Arbeiter:innen „RE-WOLT“ gegen Wolt

Minerwa Tahir, Infomail 1226, 21. Juni 2023

English translation: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/06/21/workers-re-wolt-against-wolt/

Berlin: Fünfzig Wolt-Beschäftigte und Sympathisant:innen versammelten sich am Montag, den 19. Juni 2023, auf dem Platz vor dem Zentrum Kreuzberg am U Kottbusser Tor, um gegen die Nichtzahlung von Löhnen, den Entzug der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und andere arbeitsrechtliche Bestimmungen zu protestieren. Auf ihrem Transparent stand „Wolt schuldet uns Geld und Rechte“, gefolgt von dem Logo der Protestkampagne „ReWolt“ – eine Anspielung auf den Namen des Unternehmens und das Wort „Revolte“.

Kampagne

Der Protest wurde vom Wolt Workers Collective organisiert, einem Netzwerk von Wolt-Beschäftigten in Berlin, die bereits am 13. April dieses Jahres einen Protest organisiert hatten. Der Protest am Montag war die Fortsetzung einer Reihe von Protesten, die die Arbeit„nehmer“:innen organisieren wollen, bis sie ihre Grundrechte erhalten. Die jüngste Protestbewegung in Berlin begann, als einer Flotte von 120 eingewanderten Arbeiter:innen über mehrere Monate hinweg die Bezahlung verweigert wurde, was sich auf mehrere Tausend Euro an unbezahlten Löhnen belief. Sie waren von Wolt über einen Subunternehmer angeheuert worden, der auf den Namen Ali hört und in Neukölln in der Karl-Marx-Straße ein Geschäft für Handyzubehör namens Mobile World betreibt. Bei der letzten Protestaktion fuhren die Arbeiter:innen mit dem Fahrrad vom U Karl-Marx-Straße zur Wolt-Zentrale in Friedrichshain, wo sie der Wolt-Geschäftsführung eine schriftliche Charta mit ihren Forderungen für die nicht gezahlten Löhne übergeben wollten. Mitglieder der Gruppe Arbeiterinnenmacht waren dort anwesend, und wir wurden Zeu:ginnen, wie die Geschäftsführung sich weigerte, auch nur aus ihren Büros zu kommen, um die Charta mit den Forderungen entgegenzunehmen. Als Muhammad, der Anführer des Protests, versuchte, die Charta in den Briefkasten des Unternehmens zu werfen, wurde ihm gesagt, dass Wolt keinen habe.

Was als Kampagne unbezahlter Arbeiter:innen begann, denen unter dem Vorwand der Ausrede eines Subunternehmers der Lohn verweigert wurde, hat sich nun zu einem kollektiven Kampf entwickelt, an dem auch direkt bei Wolt Angestellte beteiligt sind. Gemeinsam fordern sie die ihnen zustehenden Löhne, Sicherheit am Arbeitsplatz, eine Entschädigung, ein Ende des ausbeuterischen und illegalen Systems der Untervergabe von Aufträgen sowie bezahlten Urlaub im Krankheitsfall und andere Rechte. Um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, organisierten sie am Montag eine Protestveranstaltung, bei der eine Reihe von Arbeit¡nehmer“:innen sowie ihre Freund:innen und Sympathisant:innen gegen die Ungerechtigkeiten sprachen, denen sie ausgesetzt sind.

Arbeiter:innen klagen an

„Ich bin ein Student mit Migrationshintergrund und kämpfe darum, hier in Deutschland mit meiner Familie leben zu können“, sagte Muhammad, der Anführer des Protests. „Meine Frau und ich arbeiten in Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen. Wolt hat mir drei Monate meines Lohns gestohlen. Und ich bin nicht allein. Wir sind viele Student:innen mit Migrationshintergrund, die sich in der gleichen Situation befinden und von diesem Unternehmen ausgebeutet werden. Weil wir Migrant:innen sind, haben viele Studierende sogar Angst zu protestieren. Ich war achtmal persönlich in der Wolt-Filiale, um meinen Lohn einzufordern. Der Geschäftsführer, den alle nur als Ali von der Mobile World GmbH kennen, weigerte sich jedoch immer wieder und sagte schließlich, dass er von Wolt nicht dafür bezahlt wurde, unseren Lohn zu zahlen. Wenn wir Aufträge pünktlich und mit ehrlichem Einsatz ausgeliefert haben, ist das Mindeste, was wir verdienen, dass wir bezahlt werden! Jede Arbeit hat ihre Würde. Es ist ein Verbrechen, dass Menschen in diesem reichen Land leben und Hungerlöhne erhalten.“

Seine Kollegin Shiwani Sharma, die ebenfalls ihren Lohn nicht erhalten hat, sprach über die Härten, denen diese Arbeiter:innen infolge des Lohndiebstahls ausgesetzt sind. „Ich bin Studentin an einer privaten Universität in Berlin und es ist schon sehr schwierig, mit den Herausforderungen der hohen Miete und Studiengebühren fertigzuwerden“, sagte sie. „Ich bin im Dezember bei Wolt als Fahrerin eingestiegen. Es war eiskalt, aber wir gingen von Tür zu Tür, um die Kund:innen mit Essen zu versorgen. An manchen Tagen hatten wir starke Schmerzen in den Händen, weil das Wetter so kalt war. Die ganze Zeit über saß die Geschäftsführung von Wolt in ihren gut geheizten Büros. Dank unserer harten Arbeit bekommen sie das Geld, um ihre Büros zu heizen, aber dann nehmen sie uns auch noch unseren mageren Lohn ab. Wir verdienen es, bezahlt zu werden! Und wir verdienen zumindest einen Mindestlohn pro Stunde statt der Bezahlung pro Auftrag. Dieses System der auftragsbezogenen Bezahlung muss abgeschafft werden!“

