Politischer Streik in Deutschland: Wie kommen wir dahin, am 8. März zu streiken?

Ramona Summ, Valentin Lambert, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

„Wenn wir streiken, steht die Welt still“. Dieser Slogan untermalte 2018 den feministischen Generalstreik in Spanien zum Internationalen Frauenkampftag. Die spanischen Frauen haben bezahlte und unbezahlte Arbeit niedergelegt und so ökonomischen und gesellschaftlichen Druck ausgeübt, indem hunderte Züge ausfielen, Straßen blockiert wurden und Schulen sowie Kitas geschlossen blieben. Auch in Deutschland ist diese Parole verwendet worden. Der Unterschied:  Hierzulande wird in der Regel die Arbeit nicht niedergelegt, sondern die Wut über die alltägliche sexistische Unterdrückung durch Demonstrationen und Kundgebungen an die Öffentlichkeit getragen. Diese Aktionen sind wichtig und zeigen, wie viele Menschen auch hierzulande für Frauenforderungen auf die Straße gehen. Doch es wirft auch die Frage auf: Wie kommen wir in Deutschland dazu, dass alles stillsteht? Denn Gründe zu streiken, gibt es allemal.

Was möglich wäre

Erinnern wir uns an die Coronapandemie: Während alle ihr Mitgefühl und Unterstützung durch Klatschen am Fenster oder auf dem Balkon kundtaten, musste das medizinische Personal massive Überstunden zu schlechten Arbeitsbedingungen schieben. Das Gesundheitssystem stand damals vor dem Kollaps und wird seitdem auch nur durch die Bereitschaft des existierenden Personals zusammengehalten. Von der miserablen Versorgung bezüglich Abtreibung sowie Häusern zum Schutz vor Gewalt ganz zu schweigen. Frauen sind die doppelten Krisenverliererinnen und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hat sich weiter verschärft. Kurzum: Die Liste an Missständen ist ewig lang. Doch all das muss nicht so bleiben, sondern sind Dinge, die verändert werden könnten. Demos, Petitionen, vereinzelte Proteste reichen jedoch dafür nicht aus. Um den nötigen Druck zu erzeugen, für feministische Forderungen zu kämpfen, bedarf es eines ökonomischen Stillstandes. Denn erst wenn die Profite des kapitalistischen Systems nicht mehr fließen, wird eine politische Kraft ausgespielt, die die Kapitalistenklasse nicht mehr ignorieren kann.

Stellen wir uns jetzt vor, dass der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) mit seinen 5,6 Millionen Mitgliedern sich dazu entscheiden würde, für einen Streik einzutreten: Es gäbe in tausenden von Betrieben Vollversammlungen, wo man nicht nur über die Forderungen reden könnte, sondern auch Raum hätte, darüber zu diskutieren, wie und wo Sexismus im Betrieb sowie in der Gesellschaft stattfinden. Das würde nicht nur helfen, die Forderungen durchzusetzen, sondern auch einen Beitrag leisten, wie innerhalb der Gesellschaft über antisexistische Themen geredet wird. Wie also kommen wir dahin?

Ein kurzer historischer Abriss

Während in vielen EU-Ländern politische Streiks rechtlich erlaubt sind und wir in den letzten Jahrzehnten Generalstreiks in Belgien oder Frankreich miterleben konnten, ist im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit verankert, dass hier keine politischen Streiks, geschweige denn Generalstreiks, möglich sind. Doch woran liegt das genau? Rechtlich ist ein Verbot von politischen Streiks nicht geregelt. Das Grundgesetz schützt das Recht zu streiken und auch historisch gab es in der deutschen Geschichte immer wieder politische Streiks – wenn auch deutlich weniger als in anderen Ländern. Beispiele dafür sind aus der Vergangenheit der Generalstreik für die Beendigung des 1. Weltkrieges 1918, welcher trotz Verbots Hunderttausende auf die Straßen brachte oder der 1948 für die Demokratisierung und Sozialisierung der Wirtschaft. Doch auch in der neueren Geschichte kam es zu Protesten: 1996 gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder 2007, als die IG Metall zu einer Arbeitsniederlegung aufgerufen hatte, um gegen die Rente mit 67 zu protestieren. 2023 sorgte der Schulterschluss zwischen ver.di und Fridays For Future (FFF) für hitzige Debatten, ob dies denn überhaupt legitim sei oder nicht schon ein politischer Streik. FFF unterstützte mit der Kampagne #wirfahrenzusammen insbesondere die Forderungen des ÖPNV in den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes und setzte auf Streikkundgebungen Akzente und Forderungen für eine nachhaltige Verkehrswende. Woher kommt also die Annahme, dass politische Streiks verboten sind?

Scheinbares Verbot und Angriffe auf das Streikrecht

Dies leitet sich aus einem Urteil des Freiburger Landgerichts von 1952 ab. Damals streikten Beschäftigte der Zeitungsbetriebe für mehr Rechte im Betriebsverfassungsgesetz. Das Gericht urteilte dabei, dass die Streiks rechtswidrig sind, unterstrich aber ausdrücklich, dass sie nicht verfassungswidrig sind: „Sollte durch vorübergehende Arbeitsniederlegung für die Freilassung von Kriegsgefangenen oder gegen hohe Besatzungskosten oder gegen hohe Preise demonstriert werden, dann könnte dieser politische Streik wohl kaum als verfassungswidrig angesehen werden.“

Das im Grundgesetz festgeschriebene Recht zu streiken ergibt sich aus dem Artikel 9 Absatz 3. Dort wird geregelt, dass Arbeitskämpfe „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ geführt werden können. Ein Grundrecht auf Streik, losgelöst von seiner funktionalen Bezugnahme auf die Tarifautonomie, gewährleistet der Artikel allerdings nicht. Darüber hinaus wurde in den vergangenen Jahrzehnten das Streikrecht immer weiter ausgehöhlt, während zeitgleich die Arbeitsbedingungen sich verschlechterten durch Privatisierung sowie Ausbau des Niedriglohnsektors. Beispiele dafür sind das Gesetz zur Tarifeinheit oder die diversen Schlichtungsvereinbarungen, die dazu genutzt werden, „Ruhepausen“ in Streiks zu erzwingen.

Kurzum: In Deutschland ist Streikrecht Richter:innenrecht. Ein politischer Streik ist faktisch möglich. Er ist nicht explizit verboten, bestehende Gesetze legalisieren jedoch nur Streiks für Tarifverträge. Diese Begrenztheit wird jedoch von der internationalen sowie europäischen Rechtsprechung kritisiert und Jurist:innen wie Theresa Tschenker meinen, dass die Grenzen des Legalen z. B. verschoben werden können. Zu Recht sieht sie in den Tarifkämpfen um Entlastung der Krankenhausbeschäftigten das Manko, dass sie nicht am Finanzierungssystem gerüttelt hätten. Dies ist sicher einer der Gründe, warum diese Bewegung dem Kahlschlag durch die jüngsten Lauterbach’schen Krankenhaus„reformen“ wehr- und hilflos gegenübersteht. Sie fordert: „Man müsste die Rechtsprechung zum Verbot des politischen Streiks herausfordern. Dazu bräuchte es einen bundesweiten Krankenhausstreik … Es müsste klar werden, dass alle Beschäftigten dafür streiken, dass die Finanzierung geändert wird …“ Auch die Beispiele nach 1952 machen deutlich, dass es eher eine Frage der Entschlossenheit bleibt als eine der Rechtslage. Hinzu kommt, dass, objektiv betrachtet, selbst ein existierendes Verbot nicht bedeutet, dass man dieses bei massenhaften Protesten nicht auch kippen könnte – schließlich ist der politische Streik ein notwendiges Mittel, um Druck auszuüben. Als Marxist:innen lassen wir uns nicht von den Gesetzen des bürgerlichen Staates begrenzen und die Rechtsprechung vertritt die Interessen des deutschen Staates und des Kapitals, indem durch Verbot eines Streiks keine Profiteinbußen auf Kosten der Kapitalist:innen anfallen. Natürlich könnten Konsequenzen drohen, aber im Falle einer Bewegung könnten Repressionen mit erneuten Streiks abgewehrt werden. Was also hindert uns daran zu streiken?

