduktion und -verteilung und damit auch die Reproduktion sozialisieren, die Frauen von der Hausarbeit im individuellen Familienhaushalt befreien und die jahrhundertealte Unterdrückung der Frauen beenden. Seit den Tagen von Marx und Engels haben die RevolutionärInnen erkannt, dass diese Ziele untrennbar miteinander verbunden sind: „Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche“. (4)

Demzufolge müssen die revolutionären Ziele von Anfang an
anerkannt und hervorgehoben werden und dürfen nicht hinter verwirrender
populistischer Rhetorik oder in der Rede von Bündnissen unterdrückter Schichten
oder „Identitäten“ versteckt werden, von denen jede über ihre eigenen, nicht
miteinander verbundenen Ideologien, Tagesordnungen und bereits bestehende
Führungen und Organisationen verfügt. Für antikapitalistische Frauen muss der
Ausgangspunkt die proletarische Frauenbewegung sein, an der Frauen sowohl als
Produktionsarbeiterinnen wie auch als Dienstleisterinnen im Haushalt
teilnehmen. Als die Hauptorganisatorinnen im Bereich des Konsums, der
Kinderbetreuung und der Bildung spüren Frauen die Auswirkungen der
kapitalistischen Krise am unmittelbarsten. Es ist kein Zufall, dass sich in
jedem großen Klassenkampf, der die engen Grenzen eines Tarifstreits
überschreitet, Frauen organisiert haben.

Der Zweck der proletarischen, im Gegensatz zu einer
kleinbürgerlichen Frauenbewegung, liegt darin, Frauen in den Kampf für den
Sturz des Kapitalismus zu ziehen, basierend auf einer Strategie für die
revolutionäre Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse. Ihre Aufgabe ist es,
politische Forderungen zur Beseitigung der materiellen Basis der
Frauenunterdrückung zu formulieren, die in jedem gesellschaftlichen Kampf auftauchen,
der nach dem Prinzip handelt: kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, keine
Frauenbefreiung ohne Sozialismus!

Endnoten

(1) Cinzia
Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser, Feminismus für die 99 %:
Ein Manifest, Matthes & Seitz, Berlin 2019; alle Zitate nach der
deutschsprachigen Ausgabe.

(2) Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von
der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, Berlin/O. 1974, S. 210

(3) Lenin, W. I.: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung,
LW 5, Berlin/O. 1955, S. 413

(4) Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des
Privateigentums und des Staats, MEW 21, Berlin/O. 1975, S. 77




Hausarbeit und Frauenstreik

Stefan Katzer, ArbeiterInnenmacht, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 7, März 2019

Wenn
feministische Organisationen am 8. März, dem internationalen Frauenkampftag,
auch in Deutschland zum „Frauenstreik“ aufrufen, folgen sie damit dem Vorbild
von Millionen Frauen weltweit. Diese legten bereits letztes Jahr unter anderem
in Argentinien, Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Indien, Iran, Italien,
Kolumbien, auf den Philippineninseln, in der Republik (Süd-)Korea, im
mehrheitlich kurdisch bevölkerten nordsyrischen Kanton Afrin sowie in der
Türkei und in Uruguay die Arbeit nieder und gingen aus Protest gegen ihre
gesellschaftliche Unterdrückung auf die Straße. Sie forderten dabei unter
anderem ein Ende der Gewalt gegen Frauen, das Recht auf körperliche und
sexuelle Selbstbestimmung, die Abschaffung prekärer Arbeitsverhältnisse sowie
eine faire Aufteilung der Haus- und Betreuungsarbeit. Die aufrufenden Gruppen
konnten dabei zum Teil enorme Mobilisierungserfolge erzielen wie etwa in
Spanien, wo zeitweise ca. sechs Millionen Frauen und Männer für einige Stunden
in den Ausstand gingen.

Der
„Frauenstreik“, der als politische Kampfform in den letzten Jahren vermehrt
wiederentdeckt wurde, ist jedoch bedeutend älter. Er kann als eine Erfindung
der zweiten Welle der Frauenbewegung betrachtet werden, die Ende der 1960er
Jahre vor allem in den USA und (West-)Europa entstand. Der „autonome
Frauenkampf“, den Teile dieser Bewegung propagierten und theoretisch zu
legitimieren versuchten, kann dabei auch als politische Reaktion auf die
Ignoranz der reformistisch geführten Organisationen der ArbeiterInnenbewegung,
aber auch der meisten Gruppen aus der „radikalen Linken“ für die Probleme der
(Haus-)Frauen verstanden werden. Der Einfluss kleinbürgerlicher Ideologien auf
den neu aufkommenden Feminismus soll nicht geleugnet werden. Die Trennung von
Frauen- und Klassenkampf ist jedoch ebenso Folge der Unfähigkeit der
Organisationen der ArbeiterInnenklasse, eine politische Kampfperspektive zu
vermitteln, welche den Kampf gegen patriarchalische Unterdrückung und
kapitalistische Ausbeutung als gemeinsamen versteht. Wenn wir uns im Folgenden
mit diesen Theorien auseinandersetzen, so in der Absicht, dessen Notwendigkeit
und seine politischen Perspektiven aufzuzeigen. Inwiefern hierfür der Bezug auf
das Proletariat nach wie vor zentral ist, soll auch in Auseinandersetzung mit
der „Wert-Abspaltungskritik“ von Roswitha Scholz geklärt werden.

(Haus-)Frauenstreik

Theoretisch begründet wurde die Idee des Frauenstreiks von Mariarosa Dalla Costa und Selma James, die mit ihrer Schrift „Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft“ die Debatte um das Thema Hausarbeit in den 1970er Jahren entscheidend prägten. Dalla Costa und James, die sich anschickten, die marxsche Theorie von ihren „blinden Flecken“ zu befreien und durch die Einbeziehung der Reproduktionsarbeit in die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise die Ausbeutung der Frau in der Familie sichtbar zu machen, diskutierten in diesem Zusammenhang auch die Frage des „Frauenkampfes“. Dabei sahen sie in der kollektiven Verweigerung der Hausarbeit eine geeignete politische Kampfform, um die Isolation der Frauen im Haushalt zu durchbrechen und ihren Kampf um die Befreiung von patriarchalischer Unterdrückung mit dem gegen die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse zu verbinden. Sie betrachteten den Frauenkampf somit als ein geeignetes Mittel im Kampf der (Haus-)Frauen gegen die Ausbeutung in der Familie, konzipierten ihn aber von Anfang an zugleich als „Teil des Kampfes, den die Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Arbeit führt“ (Dalla Costa/James, S. 42).

Ihr Vorwurf lautete, Marx sei für wesentliche Formen der Unterdrückung und ökonomischen Ausbeutung blind gewesen. Für sie war die in der Familie geleistete Hausarbeit eine Form produktiver Arbeit wie die in der Industrieproduktion, die Mehrwert für den/die Kapitalistin schafft. Zugleich bildete diese Tatsache nach ihrer Ansicht die ausschlaggebende materielle Grundlage für die Möglichkeit eines „autonomen Frauenkampfes:“ „Diese Möglichkeit des Kampfes auf gesellschaftlicher Ebene entsteht eben aus dem gesellschaftlich produktiven Charakter der Tätigkeit der Frau im Haus.“ (S. 43) Oberflächlich betrachtet erscheine die Hausarbeit zwar als eine persönliche Dienstleistung für den Ehemann, tatsächlich aber gehe sie direkt in die Mehrwertproduktion des Kapitals ein, indem nämlich die Hausarbeit die Ware Arbeitskraft des männlichen Arbeiters hinter dem Rücken der industriellen Produktion, also in verschleierter Form, ohne Lohn reproduziere. Dadurch sorge sie für die Vergrößerung der Mehrwertproduktion, sei also produktive, Mehrwert erzeugende Arbeit. Da die kapitalistische Produktionsweise ohne die Reproduktion der Ware Arbeitskraft nicht funktionieren könne, sei zudem die Familie als die hauptsächliche Stütze der kapitalistischen Organisation der Arbeit zu betrachten (S. 42). Ebenso sei die Konsumtion, die in der Familie stattfinde, produktive Konsumtion und auch dadurch die Hausarbeit Moment der kapitalistischen Mehrwertproduktion. Halten wir zunächst fest, dass „produktive“ Hausarbeit im o. a. Sinne nur in der LohnarbeiterInnenfamilie geleistet werden und somit nicht die Arbeit aller Hausfrauen umfassen kann.

Zwei wesentliche
Konzepte bilden somit die Grundlage für diese Theorie im Fall der
proletarischen Hausfrauen: ihre Produktion von Arbeitern/Arbeitskraft
(d. h. Kindererziehung, Dienstleistung am Ehemann/Arbeiter) und ihre Rolle
bei der „Konsumtion als Teil der Produktion“, also Einkaufen, Kochen, Putzen,
Pflegen usw. Die Behauptung, diese beiden Aspekte der Hausarbeit brächten Mehrwert
hervor, ignoriert allerdings zwei wesentliche Unterschiede, nämlich 1) den
zwischen industrieller und privaterKonsumtion (d. h. Verbrauch von
Lebensmitteln in der Familie) und 2) den Unterschied zwischen produktiver
Arbeit unter dem Kapitalismus, d. h. Lohnarbeit für eine/n KapitalistIn
zur Erzeugung von Mehrwert, und einfacher Arbeit, die „nur” einen Gebrauchswert
erzeugt.

Zum Unterschied
zwischen industrieller und privater Konsumtion schreibt Marx:

„Die Konsumtion des Arbeiters ist doppelter Art. In der Produktion selbst konsumiert er durch seine Arbeit Produktionsmittel und verwandelt sie in Produkte von höherem Wert als dem des vorgeschoßnen Kapitals. Dies ist seine produktive Konsumtion. Sie ist gleichzeitig Konsumtion seiner Arbeitskraft durch den Kapitalisten, der sie gekauft hat. Andrerseits verwendet der Arbeiter das für den Kauf der Arbeitskraft gezahlte Geld in Lebensmittel: dies ist seine individuelle Konsumtion. Die produktive und die individuelle Konsumtion des Arbeiters sind also total verschieden. In der ersten handelt er als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses.“ (Marx: Das Kapital, Bd. 1, 21. Kapitel, S. 596f.; Hervorhebung durch d. Red.)

Zwar wird auch
der private Verbrauch, von den KapitalistInnen berücksichtigt, da er zur
Aufrechterhaltung und Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist, somit ein
notwendiges Moment des Produktionsprozesses darstellt. Aber da der/die
ArbeiterIn außerhalb des Produktionsprozesses nicht dem/r KapitalistIn, sondern
sich selbst gehört, kann er/sie dies getrost dem Selbsterhaltungs- und
Fortpflanzungstrieb der ArbeiterIn überlassen. Die Tatsache, dass es notwendig
ist zu essen, zu leben und sich fortzupflanzen, macht die
(ArbeiterInnen-)Familien somit nicht zu einem „Zentrum gesellschaftlicher
Produktion”. Diese Dinge finden vielmehr ungeachtet der gesellschaftlichen
Produktionsform statt. Individuelle Konsumtion zu Hause ist keine kapitalistische
Produktion, da dem/r KapitalistIn die Familie nicht gehört. Der/die ArbeiterIn gehört vielmehr
weiterhin sich selbst und verkauft dem/r KapitalistIn lediglich
stundenweise seine/ihre Arbeitskraft. Die Ware Arbeitskraft wird also in der
ArbeiterInnenfamilie nicht als Ware produziert, sondern als solche im
kapitalistischen Produktionsprozess verkauft. Somit ist auch der
„Produktionsprozess“ der Ware Arbeitskraft im Haushalt selbst nicht
kapitalistisch. Er steht vielmehr außerhalb des Lohnarbeit-Kapital-Verhältnisses,
welches die systematische Grundlage der Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse
darstellt. Auch geht die (notwendige Reproduktions-)Arbeit nur dann als
wertbildende Arbeit in diese besondere Ware ein, wenn diese in Form von
bezahlten Dienstleistungen erbracht wird. Die Arbeitskraft wird durch Verbrauch
materieller Dinge (Essen, Kleidung) und Dienstleistungen (medizinische
Versorgung, Ausbildung) geschaffen. Der Gesamtwert dieser Mittel zum
Lebensunterhalt ist der Wert der Arbeitskraft. Die zur Aufbereitung dieser
Verbrauchsgüter von den Hausfrauen geleistete Hausarbeit wird bei dieser Summe nicht
berücksichtigt. Hausarbeit fügt der Ware Arbeitskraft somit auch keinen Wert hinzu,
sie schafft „lediglich“ Gebrauchswert für die individuelle Konsumtion.
Ihr Gebrauchswert für den/die KapitalistIn besteht dagegen erst in ihrem
industriellen Konsumtionsprozess, der Erzeugung von Mehrwert.