Ein anderer Fahrer indischer Herkunft, Abhay, beschrieb seine Erfahrungen mit Wolt als Achterbahnfahrt. Ihm zufolge arbeiteten diese Arbeiter:innen in den eisigen Monaten Dezember und Januar acht bis zehn Stunden, weil sie dachten, sie würden bezahlt, um ihre Universitätsgebühren und andere Ausgaben bestreiten zu können. „Was bekomme ich nach dieser Arbeit? Wolt hat sich geweigert, mich zu bezahlen. Ich dachte, sie würden mich im nächsten Monat bezahlen. Aber ich habe für November, Dezember und Januar kein Geld bekommen. Die Personalabteilung von Wolt hat sogar schon geleugnet, dass wir ihre Beschäftigten sind. Wir haben alles, um zu beweisen, dass wir für Wolt gearbeitet haben. Wir wollen bezahlt werden.“

Janno, ein Freund der Arbeiter:innen von der Kampagne Welcome United, sagte, dass illegale Geschäftspraktiken wie Lohndiebstahl gestoppt werden müssen. „Viele der Lieferdienste verletzen täglich grundlegende Rechte und Gesetze auf dem Rücken ihrer Fahrer:innen“, sagte er. „Das ist kein Zufall, kein Ausrutscher. Es ist ihr Geschäftsmodell.“

Lieferfahrer:innen von Gorillas, Lieferando und anderen Unternehmen dieser Art waren ebenfalls anwesend, um ihre Argumente gegen prekäre Arbeit vorzubringen. Joey vom Workers Centre, der auch ein Gorillas-Fahrer ist, sprach über die Notlage von Arbeitsmigrant:innen in der deutschen Gig-Economy und stellte sie in den größeren europäischen Kontext des strukturellen Rassismus. Sie verurteilten die Untätigkeit der griechischen Behörden und die europäische Gleichgültigkeit im Allgemeinen gegenüber den pakistanischen, syrischen und anderen Opfern des jüngsten Ertrinkens der Insass:innen eines überfüllten Bootes im Mittelmeer.

Zum Abschluss führte das Theater X einen theatralischen Sketch über die Notlage der betroffenen Zusteller:innen auf.

Kapitalismus und Überausbeutung

Die Krise der Lebenshaltungskosten in Deutschland wird schon jetzt von Tag zu Tag unerträglicher. Schon jetzt ist es für uns Beschäftigte so schwer, mit dem Mindestlohn über die Runden zu kommen. Den Beschäftigten im prekären Sektor wird nun sogar dieser Lohn vorenthalten. Es ist absolut beschämend, dass diese Praxis des Lohndiebstahls in einem so genannten demokratischen Staat wie Deutschland stattfinden kann. Aber es zeigt auch, dass der Staat immer die Interessen der Kapitalist:innenklasse vertritt.

Und deshalb müssen wir uns als Arbeiter:innen zusammenschließen und die Gewerkschaften zu kollektiven Kampforganisationen machen, die uns vertreten, aber wir brauchen auch eine Arbeiter:innenpartei, die uns und unsere Interessen in Wirklichkeit vertritt.

Unser Genosse Martin hielt auf der Demonstration eine bewegende Rede. Er sagte, er sei Mitglied der IG Metall (der größten Industriegewerkschaft in Deutschland und Europa), und auch wenn seine Gewerkschaft einer anderen Branche angehöre, sei es wichtig, dass wir uns als gemeinsam kämpfend verstehen.

„Das ist etwas, was die Gewerkschaften in Deutschland gar nicht oder nicht ausreichend tun. Das ist etwas, was wir in den nächsten Jahren gemeinsam ändern müssen. Euer Ringen, euer Mut, euer Kampf gegen Outsourcing, gegen Leiharbeit, gegen Lohnraub zeigt nicht nur, welche Maßnahmen Wolt und andere kriminelle Kapitalist:innen ergreifen, um ihre Gewinne zu sichern. Es zeigt auch, dass ihr keine Opfer seid und ihr euch wehren könnt, und ihr habt bewiesen, dass ihr euch organisieren könnt und wir uns organisieren können. Deshalb ist es wichtig, dass wir Solidarität und einen gemeinsamen Kampf mit den Gewerkschaften im gleichen Sektor wie der NGG, ver.di und allen anderen fordern, denn der Kampf, den ihr führt, ist nicht nur für euch wichtig, er wird auch für die gesamte Arbeiter:innenklasse wichtig sein. Je mehr sich der prekäre Sektor ausweitet, desto mehr werden die Löhne überall gedrückt! Deshalb ist es nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch eine Frage des Eigeninteresses aller Arbeiter:innen, diesen Kampf zu unterstützen. Wir müssen unabhängig vom Wetter Lebensmittel kaufen und Miete zahlen, und deshalb müssen wir das System in Frage stellen, das hinter dem Diebstahl eines Lohns steckt, der selbst für die Deckung der Grundbedürfnisse nicht ausreicht. Hunderte Millionen von Migrant:innen, Frauen und die am stärksten benachteiligten und unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse werden durch die Ausweitung der Gig-Economy in diese Bedingungen getrieben. Wenn wir ein Ende dieses Systems wollen, müssen wir auch das Recht auf die Gewinne in Frage stellen, die Lieferando, Wolt, Flink und all die anderen für sich selbst erzielen. Wenn sie nicht bereit sind, die Löhne pünktlich zu zahlen, wenn sie nicht bereit sind, Löhne zu zahlen, die zum Leben reichen, dann sollten diese Unternehmen entschädigungslos enteignet werden! Wir müssen aus einem System, das auf Ausbeutung, Rassismus, Krieg und Unterdrückung fußt, Geschichte machen!“