Der Unwillen der Gewerkschaften

Eines der häufigsten Argumente ist, dass die Gewerkschaften Schadenersatzforderungen befürchten, wenn sie zu einem Streik aufrufen, der nicht den rechtlichen Kriterien entspricht. Man sollte meinen, dass der DGB sich zu wehren wüsste und seine Mitgliedschaft tatkräftig dagegen mobilisieren könnte. Doch so einfach ist das nicht. Denn in der Realität sehen wir selbst bei bloßen Tarifrunden ein Anbiedern ans Kapital statt kämpferischer Streiks, wie die Beschäftigten bei den den Tarifverträgen TVöD, TV-L , der Post und Bahn am eigenen Leibe gespürt haben. Zehntausende Neueintritte zeigten die enorme Kampfkraft,  stattdessen kam es jedoch zu enttäuschenden Reallohnverlusten bei den Abschlüssen. Mit zahlreichen Trickser- und Zahlendrehereien wird versucht, diese als Erfolge zu verkaufen. Nullmonate und überlange Laufzeiten, die vorher kategorisch abgelehnt wurden, wurden auf einmal akzeptiert. Der Informationsfluss, wie der Abschluss denn zu bewerten sei, läuft einseitig und die Gewerkschaft behält sich hier ein Informationsmonopol vor. Möglichkeiten, sich über den Abschluss auszutauschen und gegebenenfalls weitere Schritte zu diskutieren, gibt es wenig. Der vermeintlich demokratische Prozess zur Befragung aller Gewerkschaftsmitglieder über das Ergebnis ist tatsächlich nicht rechtlich bindend. So verkommen die Tarifrunden zu reinen Ritualen und dienen lediglich der

Abwehr der schlimmsten Verelendung. Aber wieso? Die Verantwortlichen der Misere sind schnell gefunden. Es ist die Gewerkschaftsbürokratie und deren Programm der Sozialpartnerschaft.

Wurzeln der Bürokratie und Sozialpartnerschaft

Die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmer:innen sorgt für ein vermeintlich harmonisches Miteinander zwischen Arbeiter:inneninteressen und denen des Kapitals gemäß dem Sprichwort „zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig“ und basiert auf der Idee der kapitalistischen Mitverwaltung. Reformistische Politiker:innen in den Führungen der Gewerkschaften, der Betriebsräte in den Großkonzernen, der SPD, aber auch der Linkspartei setzen in ihrer Politik auf die Strategie der Zusammenarbeit mit vermeintlich „vernünftigen“ Teilen der herrschenden Klasse. Letzten Endes versprechen sie an der Regierung, „das größere Übel“, also noch mehr Entlassungen und Sozialabbau, zu verhindern – und bereiten damit nur ebendieses vor, indem sie die Klasse spalten und ihre Kampfkraft schwächen. Die Gewerkschaftsführungen und Betriebsräte spielen dasselbe Spiel in der Hoffnung, dass Lohnverzicht und Kurzarbeit Arbeitsplätze sichern. Doch zeigt es vor allem eins: dass sie Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen haben, wohingegen die objektiven Interessen der Beschäftigten dem diametral gegenüberstehen.

Diese  Politik wird von der Gewerkschaftsbürokratie getragen. Dabei gibt es Momente, in denen sie gezwungen ist, zu mobilisieren und radikal aufzutreten. Denn ihre Position ergibt sich eben daraus, dass sie als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital fungieren kann – im Interesse der Beschäftigten Verbesserungen erkämpfen, aber eben nur so viel, dass es dem Kapital nicht schadet, um „den eigenen Standort“ und die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu sichern. Dabei entwickelt sie als bürokratische Schicht selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Dass sie sich etablieren konnte, ist ein historischer Prozess, den wir an dieser Stelle nicht näher beleuchten können. Gefördert wird das aber durch die Extraprofite und Überausbeutung der halbkolonialen Welt. Auch wenn es sicher Individuen gibt, die es als Gewerkschaftssekretär:innen gut meinen – wir können nicht auf den guten Willen Einzelner  vertrauen – insbesondere nicht, wenn deren Position auf Überausbeitung von Kolleg:innen in anderen Ländern basiert.

Das wirft berechtigterweise die Frage auf: Kann man sein Vertrauen in solche Hände legen? Die klare Antwort lautet: Nein. Doch es hilft nicht, sich komplett von den existierenden Strukturen der Gewerkschaften abzuwenden. Schließlich zeigen die Beispiele aus anderen Ländern, was möglich sein könnte. Deswegen ist es notwendig, die existierenden Tarifkämpfe zu politisieren sowie systematisch gegen Gewerkschaftsbürokratie und Sozialpartnerschaft vorzugehen.

Klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen!

Es steht also an, den existierenden Interessenkonflikt offenzulegen und weiter zu politisieren. Das kann beispielsweiseweise bedeuten, konkret aufzuzeigen, dass unser Geld nicht weg, sondern schlichtweg nach oben umverteilt wurde, wie wir an den Abschlüssen von 2023 sehen. Das Geld, was dem öffentlichen Dienst fehlt, ist nämlich bei den Rüstungsausgaben der Bundesregierung zu finden. Gleiches gilt für antisexistische Forderungen. Doch was bedeutet das in der Praxis?

Während #wirfahrenzusammen zeigt, wie Teile der Umweltbewegung versuchen, ein Bündnis mit den Beschäftigten im ÖPNV zu schließen, bleibt es Aufgabe für die feministischen Strömungen, es ihnen gleichzutun und beispielsweise die Streiks im Caresektor wie der Krankenhausbewegung aktiv zu unterstützen. Bei all den positiven Momenten, wäre es jedoch wichtig, die Fehler der #wirfahrenzusammen-Kampagne nicht zu wiederholen. Das bedeutet, dass man sich nicht von Gewerkschaftsführung & Co abhängig machen darf, um auch klare Kritik üben zu können für den Fall, dass beispielsweise die Abschlüsse so enttäuschend ausfallen wie die 2023:

  • Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden! Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!
  • Streikleitung den Streikenden: Für flächendeckende Streikversammlungen bei Streiks in den jeweiligen Branchen, die bindend entscheiden, wie ihr Kampf geführt wird!