Das bedeutet
umgekehrt aber nicht, dass Frauen zu Hause nicht arbeiten oder ihre Arbeit – im
normativen Sinne – „nichts wert“ sei. Es bedeutet lediglich, dass diese
häusliche Schufterei keine kapitalistische Produktion ist und sie genau aus diesem Grund
bei der Analyse kapitalistischer Produktionsverhältnisse von Marx nicht
berücksichtigt wird. Dass Marx die im Haushalt geleistete Arbeit nicht als
„produktive Arbeit“ fasste, hat also nichts mit seiner Blindheit gegenüber
sexistischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen zu tun. Es liegt
vielmehr daran, dass diese Arbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen
vom Produktionsprozess wirklich ausgeklammert ist und „privat“ stattfindet –
obwohl sie als notwendige Arbeit für die Reproduktion der Gesellschaft zugleich
unerlässlich ist. Wenn Dalla Costa und James also behaupten, dass Frauen
Menschen „produzierten“, dann ist das im biologischen Sinne sicherlich richtig,
bedeutet aber nicht, dass man deshalb schon von produktiver Arbeit – für eine/n
KapitalistIn – sprechen kann. Genau dies war der theoretische Fehlschluss, der
letztlich auch zu falschen politischen Forderungen führte.

„Lohn für Hausarbeit!“ – eine
Forderung, viele Probleme

Eine, die
mit der Kampfform des (Haus-)Frauenstreiks erkämpft werden sollte, lautete:
„Lohn für Hausarbeit“. Sie begegnet uns heute zum Teil in der etwas
schwammigeren Forderung nach einer „Wertschätzung der Hausarbeit“ wieder und
wird auch vom Bündnis „Frauen*streik“ vertreten. Im „Aufruf zum Streik“ erklärt
es dazu u. a. Folgendes: „Wir wollen streiken, … weil wir in einer Welt
leben wollen, in der jede Arbeit wertgeschätzt wird. … weil wir uns nicht
länger ausbeuten lassen, weder zu Hause, noch auf der Lohnarbeit. … weil
unsere Zeit uns gehört und wir selbst bestimmen wollen, wann und wie wir
arbeiten. […].“ (Aufruf Frauenstreik 2019) Die Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“
ist nicht alleine deshalb problematisch, weil sie auf einer falschen Analyse
beruht (eine solche kann sinnvoll und unterstützenwert sein), sondern vielmehr,
weil sie auch politisch-strategisch einige Probleme aufwirft. Dalla Costa und
James haben eines selbst diskutiert. Sie erkannten, dass die Forderung Gefahr
läuft, „so ausgelegt zu werden, als ob wir die Situation der Hausfrau
institutionalisierten und damit verfestigten wollten“ (Dalla Costa/James, S.
42), während ihr eigentliches Ziel darin bestehe, „die gesamte Hausfrauenrolle
zu zerstören“ (S. 43). Wenn es auch keinen Grund dafür gibt, die Aufrichtigkeit
der Autorinnen bezüglich ihrer revolutionären Intention zu bezweifeln, ist es
doch so, dass die soziale Logik einer Forderung und deren materielle
Auswirkungen nicht automatisch dem entsprechen, was sich der/die Fordernde
dabei subjektiv „eigentlich“ denkt oder wünscht. Denn diese Forderung zielt
gerade nicht auf die Überwindung der Trennung von produktiver und
reproduktiver/Gebrauchswert bildender Arbeit ab. Sie schreibt sie und die ihr
zugrunde liegende sexistische Arbeitsteilung vielmehr fest. Darüber hinaus
zeugt sie von einem falschen Verständnis des (bürgerlichen) Staates. Dieser ist
Staat des Kapitals und steht nur scheinbar über den Klassengegensätzen. Er
sichert zugleich die Voraussetzungen der kapitalistischen Ausbeutung und
schützt diese auch mithilfe seines Gewaltmonopols, dient somit in erster Linie
der herrschenden Klasse als Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft. Ein
revolutionäres Programm, das die Aufhebung aller Formen der Ausbeutung und
Unterdrückung zum Ziel hat, muss dementsprechend auf die Zerschlagung des
bürgerlichen und auf die Errichtung eines proletarischen Halbstaates abzielen,
um die notwendigen gesellschaftlichen Umwälzungen vollziehen und absichern zu
können.

Die
Neuaufteilung der Hausarbeit, d. h. die Aufhebung der sexistischen
Arbeitsteilung, erfordert deshalb eine umfassende revolutionäre Strategie und
ein ihr entsprechendes Programm, welches unter anderem die Forderung nach einem
Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten enthält und die gesamte
ArbeiterInnenklasse als Subjekt der revolutionären Umwälzung benennt. Denn nur
diese ist objektiv dazu in der Lage, eine bewusste Vergesellschaftung des
Arbeits- und individuellen Reproduktionsprozesses und der darauf aufbauenden
Verkehrsformen vorzunehmen.

Entlohnung? Vergesellschaftung!

Die Forderung
nach einem/r „Lohn/Wertschätzung für Hausarbeit“ sollte deshalb ersetzt werden
durch die nach deren Vergesellschaftung. Diese muss entsprechend ihrer
Bedeutung und ihrem Zusammenhang mit anderen Bereichen der Produktion in ein
umfassendes Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten integriert werden. So
kann die Frage nach der demokratischen Planung der gesamten gesellschaftlichen
(Re-)Produktion und der Verteilung der hierfür notwendigen Gesamtarbeit auf
alle arbeitsfähigen Hände und Köpfe gelöst werden. Es geht dabei um die
bewusste Organisation des gesellschaftlichen Zusammenhangs von Produktion und
den darauf aufbauenden gesellschaftlichen Verkehrsformen durch die in Räten
organisierten ProduzentInnen selbst. Die Verbindung mit den Kämpfen der
ArbeiterInnenklasse und die Integration einzelner Forderungen in ein
revolutionäres Übergangsprogramm sind 
auch deshalb notwendig, weil die Hausfrauen in keinem direkten
Verhältnis zum Kapital stehen und dementsprechend auch kein direktes
ökonomisches Druckmittel haben, das sie nutzen könnten, um ihre Forderungen
durchzusetzen. So waren auch bisher jene „(Haus-)Frauenstreiks“ am
erfolgreichsten, welche die Lohnabhängigen integrierten und dazu brachten, ihre
Arbeit ebenfalls niederzulegen. Dass dies auch vom Bündnis „Frauen*streik“
angestrebt wird, ist deshalb zu begrüßen. Allerdings ist die Klärung der
hierfür notwendigen Strategie und der jeweils konkret anzuwendenden Taktiken
etwa gegenüber den reformistischen geführten ArbeiterInnenorganisationen damit
noch nicht sehr weit gediehen. (Siehe Artikel zum Frauenstreik 2019 in dieser
Ausgabe!)

Roswitha Scholz und die Theorie der Wert-Abspaltung

War es noch das
erklärte Ziel der „sozialistischen FeministInnen“, die Kämpfe der Frauen mit
dem Klassenkampf des Proletariats zu verbinden, haben Teile der sich auf Marx
beziehenden feministischen TheoretikerInnen danach eine explizite Abkehr vom
Proletariat vollzogen. Eine davon, deren Einfluss auf Teile der
(post-)autonomen Linken nicht zu unterschätzen ist, ist Roswitha Scholz. Scholz
rechnet zum Kreis der WertkritikerInnen um die „EXIT!“-Gruppe („EXIT“ ist der
Name ihrer Theoriezeitschrift), deren bekanntester Vertreter der verstorbene
Robert Kurz war. Ihre Theorie der Wert-Abspaltung zielt laut eignem Bekunden
auf die Analyse des Zusammenhangs von „Rasse“, Klasse, Geschlecht und
postmoderner Individualisierung, ihre hauptsächliche Kritik auf den von ihr so
genannten „Arbeiterbewegungsmarxismus“. Sie versteht ihre Theorie als
Weiterentwicklung der „fundamentalen Wertkritik“, deren blinde Flecken in Bezug
auf Fragen sexistischer und rassistischer Diskriminierung sie mit ihrer Theorie
der „Wert-Abspaltung“ zu überwinden trachtet. Ihr geht es dabei aber nicht
darum, mittels revolutionärer Theorie und Praxis das Proletariat von
kapitalistischer Klassenherrschaft zu befreien. Scholz’ Anstrengungen zielen
vielmehr darauf, die marxistische Theorie vom Proletariat zu „befreien“.
Hierfür bedarf es grundlegender theoretischer Revisionen – welche sie auch
tatsächlich vornimmt.

Die grundlegende
unter ihnen in Bezug auf die Kritik der politischen Ökonomie besteht in der
Bekämpfung der so genannten „Ontologie der Arbeit“. Arbeit ist etwa für den
„Vater“ der Wertkritik, Moishe Postone, lediglich eine für den Kapitalismus
gültige Kategorie:

„Den Kern aller Varianten des
traditionellen Marxismus bildet der transhistorisch gefasste Arbeitsbegriff.
Die Marxsche Kategorie Arbeit wird dabei als zielgerichtete gesellschaftliche
Tätigkeit verstanden, die zwischen Mensch und Natur vermittelt und dabei
spezifische Güter produziert, um bestimmte menschliche Bedürfnisse zu
befriedigen. Arbeit, so verstanden, ist der ,Urgrund‘ allen gesellschaftlichen
Lebens. Sie konstituiert die soziale Welt und ist Quelle allen
gesellschaftlichen Reichtums. Doch diese Auffassung schreibt der Arbeit als
transhistorisch zu, was Marx als historisch spezifische Eigenschaft der Arbeit im
Kapitalismus verstanden hat“. (Postone, S. 28)

Lassen wir
beiseite, dass Marx 1875 in der Kritik am Gothaer Programm der deutschen
Sozialdemokratie ebenso sehr die Natur als Quelle allen menschlichen Reichtums
betrachtete wie die Arbeit. Ungeachtet der Tatsache, dass einige der von
Postone aufgeführten Bestimmungen des angeblich vom traditionellen Marxismus
verwendeten Arbeitsbegriffs tatsächlich unzutreffend sind, ist die Stoßrichtung
seiner Kritik doch eindeutig: Arbeit ist für ihn eine auf die kapitalistische
Produktionsweise beschränkte Kategorie.

Scholz’ Aussagen
in dieser Richtung sind ambivalenter. Mit dem Allgemeinplatz, dass
„Gesellschaft ein historischer und dynamischer Prozess ist“ (Scholz 2005, S.
13), der sich „definitorischen (und ontologisierenden) Zugriffen“ (ebd.)
verweigere, scheint sie sich der Sichtweise Postones, auf den sie sich auch
ansonsten positiv bezieht, anzuschließen. Ihr scheint aber auch klar zu sein,
dass die Menschen doch immer irgendwie irgendetwas tun müssen, um nicht zu verhungern.
So spricht sie in ein und demselben Satz davon, dass es sich bei der Arbeit „in
anderer Hinsicht“ nicht um eine „überhistorische Angelegenheit“ handle, sie
aber dennoch, „wenngleich vielleicht auch in unterschiedlicher Weise, alle
Gesellschaftsformationen durchzieht“ (S. 21). In welcher Hinsicht Arbeit keine
„überhistorische“ Kategorie darstellt und ob sich dies lediglich auf die Form
der Arbeit bezieht, wird nicht klar. Eindeutiger hingegen ist ihr „negativer“
Bezug auf den Wertbegriff, den sie nur für den Kapitalismus gelten lässt.