Es ist nicht das erste Mal, dass die Frage der Enteignung in Berlin auf die Straße gebracht wird. Im Jahr 2021 war das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ erfolgreich, auch wenn der Gesetzgeber den Willen der Berliner Bevölkerung, die angesichts der Wohnungs- und Mietkrise für die Enteignung der Immobiliengesellschaft Deutsche Wohnen und anderer gestimmt hat, nicht umgesetzt hat. „Wir sind nicht länger bereit, mit unseren überhöhten Mieten die Gewinne der Aktionär:innen zu finanzieren“, heißt es auf deren Website. Die Profite der Unternehmen, die von den Privilegien der Kapitalist:innenklasse durch prekäre Gig-Arbeit profitieren, werden nun zunehmend in Frage gestellt. Auch einige deutsche Schüler:innen waren zu der Demonstration gekommen, um ihre Solidarität mit den unbezahlten eingewanderten Arbeiter:innen zu bekunden. „Die Tatsache, dass das Management nicht bereit ist, euch zu bezahlen, ist eine Frechheit“, sagte Kai, der auch Mitglied der kommunistischen Jugendgruppe Revolution ist. „Als Jugendliche, die sich für unsere Zukunft interessieren, sehen wir die Notwendigkeit, uns mit eurem aktuellen Kampf und mit dem Kampf der ganzen Welt zu vereinen. Heute sind wir Student:innen oder Auszubildende und eines Tages werden wir Arbeiter:innen sein. Euer Kampf jetzt ist auch ein Kampf für unsere Zukunft. Auch wir werden von demselben System unterdrückt, das euch unterdrückt.“ Als er seine Rede beendete, rief die Menge unisono: „Student:innen und Arbeiter:innen, vereinigt euch und kämpft!“

Eine Solidaritätsbotschaft des Sprechers der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) lautete: „Ich drücke meine Solidarität mit eurem Kampf aus. Als jahrzehntelang aktiver Gewerkschafter muss ich sagen, dass es eine Schande ist, dass die Nichtbezahlung von Arbeit„nehmer“:innen in diesem Land wieder möglich ist. Dass das Mindestrecht der Lohnarbeit, dass der Lohn gezahlt wird, nicht respektiert wird! Die Gewerkschaften des DGB, die Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, die arbeitenden Menschen zu vertreten, SPD und Linkspartei, müssen dafür kritisiert werden, dass sie die Gesetze für Leiharbeit und Plattformökonomie zulassen, die die Rechte der Arbeiter:innen ausgehöhlt haben. Es ist ihre Pflicht, für die Wiederherstellung dieser Rechte und für die Verteidigung der betroffenen Beschäftigten zu kämpfen.“

Positiv war, dass Ferat Koçak von der Partei DIE LINKE Neukölln unserem Aufruf zur Solidarität gefolgt ist. Da Ferat terminlich verhindert war, bekundete an seiner Stelle Genosse Daniel seine Solidarität. Wir rufen alle linken Kräfte und Gewerkschaften auf, gleichermaßen zu reagieren und diese Bewegung als aktiven Kampf mit aufzubauen. Schließlich liegt es im Eigeninteresse aller Lohnabhängigen, die Ausweitung prekärer Arbeit zu verhindern und gemeinsam für die Durchsetzung von Mindestlöhnen und anderen grundlegenden Arbeitsrechten für alle zu kämpfen! Deshalb rufen wir in einem ersten Schritt alle auf, am 27. Juli zur Gerichtsverhandlung zu erscheinen, damit auch die Gerichte wissen, dass wir zusammenstehen.

Hoch die Internationale Solidarität!




Workers „RE-WOLT“ against Wolt

Minerwa Tahir, Infomail 1226, 21. Juni 2023

Deutsche Übersetzung: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/06/21/arbeiterinnen-re-wolt-gegen-wolt/

Berlin: Fifty Wolt workers and sympathisers took to the square in fron of Zentrum Kreuzberg at U Kottbusser Tor on Monday, 19th June 2023, to protest against non-payment of wages, deprivation from paid sickness leave and other labour law provisions. Their banner read “Wolt owes us money and rights” followed by the logo of the protest campaign, called “ReWolt” – a play on the company’s name and the word “revolt”.