Doch es darf nicht dabei bleiben, Tarifkämpfe zu kommentieren. Auch innerhalb von Gewerkschaften kommt es zu Sexismus, Rassismus, sowie LGBTIA+-Unterdrückung. Deswegen muss auch  – neben dem Kampf zur Demokratisierung der Gewerkschaften an sich –  darauf eingegangen werden. Neben möglichen Quotierungen ist es essentiell, dafür einzustehen, dass es das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte gibt. Darüber hinaus müssen aktiv Mechanismen zum Umgang mit, aber auch zur Prävention von Übergriffen und diskriminierendem Verhalten erarbeitet werden – denn bloße Phrasen reichen an der Stelle nicht aus, um den gemeinsamen Kampf zu gewährleisten.

  • Für das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte: Frauen, Jugendliche, MigrantInnen, trans Personen, Schwule und Lesben! Für den aktiven Kampf zur Organisierung dieser Gruppen und gegen jede rassistische, sexistische oder homophobe Diskriminierung!
  • Für das Recht aller politischen und sozialen Gruppierungen (mit Ausnahme faschistischer und offen gewerkschaftsfeindlicher), sich in den Gewerkschaften zu versammeln, zu artikulieren und Fraktionen zu bilden!

Zusammengefasst bedeutet das, dass wir innerhalb der Gewerkschaften eine klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen müssen, die auch bereit ist, nicht nur als „linke Bürokrat:innen“ Entscheidungen zu treffen, sondern sich gegen die Bürokratie selbst richtet. Deswegen ist es auch zentral, dass man dafür eintritt, dass Streik- und Aktionskomittees in Betrieben, an Unis und Schulen gebildet werden. Diese helfen nicht nur, Proteste stärker im Alltag zu verankern, sie sowie weitere Aktionen zu planen, sondern sollten letzten Endes über die Forderungen des Streiks, die Durchführung dessen und den Fortgang der Bewegung an sich entscheiden, beispielsweise indem Delegierte gewählt werden, die rechenschaftspflichtig sowie wähl- und jederzeit abwählbar sind – anders als in bürokratisierten Gewerkschaften.

  • Für die Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit der Funktionär:innen! Niemand darf mehr verdienen als ein durchschnittliches Facharbeiter:innengehalt!

Kämpfe verbinden und zuspitzen!

Kurzum: Auf den ersten Blick sind die Gewerkschaften nicht die liebsten Bündnispartnerinnen. Gleichzeitig können sie mächtige Kampforgane verkörpern, um die eigenen Ziele durchzusetzen, insbesondere wenn es darum geht, Bewegungen nicht nur anzustoßen, sondern zum Erfolg zu bringen und reale Verbesserungen zu erkämpfen. Das ist jedoch keine Zufälligkeit, nichts, was spontan aus dem Moment heraus passiert, sondern letzten Endes eine Frage der politischen Grundlage. Es ist also an uns, ob wir die Gewerkschaften in Instrumente verwandeln, die der Frauenstreikbewegung dienlich sind.

Gleichzeitig wollen wir als Marxist:innen nicht dabei stehen bleiben, Bewegungen aufzubauen, sondern glauben, dass Klassenbewusstsein nicht innerhalb des kapitalistischen Systems verbleiben darf. Ein Kleinkrieg gegen die Auswirkungen ist nicht ausreichend und wird soziale Unterdrückungen nicht beenden. Stattdessen muss gleichzeitig versucht werden, den Kapitalismus zu zerschlagen. Das ist auch vielen innerhalb der Frauenstreikbewegung klar. Wir treten deswegen  für Forderungen wie Kollektivierung der Sorge-/Carearbeit, finanziert durch die Enteignung der Reichen, ein – also solche, die das kapitalistische System an sich infrage stellen. Unserer Meinung nach kann  mit einem politischen Programm von Übergangsforderungen der Arbeiter:innenklasse eine Strategie und das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution vermittelt werden. Also lasst das Motto „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ auch hierzulande wahr werden! Lasst uns unsere Forderungen in die Frauen- und Bewegung anderer sozial Unterdrückter hineintragen und einen Frauenstreik organisieren, der nicht an Landesgrenzen haltmacht – mit dem Ziel, der Wurzel der Frauenunterdrückung – dem Kapitalismus – den Garaus zu machen!

Anhang: Beispielhaft Streiks

Beispiel 1: Der Kampf gegen die Streichung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1996

1996 verfolgte die Kohl-Regierung den Plan, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen.

Im Kampf dagegen nahmen die Beschäftigten der großen Automobilkonzerne eine Schlüsselrolle ein, indem sie gegenüber den ursprünglichen, zaghaften und halbherzigen Ansätzen der IG-Metall-Spitze vorpreschten und die Arbeit niederlegten. Neben der Wut und Entschlossenheit der Beschäftigten in diesen Betrieben war die Stärke gewerkschaftsoppositioneller Betriebsratsgruppierungen wie bei Daimler Mettingen oder im Bremer Mercedes-Werk wichtig, um diese Kampfbereitschaft zur Aktion zu bündeln und zu führen. Massenaktionen und wilde Streiks brachten das Gesetzesvorhaben schließlich zu Fall.

Beispiel 2: Frauenstreik am 8. März 2017 in Lateinamerika

2017 kam es in Lateinamerikas zu länderübergreifenden Frauenstreiks. Ursprung dieser Massenbewegung war die 2015 entstandene Kampagne „Ni una menos“ („Nicht eine weniger“), die sich gegen misogyne Gewalt, für das Recht auf Abtreibung und für Rechte Indigener Frauen einsetzte. Die Bewegung entstand in Argentinien und breitete sich in den folgenden Jahren in Lateinamerika und darüber hinaus aus. Einen Höhepunkt der Bewegung bildete der länderübergreifende Frauenstreik 2017. Er Streik wies eine breite gesellschaftliche Beteiligung von Akademikerinnen, Arbeiterinnen, Studentinnen und Erwerbslosen auf. Dadurch konnte in Argentinien Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt werden, so dass diese die Forderungen der Frauen übernahmen und zur Arbeitsniederlegung aufgerufen hatten. Aber auch in Mexiko, Chile und Uruguay gab es unter anderem große Streiks, wo Frauen die Arbeit niedergelegt haben. Dies zeigt uns, wie eine breite Beteiligung Druck auf Gewerkschaften ausüben kann, feministische Themen und antirassistische Themen zusammengebracht werden können und ein solcher Kampf auch über Ländergrenzen hinweg geführt werden kann.

Beispiel 3: Un Dia Sin Nosotras – Frauenstreik 2020 in Mexiko

Am 8. März 2020 streikten Frauen in Mexiko unter dem Motto „Un Dia Sin Nosotras“ (Ein Tag ohne uns) aufgrund der steigenden Geschlechtergewalt und Femi(ni)zide im Land. Frauen und Gewerkschaften riefen dazu auf, ihre berufliche und häusliche Arbeit an diesem Tag niederzulegen. Neben den Demonstrationen und Kundgebungen, gab es an dem Tag auch Versammlungen, Veranstaltungen und Diskussionsrunden, bei denen Frauen Ihre Forderungen äußern konnten, was zu einer Förderung des Bewusstseins und der Solidarität beigetragen hat. Durch den Streik zeigten die mexikanischen Frauen die Wichtigkeit ihrer Präsenz und ihrer Arbeit für die Gesellschaft und, wie sie in Form eines Streiks Druck auf den Staat ausüben können.




Hafenstreik: Gegen jede Einschränkung des Streikrechts!