Um dies zu
begründen, muss Scholz die Aufmerksamkeit vom Begriff des Kapitals, das bei
Marx letztlich als ein gesellschaftliches Verhältnis gedacht war und im Zentrum
seiner Kritik der politischen Ökonomie stand, auf den Wertbegriff umlenken und
sich diesen dabei zugleich zurechtbiegen. Dieser erscheint nicht mehr als
reflexives Verhältnis der einzelnen Arbeit zur Gesamtarbeit, sondern
gewissermaßen als „Substanz“ der „abstrakten Herrschaft“ im Kapitalismus und
damit als das eigentliche Übel dieser Produktionsweise. Dies alles „leistet“
die Wertkritik, indem sie sowohl vom grundlegenden Doppelcharakter der Arbeit
sowie von deren Naturbedingtheit abstrahiert und diese letztlich auf die
Verausgabung von abstrakter Arbeit reduziert. Diese Verkürzungen ergeben sich
aus dem Unverständnis der Bedeutung der abstrakten Arbeit im Allgemeinen und
ihrer Funktion im Kapitalismus im Besonderen. Damit schaffen sich die
WertkritikerInnen jene Theorie, die ihre kleinbürgerliche politische Praxis und
ihre Abkehr vom Proletariat rechtfertigt.

Doppelcharakter der Arbeit

Marx hat ihn als
den „Springpunkt“ seiner Analyse der Ware im Kapitalismus bezeichnet: den
Doppelcharakter der Arbeit. Die abstrakte Arbeit ist neben der konkreten Arbeit
nach Marx ein Moment des Doppelcharakters aller Arbeit, unabhängig von ihrer
konkreten gesellschaftlichen Form. Der Begriff „abstrakte Arbeit“ bezieht sich
dabei auf die Gesellschaftlichkeit der Arbeit, d. h. auf die gemeinsame,
gesellschaftlich gleiche Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft und die
dadurch erzeugte Beziehung aller Arbeitsprodukte untereinander und zur
gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Abstrakte Arbeit spielt qua dem „Gesetz der
Ökonomie der Zeit“ in allen Gesellschaftsformationen eine wichtige Rolle, und
zwar bei der proportionalen Verteilung der Gesamtarbeit auf einzelne Zweige.
Insofern von jeder konkreten Eigenschaft der besonderen Arbeitsprodukte und der
sie produzierenden Einzelarbeiten real abstrahiert wird, gelten sie als gleiche
menschliche Arbeit. Die abstrakte Arbeit ist somit eine allgemeine Eigenschaft
aller konkret-nützlichen Arbeiten und in
allen Gemeinwesen
werden diese zugleich als abstrakt-menschliche Arbeiten
aufeinander bezogen. Abstrakte Arbeit, als Verausgabung menschlichen
Arbeitsvermögens im Verhältnis zur gesellschaftlichen Gesamtarbeitskraft,
existiert dem Prinzip nach also unter allen Gesellschaftsformationen.

„Nicht ,abstrakte Arbeit‘ an sich ist
also ein gesellschaftliches ,Konstrukt‘, das nur dem Kapitalismus eigen ist, …
sondern die spezifisch kapitalistische, gesellschaftliche Konstruktion ist es,
dass Arbeit, reduziert auf abstrakte Arbeit, schon als solche zu
gesellschaftlicher Arbeit wird. […] Die spezifisch-historische
gesellschaftliche Kategorie, die abstrakte Arbeit in der Wertform zur
Erscheinung bringt, besteht […] in der Auflösung der naturwüchsigen
gesellschaftlichen Zusammenhänge von Arbeit und Bedürfnisbefriedigung, in der
unmittelbaren Gesellschaftlichkeit von ,bloß verausgabter Arbeit‘, deren gegenständliches
Resultat sich im Nachhinein seinen Bedarf zu suchen hat. Hinter dem Rücken der
Akteure entsteht dabei eine ,zweite Natur‘: eine scheinbar ,naturwüchsige
Beziehung‘ zwischen Arbeit und vergegenständlichten Wertformen, die zum
eigentlichen Zweck und gesellschaftlichen Akteur des ökonomischen Prozesses zu
werden scheinen. Diese zweite Naturwüchsigkeit macht die Gewalt der
Fetischcharaktere der verschiedenen Wertformgestalten aus.“ (Lehner 2008, S.
133)

Moishe Postone
geht hingegen davon aus, dass die abstrakte Arbeit spezifisch kapitalistisch
sei und in anderen Gesellschaftsformationen keine Rolle spiele (vgl. Postone
2003, S. 233). Zudem sei die „Objektivierung“ der abstrakten Arbeit in einer
den Individuen gegenüber verselbstständigten Sphäre die spezifisch
kapitalistische Form „abstrakter Herrschaft“ und diese vom Proletariat und
durch dessen Verausgabung abstrakter Arbeit letztlich selbst erzeugt und
aufrechterhalten. Die der Entfremdung und Subsumtion (Unterordnung) der
lebendigen unter die tote (vergangene, im Kapitalvorschuss enthaltene) Arbeit
zugrundeliegende Klassenherrschaft der – äußerst lebendigen – Bourgeoisie wird
von den WertkritikerInnen hingegen ausgeklammert. Die Kontrolle der besitzenden
Klassen über die von ihnen bewegte Arbeit erscheint aber an der Oberfläche der
Gesellschaft lediglich als die Herrschaft von „objektiven“, „naturhaften“
Gewalten der „Markt- und Kapitalbewegungen“:

„Durch die Ablösung des Fetischs und des ,automatischen Subjekts‘ von dieser gesellschaftlichen Basis wird dem Fetisch sein eigentlicher gesellschaftlicher Zweck genommen – er wird quasi wörtlich genommen. Tatsächlich verschleiert er jedoch als sachliches Verhältnis, das doch eigentlich ein ganz handgreiflich gesellschaftliches ist, die Herrschaft einer Klasse über eine andere.“ (Lehner 2003, S. 116)

Die
WertkritikerInnen sind somit nicht in der Lage zu erkennen, dass die
gesellschaftliche Form der Arbeit von den gegenständlichen Bedingungen der
Arbeit und der Distribution der Produktionsmittel abhängt. Doch nur dann, wenn
vom Arbeitsprozess als Einheit seiner subjektiven und objektiven Bedingungen
ausgegangen wird, wenn also von der Naturbedingtheit der Arbeit nicht
abstrahiert und wenn sie nicht auf die Verausgabung von abstrakter Arbeit
reduziert wird, kann überhaupt wahrgenommen werden, dass das Eigentum an den
gegenständlichen Arbeitsbedingungen eine Bedingung der Arbeit ist und dass die
gesellschaftliche Form der Arbeit von
dieser Bedingung abhängt. Eine Theorie hingegen, die diesen Zusammenhang
unterschlägt, muss letztlich zu allerhand Mystizismus führen – wie die Texte
der Wertkritik verdeutlichen.

Auch Roswitha
Scholz behauptet, die abstrakte Arbeit sei überhaupt erst im Kapitalismus
„entstanden“ (Scholz 2005, S. 19). Sie spricht gar vom „System der ‚abstrakten
Arbeit‘“, bei dem es gar nicht um eine „subjektiv-private Aneignung von etwas
Positivem qua Privateigentum an den Produktionsmitteln“ (S. 17) gehe, sondern
das „Privateigentum nur eine sekundäre Erscheinungsform des Mehrwerts als eines
negativen gesellschaftlichen Selbstzwecks“ darstelle (S. 17f.). Was immer man
unter einem „negativen Selbstzweck“ zu verstehen hat, Mehrwert und Verausgabung
abstrakter Arbeit sind gegenüber dem Privateigentum an Produktionsmitteln für
sie das bestimmende Moment.

Die
gesellschaftliche Form der Arbeit wird von ihr von deren gegenständlichen
Bedingungen getrennt. Statt ihren inneren Zusammenhang zu analysieren, wird
„der Wert“ bzw. die „Wert-Abspaltung“ als „zentrales gesellschaftliches
Basisprinzip“ (S. 21) und zugleich als „Metastruktur“ (S. 23) konzipiert, die
nirgends in der empirischen Realität mehr begründet scheint. Die
gesellschaftlichen Voraussetzungen und Vermittlungen der „Selbstverwertung des
Werts“ in der Produktionssphäre werden ausgeklammert. Die Verselbstständigung
der Wertform ist aber abhängig von der Einverleibung der „freien Arbeitskraft“
in die Warenwelt – und das nicht nur historisch, sondern auch logisch. Erst
dadurch – das heißt durch das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches die
Eigentumslosigkeit der ArbeiterInnen und somit deren Abhängigkeit begründet –
entsteht überhaupt die Möglichkeit dafür. Doch auch Scholz kann die historische
Genese des Kapitalismus und dessen Voraussetzungen nicht völlig ausblenden.
Dementsprechend benennt sie die Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware als
eine seiner Voraussetzungen (vgl. S. 18). Sie erklärt aber Klassengegensätze
für die sich auf den eigenen Grundlagen reproduzierende kapitalistische
Produktionsweise als zweitrangig bzw. vollkommen obsolet. Die
Verselbstständigung der Wertform ist für sie vielmehr eine Frage des Charakters
– und zwar des „Selbstzweckcharakters des Werts“ (ebd.). Damit verdinglicht sie
ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen Individuen und Klassen zu einem Ding
mit quasi-menschlichen Eigenschaften. Das Subjekt der gesellschaftlichen
Reproduktion wird von den empirischen Individuen und den materiellen
Verhältnissen abgelöst und die Wert-Abspaltung entsprechend zu einer
„Metastruktur“ stilisiert, welche sich auf die „Metalogik“ (S. 182) der
sozialen Reproduktion beziehe, deren Widerspiegelung in der Theorie der
Wert-Abspaltung „auf einem hohen Abstraktionsniveau angesiedelt“ (S. 22) sei.
Das „hohe Abstraktionsniveau“ gründet dabei aber nicht in einem über den
gesellschaftlichen Verhältnissen schwebenden „Formprinzip“, sondern in der
Abstraktion von den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen seitens der
Theoretikerin.

Zwischenfazit:
Alle menschlichen Gesellschaften kennzeichnet der doppelte Charakter Ihrer
Arbeit. Einerseits ist diese als konkrete Art der Tätigkeit zweckgerichtet,
erfüllt ein bestimmtes Bedürfnis, andererseits ist sie stets ohne deren
Unterschied abstrakte Verausgabung von Nerven, Hirn und Muskeln sowie auch in
dem Sinne abstrakt, dass sie stets Teil eines gesellschaftlichen Ganzen bleiben
muss, da die Menschen nur in Gesellschaft leben können.

Was den
Kapitalismus dagegen als einzigartig kennzeichnet, ist, dass er abstrakte
Arbeit als Wert darstellt und sie in
ihm misst, weil er eine universelle Warenproduktionsweise ist. Die Lohnarbeit
ist die einzige „freie“ Arbeitsform der Menschheitsgeschichte, in der den
ProduzentInnen die Verfügung über die gegenständlichen Bedingungen ihrer Arbeit
(Produktionsmittel) abhanden gekommen ist, sie nur über ihr subjektives
Arbeitsvermögen verfügen, das sie als Ware Arbeitskraft verkaufen, genauer:
stundenweise vermieten müssen.