The protest was organised by the Wolt Workers Collective, which is a network of Wolt workers in Berlin who had earlier organised a protest on April 13 this year. Monday’s protest was a continuation of the series of protests that workers have planned to organise until they are given their basic rights. The recent protest movement in Berlin began when a fleet of 120 migrant workers were denied payment for several months, amounting to several thousands of euros in unpaid wages. They had been hired by Wolt through a subcontractor who goes by the name Ali and runs a mobile phone accessories shop in Neukölln on Karl Marx Straße by the name Mobile World. At the last protest, workers cycled their way from U Karl Marx Straße to the Wolt headquarters in Friedrichshain where they had intended to deliver a written charter of their demands for the unpaid wages to Wolt management. Members of Gruppe Arbeiterinnenmacht were present there and we witnessed how management refused to even come out of their offices and receive the charter of demands. When Muhammad, the leader of the protest, tried to put the charter in the mailbox of the enterprise, he was told that Wolt did not have a mailbox.

What began as a campaign of unpaid employees being denied wages under the farce of a subcontractor excuse has now evolved and grown into a collective struggle that also involves directly hired employees of Wolt. Together, these workers demand their rightful payment of wages, occupational safety, workers‘ compensation, an end to the super-exploitative and illegal subcontracting system, and paid sickness leave among other rights. To make their voice heard, they organised a protest on Monday, where a number of workers and their friends and sympathisers spoke against the injustices they have been facing.

Workers accuse

“I am a migrant student and struggle to live here in Germany with my family,” said Muhammad, the leader of the protest. “My wife and I work odd jobs to make ends meet. Wolt has stolen three months of my wages. And I am not alone. We are many migrant students facing the same situation at the hands of this company. Because we are migrants, many students are even afraid of protesting. I went to the Wolt store in person eight times to claim my wages. However, the manager, whom everyone only knows as Ali from Mobile World GmbH, repeatedly refused and finally said that he has not been paid by Wolt to pay our wages. When we have delivered orders on time and with honest dedication, the least we deserve is to be paid! All labour has dignity. It is a crime for people to live in this rich nation and receive starving wages.”

His colleague, Shiwani Sharma, who has also not been paid her wages, spoke about the hardships these workers have been facing as a result of the wage theft. “I am a student in a private university in Berlin and it is already very difficult to cope with the challenges of high rent and high tuition fees,” she said. “I joined Wolt as a rider in the month of December. It was freezing cold weather but we would go door to door to deliver food to customers. On some days, we would get severe pain in our hands because the weather was so cold. All the while, the Wolt management sat in their comfortably heated offices. They get the money to heat their offices due to our hard work but then they deprive us of even our meagre wages. We deserve to be paid! And we deserve at least a minimum wage per hour instead of the per order payments. This per order payment system must be abolished!”

Another rider of Indian background, Abhay, described his experience with Wolt as a roller coaster ride. According to him, these workers worked eight to ten hours in the freezing months of December and January, thinking that they might be paid to be able to afford their university fees and other expenses. “What do I get after this work? Wolt denied to pay me. I thought they will pay me next month. But I have not been paid for November, December and January. The HR department of Wolt has even denied before that we are their workers. We have everything to prove that we worked for Wolt. We want to be paid.”

Janno, a friend of the workers from the Welcome United campaign, said that illegal business practices such as wage theft must be stopped. “Many of the delivery services violate basic rights and laws on the backs of their riders on a daily basis,” he said. “It’s not a coincidence. It’s not an accident. It’s their business model.”

Delivery riders from Gorillas, Lieferando, and other such companies were also present to make their case regarding precarious work. Joey from Workers Centre, who is also a Gorillas rider, spoke about the plight of migrant workers in Germany’s gig economy and situated it in the larger European context of structural racism. They condemned Greek authorities’ inaction and European apathy in general towards the Pakistani, Syrian and other victims of the recent drowning of an overcrowded boat in the Mediterranean.

At the end, Theater X performed a theatrical sketch on the plight of affected delivery workers.

Capitalism and superexploitation

Germany’s cost of living crisis is already becoming more and more unbearable with each passing day. It is already so difficult for us workers to make ends meet even on minimum wage. Workers employed in the precarious sector are now deprived of even that wage. It is absolutely shameful that this practice of wage theft can happen in a so-called democratic state like Germany. But what it also shows is that the state is always representative of the interests of the capitalist class. And that is why we as workers have to unite ourselves and make the trade unions collective fighting organisations that represents us but also that we need a workers’ party that in reality represents us and our interests.

Our comrade, Martin, gave a moving speech at the protest. He said he was a member of IG Metall (the largest industrial union in Germany and Europe), and even though his union belongs to a different trade, it is important that we see ourselves as waging a struggle together. “This is something that the trade unions in Germany do not do at all or do not do sufficiently. This is something that we need to change in the next years together. Your struggle, your courage, your fight against outsourcing, against subcontracting, against the robbing of your wages shows not only what kind of measures Wolt and other criminal capitalists are undertaking in order to secure their profits. It also shows that you are not victims and you can fight back and you have proven that you can organise and that we can organise ourselves. Therefore, it is important that we demand solidarity and a common struggle with the trade unions in the same sector like the NGG, Ver.di and all others because the struggle you wage is not only important for you, it will also be important for the whole working class. The more the precarious sector expands, the more it will undercut wages everywhere! This is why it is not just a question of solidarity but rather a question of self-interest of every worker to support this struggle. We have to buy food and pay rent irrespective of the weather and that is why we have to question the system that is behind stealing of a wage that is itself insufficient to pay for basic needs. Hundreds of millions of migrant workers, women and the most disadvantaged and oppressed sections of the working class are driven into these conditions by the expansion of gig economy. If we want an end to this system, we also have to question the right to the profits which Lieferando, Wolt, Flink and all the others are making for themselves. If they are not prepared to pay the wages on time, if they are not prepared to pay wages sufficient for a living, then those companies should be expropriated without compensation! We need to make history out of a system which stands on exploitation, on racism, on war and oppression!”