Unterschriftenliste, hier unterzeichnen: https://tinyurl.com/Hafenstreik, Anzahl der Unterschriften: 3.128 (Stand: 19.07.2022, 21:00 Uhr), Infomail 1193, 20. Juli 2022

Die Hafenarbeiter:innen aus Hamburg, Bremen, Bremerhaven, Brake und Wilhelmshaven haben sich am Donnerstag, 14. Juli, für 48 Stunden in den Streik begeben. Es ist der längste Streik seit 40 Jahren und seit sechs Verhandlungsrunden ignoriert der Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) die Forderungen der Gewerkschaft ver.di, die einen Inflationsausgleich von aktuell circa 7,8 Prozent, eine Gehaltssteigerung von 1,20 Euro pro Stunde und weitere Zuschläge je nach Arbeitsbereich für ein Jahr fordert.

Schon nach den ersten Warnstreiks forderte der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, die ihn missfallenden Arbeitsniederlegungen in den Häfen mittels Ausrufung des „nationalen Notstandes“ zu verbieten. Die Logistikunternehmen HHLA und Eurogate klagten gegen den Streikaufruf. Das Arbeitsgericht in Hamburg genehmigte zwar den 48-stündigen-Streik, doch äußerte es Zweifel über die formale Rechtmäßigkeit des Streikaufrufs. Nach einem Vergleich zwischen Klägern und ver.di wird es bis zum 26. August eine Friedenspflicht geben.

Als ver.di und Gewerkschaften dürfen wir dem Druck der Unternehmen nicht nachgeben und in die Beschneidung der eigenen Aktionsmöglichkeiten einwilligen. Hamburgs Wirtschaftssenator Michael Westhagemann fordert ein Schlichtungsverfahren, das den Streik abrupt von oben beendet. Dem Hafenstreik werden zahlreiche Hürden in den Weg gestellt, um den Willen der Arbeiter:innen zu brechen.

Dass Arbeitgeber:innen versuchen, Streiks mit gerichtlichen Klagen zu brechen, ist jedoch kein Einzelfall. So versuchten auch in Nordrhein-Westfalen (NRW) unlängst kommunale Arbeitgeberverbände den Krankenhausstreik gerichtlich verbieten zu lassen, genauso wie zuvor auch in Berlin mittels Klagen gegen die Krankenhausbewegung.

Trotz der Einschränkung des Streikrechts haben sich tausende Hafenarbeiter:innen in Hamburg versammelt, um für ihre Forderungen zu streiken. Ein Kollege bei der Firma Eurogate Hamburg sagte diesbezüglich: „Wir gehen auf die Straße, weil das Streikrecht gebrochen worden ist.” Bei der Demonstration kam zur Polizeigewalt und Festnahmen. Die Polizei schlug nach den Hafenarbeiter:innen und ging mit Pfefferspray gegen sie vor.

Gerade in Zeiten hoher Inflation ist es notwendig, dass Gewerkschaften für den Erhalt der Lebensstandards der Beschäftigten streiken können. Wir stellen uns daher gegen jede Einschränkungen des Streikrechts, sei es durch juristische oder polizeiliche Maßnahmen. Wir fordern:

1. Die Aufhebung der Friedenspflicht!

2. Keine erzwungene Schlichtung! Lasst die Arbeiter:innen über ihren Streik selbst entscheiden!

3. Für das uneingeschränkte Streikrecht für alle Arbeitskämpfe!

4. Keine Polizeimaßnahmen gegen den Streik.

Solidarität mit den Hafenstreiks!

Initiator:innen:

Jana Kamischke, ver.di, Hamburger Hafenarbeiterin, Tarifkommissionsmitglied, Vertrauenssprecherin HHLA

Deniz Askar Dreyer, ver.di, Hamburger Hafenarbeiter, Vertrauensleutesprecher Eurogate Hamburg

Liste mit bisherigen Unterzeichner:innen: https://tinyurl.com/Hafenstreik




Heraus zum 1. Mai? Heraus zum 1. Mai!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), Infomail 1100, 16. April 2020

Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften unterstützt Initiativen von Kolleg*innen, am 1. Mai 2020 ihren Protest auf die Straße zu tragen.

Unter Beachtung der entsprechenden Schutzmaßnahmen muss es möglich sein, die Versammlungsfreiheit zu wahren. Notwendige Maßnahmen zum Infektionsschutz dürfen nicht mit einer weitgehenden und unzulässigen Aufhebung des Rechts auf politische Betätigung im öffentlichen Raum einhergehen. Selbst wenn es nötig ist, große Versammlungen zu meiden, dürfen Absage der Proteste wie die Kundgebungen zum 1. Mai nicht von oben herab entschieden werden, sondern es bedarf der Diskussion und Entscheidung der Kolleg*innen, ob und in welcher Form Veranstaltungen durchgeführt werden.

Vor unseren Augen entfaltet sich die größte Krise der Nachkriegszeit. Eine Krise, die durch den Ausbruch des Corona-Virus und die Gegenmaßnahmen verstärkt, aber nicht verursacht wird. Die wahren Ursachen liegen in einem System, das auf Konkurrenz und Profitstreben, statt auf den Bedürfnissen der Menschen beruht. Bereits jetzt ist klar, dass wie schon vor zehn Jahres die Kosten der Krise auf die Beschäftigten abgewälzt werden, die sie nicht verursacht haben.

Diejenigen, die von diesem System profitieren, die Besitzenden, reagieren bereits mit historischen Angriffen auf die lange und hart erkämpften Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung. Die Sonntagsarbeit ist bereits befristet eingeführt und der Handelsverband Deutschland fordert, das Verbot gänzlich aufzuheben, mindestens bis Ende des Jahres. Durch eine Verordnung der Bundesregierung kann der Arbeitstag in vielen Bereichen auf bis zu 12 Stunden am Tag und über 60 Wochenstunden ausgeweitet werden, während die Ruhezeit gleichzeitig von 11 auf 9 Stunden verkürzt wird. Dagegen wurde unter anderem eine Petition gestartet: https://www.change.org/p/bundesregierung-nein-zum-12-stunden-tag-und-zur-60-stunden-woche. Die Personaluntergrenzen im Krankenhaus wurden bereits vor Wochen aufgehoben. Trotz einer Kontakteinschränkung im Privaten, müssen Millionen Kolleg*innen unter Gefährdung ihrer Gesundheit und ihres Lebens jeden Tag zur Arbeit fahren. In der Waffen- und Autoindustrie laufen die Fabriken weiter, bzw. wieder an. Der Druck aus der Wirtschaft wächst, ungeachtet der Risiken einer neuen Ausbreitung des Corona-Virus, den Betrieb wieder aufzunehmen, da ihnen die Gewinne davon zu schwimmen drohen. Während hunderte von Milliarden an Rettungspaketen für Firmen bereitgestellt werden, während Millionen in die Erwerbslosigkeit und Kurzarbeit geschickt werden, sollen wir die Füße stillhalten. Doch man kann von uns nicht verlangen, ruhig zu bleiben, während Kolleg*innen vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie von 60 (oder 67) Prozent ihres Lohns lieber die Miete bezahlen, oder ihrer Familie Essen kaufen. Deshalb ist es nötig, am 1. Mai – unter Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes und gebotenen Abstandes – auf die Straße zu gehen. Es sollten sich vor Ort demokratische Vorbereitungskomitees bilden, die unter Hinzuziehung der Kolleg*innen aus dem medizinischen Bereich ein Konzept für die Durchführung der Veranstaltungen mit einem entsprechenden Ordner*innendienst erarbeiten.

Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften wird sich vor Ort nach Möglichkeit an der Organisation und Durchführung der Proteste beteiligen.

Wir wollen uns mit folgenden inhaltlichen Punkten aus unserem Programm gegen die Corona-Pandemie beteiligen:

  • Sofortige Rücknahme aller gesetzlichen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und Aufhebung der Einschränkung demokratischer Rechte
  • Anstatt Sonderurlaub oder Kurzarbeitergeld: Freistellung bei voller Lohnfortzahlung für den gesamten Zeitraum
  • Für Beschäftigte, die aufgrund ihrer Tätigkeit besonders viel Kontakt mit Menschen haben: Bereitstellung aller erforderlichen Schutzmaßnahmen wie Desinfektionsmittel, Schutzkleidung besonders in den medizinischen Einrichtungen.
  • Als Lehre aus dieser Virus-Krise: breite Kampagne aller DGB-Gewerkschaften – unter Einbeziehung von Streikmaßnahmen – für Milliardeninvestitionen ins Gesundheitssystem, ein Ende des Fallpauschalensystems, medizinische Einrichtungen müssen die tatsächlichen Kosten medizinisch sinnvoller Maßnahmen erstattet bekommen.
  • Überführung aller einschlägigen Einrichtungen in die Öffentliche Hand (z. B. Rekommunalisierung der Krankenhäuser) unter Kontrolle der dort Beschäftigten und der Öffentlichkeit.
  • Bis zur Umsetzung dessen dürfen Krankenhäuser keine Profite ausschütten. Alle von den Krankenkassen überwiesenen Gelder müssen für das Wohl der Patientinnen und Patienten eingesetzt werden.
  • Gesetzliche Personalbemessung nach Bedarf! Massive Aufwertung der Krankenpflege-Berufe. Als ersten Schritt sollen alle Pflegeberufe um 500 Euro pro Monat aufgewertet werden. Bessere Bezahlung von Pflegekräften ist der wichtigste Baustein, um den Pflegenotstand zu beenden!
  • Arbeitsplätze verteidigen: Verstaatlichung von Betrieben, die entlassen wollen, unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung, um die Produktion gesellschaftlich sinnvoll planen zu können.

Das gesamte Programm für Sofortmaßnahmen der VKG findet ihr unter:

Corona-Gefahr: Sofortmaßnahmen im Interesse der abhängig Beschäftigten! Gewerkschaften müssen handeln!




Corona-Pandemie: Streik als Soforthilfe der ArbeiterInnenklasse

Alex Zora, Infomail 1096, 21. März 2020

Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt, insbesondere Europa fest im Griff. Täglich werden mehr und mehr Infizierte gemeldet, die Zahl der Opfer steigt mit einer ähnlichen Geschwindigkeit. Das normale Leben ist in den meisten europäischen Ländern stark eingeschränkt. Versammlungen wurden verboten, Schulen und Universitäten sind geschlossen und weitreichende Befugnisse für die Organe des bürgerlichen Staates wurden beschlossen.

Doch ein Bereich ist von den Maßnahmen bisher wenig betroffen: Die Produktionsstätten. In den meisten Ländern sind Zusammenkünfte von mehr als ein paar dutzend Menschen verboten, Kontakte mit Menschen, die nicht im selben Haushalt leben, sollen weitgehend vermieden werden und trotzdem scheint es kaum ein Problem zu sein, dass Betriebe mit hunderten oder sogar tausenden Beschäftigten ohne große Einschränkungen weiter produzieren können. Wieder einmal zeigt der Kapitalismus, dass Profite wichtiger sind als Menschenleben.

Arbeitsniederlegungen und die Rolle der Apparate

Doch vielerorts lassen sich die ArbeiterInnen das nicht so einfach gefallen. Schon vor einer Woche kam es in Italien zu einer regelrechten Streikwelle als von SchiffsbauerInnen im nördlichen Ligurien bis zu StahlarbeiterInnen im südlichen Apulien viele ArbeiterInnen spontan ihre Arbeit niederlegten, weil die Unternehmen ihnen keine Schutzmaßnahmen in den Arbeitsstätten zur Verfügung stellten. Eine Vertreterin der MetallerInnen-Gewerkschaft FIOM-CGIL meinte dazu: „Fabrikarbeiter sind nicht Bürger vierundzwanzig Stunden minus acht. Es ist nicht hinnehmbar, dass sie ihr tägliches Leben durch viele Regeln geschützt und garantiert sehen, aber sobald sie durch die Fabriktore gehen, sich im Niemandsland befinden.“

Durch die weitgehend spontanen und weit
verbreiteten Arbeitsniederlegungen sah sich die Regierung in Italien gezwungen,
in die Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Unternehmen einzugreifen.
Nach Verhandlungen wurde von Gewerkschaften (CGIL, CSIL, UIL) und
Unternehmensverbänden (Confindustria, Confapi) eine Übereinkunft unterzeichnet,
die die Arbeit in vielen Bereichen reduzieren soll. Ein Produktionsstopp in
allen nicht systemrelevanten Bereichen wurde aber nicht erreicht.

Dass diese Übereinkunft bei weitem nicht
ausreichend war, zeigt sich auch daran, dass die Streiks nach der getroffenen
Übereinkunft weiter gehen. So streikten Anfang dieser Woche Amazon
Lager-ArbeiterInnen in der Nähe von Mailand.

Auch in Spanien, dem am zweitstärksten betroffenen Land in Europa, kam es zu etlichen spontanen Arbeiterniederlegungen, z.B. von den Mercedes ArbeiterInnen in Vitoria. Auch hier wurde gegen die unverantwortliche Firmenpolitik protestiert, die die Aufrechterhaltung der Produktion vor den Schutz der Beschäftigten stellt.

Die (wilden) Streiks anlässlich von Corona verbreiten sich aktuell parallel zu dem Virus selbst. Am Montag kam es offenbar auch in Linz (Österreich) zur spontanen Verzögerung des Schichtbeginns um 2 Stunden, weil die KollegInnen gegen das „unverantwortliche Verhalten der Firmenleitung“ protestieren. Erst unter Mitwirkung des Betriebsrats war es dem Unternehmen möglich, die Produktion wieder aufzunehmen.

Alle diese Beispiele zeigen, dass es auch in Zeiten von Versammlungsverbot und „sozialer Isolierung“ möglich und notwendig ist, kollektive Arbeitsverweigerung zum Schutz von sich und seinen KollegInnen durchzuführen. Die Beschäftigten und die Gewerkschaften müssen sich jetzt für einen sofortigen Arbeitsstopp mit voller Bezahlung in allen Produktionsstätten einsetzen, die nicht direkt notwendig sind, um das Gesundheitssystem und die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.




„Aus unseren Kämpfen lernen“ – aber wie?