Das
Klassenverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital ist also entscheidend dafür,
dass Arbeitskraft (subjektives Arbeitsvermögen) und Kapital (objektive
Arbeitsbedingungen, abstrakter Reichtum zum Zwecke seiner stetigen Vermehrung)
in deren Werten eine scheinbar dingliche Gestalt annehmen. Die „Wertkritik“
dagegen entfernt Ausbeutung, Klassen und Menschen aus der Geschichte und
verwandelt den Kapitalismus in ein Reich der Herrschaft von Sachen, abstrakter
Arbeit. Sie sitzt damit selbst dem von ihr falsch kritisierten Wertfetischismus
als Motor der Produktionsweise auf. Die Produktionsweise verwandelt sich in ein
Perpetuum mobile von Sachzwängen, das von der ArbeiterInnenklasse nicht mehr
angehalten werden kann.

Der ohnehin schon falschen Vorstellung der WertkritikerInnen, wonach sich „die gesellschaftliche Totalität in der Moderne aus der fetischistischen Selbstbewegung des Geldes und der ‚abstrakten Arbeit‘ als tautologischem Selbstzweck konstituiert“ (S. 19), fügt Scholz die Vorstellung einer
„geschlechtsspezifischen Abspaltung“ hinzu. Diesen Begriff zieht sie in der
Folge heran, um die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Unterdrückung auf
das kapitalistische „Basisprinzip“ der Wert-Abspaltung zurückzuführen. Alles,
was nicht in der Wertform „aufgehe“, werde von dieser abgespalten und
gesellschaftlich abgewertet. Die Idee dabei ist, dass der Wert die Gleichsetzung
der verschiedenen (konkreten) Arbeiten zur Voraussetzung habe. Alles, was sich
dieser Gleichsetzung nicht füge, darin „nicht aufgehe“, werde abgespalten.
Dieses „Formprinzip“ strukturiere die gesamte gesellschaftliche Ordnung und
reproduziere sich auch auf symbolischer und sozialpsychologischer Ebene – unter
anderem in der Abwertung des „Weiblichen“, des „Anderen“ und allem damit
Assoziierten. Nachdem sich Scholz eine solche, über allen konkreten
gesellschaftlichen Verhältnissen schwebende „Metalogik“ konstruiert hat, geht
es ihr in der Auseinandersetzung mit anderen TheoretikerInnen nur noch darum,
die Bestimmtheit der vielfältigen Diskriminierungs- und
Unterdrückungserscheinungen durch dieses „Basisprinzip“ zu behaupten.
Solchermaßen bastelt sich Scholz eine scheinbar umfassende Theorie der
kapitalistischen Totalität, indem sie das übergreifende Moment auf eine von den
materiellen Verhältnissen und dem Handeln der Subjekte scheinbar unabhängige
und sich selbst begründende „Metastruktur“ zurückführt.

Da Ausbeutung
für Scholz nur eine sekundäre Erscheinungsform darstellt und es den
KapitalistInnen gar nicht um die „subjektiv-private Aneignung von etwas
Positivem qua Privateigentum an den Produktionsmitteln“ (sprich: Ausbeutung)
gehe, kann sie sich scheinbar auch nicht vorstellen, dass Sexismus und andere
Formen der Unterdrückung durchaus eine gesellschaftliche Funktion im Interesse
einer Klasse erfüllen – und etwa dazu dienen, die Reproduktionskosten der Ware
Arbeitskraft, den Wert der weiblichen Ware Arbeitskraft und dadurch auch das
Lohnniveau im Allgemeinen zu senken – Stichwort: sexistisch delegierte und ins
Private abgedrängte Hausarbeit.

Zur Bewertung der Hausarbeit durch die Wert-Abspaltungstheorie

Während
MarxistInnen argumentieren, Hausarbeit im Kapitalismus sei keine produktive,
aber gesellschaftlich notwendige, Gebrauchswert bildende Arbeit, möchte Scholz
mit Bezug auf Haushaltstätigkeiten wie Kinder erziehen und Pflegetätigkeiten
ausführen überhaupt nicht von „Arbeit“ sprechen (vgl. Scholz 2005, S. 19f.). Da
diese Tätigkeiten „nicht der politökonomischen Rationalität gehorchen wie die
‚abstrakte Arbeit‘“ (ebd.), könnten „die weiblichen Reproduktionstätigkeiten
auch nicht mit der Arbeitskategorie belegt werden.“ (S. 20) Die im Haushalt
ausgeführten „Tätigkeiten“ stellten vielmehr die Kehrseite der sich im Wert
ausdrückenden „abstrakten Arbeit“ dar. Ebendeshalb sei auch dem Versuch zu
widerstehen, diese Tätigkeiten „auch noch in Arbeit umzudefinieren“ (Scholz
1992), da die (abstrakte) Arbeit ja „gewissermaßen selbst die ,Wurzel allen
Übels‘“ (ebd.) sei. Deshalb müsse „ein dritter Begriff gesucht werden, mit dem
die traditionelle Tätigkeit der Frau im Reproduktionsbereich genauer
theoretisch bestimmt werden kann, da auch der Terminus ,Tätigkeit‘ zu diffus
ist und einen zu großen Allgemeinheitscharakter besitzt […]. Diese – keineswegs
irrelevante – Problematik kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.
Solange eine derartige Klärung nicht erfolgt ist, bediene ich mich deshalb
weiterhin des unbefriedigenden Begriffs ,Tätigkeit‘, wenn von der ,Arbeit‘ im
Reproduktionsbereich die Rede ist.“ (ebd.)

Es bleibt die
Frage, von welchem höheren Wesen sich Scholz diese Klärung verspricht, wenn sie
auch nach mehr als zehn Jahren noch immer den zuvor von ihr selbst als zu
diffus bezeichneten Begriff der „Tätigkeit“ verwendet. Hier präsentiert sie
scheinbar ungewollt die Grenze ihrer eignen Theorie – als „Unmöglichkeit“,
diese „Problematik hier weiter zu verfolgen“ und einen präzisen Begriff der
Hausarbeit zu entwickeln. Es scheint sich bei diesem Problem – das Scholz in
späteren Texten schon gar nicht mehr als solches benennt, wo sie ohne weitere
Kommentare den Begriff der („Haushalts‘- bzw. „Reproduktions“-) Tätigkeiten verwendet (Scholz 2005, S.
20; Scholz 2017a und b) –, um ein theorieimmanent-begriffliches Problem zu
behandeln, welches bedingt ist durch die „fundamentale“ und „radikale“
Verwirrung der Wert-Abspaltungskritik bezüglich der Kategorien der Kritik der
politischen Ökonomie.

Da das
Proletariat als potentielles revolutionäres Subjekt bei den WertkritikerInnen
nicht mehr vorkommt, bleibt ihre gesamte politische Strategie notwendigerweise
diffus und abstrakt.

So soll sich die
„praktische Gesellschaftskritik“ ganz direkt gegen die „Grundform der Wert-Abspaltung
als solche“ (Scholz 2005, S. 265) richten. Dieses Basisprinzip gelte es „in
Frage zu stellen“ und zu „überwinden“ (ebd.). Gegenüber der Notwendigkeit,
Bündnisse mit nicht näher definierten anderen Gruppen einzugehen, beharrt die
Wertkritik zugleich darauf, „dass heute ein radikal kritischer Neubezug auf ein
gesellschaftliches (fragmentarisches) Ganzes, auf ein negatives Wesen
stattfinden muss; gerade auch in der unmittelbar praktischen
gesellschaftskritischen Aktion“. (S. 12) Was immer man sich unter einem „Bezug
auf ein negatives Wesen“ vorzustellen hat – es klingt jedenfalls mehr nach
Okkultismus als nach revolutionärer politischer Praxis.  Da dieses „negative Wesen“ als
„abstrakte Metalogik“ zugleich nirgendwo zu fassen ist, bezieht sich Scholz dann
auch unvermittelt auf den „inhaltlich-spezifischen Kontext vor Ort“, auf
„vortheoretisch erfahrene Lebens- und Gesellschaftsprobleme“ (ebd.) als
Bezugspunkte politischer Praxis.

Politische Perspektiven

Aufgrund ihres
falschen Verständnisses des Kapitalverhältnisses entsorgen Scholz und die
„Wertkritik“ nicht nur die ArbeiterInnenklasse als Subjekt gesellschaftlicher
Veränderung, sondern natürlich auch die organisierte proletarische
Frauenbewegung. Zum Schluss möchten wir noch kurz auf die politischen Perspektiven
zu sprechen kommen, die sich aus der Analyse des Kapitalismus ergeben.

Das Proletariat,
auf welches sich der revolutionäre Marxismus nach wie vor bezieht, wird von
diesem nicht (nur) als eine gegebene Objektivität begriffen, sondern muss „vom
Endpunkt seiner revolutionären Klassenbildung her, von den weltgeschichtlichen
Perspektiven der proletarischen Bewegung, gefasst werden“ (Lehner 2010, S. 13).
Es ist diejenige ProduzentInnenklasse, die alle gesellschaftlich notwendigen
Arbeiten auf entfremdete Weise in sich zusammenfasst und deshalb als einzige
objektiv dazu in der Lage ist, die notwendigen gesellschaftlichen Umwälzungen
–  die rationale Aneignung der
totalen gesellschaftlichen Produktion, (von welcher die derzeit ins „Private“
abgeschobene Hausarbeit einen Teil darstellt) –, bewusst gesellschaftlich
vorzunehmen. Um den Prozess der Herausbildung des Proletariats zum
revolutionären Subjekt aktiv zu befördern, sind deshalb sowohl die Ausarbeitung
einer revolutionären Klassentheorie, der Aufbau einer revolutionären
Organisation nötig wie auch der Kampf um besondere Formen der Organisierung der
Unterdrückten, darunter der für eine proletarische Frauenbewegung.

Dies soll der
Tatsache Rechnung tragen, dass Lohnarbeit und Kapital als Widerspruchsverhältnis
nicht nur die Negation der beiden Seiten umfasst, sondern zu seiner
Reproduktion auch das Moment der Identität. Diese stellt selbst eine materielle
Grundlage für reformistisches Bewusstsein in der ArbeiterInnenklasse dar und
bedeutet auch, dass revolutionäres Bewusstsein nicht spontan entstehen kann. Es
bedarf hierfür einer revolutionär-kommunistischen
Organisation, die um dieses Bewusstsein in der gesamten Klasse kämpft. Der
Bezug auf den Begriff des Proletariats entspricht dabei nicht nur der tatsächlich
vor sich gehenden Vereinheitlichung der besonderen Arbeits- und
Lebensbedingungen, die durch den kapitalistischen Akkumulationsprozess selbst
zunehmend dem allgemeinen Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital subsumiert
werden, sondern erfüllt auch eine wichtige Funktion im revolutionären Kampf
gegen die alte Ordnung, indem es das Lager der objektiv Lohnabhängigen über all
seine Streitungen hinweg ausgehend von der Basis einer differenzierten,
realistischen Klassenanalyse funktional polarisiert.

Literatur

Aufruf Frauenstreik 2019: < https://frauenstreik.org/aufruf/>

Dalla Costa, Mariarosa/ James, Selma: Die Macht der Frauen
und der Umsturz der Gesellschaft, (Internationale Marxistische Diskussion, Heft
36), Berlin/W. 1973, Merve-Verlag

Lehner, Markus (2003): Die „Kritik der Arbeit“ und das
Rätsel der Systemüberwindung, in: Revolutionärer Marxismus 33, Berlin 2003,
global red, S. 89–122

Ders. (2008): Finanzkapital, Imperialismus und die
langfristigen Tendenzen der Kapitalakkumulation, in: Revolutionärer Marxismus
39, Berlin 2008, global red, S. 129–208

Ders.
(2010): Arbeiterklasse und Revolution. Thesen zum
marxistischen Klassenbegriff, in: Revolutionärer Marxismus 42, Berlin 2010,
global red, S. 7–99

Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band, Berlin/O. 1971

Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche
Herrschaft, eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx,
Freiburg/Breisgau 2003, ça ira Verlag

Scholz,
Roswitha (1992): Der Wert ist der
Mann.
Thesen zu Wertvergesellschaftung und Geschlechterverhältnis, in:
Krisis. Kritik der Warengesellschaft, Erlangen 1992, Selbstverlag; https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=30&posnr=25&backtext1=text1.php

Dies. (2005): Differenzen der Krise – Krise der
Differenzen. Die neue Gesellschaftskritik im globalen Zeitalter und der
Zusammenhang von „Rasse“, Klasse, Geschlecht und postmoderner
Individualisierung,
Unkel 2005, Horlemann B.