This is not the first time that the question of expropriation has been raised in the streets of Berlin. In 2021, the Deutsche Wohnen Enteignen (Expropriate Deutsche Wohnen) referendum was successful, even if lawmakers have failed to act on the will of the Berlin population who voted in favour of expropriating the real estate company, Deutsche Wohnen, in light of the housing and rent crisis. “We are no longer willing to finance the profits of the shareholders with our excessive rents!” reads their website. Profits of companies enjoying the privileges offered to the capitalist class through precarious gig work are now increasingly coming under question. Some German school students had also come to the protest to express solidarity with the unpaid migrant workers. “The fact that the management is not willing to pay you is an insolence,” said Kai, who is also a member of communist youth group Revolution. “As youth interested in our future, we see the necessity to unite with your current struggle and with the struggle of all around the world. We are students or trainees today and we will be workers one day. Your struggle now is also a struggle for our future. We are also being oppressed by the same system that oppresses you.” As he ended his speech, the crowd shouted in unison, “Students and workers, unite and fight!”

A solidarity message received from the speaker of the Vernetzung für kämpfersiche Gewerkschaften read: “I express my solidarity with your struggle. As an active trade unionist for many decades, I have to say that it is a shame that the non-payment of workers is possible again in this country. That the minimum right of wage-labour, that the wage is paid, is not respected! The trade unions of the DGB, the parties that claim to represent the working people, SPD and the Left Party, have to be criticised for allowing the laws for temporary work and platform economy that have eroded workers’ rights. It’s their duty to fight for re-establishment of these rights and for the defence of the workers concerned.”

It was positive that Ferat Kocak of Die Linke Neukölln responded to our call for solidarity and sent Comrade Daniel in his stead to express solidarity with the workers. We call upon all left forces and trade unions to respond alike and help build this movement as an active struggle. After all, it is in the self-interest of all workers to prevent the expansion of precarious work and to collectively fight for the application of minimum wage and other basic labour rights on all! Therefore, as a first step, we call on everyone to come to the court hearing on 27 July, so that the courts also know that we stand together.

Hoch die Internationale Solidarität!




EU-Migrationsregime: Vorsicht Falle!

Jürgen Roth, Neue Internationale 274, Juni 2023

Wie zynisch kann Geschichte doch sein! Fast auf den Tag genau 30 Jahre sind vergangen seit der Asylrechtsänderung durch den Deutschen Bundestag (26. Mai 1993). Drei Tage später verübten 4 Neonazis einen verheerenden Brandanschlag auf das Haus einer türkischstämmigen Familie in Solingen, bei dem 5 Menschen ums Leben kamen und 14 zum Teil schwer verletzt wurden. So viel zur Wirksamkeit der Asylrechtsänderung, die mit entsprechendem Mediengetrommel als Eindämmung des rechten Straßenmobs verkauft wurde, um ihm die Basis zu entziehen, die angeblich in „Überfremdung“ bestehe. Überfremdung wurde zum Unwort des Jahres 1993 gewählt.

Blutspur

Schon vorher hatte der rassistische Pöbel in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln gewütet – ebenfalls mit Toten und Verletzten. Doch weit entfernt davon, seine Untaten in die Schranken zu weisen, wirkte die legale Verschärfung des Asylrechts – gegen Geflüchtete, nicht den rechten Mob! Erinnert sei nur an die Attentate des NSU und den Amoklauf in Hanau, die sich wie eine Blutspur durch die jüngere Geschichte der BRD ziehen, begleitet von anschwellenden Massenbewegungen wie Pegida. In diesem Szenario muss man die demokratischen Abgeordneten, die für das neue Asylrecht gestimmt haben, als Kompliz:innen, nicht Gegner:innen der offen physischen Gewalt gegen Migrant:innen bezeichnen.

Am 26. Mai 1993 beschloss der Bonner Bundestag mit Zweidrittelmehrheit eine Grundgesetzänderung. Ohne die Zustimmung durch die meisten SPD-Parlamentarier:innen wäre sie nicht zustande gekommen. Dieser „Asylkompromiss“ Artikel 16 a des Grundgesetzes sah vor, dass der alte Artikel „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ erheblich eingeschränkt wurde. 16 a führte den „sicheren Drittstaat“ ein. Demnach erhält ein/e Schutzsuchende/r kein Recht auf Asyl in Deutschland, wenn sie/er über ein EU-Mitglied oder einen anderen Staat eingereist ist, in dem die Möglichkeit existiert, einen Asylantrag einzureichen. Deutschland ist von solchen vollständig umringt. Heute werden weniger als 1 % aller Asylanträge positiv beschieden. Weitere verschärfte Klauseln wurden im Grundsatz im Mai 1993 angelegt: das Asylbewerberleistungsgesetz, das die soziale Versorgung auf ein Niveau deutlich unterhalb der regulären Sozialhilfe senkt; das sogenannte Flughafenverfahren, mittels dessen auf dem Luftweg eingereiste Schutzsuchende seither 3 Wochen im Transitbereich eines Airports festgehalten werden können, das als „exterritoriales Gebiet“ eingestuft wurde.