Frederik Haber/Helga Müller, Infomail 1064, 14. März 2019

Unter obigem Motto fand die 4. Streikkonferenz vom 15. bis 17. Februar in Braunschweig statt. Mit rund 800 Teilnehmenden war sie die bisher größte ihrer Art. Offensichtlich gibt es Bedarf, über die Praxis der Gewerkschaften zu diskutieren. Von den Mitgliederzahlen her waren diese in den letzten 70 Jahren noch nie so schwach wie heute. Nur noch die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Betrieben mit Betriebs- oder Personalräten, der Geltungsbereich von Tarifverträgen ist auf unter 50 Prozent gesunken.

Niedergang

Dieser
Niedergang hat nicht nur auf Grundlage strategischer Niederlagen wie der Agenda
2010 stattgefunden, sondern setzte sich in den letzten Jahren auch ohne scharfe
offene Angriffe und Rückschläge fort, in Zeiten, in denen die
Gewerkschaftsführungen mit der Regierung kooperieren, ja sie sogar offen
unterstützen; in Zeiten, in denen der DGB gemeinsam mit den
Unternehmerverbänden „Hundert Jahre Mitbestimmung“ feiert.

Höchste Zeit
also zu fragen, was die Gewerkschaften falsch machen. Ist es nur die Praxis
oder steht dahinter auch eine bestimmte Politik? Die Rosa-Luxemburg- Stiftung
als Veranstalterin der Braunschweiger Konferenz beschränkte sich allerdings
bewusst auf ein Konzept, einzelne gute Beispiele zu präsentieren, die dann
anderswo nachgeahmt werden können. Recht offen stellte ihre Vorsitzende dar,
dass in den Gewerkschaftsführungen oft Leute sitzen, die nichts ändern möchten.
Sie berichtete von der mühevollen Arbeit, diese trotzdem von der Notwendigkeit
dieser Konferenz zu überzeugen.

Die einfache
Frage, warum die Leute, die für den Niedergang der Gewerkschaften
verantwortlich sind, an der Klassenzusammenarbeit um praktisch jeden Preis
festhalten und daran auch nichts ändern wollen, noch hofiert, stellt sie nicht
und offensichtlich nicht viele im Publikum: Gehören solche Leute nicht einfach
rausgeschmissen?

Die
VeranstalterInnen setzen denn auch darauf, möglichst viele regionale
Verantwortliche als UnterstützerInnen zu gewinnen. Überhaupt sind viele
Hauptamtliche dabei. Beim Branchentreff Metall stellen sie rund die Hälfte der
Anwesenden. Mag sie auch Unbehagen über die derzeitige Politik nach
Braunschweig getrieben haben, in der Diskussion verteidigen sie die Politik der
Führung – sei es aus Überzeugung oder Reflex.

Der
Tarifabschluss 2018 sei ein Einstieg in die Arbeitszeitdebatte und hätte eine
Verkürzung der Arbeitszeit gebracht – meinte z. B. das IGM-Vorstandsmitglied
Urban. Dass der Abschluss ein größeres Arbeitszeitvolumen ermöglicht und viele
Unternehmen dies nutzen, wird genauso wenig erwähnt, wie dass der rechte
Apparat der IGM mit diesem Abschluss die Arbeitszeitdebatte für beendet erklärt
hat. Jegliche Strategie der Linken muss aber von der Realität ausgehen und
nicht von Wunschdenken und Schönreden.

Rechtsruck und
Gewerkschaften

Die Krise der
Gewerkschaften drückt sich auch darin aus, wie sie mit dem Rechtsruck in der
Gesellschaft umgehen. So sorgte sich die IG Metall bei den Betriebsratswahlen
2018 sehr um das Abschneiden einiger betont rechter, rassistischer und
gewerkschaftsfeindlicher Listen. Nachdem diese aber nur wenige Mandate erzielt
hatten, ist das kein wirkliches Thema mehr.

Dazu trug Klaus
Dörre auf der Konferenz ein Referat vor, das darauf hinwies, dass „sich nur
wenige Kandidaten gefunden haben, die sich während der Betriebsratswahlen auf
Listen offensiv dazu bekennen, rechte Positionen zu vertreten, doch das bedeute
nicht, dass diese nicht existieren.“ Allein 19 Prozent der Lohnabhängigen und
15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder haben bei der Bundestagswahl 2017 der
AfD ihre Stimme gegeben – bei einem Gesamtergebnis von 12,6 Prozent ein
deutlich überdurchschnittlicher Wert.

Er stellte dar,
dass es nicht nur GewerkschafterInnen gibt, die sowohl „korrekte“
gewerkschaftliche Positionen vertreten wie auch rechtspopulistische Floskeln
äußern, sondern auch überzeugte rassistische ReaktionärInnen, die manchmal eine
führende Rolle in den betrieblichen Strukturen ausüben und als „gute InteressensvertreterInnen“
gelten. Wo diese einmal etabliert sind, wird das Thema vom Apparat tabuisiert,
solange die Mitglieder oder Betriebsräte keine Konkurrenzliste aufmachen.

Das hätte viel
Anlass zur Diskussion geben können und müssen. Es zeigt, dass die
reformistischen BürokratInnen rassistische, nationalistische und
rechtspopulistische Positionen dulden, solang diese Kräfte die Gesamtpolitik
des Apparates nicht stören. Man könnte das als unausgesprochenes
Stillhalteabkommen bezeichnen. Für die Linke in den Gewerkschaften bedeutet
dies, dass es nicht reicht, nur gute, aktive Betriebsarbeit zu machen, auf
„Organizing“ zu setzen und sich um die unorganisierten Bereiche insbesondere im
prekären Sektor zu kümmern, der bekanntlich von der Bürokratie fast völlig
vernachlässigt wird. Vielmehr muss dies mit einem aktiven Kampf gegen Rassismus
verbunden werden – und eine solche Politik muss auch gegen den Apparat in den
Gewerkschaften und in den Großkonzernen durchgesetzt werden.

Es liegt auf der
Hand, dass diese nicht in „Bunt statt Braun“- Bekenntnissen aller Gutmenschen
oder in gemeinsamen Erklärungen von Betriebsräten mit den Unternehmensleitungen
bestehen kann. Die richtige Erklärung, dass die AFD „neoliberale“ und
arbeiterInnenfeindliche Politik mache, bleibt solange weitgehend unwirksam, wie
die Gewerkschaften auf Klassenzusammenarbeit mit den BetreiberInnen und
ProfiteurInnen dieser „neoliberalen“ Politik setzen. Der Kampf gegen rechts ist
in den Gewerkschaften zugleich einer gegen die Klassenzusammenarbeit und kann
letztlich nur so erfolgreich sein.

Dies wird nicht
nur in den Gewerkschaftsstrukturen kaum thematisiert. Auch in Braunschweig gab
es keine Diskussion mit Dörre zu dessen Studien und teilweise provozierenden
Thesen. Nur ein Workshop ganz am Ende der Tagung betrachtete den „Umgang mit
Rechtspopulismus in Betrieb und Gewerkschaft“ – ansonsten wurde das Thema
routiniert ausgesessen.

Beteiligung

Ein gutes
Drittel der TeilnehmerInnen kann man als „jung“ (also unter 40) bezeichnen und
insgesamt lag der Altersdurchschnitt deutlich unter dem der meisten
Gewerkschaftsveranstaltungen. Aber die in Braunschweig versammelte
„Gewerkschafts-Jugend“ war nicht sonderlich radikal. Es schienen viele
Studierende unter ihnen zu sein, denen die Konferenz mal erlaubt, an
Betriebsarbeit zu schnuppern, aber auch viele, die direkt an einem Aufstieg in
den Apparat arbeiten.