Dies. (2017
a): FEMINISMUS – KAPITALISMUS – ÖKONOMIE – KRISE. Wert-Abspaltungs-kritische
Einwände gegenüber einigen Ansätzen feministischer Ökonomiekritik heute, 2017.
Online (07.02.2019): https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=30&posnr=517&backtext1=text1.php

Dies.
(2017 b): Wert-Abspaltung, Geschlecht und Krise des Kapitalismus. Interview von
Clara Navarro Ruiz mit Roswitha Scholz (Constelaciones. Revista de Teoria
Critica, 2017), 18.12.2017:
http://www.palim-psao.fr/2017/12/wert-abspaltung-geschlecht-und-krise-des-kapitalismus.interview-von-clara-navarro-ruiz-mit-roswitha-scholz.html




Kinder, Küche, Kirche – plus Karriere

Veronika Schulz,Frauenzeitung Nr. 4, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION, März 2016

Die Position der AfD zur Rolle der Frau in der Gesellschaft hat nicht nur Ähnlichkeit mit den Programmen anderer konservativer Kräfte, sondern weist darüber hinaus unverkennbare Parallelen zur Haltung der Nationalsozialisten auf. Insbesondere seit der Spaltung der Partei 2015 treten sowohl ihre reaktionären wie auch rassistischen Positionen deutlicher hervor.

Reaktionäre Politik zur Festigung von Unterdrückung

Besonders entschieden spricht sich die AfD gegen das sogenannte „Gender Mainstreaming“ aus, welches zum Ziel hat, bei gesellschaftspolitischen Entscheidungen die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern gleichermaßen zu berücksichtigen, um auf diese Weise die Gleichstellung der Geschlechter durchzusetzen. Die AfD erhebt den Vorwurf, dass dieses Vorgehen auf eine nicht erwünschte „Aufhebung der Geschlechteridentitäten zielt“ (1). Die Kritik richtet sich dabei vornehmlich gegen SPD und Grüne, die während ihrer Regierungszeit eine „ideologisch gesteuerte Verzerrung der Geschlechterrollen“ betrieben und damit ihre Kompetenzen deutlich überschritten hätten, da staatliche Eingriffe in diesen Bereichen zu unterlassen seien. Die Ablehnung der als bedrohlich eingestuften „Gender-Ideologie“ beweist, dass es der AfD mit ihrer angestrebten Politik keineswegs um eine tatsächliche Gleichberechtigung aller Menschen geht, weder von Mann und Frau geschweige denn von Personen, die sich nicht in diese Dichotomie einordnen können oder wollen. Ganz im Gegenteil vertritt die AfD eine Auffassung, wonach Frauen eine „natürliche Rolle“ ihrem „Wesen“ gemäß zugeschrieben werden kann. Frauen haben demnach andersartige Fähigkeiten als Männer. Diese Gemeinsamkeit mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten formuliert die Partei in ihrem Programm wie folgt: „Die AfD strebt die Gleichberechtigung der Geschlechter unter Anerkennung ihrer unterschiedlichen Identitäten, sozialen Rollen und Lebenssituationen an.“ (2) Dieses reaktionäre Frauenbild reproduziert die vermeintlich „unterschiedlichen Identitäten“ der Geschlechter und weist emanzipatorische Bestrebungen der Frau in ihre „natürlichen“ Schranken. Väter, die sich an Haushaltsführung oder Kindererziehung beteiligen, und das vielleicht sogar gerne, kommen in der gartenzwerg-behüteten AfD-Welt nicht vor. Das einzig „progressive“ Element der Frauenversteher in der AfD ist das Zugeständnis, dass Frauen nicht mehr ausschließlich auf ihre Rolle als Mutter reduziert werden, gibt es doch mittlerweile auch viele bewusst Kinderlose. Daher beschränkt sich der weibliche Wirkungskreis nicht auf „Kinder, Küche, Kirche“. Mindestens genauso wichtig ist nun die Vereinbarkeit dieser „genuinen Pflichten“ einer Frau mit ihrer Rolle in der Arbeitswelt – die „Karriere“ kommt also noch hinzu. Die Frau dient somit als Stütze sowohl ihres Mannes als auch der Gesellschaft, da sie in der Familie unbezahlte und in der Arbeitswelt häufig prekäre und schlecht bezahlte Tätigkeiten verrichtet, die den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft aufrechterhalten. Auch hier findet sich eine weitere Parallele zur Politik der Nationalsozialisten, war diesen doch jede Frau recht, wenn es um lohngünstige Kriegsproduktion ging und männliche Arbeiter rar wurden.

Ginge es nach den familienpolitischen „Vordenkern“ der AfD, sollte jede – wohlgemerkt deutsche und gut ausgebildete – Frau (mindestens) drei Kinder haben. Dieses Ideal der „Drei-Kinder-Familie“ klammert wie selbstverständlich homosexuelle Paare aus und erhebt die heterosexuelle Ehe zum Leitbild. Als Begründung für diesen Appell an den Fortpflanzungswillen deutscher Frauen führt die AfD in ihrer Argumentation die leeren Sozialkassen ins Feld, die auf diese Weise stabilisiert werden sollen. Der in die Jahre gekommene Begriff des „Generationenvertrages“ wird dabei von der Partei bemüht, um ihre Fokussierung auf die Zukunftsgestaltung Deutschlands und somit eine Politik zu legitimieren, die scheinbar an langfristigen Zielen orientiert ist. Dies drückt sich auch in der Forderung nach stärkerer Berücksichtigung von Kindern bei der Rentenberechnung aus (3). Gleichzeitig lehnt die AfD, wie mittlerweile durchaus auch von konservativ-wirtschaftsnahen Kreisen der Unionsparteien gefordert, Zuwanderung zum Zweck der Stabilisierung der „sozialen Sicherungssysteme“ entschieden ab.

Exklusion von LGBTIA-Menschen

Auch im Hinblick auf die Rechte von LGBTIA-Menschen ist das Programm der AfD von einer Politik der Exklusion gekennzeichnet. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus dem Jahr 2014. LGBTIA-Menschen kommen wenn, dann nur in stereotypisierter und negativer Weise im Programm der AfD vor und sind als Minderheiten den Angriffen der Partei ausgesetzt. Der Themenbereich Sexualität wird ideologisch sowie moralisch aufgeladen, während die AfD gleichsam vor „ideologischer Umerziehung“ von Kindern warnt. Verschwörungstheoretisch tritt sie dabei dem sogenannten Bildungsplan in Baden-Württemberg entgegen: „In dem Falle wird davon ausgegangen, dass ein systematisches ,Umerziehungsprogramm‘ ins Werk gesetzt worden sei, wo es in Wirklichkeit um die weithin akzeptierte Selbstverständlichkeit geht, vielfältigen geschlechtlichen und sexuellen Identitäten Akzeptanz zu verschaffen.“ (4) Die Analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung verdeutlicht, dass die Diskriminierung von LGBTIA-Menschen aus Sicht der AfD legitim ist, da für diese Gruppe(n) Rechte abgeleitet würden, die das Grundgesetz lediglich für Ehe und Familie vorsieht (5). Auch einer „Sexualisierung der Gesellschaft“ (6) soll Einhalt geboten werden, wobei man sich bei allgegenwärtiger sexistischer Werbung durchaus die Frage stellt, inwiefern diese nicht bereits an der Tagesordnung ist.

Rassenideologie/Bildungsrassismus

Auch gegen AusländerInnen und Geflüchtete geht die Partei seit ihrer Abspaltung von den „Euro-Skeptikern“ 2015, wie bereits erwähnt, offensiver vor. Passenderweise wünscht sich die AfD deshalb eine Vermehrung des (deutschen) Volkes, geht jedoch sogar einen Schritt weiter als die nationalsozialistische Rassenideologie. Vorrangig gut ausgebildete Frauen bzw. Paare sollen für den deutschen Nachwuchs sorgen, wohingegen eine „unkontrollierte Vermehrung“ von Arbeitslosen oder MigrantInnen abgelehnt wird. Familien der bürgerlichen Elite und akademischen Mittelschicht sollen Kinder bekommen, da die AfD von einer „natürlichen Begabung“ der Menschen ausgeht, die sich von den gebildeten Eltern auf ihre Kinder überträgt, im Falle der „nichtsnutzigen Schmarotzer“ eben nicht. Diese Haltung ist Bildungsrassismus in widerwärtigster Form, der die bestehende Chancenungleichheit nicht nur leugnet, sondern zugunsten einer vermeintlich evolutionären Vorbestimmung sogar begrüßt.

Abtreibung

Eine ebenso konservative wie moralisierende Auffassung lässt sich in der Position der Jugendorganisation Junge Alternative (JA) zum Thema Abtreibung finden. Die JA spricht sich für den Schutz ungeborenen Lebens aus und behauptet, die aktuelle Rechtslage berücksichtige ausschließlich den Willen der Mutter. Dies ist zum einen nicht korrekt, da in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche weiterhin illegal, wenn auch nach verpflichtender Beratung straffrei, bleiben. Zum anderen zäumt die AfD-Jugend mit der Forderung nach „Abtreibung nur bei triftigen Gründen“ (7) das Pferd von hinten auf: Eine kindgerechte und familienfreundlichere Gesellschaft kann keinesfalls durch staatliche Verbote und Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit von Frauen geschaffen werden. Im Gegenteil, erst die Abschaffung bestehender Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse, die wesentlicher Bestandteil des kapitalistischen Systems und bürgerlichen Staates sind, eröffnet Frauen (und auch Männern) die Möglichkeit einer Familienplanung frei von materiellen Abwägungen. Die fehlerhafte Denkweise der JA äußert sich auch in folgender Forderung: „In jedem Fall muss der Staat das materielle und seelische Wohlbefinden von Schwangeren, bei denen ein Schwangerschaftsabbruch droht, sicherstellen und dazu ermuntern, die Schwangerschaft fortzusetzen.“ (8) Dadurch wird die Doppelmoral konservativer Argumentation, die auf Moral und Menschenwürde basiert, offenkundig: Während einer Schwangerschaft gilt das ungeborene Leben als ultimativ schützenswert und wird über die Belange der Mutter gestellt, nach Geburt des Kindes ist die Frau jedoch auf sich allein gestellt und kann sehen, wo sie und das Kind bleiben. Das herangewachsene Kind darf später dann den „Schutz des Lebens“ in Kriegen des deutschen Imperialismus an der Front am eigenen Leib erfahren. Passend dazu stellt die AfD „Elternverantwortung für den Werdegang ihrer Kinder“ (9) in den Vordergrund ihrer Familienpolitik. Die Forderung danach, dass „jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft“ (10) haben soll, ändert noch lange nichts an der Realität und ist verkürzt auf rein materielle Hilfeleistungen. Genau an dieser Stelle wird die familienpolitische Position der AfD zur Klassenfrage: Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist aktuell insbesondere für prekär Beschäftigte nicht gegeben, während sich gut situierte „Idealfamilien“ aus (zumeist) männlichem Alleinverdiener und liebender Hausfrau und Mutter darüber weniger Gedanken machen müssen. Und auch für Paare mit mittleren Einkommen sind die vorhandenen Betreuungsangebote durch – wenn auch unzureichende – finanzielle Unterstützung des Staates zumindest erschwinglich. Doch allein durch weiteren Kita-Ausbau oder finanzielle Anreize lässt sich keine Geschlechtergleichheit erzeugen. Insofern bringt es die Programmatik der AfD auf den Punkt, wenn sie zugesteht: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuförderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“(11) Da es elterliche Pflicht ist und bleiben soll, sich um die eigenen Kinder zu kümmern, wird das propagierte Idealbild einer intakten Kernfamilie aus Vater, Mutter, Kindern gestärkt und reproduziert.