Als die Grünen damals für den Tag der Abstimmung die Aufhebung der Bannmeile um den Bundestag forderten wurde dies mit den Worten abgelehnt, man beuge sich nicht dem Druck der Straße. Man beugte sich genauer nicht diesem, fortschrittlichen Druck, sehr wohl aber dem reaktionären: 521 Abgeordnete stimmten für die gravierenden Verschlechterungen. Kanzler Kohl weigerte sich, an den Trauerfeiern in Mölln und Solingen teilzunehmen. Sein Terminkalender gestatte keinen „Beileidstourismus“ – ganz in diesem selektiven Sinn.

EU der Menschenrechte?

Erhalten nicht trotzdem 35 % der Asylsuchenden in der BRD einen Schutzstatus? Dies gilt aber nur, weil Genfer Flüchtlingskonvention und Europäische Menschenrechtskonvention gewisse Abschiebungen verbieten. Doch jetzt droht hier schlimmeres Ungemach als vor 30 Jahren in Deutschland, wo ja Schutzsuchende auf andere EU-Staaten verwiesen wurden. Am 8. Juni 2023 wollen die Innenminister:innen eine Vorentscheidung fällen.

Im Klartext: Schutzsuchende werden im geplanten neuen Grenzverfahren behandelt, als seien sie niemals eingereist. Das deutsche Flughafenverfahren steht hier deutlich Pate. Sie werden an den Außengrenzen in Lagern festgesetzt und überwacht. Gleichzeitig will man die Anforderungen an „sichere Drittstaaten“ senken. Folglich sollen sie in solche Staaten verfrachtet werden können, in denen sie niemals waren und in die sie auch nicht gelangen wollten. Erforderlich ist nur, dass Teilgebiete als sicher gelten. Die Genfer Flüchtlingskonvention muss also nicht verbrieftes Recht darstellen, um im Eilverfahren abgeschoben werden zu können. Eine individuelle Prüfung der Fluchtgründe ist ebenso wenig vorgeschrieben, obwohl im Koalitionsvertrag der Ampel steht: „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“

Scholz und Faeser opfern also elementare Bestandteile des EU-Asylrechts, um einerseits mit rechtspopulistischen Regierungen einen Deal zu schließen, der das Auseinanderfallen dieses Blocks verhindern soll. In geringerem Maß spielen auch die bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern eine Rolle bei dieser „Kehrtwende“. Entschuldigen können sie sie nicht. Ukrainekrieg, Verfolgungsdruck in Afghanistan, Syrien und der Türkei stehen fürs genaue Gegenteil.

Diskursschwenk

Wie vor 30 Jahren bereiten die Damen und Herren im Parlament zum rechten Diskurs. Innenministerin Nancy Faeser sprach direkt nach den Vorfällen der Berliner Silvesternacht von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“, Jens Spahn (CDU) strickte flugs eine Verbindung mit „ungeregelter Migration“ her, in der Bundesregierung ist „irreguläre“ Einwanderung zum geflügelten Wort mutiert, Robert Habeck hat nichts mehr gegen Haftlager einzuwenden und eine FDP-Bundestagsabgeordnete nahm wieder das Unwort des Jahres 1993 in den Mund. Die Täter:innen in Nadelstreifen handeln wieder nach dem Motto: „Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsere Hände wieder rein!“

Abschiebepraxis: Malta, Libyen …

Weitgehend unbeachtet hatte die EU-Kommission bereits im Dezember 2021 Änderungen des Schengener Grenzregimes angestoßen, die der EU-Rat dann im Juni übernahm. Das Straßburger Parlament hatte sie nur geringfügig abgeschwächt. Die Vorgänge an der polnischen Grenze zu Belarus (Weißrussland) vom Winter 2021 wurden zum Anlass genommen, Kontrollen an den Binnengrenzen erst nach zweieinhalb Jahren gegenüber der Kommission rechtfertigen zu müssen. An den Außengrenzen wird alles ignoriert, was passiert. Griechenland darf ungestraft Migrant:innen zurückdrängen. Frontex leistet aktive Beihilfe. So jüngst bei der Rückführung eines ehemaligen Fischerboots mit 500 Geflüchteten aus Maltas Seezone durch eine libysche Miliz nach Bengasi: Frontex, maltesische Behörden und ein Schiff der Bundesmarine, welches regelmäßig im Mittelmeer patrouilliert – warum wohl? –, schritten nicht ein, geschweige denn leisteten sie Seenotrettungshilfe.

… Niger

Der Niger gilt seit 2015 als weiterer Grenzwächter Europas. Im Juli 2022 erneuerte die EU ihre „Antischmuggelpartnerschaft“, lagert ihre Grenzen nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern bis in die Mitte Nigers aus. 2010 hat die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) hier angefangen, von den EU-Staaten bezahlte „Transitzentren“ zu bauen. Von hier sollen aus Algerien oder Libyen Abgeschobene in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. 2015 erließ Niger das Gesetz 036, das Migration und ihre Unterstützung (Transport, Unterbringung) illegalisiert und mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu 3.000 Euro ahndet. In der Folge wichen Flüchtende auf gefährlichere und teurere Fluchtrouten durch die Sahara aus. Bleibt ein Auto liegen, gibt es kaum Hilfe, zumal allein die Benutzung eines Satellitentelefons als Straftat gilt. Seit 2014 registrierte die UNO 2.000 Todesfälle in der Wüste – Tendenz steigend. Expert:innen rechnen mit weit höheren Zahlen.