Frappant war der
geringe Anteil an MigrantInnen auf der Konferenz. Sie sind bekanntlich in der
Gewerkschaft umso schlechter vertreten, je höher es in die Ränge der
FunktionärInnen geht. In Braunschweig kamen gerade mal 16 Menschen zum Workshop
über Migration. Das stand in eklatantem Gegensatz zu Bernd Riexingers Statement
in der Podiumsdiskussion am Freitagabend, dass Streiks „heute jünger, weiblicher
und migrantischer“ seien. Diese Aussage ist dort gültig, wo Streiks im Handel,
bei ErzieherInnen und in ähnlichen Bereichen stattfinden. Sie wirft aber auch
ein Licht darauf, dass genau diese KollegInnen in Braunschweig wenig anwesend
waren, sondern vor allem die GewerkschaftssekretärInnen, die diese Kämpfe
betreuen und organisieren.

Insgesamt war
ver.di viel besser vertreten als die IG Metall – ein Indiz dafür, dass dort die
Spielräume größer sind. Das liegt einerseits an deren branchenbedingter Vielfalt
und einem relativ schwächeren Apparat, aber auch daran, dass die IG Metall die
Schlachtschiffe des deutschen Groß- und Exportkapitals organisiert,
insbesondere die Autoindustrie. Ihr Beitrag zu der dort herrschenden engen
Zusammenarbeit mit dem Kapital ist es, alle eigenständigen Bewegungen und
Initiativen zu ersticken, die die arbeitsteilige Produktion und den Umsatz
gefährden könnten. Ja, es werden sogar störende Elemente in Kollaboration mit
dem Management aus den Betrieben entfernt.

Pflegenotstand

Ein wichtiger
Schwerpunkt der Konferenz war die Debatte zum Gesundheitswesen. Kein Wunder
fehlen nach ver.di-Angaben über 100.000 Pflegekräfte. Ver.di hatte deswegen vor
ca. 2 Jahren eine Kampagne zur Entlastung der Klinikbeschäftigten initiiert und
in immerhin 13 Krankenhäusern Tarifverträge und schuldenrechtliche Abkommen für
mehr Personal durchsetzen können, teilweise durch wochenlange
Durchsetzungsstreiks wie an den Unikliniken in Essen und Düsseldorf. In den
Medien ist seitdem die Personalmisere insbesondere in den Krankenhäusern immer
wieder Thema. Selbst die Politik musste mit diversen neuen Gesetzen reagieren,
die vorgeben den Personalnotstand zu bekämpfen. Von daher wurden auf der
Konferenz diverse Arbeitsgruppen zur Bilanz der Entlastungskampagne und wie es
damit weitergeht angeboten.

Trotz positiver
Beispiele wie Abkommen und Tarifverträge für mehr Personal durchgesetzt werden
konnten, wurde hier versäumt intensiv darüber zu diskutieren, welche Mittel die
Belegschaften einsetzen müssen, um die Tarifverträge auch gegen den Willen der Klinikleitungen
in der Realität umzusetzen. Trotz eines Beschlusses des
Bundesfachbereichsvorstandes 3 (Fachbereich 3 ist in ver.di für den
Gesundheitsbereich zuständig), die Kampagne fortzuführen und trotz des
ernstgemeinten Appells eines linken Gewerkschaftssekretärs, die Umsetzung des
Personalaufbaus gemeinsam mit allen Beschäftigten der 13 Krankenhäuser gegen
die Verweigerungshaltung der Klinikleitungen durchzusetzen, wurde es versäumt
zu diskutieren, wie genau dieses gemeinsame Vorgehen gegen den Willen des
Apparats durchgesetzt werden kann. Lag doch eine der Schwächen der Kampagne
genau darin, dass die ver.di-Verantwortlichen die Kampagne in keiner Phase des
Kampfes so angelegt hatten, dass die Belegschaften aller Krankenhäuser in einen
gemeinsamen Kampf für die Durchsetzung von mehr Personal entsprechend dem
Bedarf geführt wurden.

Eigentlich eine
gewerkschaftliche Binsenweisheit! Liegt doch die Kraft eines bundesweit
angelegten gewerkschaftlichen Kampfes gerade darin, dass besser organisierte
und kampffähigere Belegschaften schwächere mitziehen können und diese durch ein
bundesweites Abkommen für mehr Personal davon profitieren können. Immer wieder
wurde auch gemunkelt, dass der Bundesvorstand die Kampagne gerne nur noch auf
Sparflamme hätte fortführen wollen bis sie dann zu guter Letzt ganz aufgegeben
wird. Das konnte tatsächlich durch den Kampf der Belegschaften der 13
Krankenhäuser durchbrochen werden. Sehr richtig wurde in den Diskussionen von
ver.di-Seite angemerkt, dass diese Kampagne mehr ist als der „übliche“
gewerkschaftliche Kampf um einen Tarifvertrag, diese darüber hinausgeht und
auch eine politische Kampagne beinhaltet.

Aber anstatt
Ross und Reiter zu nennen, dass es um einen politischen Streik geht gegen die
Privatisierungspolitik der Regierungen und gegen die Einführung der sog. DRGs
(Fallpauschalen), die die Privatisierung erst für Gesundheitskonzerne lukrativ
gemacht haben, verwiesen die anwesenden Gewerkschaftssekretäre und die
Vertreter der Linkspartei auf die diversen Volksbegehren in Hamburg, Berlin,
Bremen und Bayern, die zum Ziel haben einen verbindlichen gesetzlichen
Personalschlüssel durchzusetzen. Egal ob im Norden oder Süden der Republik – diese
Volksbegehren haben den großen Nachteil, dass sie einerseits einem mehr oder
weniger komplizierten gesetzlichen Verfahren unterworfen sind, das zum Ziel
oder auch nicht führen kann und das andererseits vollkommen vom politischen
Willen der jeweiligen Regierungen abhängig ist.

Perspektive

Insgesamt ist
diese Konferenz nicht darauf ausgelegt gewesen, die linken, kritischen oder
oppositionellen Teile in den Gewerkschaften zu radikalisieren und zu vereinen.
Dazu wäre auch eine Kritik an der Praxis der Bürokratie – einschließlich des
linken Flügels des Apparates – nötig gewesen. Die Vereinbarungen zur
„Standortsicherung“ beispielsweise verlieren ihren spalterischen Charakter –
die Sicherung der Arbeitsplätze auf Kosten anderer Belegschaften und der prekär
Beschäftigten – nicht dadurch, dass sie von kämpferischen Aktionen begleitet
werden und dem Kapital das eine oder andere Zugeständnis abknöpfen. Die
permanente Rechtfertigung solcher Politik durch „linke“ SekretärInnen als
einzig Mögliche und damit, dass die KollegInnen ja noch nicht so weit wären
(„Ich selber bin ja auch SozialistIn“) blockiert und beschränkt zugleich die
Entwicklung des Klassenbewusstseins und der Entschlossenheit der AktivistInnen.
Aus dem Munde linker GewerkschafterInnen sind die Rechtfertigungen oftmals
wirkungsvoller als aus dem Munde derer, die schon die Ansätze von Kämpfen
verhindern.