Keimzelle

Eine solche Darstellung der Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Ähnliche Formulierungen finden sich auch bei der Union zuhauf. Die dargestellte Haltung der JA zum Thema Abtreibung offenbart allerdings, worum es der Partei und ihrer Jugend in Wirklichkeit geht: die Familie als Ort unbezahlter Reproduktionsarbeit, in Form von Kindererziehung und Altenpflege. Diese Sichtweise versperrt sich gegen den gesamtgesellschaftlichen Auftrag, sich um derartige Arbeiten zu kümmern. Aus einer fortschrittlichen sozialistischen Perspektive kann also nur die Vergesellschaftung dieser unbezahlten Erziehungs- und Pflegearbeit die Antwort sein. Dies bezieht explizit die Männer bzw. Väter sowie die Gesellschaft als Ganzes mit ein, da es sich bei Erziehung, Pflege und sonstiger Reproduktionsarbeit wie Kochen und Waschen um gemeinschaftliche Aufgaben handelt. Ausgerechnet die Einbettung dieser Arbeiten in die private Sphäre kann zu Isolation und Konflikten führen. Die Kernfamilie, die auch die AfD nicht müde wird als Ideal zu verklären, ist somit nicht automatisch ein Hort von Liebe und Glückseligkeit. Im Gegenteil, in dieser gewissermaßen sakrosankten Institution ist die Unterdrückung der Schwächeren um ein Vielfaches erleichtert. Körperliche, psychische und sexuelle Gewalt werden innerhalb der Familie abgeschottet von der gesellschaftlichen Wahrnehmung ermöglicht. Durch materielle Abhängigkeit beispielsweise der Frau von ihrem Mann ist ein Durchbrechen dieses Mechanismus nicht ohne weiteres möglich, dazu kommen Scham und Tabuisierung. Die idealisierte Familie wird auf diese Weise häufig zur „Keimzelle“ von Gewalt und Unterdrückung.

Refugee-Thematik

Die moralische Heuchelei der AfD im Hinblick auf eine kinder- und elternfreundliche Gesellschaft tritt auch bei der Refugee-Thematik offen zutage. Die jüngste Debatte offenbart auf erschreckende Weise die menschenverachtende Position der AfD-Parteiführung. Petry und von Storch, zentrale Führungsfiguren der Partei, stehen ihren männlichen Kollegen in nichts nach, wenn sie nach mehr „Law and Order“ rufen und sich für die Option eines Schießbefehls an deutschen Grenzen aussprechen. Hier wird auf zynische Art überdeutlich, dass es der AfD nicht um „Frauen“ und „Kinder“ im Allgemeinen oder ein „kinderfreundliches Deutschland“ im Speziellen geht, sondern bei allen Forderungen der AfD deutsche Frauen und deutsche Kinder gemeint sind. Trotz mehrfacher, hilfloser Distanzierungsversuche kann diese Position der AfD-Führung als stellvertretend für die gesamte Politik der Partei betrachtet werden. Die Standortsicherung Deutschlands als Wirtschaftswunderland innerhalb der EU und damit verbundene neoliberale Reformen stehen an vorderster Stelle, während soziale Programme, wenn überhaupt, nur für BürgerInnen mit deutschem Pass Verbesserungen bringen sollen. Alle anderen, die sich nicht auf deutsche Abstammung oder wirtschaftlich verwertbare Ausbildung berufen können, sollen doch bitte woanders als im gelobten Deutschland ihr Glück suchen, geht es nach der AfD.

Neoliberale Politik

Insofern wird mehr als deutlich, dass die AfD eine neoliberale Politik für das gehobene Kleinbürgertum vertritt, die jedoch den Interessen der Mehrzahl der Lohnabhängigen zuwiderläuft. Das damit verbundene Heilsversprechen zur Stabilisierung der Sozialsysteme wird sich ebenso als Illusion erweisen wie die Prognose, wonach durch die Programmatik der AfD prekäre Beschäftigung für AkademikerInnen wegfallen wird, im Gegenteil. Auch bei der Politik, für die die AfD steht, erfolgt weiterhin ungebremst eine Umverteilung von unten nach oben.

Die Idee, wonach Deutschland durch gesetzgeberische Maßnahmen „kinder- und familienfreundlicher“ (12) werden könne, muss aus marxistischer Sicht ebenso abgelehnt werden wie das ausschließliche Vertrauen auf das bereits beschriebene „Gender Mainstreaming“. Es ist nichts anderes als eine Illusion, Geschlechterrollen und Gleichstellung von Frauen und Männern auf bürokratische Weise herstellen zu wollen. Der bürgerliche Staatsapparat greift auf gesetzliche Regelungen und Verordnungen zurück, wodurch er die Frauenfrage allerdings nicht lösen wird, solange kein wirklicher Abbau von sexueller Unterdrückung und ökonomischer Ausbeutung geschieht. Daher ist eine materielle Einebnung von Geschlechtsunterschieden notwendig. Ebenso kann aus marxistischer Perspektive nur durch Vergesellschaftung häuslicher Tätigkeiten zu einer offenen, kinderfreundlichen Gemeinschaft beigetragen werden.

Die Antwort auf die geschilderten Hirngespinste reaktionärer Kräfte, die durchaus alles andere sind als ein Haufen verirrter Spinner, liegt nicht in individuellen, „emanzipierten Lebensentwürfen“, die einer solchen Politik entgegengehalten werden. Vielmehr bedarf es einer proletarischen Frauenbewegung, die organisiert und entschieden für Frauenbefreiung, für die Überwindung der patriarchalen bürgerlichen Gesellschaft und gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem eintritt. Nur durch die Befreiung der Frauen kann die ArbeiterInnenklasse als Ganze ihre Interessen verwirklichen, nur durch den Sozialismus können Gleichberechtigung von Frauen und LGBTIA-Menschen erreicht und Unterdrückung überwunden werden!

Endnoten

(1)  Alternative für Deutschland (AfD): Programm & Hintergrund. Fragen und Antworten: Bildung und Gleichstellung (2016), online unter https://www.alternativefuer.de/programm-hintergrund/fragen-und-antworten/bildung-und-gleichstellung/

(2)  AfD: Programm & Hintergrund. Fragen und Antworten: Bildung und Gleichstellung (2016).

(3)  AfD: Programmatik & Leitlinien (2013), online unter https://www.alternativefuer.de/programm-hintergrund/programmatik/

(4)  Korsch, Felix/Wölk, Volkmar: Nationalkonservativ und marktradikal. Eine politische Einordnung der „Alternative für Deutschland“, 2. aktual. u. erw. Aufl. 2014. Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, S. 8

(5)  Vgl. Korsch, Felix/Wölk, Volkmar (2014): S. 3

(6)  Junge Alternative für Deutschland (JA): Programmatik (2014), online unter https://www.jungealternative.com/info/programmatik/

(7) JA: Programmatik (2014).

(8)  JA: Programmatik (2014).

(9)  AfD: Programm & Hintergrund. Fragen und Antworten: Bildung und Gleichstellung (2016).

(10) JA: Programmatik (2014).

(11) JA: Programmatik (2014).

(12) AfD: Programmatik & Leitlinien (2013).




Frauen in der Hausindustrie

Shazia Shehzad/Martin Suchanek, Neue Internationale 203, Oktober 2015

Arbeiterinnen sind von den Auswirkungen des Neoliberalismus und der Krise besonders  betroffen. Das betrifft besonders Länder der „Dritten Welt“, also Halbkolonien, die von imperialistischer Ausbeutung geprägt sind.

Die ökonomische „Entwicklung“ dort zeigt sich als ein Nebeneinander einerseits der Einbindung in den modernen globalen Kapitalismus und andererseits der Ausbreitung „alter“ Formen der extremen Ausbeutung wie z.B. der Heimindustrie. Rund 73 Prozent aller LohnarbeiterInnen in Pakistan – immerhin rund 60 Millionen – sind im „informellen“ oder „prekären“ Sektor beschäftigt, der im letzten Jahrzehnt weiter deutlich gewachsen ist.

Diese Beschäftigungsverhältnisse sind keine Relikte einer vorkapitalistischen Vergangenheit (wie z.B. die tradierte handwerkliche Produktion). Ihre Ausdehnung geht vielmehr Hand in Hand mit dem Einfluss des Großkapitals, mit der Produktion für Textil- und Handelsketten, die auf nationalen und internationalen Märkten tätig sind.

So macht der Textilexport in Pakistan mehr als 50 Prozent des Gesamtexports aus. Wie auch in Indien, Bangladesh oder Sri Lanka ist er v.a. auf den EU-Markt ausgerichtet – ob  die Produktion in großen Fabriken, in kleinen Unternehmen oder in Heimarbeit erfolgt.

Letztere ist ist eine besondere Form „ungleichzeitiger und kombinierter Entwicklung“, wo rückständige Formen der Produktion wie die Hausindustrie, die Marx im „Kapital“ ausführlich beschreibt, in ein System der Profitmacherei für riesige kapitalistische Unternehmen eingebunden sind.

System von Subunternehmen

In die „Hausindustrie“ lagern die Unternehmen einen Großteil ihrer Aufträge auf Subunternehmen (oder eine ganze Kette von Subunternehmen) über lokale „Mittelsmänner“ aus. Der größte Teil der Produktion wird durch diese in Auftrag gegeben und die Hausarbeiterinnen (der Anteil von Männern unter ihnen ist sehr gering) treten nur diesen als „Vertragspartnerinnen“ gegenüber.

Die neoliberale Methode, die heute vorherrscht, besteht darin, dass die ArbeiterInnen im informellen Sektor generell nur kurz befristete Verträge haben (oft nur für einen Tag) und auch nur tageweise bezahlt werden. Es gibt keine soziale Absicherung gegen Krankheit, keine Alters- oder Gesundheitsvorsorge. Diese Form der Billigarbeit ist eine übliche Form in der „Dritten Welt“ geworden.

Die Hausindustrie macht in Ländern wie Pakistan einen wichtigen Teil der Produktion aus, wenn auch verlässliche Zahlen wegen des informellen (und tw. auch illegalen) Charakters der Arbeit kaum zu erhalten sind. Neben fehlender sozialer Absicherung gibt es auch keine Mindestlöhne oder irgendeinen Arbeitsschutz. Die ArbeiterInnen werden nicht stundenweise, sondern nach Stücklohn bezahlt. Produkte, die der Mittelsmann für zu schlecht befindet, werden nicht abgenommen und auch nicht bezahlt. Die Frauen arbeiten 12-14 Stunden täglich und erhalten in Pakistan sehr geringe Löhne, oft sogar weniger als 100 Rupien (ca. 84 Cent) pro Tag.

Produziert werden Textilien aller Art. Vom Teppich bis zum Reitkleid werden alle möglichen Produkte geknüpft oder genäht und abgepackt. Oft werden auch vorgefertigte Produkte zusammengenäht. In der Regel wissen die Frauen nicht, unter welchem Label die Produkte verkauft werden, da diese oft erst später aufgenäht werden, wobei derselbe Mittelsmann oder höhere Subunternehmen auch Produkte derselben Arbeiterinnen an unterschiedliche Marken verkaufen können.

In der Hausindustrie arbeiten fast ausschließlich Frauen und zwar zuhause oder in kleinen Betrieben in unmittelbarer Nachbarschaft. Dort sind 10 oder 20 Frauen quasi eingepfercht in kleinsten „Sweat Shops“. Ihr Lohn ist so gering, dass sie davon allein nicht überleben könnten, er ist vielmehr Bestandteil des „Familienlohns“ der proletarischen Familien.