… Polen

Polen gilt als Opfer der Destabilisierungsversuche der EU durch den belarusischen Diktator Lukaschenko. Kein Wunder also, dass jetzt auch seine Binnengrenzen verstärkt überwacht werden. Die Bundesinnenministerin traf sich diesbezüglich jüngst mit dem polnischen Vizeressortchef Grodecki. Deutsche und polnische Behörden werden demnach ihre Kontrollen entlang der gemeinsamen Grenze ausweiten. Brandenburgs Innenminister Stübgen (CDU) hatte seine Bundeskollegin aufgefordert, dem schon lang praktizierten Beispiel Bayerns und Österreichs folgend, auch stationäre Grenzkontrollen zu errichten. Dies wurde zwar einstweilen zurückgewiesen, doch wird die Bundespolizei (früher: Bundesgrenzschutz) Einsätze in der polnischen Grenzregion weiter intensivieren.

… Österreichs

Zuvor hatte Faeser bereits mit dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner über die Beibehaltung Beibehaltung der gemeinsamen Grenzkontrollen gesprochen, die eigentlich schon lange gegen das Schengener Abkommen verstoßen. Beide waren sich gerade in Hinblick auf den derzeit verhandelten „Asyl- und Migrationspakt“ (GEAS) einig, dass Binnengrenzkontrollen innerhalb des Schengengebiets erst aufgehoben gehören, wenn der Außengrenzschutz funktioniert. Dass das ähnlich wie im Mittelmeer und Nordafrika nur mit illegalen Rückführungen (Pushbacks) vor sich gehen muss, ist eine Binsenweisheit.

Pushback für GEAS!

Der Aufschrei unter einschlägigen humanitären und Seenotrettungs-NGOs wie Pro Asyl, Sea-Watch etc. ist zwar riesig, doch im Gegensatz zu 2015 bleiben die Straßen, so am 26. Mai 2023 in Berlin, beschämend leer. Die Politik dieser Organisationen besteht zum großen Teil aus Petitionen, also einer Form von Betteln an „unsere“ Politiker:innen, darunter ausgerechnet Hauptkriegstreiberin Baerbock. Natürlich sollten wir alle Mobilisierungen, seien sie auch noch so zahm geraten, unterstützen. Die Arbeiter:innenklasse muss gemäß ihren ureigensten historischen Interessen jedoch auch das Feld der Einwanderungspolitik zu ihrem gestalten. Sie muss beginnen mit dem Eintreten für konsequente demokratische Reformen, die in der Forderung nach offenen Grenzen und vollen staatsbürgerlichen Rechten, nicht nur Bleiberecht und Duldung, gipfeln. Darüber hinaus muss sie die legalen Voraussetzungen für ihre Klasseneinheit ergänzen durch soziale Forderungen wie Verteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden, Mindestlohn, Anspruch auf volle Sozialhilfe, Reisefreiheit, gegen Arbeitsverbote und Residenzpflicht, für normales Wohnrecht statt Unterbringung in Lagern, Anerkennung der Berufsabschlüsse, kostenlosen Sprachunterricht usw. Doch um ihren Anspruch, die führende Klasse in der zukünftigen Weltgesellschaft zu werden zu untermauern, bedarf es des Aufbaus einer revolutionären kommunistischen Arbeiter:innenpartei und -internationale, die sich für die Abschaffung des kapitalistischen Systems in die Bresche wirft, das in seiner imperialistischen Epoche durch das Wirken des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt auch die Ungleichheiten zwischen den Nationen und Ungleichmäßigkeit ihrer Entwicklung zugunsten der Großmächte und auf Kosten einer immer mehr zunehmenden Masse der Weltbevölkerung verstärkt…




Weitere Verschärfung der EU-Flüchtlingspolitik droht

Susanne Kühn, Neue Internationale 273, Mai 2023

Der EVP-Chef und CSU-Vize Manfred Weber mimt den Einpeitscher: „Die EU schlafwandelt in eine neue Migrationskrise, obwohl der rasant steigende Migrationsdruck offensichtlich ist“, lässt er Mitte April verlauten.

Damit will er unter anderem der italienischen Regierung Meloni beispringen, als deren Fürsprecher sich Weber seit einiger Zeit hervortut. Anfang Mai hat Italien den Notstand ausgerufen. Eine „Flüchtlingswelle“ soll gestoppt werden.

Weber, Meloni und andere Rechte bzw. Konservative fordern, dass die Außengrenzen der EU noch weiter abgeriegelt werden.