Hinzu kommt,
dass die Fortsetzung der Politik der Sozialpartnerschaft durch
gewerkschaftliche Unterstützung der Regierungspolitik von SPD und Linkspartei
auch weitgehend ausgeblendet wurde.

Natürlich ist es
für einzelne AktivistInnen enorm schwer, in der Masse von sowohl rückständigen
Belegschaften als auch Gewerkschaftsstrukturen, die voll und ganz unter der
Kontrolle der ReformistInnen stehen, den Spagat zu machen zwischen
Mobilisierung für den Kampf, Kritik an den Apparatmethoden, der Entwicklung und
Durchsetzung alternativer Strategien, die nicht nur kämpferischer sind, sondern
zugleich eine antikapitalistische Perspektive entwickeln, die mit der Praxis
verbunden sind.

Aber genau das
erfordert eine verbindliche Organisierung der klassenkämpferischen Kräfte in
den Gewerkschaften und Betrieben, die nicht nur um eine andere Politik
vertreten, sondern auch darum kämpfen, die Macht des Apparates zu brechen –
eines Apparates, der nicht nur eine sozialpartnerschaftliche und bürgerliche
Politik in der Klasse betreibt, sondern der auch über tausende Fäden eng mit
dem Herrschaftssystem des Kapitals verbunden ist. Schritte in diese Richtung
unternahm die Streikrechtskonferenz nicht – und das war von der Linkspartei und
den ihr nahestehenden Teilen der Gewerkschaftsspitzen auch nicht beabsichtigt.

Zur
organisierten Opposition können wir nur auf Grundlage einer Aufarbeitung der
Krise der Gewerkschaften und einer Verständigung gelangen, worin die Politik des
reformistischen Apparates besteht. Dazu sind Verabredungen zum Kampf gegen die
reformistische Bürokratie nötig.

Die nächste
Gelegenheit dafür bietet sich voraussichtlich mit dem Projekt einer
Strategiekonferenz im Jahr 2020. Die Initiative zur Vernetzung der
Gewerkschaftslinken hatte dafür im Vorfeld geworben und schon einige Resonanz
erhalten. Ein kurzes Treffen für die Organisierung zählte dann immerhin 70
TeilnehmerInnen. Offensichtlich gibt es bei einigen das Bedürfnis, tiefer zu
gehen, als nur Anregungen für eine bessere Praxis zu sammeln. Möglicherweise
hat die Übermacht des Apparates in Braunschweig die Notwendigkeit, über
Strategie nachzudenken, noch befördert. Zur Vorbereitung der Strategiekonferenz
2020 findet ein nächstes Vernetzungstreffen am 18. Mai 2019 in Frankfurt/Main
statt.

Das strategische
Ziel muss die Befreiung der größten Organisationen der ArbeiterInnenklasse von
denen sein, die sie in der Zusammenarbeit mit dem Kapital und dessen Staat
fesseln.




Tarifeinheitsgesetz: Auch Karlsruhe gegen Streikrecht

Frederik Haber, Neue Internationale 221, Juli/August 2017

Weitestgehend sei das Tarifeinheitsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar, lässt das Bundesverfassungsgericht am 11. Juli verkünden. Mit diesem Gesetz hat die Bundesregierung vor 2 Jahren das Streikrecht weiter eingeschränkt – auf Druck der Unternehmerverbände und mit der Unterstützung von DGB, IG Metall und IG BCE. Zwar galt seit den 1950er Jahren in westdeutschen Betrieben der Grundsatz der Tarifeinheit („Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“) – allerdings nicht per Gesetz, sondern aufgrund einer ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (NEUES DEUTSCHLAND, 12. Juli 2017, Seite 2)

Gesetz

Das Gesetz regelt aber, dass der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft in einem Betrieb gilt, die die meisten Mitglieder hat. Was denn ein Betrieb ist, liegt aber allein in der Hand des Unternehmers, der Betriebe aufsplitten oder zusammenlegen kann. Zugleich müssen Gewerkschaften ihre Mitgliedszahlen darlegen.

Speziell richtet sich das Gesetz gegen die Gewerkschaft der Lokführer, GDL, die innerhalb der Bahn zwar kleiner als die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, EVG, ist, aber bei den LokführerInnen eine große Mehrheit hat und beim Begleitpersonal und außerhalb des Konzerns Deutsche Bahn sehr stark vertreten ist. Der kämpferische Einsatz der LokführerInnen und ihrer Gewerkschaft, die nicht so eng wie die EVG über Aufsichtsratsposten u. ä. mit dem Management verbandelt ist, war vielen ein Dorn im Auge und zeigte, dass auch die DGB-Gewerkschaften anderes erreichen könnten, wenn sie denn wollten. Tarifverträge und Kampfkraft der GDL sollten damit vereitelt werden. Sie hat sich denn auch schon freiwillig auf eine Kooperation mit der EVG eingelassen.

Die Mechanik des Gesetzes kann aber durchaus auch die Einzelgewerkschaften des DGB mal verdrängen, weshalb ver.di dagegen war, ohne allerdings wirklich den Konflikt mit der IG Metall zu riskieren. Stattdessen setzten ver.di wie auch die Linkspartei, die GDL und die anderen Berufs- und Spartengewerkschaften auf das Bundesverfassungsgericht. Eine trügerische Hoffnung.

Mobilisierungsversuche

Eine wirkliche Mobilisierung versuchte vor zwei Jahren nur die Gewerkschaftslinke gemeinsam mit FAU, Teilen der GDL und einigen syndikalistischen Gruppen.

Am Gesetz kritisiert das Verfassungsgericht nur die Benachteiligung bestimmter Berufsgruppen, also ständischer Interessen:

„Die mit der Verdrängung eines Tarifvertrags verbundenen Beeinträchtigungen sind insoweit unverhältnismäßig, als Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft fehlen. Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, die sichern, dass in einem Betrieb die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hinreichend berücksichtigt werden…. Der Gesetzgeber ist gehalten, hier Abhilfe zu schaffen….“

Immerhin wird festgestellt, dass es keinen Regress gegen Gewerkschaften geben darf, die in Unkenntnis der Mehrheitsverhältnisse streiken: „Die Unsicherheit im Vorfeld eines Tarifabschlusses über das Risiko, dass ein Tarifvertrag verdrängt werden kann, begründet weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen ein Haftungsrisiko einer Gewerkschaft bei Arbeitskampfmaßnahmen.“

Logik

Insgesamt ist die ganze Logik der Urteilsbegründung davon geprägt, dass Streiks nur als Mittel dienen dürfen, einen Tarifvertrag zu erreichen, also um den „Tariffrieden“ auch wieder herzustellen. Ein Recht der Ausgebeuteten auf Widerstand existiert für diese JuristInnen nicht. Umso fataler also die Hoffnung auf dieses Gericht.

Gegen diese weitere Einschränkung des Streiksrechts wird letztlich der Streik selbst die beste Antwort sein – eine Antwort freilich, die nicht nur im Fall tariflicher und betrieblicher Konflikte zur Anwendung kommen muss. Es braucht eine politische Kampagne und politische Streiks, um das Gesetz zu Fall zu bringen.

Hintergrundartikel

Initiative für “Tarifeinheit”: Ein Angriff auf das Streikrecht

Weg mit der Einschränkung des Streikrechts!

Fürs Streikrecht auf die Straße!