Dabei sind die Frauen den „Mittelsmännern“, ihren Auftraggebern, nicht nur als vereinzelte Vertragspartnerinnen extrem ausgeliefert und unterliegen einer enormen Ausbeutung. Oft sind sie bei den „Mittelsmännern“ auch verschuldet, weil sie z.B. in der Zeit von Hochzeit, Schwangerschaft, Unfällen oder Krankheit nicht produzieren können. Sie nehmen dann Kredite bei ihren Vertragspartner auf, die bei extremen Zinsen in Zukunft abgearbeitet werden müssen.

Patriarchale Unterdrückung

Die patriarchale Unterdrückung der Frau in der pakistanischen Gesellschaft sichert dieses System der Ausbeutung ab. Eine Form der Unterdrückung der Frau besteht dabei darin, dass sie nicht allein im öffentlichen Leben in Erscheinung treten darf oder es dafür großen Mutes bedarf. Die Mobilität der Frauen ist daher extrem eingeschränkt. Frauen, die einer Lohnarbeit außer Haus nachgehen, setzen sich dabei nicht nur gesellschaftlicher Anfeindung aus, sondern auch enormen Risiken bis zu sexuellen und physischen Übergriffen. Daher ist für viele Frauen die Hausarbeit die einzige Form, ihre Arbeitskraft verkaufen und so zum Auskommen der Familie beitragen zu können, ohne Beleidigungen oder Übergriffen auf dem Weg zur Arbeit oder am Arbeitsplatz ausgesetzt zu sein. Das führt auch dazu, dass Frauen und deren Familien oft die Heimarbeit der Fabrikarbeit vorziehen.

Hinzu kommt, dass in Pakistan Lohnabhängige, v.a. deren untere Schichten, auch nicht als kreditwürdig (oft überhaupt nicht als geschäftsfähig) gelten und bei normalen Banken keine Vorschüsse erhalten, ja oft noch nicht einmal ein Konto eröffnen dürfen. Für Frauen gilt das umso mehr. Daher bleibt ihnen (wie auch großen Teilen der männlichen Arbeiter) nur der Mittelsmann oder der private Geldverleiher, wenn sie finanziell in Bedrängnis kommen.

Diese Situation kommt einer Falle für die Frauen gleich, die sie zum Objekt extremer Ausbeutung und Abhängigkeit macht, dessen ursächliche Faktoren sich wechselseitig verstärken.

Der Ausschluss der Frauen vom öffentlichen Leben aufgrund von Patriarchat, Religion und reaktionärer kultureller Traditionen festigt also auch das System der extremen Überausbeutung in der Heimindustrie.

Die Kapitalisten haben davon viele Vorteile. Sie können die einzelnen Frauen ebenso leicht einstellen wie feuern. Konjunkturelle Einbrüche treffen diese ganz unmittelbar. Die einzelnen Frauen haben fast keine Verhandlungsmacht und müssen daher Löhne unter ihren Reproduktionskosten akzeptieren. Bei Krankheit, Unfall, Alter usw. tragen sie bzw. ihre Familien die Kosten. Außerdem müssen sie nicht nur den Arbeitsraum stellen (ihre Wohnung), sondern in der Regel auch Arbeitsmittel, Werkzeuge, Ausstattung usw. bezahlen, mitunter sogar die Kosten für die Rohstoffe tragen. Die Frauen werden so formell in den Status individueller Kleinproduzentinnen gedrängt, die an den Mittelsmann nur ein Produkt zu dessen „Stückkosten“ verkaufen. Es erscheint so, als wären sie keine Lohnarbeiterinnen, sondern verarmte Kleinproduzentinnen. In Wirklichkeit ist das freilich nur ein oberflächlicher Schein, wie auch in der „Hausindustrie“ oder im „Verlagssystem“ im Frühkapitalismus Europas (oder auch in „neueren“ Formen prekärer Beschäftigung).

Organisierung

Die Hausarbeit verschärft die doppelte Belastung der Frauen in der Familie (wie auch die Tendenz zur Kinderarbeit). In Pakistan haben zwar soziale Bewegungen versucht, die Probleme der Frauen in der Hausindustrie aufzugreifen, aber die (wenigen) gesetzlichen Einschränkungen der Ausbeutung existieren meist nur auf dem Papier.

Die pakistanische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale um die Zeitschrift „Revolutionary Socialist“ arbeitet aktiv am Aufbau einer „Gewerkschaft der Arbeiterinnen in der Heimindustrie und der Hausarbeiterinnen“ (Home based and domestic workers union) mit, welche von Arbeiterinnen in Lahore initiiert wurde. Gemeinsam mit hunderten Arbeiterinnen kämpfen wir für die rechtliche Anerkennung dieser Gewerkschaft.

Angesichts der enormen Bedeutung der Textilindustrie, ihrer großen Zersplitterung in zahlreiche Subunternehmen, der unterschiedlichen Form der Ausbeutung (Fabrik, Manufaktur, Hausindustrie) braucht es in allen diesen Bereichen Kampagnen zur gewerkschaftlichen Organisierung und die Überwindung der Zersplitterung durch die Schaffung einer Massengewerkschaft für die gesamte Branche.

Forderungen

Eine zentrale unmittelbare Forderung ist der Kampf gegen das System des Stücklohns und der kurzzeitigen Verträge. Wir treten dafür ein, dass es Arbeitsverträge gibt, die die Lebenshaltungskosten der Frauen decken sowie eine Kranken- und Unfallsversicherung, die Rentenvorsorge und Urlaub ermöglichen. Wir treten für monatliche Löhne statt  Stücklohn und Tagelöhnerei ein.

Zweitens braucht es eine Kampagne gegen das System der Subunternehmen und Mittelsmänner – nicht nur wegen der Ausbeutung, sondern auch wegen der Zinsknechtschaft und zahlreicher Fälle physischer und sexueller Übergriffe.

Bislang gelang es uns, in einzelnen Bezirken in Lahore Arbeiterinnen zu organisieren, ihre Ausbeutung öffentlich zu machen, Frauen (und auch ihre Männer) für deren Rechte zu mobilisieren. In einzelnen Bereichen konnten wir auch Verbesserungen durchsetzen.

Es geht uns aber v.a. darum, diesen Kampf mit jenem der sehr schwachen pakistanischen Gewerkschafts- und ArbeiterInnenbewegung zu verbinden. Um die Lage im riesigen informellen Sektor zu ändern und das System der Hausarbeit abzuschaffen, reichen einzelne, branchenweise Versuche, tarifliche Regelungen durchzusetzen, nicht aus. Wir treten daher für eine Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn ein, die von allen Gewerkschaften, linken und ArbeiterInnenorganisationen geführt werden muss. Dieser  Kampf muss zudem mit dem Engagement gegen die gesellschaftliche und rechtliche Unterdrückung der Frau verbunden werden. Dabei müssen Frauen wie jene, die sich in der „Home based and domestic workers union“ zu organisieren beginnen, eine Schlüsselrolle spielen, so dass sie von einem Objekt kapitalistischer Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung zu einem Subjekt im Kampf um die Befreiung der gesamten ArbeiterInnenklasse werden.




Frauenunterdrückung und Hausarbeit – Aschenputtels Arbeit

Hannes Hohn, Neue Internationale 151, Juli/August 2010

Der Haushalt ist immer noch Frauensache. Lt. Statistischem Bundesamt wenden Frauen in der BRD etwa 20 Stunden pro Woche für Hausarbeit auf, Männer nur 7.

Alle bedeutenden SozialistInnen haben betont, dass die Hausarbeit ein wesentliches Element der sozialen Unterdrückung der Frau ist. Sie alle forderten daher, dass die Hausarbeit vergesellschaftet werden soll. Das war für sie eine wesentliche Voraussetzung der Befreiung der Frau.

Viele werden sagen: „Was ist so schlimm an Hausarbeit, es gibt ja genug Technik, welche die Arbeit erleichtert.“ Das stimmt natürlich hinsichtlich der Erleichterung vieler häuslicher Arbeiten – allerdings verfügen Milliarden Frauen weltweit auch heute noch nicht über diese Möglichkeiten. Sie verrichten die Hausarbeit oft noch so wie vor hundert Jahren, als z.B. das Wäschewaschen von Hand erfolgte – stundenlang und mindestens einmal die Woche.

In den entwickelteren Ländern hat sich v.a. nach 1945 viel an der Situation von Frauen geändert. Mit dem langen Boom nach 1945 erhöhte sich über einige Jahrzehnte auch der materielle Lebensstandard der Mehrheit der Arbeiterklasse. Die Arbeitslosigkeit sank, Frauen wurden stärker in die Arbeitswelt integriert. Die rechtliche Gleichstellung nahm zu, bestimmte diskriminierende Regelungen (z.B. zur Abtreibung) wurden gelockert oder gar abgeschafft. Der Bildungsstand von Frauen und Männern glich sich immer mehr an.

Doch trotz aller Veränderungen hat sich eines grundsätzlich nicht geändert: Hausarbeit und Kinderbetreuung sind immer noch hauptsächlich Frauensache. Die Doppelbelastung der Frau durch Arbeit und Haushalt/Familie ist geblieben. Außerhalb des „Normalarbeitsverhältnisses“, also z.B. bei der Teilzeitarbeit wird diese „Erleichterung“ mit finanziellen Einbußen und größerer sozialer Unsicherheit erkauft. Daran zeigt sich, dass die Frauenunterdrückung ein spezifischer Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital ist. Dieses Verhältnis lässt sich nicht dadurch aufheben, dass der Waschvollautomat den Waschzuber abgelöst hat und Wegwerfwindeln erfunden wurden.

Hausarbeit und Kapitalismus

Die Existenz der „doppelt freien“ LohnarbeiterInnen (rechtlich frei und frei von Produktionsmitteln) brachte es auch mit sich, dass es nun weitgehend unmöglich war, in häuslicher Produktion Güter für den Eigenbedarf herzustellen. Alles, was gebraucht wurde, musste gekauft werden. Der Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um Lohn zu erhalten, war deutlich größer als je zuvor.

Die Hausarbeit trug nun de facto nichts mehr zum Familieneinkommen bei. War es im Feudalismus Frauen noch möglich, ja für die familiäre Reproduktion notwendig, neben der Hausarbeit noch auf dem Feld oder im Stall zu arbeiten, zu Hause zu weben, zu flechten usw. und damit entweder zur Deckung des Familienbedarfs beizutragen oder aber die Produkte zu verkaufen oder zu tauschen, waren im Kapitalismus Arbeiten wie Kinderbetreuung, Putzen und Waschen (im eigenen Haushalt) zwar noch nützlich, hatten noch einen Gebrauchswert, jedoch keinen Tauschwert mehr.

Im Mittelalter war die Hausarbeit von der eigentlichen „Berufs-Arbeit“ des Bauern oder Handwerkers hinsichtlich der Qualifikation nicht wesentlich unterschieden. Im Kapitalismus wurde das radikal anders. Fortschritt fand in der Sphäre der Industrie statt, nicht oder kaum jedoch im Bereich häuslicher Arbeit. Die typischen Arbeiten der Frau waren „entwertet“ – in mehrfacher Hinsicht: sie erzeugten keinen Tauschwert und sie wurden im Vergleich zur Industrie einfache, „primitive“ Arbeiten.

Dadurch, dass die reale Abhängigkeit der Arbeiterklasse von der Lohnarbeit zum Kernproblem ihrer materiellen Existenz wurde, vertiefte sich zugleich auch die (materielle) Abhängigkeit der Frau vom Mann und der faktischen Unterordnung ihres Lebens unter das des Mannes.

Was ist Hausarbeit?

Die Arbeit des Gourmetkochs hat quasi Kunststatus – das häusliche Kochen ist im Grunde dieselbe Arbeit. Sie erfordert Planung, Erfahrung und Phantasie. Trotzdem ist die kochende Hausfrau weit davon entfernt, als „Künstlerin“ zu gelten.

Während die Arbeit von LehrerInnen oder ErzieherInnen als qualifizierte Facharbeit gilt, für die eine langjährige Ausbildung verlangt wird, gilt dasselbe für die häuslich/familiäre Erziehung der eigenen Kinder nicht. Ob die ErzieherInnen selbst erzogen werden, kümmert die bürgerliche Gesellschaft nicht oder nur insofern, als das Jugendamt bei Misshandlung oder Verwahrlosung von Kindern – im Nachhinein – aktiv wird. Doch trotzdem wird kein normaler Mensch bezweifeln, dass die Erziehung von Kindern durch die Eltern eine komplizierte Tätigkeit ist, die viel „soziale Kompetenz“ erfordert.

Hausarbeit ist also keinesfalls nur „primitive“ Arbeit, die vergesellschaftet werden muss, um Frau oder Mann von ihr zu befreien. Selbst einfache Tätigkeiten wie Reinigungs- oder Aufräumarbeiten sind nicht weniger anspruchsvoll oder kreativ als Fließbandarbeit oder die Arbeit eines Finanzbeamten, der jahrzehntelang Zahlenkolonnen kontrolliert. Hausarbeit ist kombinierte Arbeit aus verschiedenen, teils sehr anspruchsvollen, teils sehr einfachen Tätigkeiten.

Die Plackerei und der isolierenden Charakter der Hausarbeit ist v.a. oder überhaupt nur für Frauen aus der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht ein Problem. Reichere Frauen hatten schon immer viele Möglichkeiten, unliebsame Arbeiten auf proletarische Frauen abzuwälzen, die als Dienerinnen, Kinderfrauen oder Haushaltshilfen den gutsituierten Frauen ermöglichten, ein angenehmeres Leben zu führen und sich kreativeren Beschäftigungen zu widmen.

Hinsichtlich der Arbeiterklasse hat die Hausarbeit eine andere Funktion. Im Arbeitslohn sind die Reproduktionskosten der Arbeiterklasse, also der Familie samt Kindern etc. enthalten. Der Arbeitslohn des männlichen Arbeiters ist – letztlich unabhängig von der realen Familienform – als Familienlohn gesetzt, woraus sich auch (wenn auch nicht nur) die Hartnäckigkeit der Lohnunterschiede von Mann und Frau erklärt. Im System der Lohnarbeit ist also immer schon der Zwang der Reproduktion der Familien samt ihrer unterdrückerischen Funktionen und der diskriminierten Rolle der Frau mit enthalten. Ein individuellen „Ausbrechen“ daraus, z.B. indem sich die Familie für die Berufstätigkeit der Frau und gegen jene des Mannes entscheidet, wird durch Einkommenseinbußen für den Gesamthaushalt sanktioniert.

Wie die individuellen Mitglieder der Arbeiterklasse die Reproduktion der Familie „gestalten“, überlässt das Kapital auf dieser Grundlage gänzlich den ArbeiterInnen. Wie sie ihren Lohn verwenden, aufteilen etc. liegt außerhalb des eigentlichen Kapitalverhältnisses, wenngleich letztlich der direkte und indirekte Arbeitslohn den durchschnittlichen Verbrauch einer Proletarierfamilie (sprich den Warenkorb an Lebensmitteln, Wohnkosten, Kosten für Regeneration, Bildung, Rente) decken soll.

Im Haushalt finden keine Lohnarbeit, keine Ausbeutung, keine Warenproduktion statt. Die „Produkte“ der Hausarbeit werden aber nicht als Ware vom Mann oder den Kindern oder sonst jemandem gekauft. Sie erscheint als Gratisarbeit (auch wenn zu ihrer Verrichtung natürlich die Reproduktion der Frau, also deren Reproduktionskosten vorausgesetzt sind).

Wenn der Marxismus davon spricht, dass Hausarbeit bzw. die Abwälzung der Hausarbeit auf Frauen unterdrückerisch ist, dann kann sich das offensichtlich nicht auf die Art häuslicher Tätigkeiten an sich beziehen. Auch in einer zukünftigen, befreiten, kommunistischen Gesellschaft werden Menschen Staub fegen, Kinder versorgen oder kochen müssen.

Das Unterdrückerische der Hausarbeit und ihre grundlegende Rolle für die Frauenunterdrückung ergibt sich vielmehr aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie stattfindet.

Unterdrückung

Das Unterdrückerische an der Hausarbeit besteht zunächst einfach darin, dass sie meist von Frauen verrichtet wird, wodurch Männer oft einen größeren Freiraum haben, sich um Beruf, Hobby oder Politik zu kümmern.

Die Forderung nach Vergesellschaftung drückt schon einen entscheidenden Nachteil der Hausarbeit aus: dass sie eben nur im privaten Rahmen stattfindet. D.h. Frauen (und natürlich auch Männer) sind  bei dieser Arbeit von der gesellschaftlichen Kooperation und Kommunikation stark abgekoppelt.

Eng damit verbunden ist der Umstand, dass in der privaten Hausarbeit die Dynamik der modernen Industrie mit ihren technischen Errungenschaften, bestimmten Formen von Organisation, Kooperation und Arbeitsteilung nicht vorkommen. So sind Frauen, die nur oder überwiegend häusliche Arbeiten verrichten, von dieser Seite gesellschaftlichen Lebens weitgehend abgeschnitten. Während Männer sich weiterbilden und sich mit Veränderungen in der Arbeitswelt auseinandersetzen müssen, geht ein solcher Druck von der Hausarbeit kaum aus.

„Hausfrauen“ haben auch weniger Kontakt zur Arbeiterklasse – als Kollektiv verstanden und nicht als einzelner Arbeiter in Form des Partners – und zur Arbeiterbewegung.

Das Unterdrückerische an der Hausarbeit liegt in ihrer Isoliertheit: von der Gesellschaft, von der Kommunikation, von moderner Produktion und von der Arbeiterklasse, von ihren Organisationen und Kämpfen. Insofern ist jeder Kampf für die Vergesellschaftung der Hausarbeit auch ein Kampf gegen Unterdrückung und ein Kampf für die Stärkung der Arbeiterbewegung durch die stärkere Einbeziehung von Millionen Proletarierinnen.

Der Kapitalismus kann auf die private Organisation der Hausarbeit letztlich nicht verzichten. Gleichwohl zeigt er selbst Tendenzen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit. Mit der Einbeziehung von immer mehr Frauen in die Lohnarbeit ging auch eine Technisierung der Hausarbeit wie eine Ausdehnung staatlicher oder privater Kinderbetreuungs- und Erziehungseinrichtungen einher.

Letztlich bleibt diese Tendenz im Kapitalismus aber immer beschränkt, unvollständig und geht mit einer Doppelbelastung der Frau einher. Warum? Mit der Aufhebung der privaten Hausarbeit würde auch der vorherrschenden Beziehungsform, der bürgerlichen Kleinfamilie samt ihrer repressiven Funktion in der Unterdrückung, Unterordnung der Frau und der Kinder, der Boden entzogen. Daher muss die Familie – auch wenn sie im Kapitalismus selbst oft nicht so „normal“ ist, wie Familienpolitik, Kirche oder Moralapostel glauben machen – gefördert, am Leben erhalten und andere Formen des Zusammenlebens stigmatisiert werden.

Zum anderen würde eine Vergesellschaftung der Hausarbeit aber auch den Warencharakter der Ware Arbeitskraft unterminieren. Was heute an Waren für den Haushalt gekauft, an Energie, Zeitaufwand, Kreativität für Kindererziehung oder Kochen, an Plackerei für Müllentsorgung, Reparaturen usw., verwandt wird, würde als gesellschaftliche Arbeit erscheinen. Es würde nicht mehr auf die „geschickte Haushaltsführung“ der Frau (oder des Mannes) ankommen, ob der Lohn oder Hartz IV reicht, sondern die Kosten würden direkt als gesellschaftliche Kosten erscheinen.

Er wäre eine politische, eine gesellschaftliche Frage und nicht nur eine individuelle. Das zeigt, dass die Forderung nach Vergesellschaft der Hausarbeit eine Übergangsforderung, eine Forderung ist, deren Verwirklichung über den Kapitalismus hinausweist.

Vergesellschaftung oder Verstaatlichung?

In der Linken taucht die Frage der Vergesellschaftung der Hausarbeit, wenn überhaupt, oft als Forderung auf, um das oft ungenügende oder zu teure Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu verbessern.

In der DDR – und tendenziell in allen stalinistischen Staaten – gab es ein relativ gut ausgebautes System der Kinderbetreuung. Die Einrichtungen waren in aller Regel staatlich. Die Möglichkeiten für Eltern, auf diese Einrichtungen Einfluss zu nehmen, waren allerdings gering. Planung, Konzepte und Kontrollen oblagen staatlichen Stellen und staatlichen „BildungsspezialistInnen“, die meist Frauen waren.

Dieses staatliche Kinderbetreuungsystem war – trotz vieler Vorteile gegenüber dem des Westens – hinsichtlich der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Überwindung der tradierten „Fesselung“ der Frauen an die Kinderbetreuung wesentlich beschränkt. So waren die Beschäftigten in der Betreuung von Vorschul- und Schulkindern fast nur Frauen. Männer stärker mit diesen Aufgaben zu betrauen, wurde nicht ernsthaft versucht oder gefördert. So blieb die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau unangetastet.

Ein zweites, damit zusammenhängendes, Problem war, dass es eine strikte Trennung zwischen staatlicher Kinderbetreuung in Krippe oder Kindergarten und häuslicher Erziehung durch die Eltern gab. Bildung und Erziehung blieben somit – wie in der bürgerlichen Gesellschaft – einerseits Sache von staatlichen SpezialistInnen andererseits rein häuslich-familiäre Privatsache.

Das Beispiel der Kinderbetreuung zeigt sehr augenfällig, dass die „Verstaatlichung“ zwar ein  Schritt zur Lösung des Problems sein kann, für sich genommen aber keineswegs sicherstellt, den borniert-privaten Rahmen von Erziehung wirklich zu überwinden.

Die Betonung der Familie im Stalinismus als „kleinster Zelle der Gesellschaft„ (bezeichnenderweise identisch mit der bürgerlichen Ideologie) sanktionierte die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zusätzlich und blockierte fast jeden Ansatz zur Überwindung der privatisierten Hauswirtschaft. Die in Ost und West nahezu identische Städte-Architektur, also die Art von Wohnen und Leben – der Plattenbau als „Arbeiterschließfach“ ist eine in Beton gegossene Homage an (klein)bürgerliches Familien-Leben.

Fazit

Die Befreiung der Frau kann nur dadurch erfolgen, dass die Gesellschaft häusliche Tätigkeiten und die Kinderbetreuung gemeinschaftlich – nicht durch einen abgehobenen Staat – erledigt. Voraussetzung dafür ist u.a. eine grundsätzliche Verkürzung der notwendigen Arbeit. Voraussetzung dafür ist letztlich, dass alle Unterdrückungsverhältnisse überwunden werden, dass der Mensch sich selbstbewusst und aktiv um die Gestaltung  der Gesellschaft kümmert. Das alles ist auf der Basis von Privateigentum und Profitstreben unmöglich.

Diesen Befreiungskampf zu führen hat die reformistische Arbeiterbewegung allerdings längst aufgegeben. In den Büros der Gewerkschaftshäuser oder den Vorstandsetagen von SPD und Linkspartei spielt die Hausarbeit als ein zentraler Aspekt der Frauenunterdrückung keine Rolle – und wenn, dann in Form einer „Frauen – und Familienpolitik“, die komplett in den Strukturen der bürgerlicher Gesellschaftlichkeit verharrt.

Im Vergleich dazu sind die praktischen Errungenschaften und Bemühungen der jungen Sowjetunion für die Verbesserung der Lage der Frauen und umso mehr die perspektivischen Debatten, die RevolutionärInnen wie Zetkin oder Kollontai und viele ihrer männlichen Mitstreiter führten, der heutigen frauenpolitischen Kleingeisterei des Reformismus turmhoch überlegen!