Abschottung und Tote an den Außengrenzen

Dabei erreichten gerade 31.000 Flüchtlinge in den ersten drei Monaten die Küsten Maltas und Italiens. Das stellt zwar eine deutliche Steigerung gegenüber 2022 dar. Aber die Ursache dafür bildet keine „Flüchtlingswelle“, sondern eine Veränderung der Fluchtrouten. Nur wenige Menschen kommen noch über die Türkei, die Balkanroute oder Marokko nach Europa. Mehr als die Hälfte der nach Italien Geflüchteten nimmt die gefährliche Reise über den Seeweg auf sich – trotz der barbarischen Zustände in Tunesien selbst und trotz der lebensgefährlichen Route. Allein 2023 (Stand 12. April) fanden 600 Flüchtende im Mittelmeer den Tod, seit dem Jahr 2014 sind es insgesamt 26.358 Menschen.

Nun wollen Weber und Co. ein weiteres Abkommen mit der tunesischen Regierung, die für die EU die rassistische Drecksarbeit erledigen soll, ähnlich wie die Türkei in ihrem  Abkommen mit der EU.

Diese Forderung steht für eine weitere brutale Barbarisierung des EU-Grenzregimes. Die Hetzkampagne soll den Boden für eine weitere rassistische Abschottung, verschärfte Einsätze von Frontex, Auffanglager an den EU-Außengrenzen, Kriminalisierung von ehrenamtlichen Fluchthelfer:innen sowie verschärftes Vorgehen gegen Flüchtlinge und Asylbewerber:innen in Deutschland und anderen EU-Staaten bereiten.

Dabei plant die EU längst, was Weber vorschlägt. Beim Gipfel im Februar 2023 wurden ein weiteres Mal eine Verstärkung der Grenzkontrollen und die Beschleunigung von Abschiebungen beschlossen. Außerdem müssen zukünftig Ablehnungen von Asylanträgen in einem Land auch in allen anderen anerkannt werden.

Strittig war und ist nur, wie der rassistische Spuk finanziert werden soll: über Haushalte der Staaten, über jenen der EU oder im Rahmen des „Solidaritätsmechanismus“ zwischen den Ländern.

Rassismuskrise

Zu Recht bezeichnet Pro Asyl die sog. „Flüchtlingskrise“ als Rassismuskrise. „Die EU – ein Bund aus 28 Staaten, mit insgesamt 510 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von rund 15 Billionen Euro – ist 2015 nicht wegen einer Million Schutzsuchender in die so genannte Flüchtlingskrise geraten – sondern aufgrund der Fliehkräfte immer weiter um sich greifender nationalistischer und rassistischer Tendenzen. Rassismus und Populismus sind verantwortlich für die aktuelle ‚Flüchtlingskrise’ der EU. Nicht die Flüchtlinge.“

Nur ein kleiner Teil der über 100 Millionen Geflüchteten weltweit schafft es bekanntlich in die EU, deren imperialistische Mitgliedsstaaten jedoch kräftig mitwirken an jenen Verhältnissen, die die Menschen zur Flucht zwingen.

In Deutschland haben 2022 193.000 Menschen einen Asylantrag gestellt. Die oft beschworene Steigerung ergibt sich statistisch einfach daraus, dass während der Pandemie auch die Zahlen der Geflüchteten und Asylbewerber:innen deutlich zurückgingen. Gestiegen ist im letzten Jahr die Anerkennungsquote (auf 72 % bei Erstanträgen) – und das trotz einer extrem rigiden Überprüfung. So erhielten laut Pro Asyl „im Jahr 2022 fast 40.000 zunächst vom BAMF abgelehnte Asylsuchende doch noch einen Schutzstatus, in den meisten Fällen durch eine Gerichtsentscheidung, aber auch, weil das BAMF die ursprüngliche Ablehnung korrigierte. In über der Hälfte dieser Fälle erhielten Menschen aus Afghanistan nachträglich Schutz, weil sie mit ihrer Klage bei Gericht oder einem Folgeasylantrag erfolgreich waren oder das BAMF mit einem Abhilfebescheid den ursprünglichen, falschen Bescheid aufhob.“

So erhalten zur Zeit zwar die meisten Geflüchteten aus Afghanistan und Syrien eine zumindest vorübergehende Anerkennung, Anträge von Menschen aus dem Iran werden hingegen in den meisten Fällen abgelehnt. So viel zum Menschenrechtsland Deutschland.

Allein diese wenigen Zahlen machen deutlich, dass die sog. „Flüchtlingswelle“ eine Erfindung ist, dass es vor allem um die Hetze gegen Geflüchtete und Migrant:innen geht – und darum, den Boden für weitere Gesetzesverschärfungen und eine noch rigidere Abschottungs- und Abschiebepraxis vorzubereiten.

Dieser Entwicklung muss entschieden entgegengetreten werden.

  • Nein zu allen Abschiebungen! Bleiberecht und volle Staatsbürger:innenrechte für alle Geflüchteten und Migrant:innen!

  • Für offene Grenzen! Schluss mit Frontex und allen anderen rassistischen Grenzkontrollen!

  • Schluss mit dem Lagersystem! Aufhebung der Residenzpflicht! Recht auf freie Wahl des Wohnortes und auf Arbeit!



UK und Irland: Stoppt Rassismus und Bigotterie!

Dave Stockton, Infomail 1215, 1. März 2023

Rechtspopulistische und faschistische Gruppen starten im gesamten Vereinigten Königreich und in der Republik Irland eine breit angelegte Offensive, bei der sie Rassismus gegen Migrant:innen und Bigotterie gegen Transsexuelle als ihre Visitenkarte abgeben. Die Entscheidung der Regierungen, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen und gleichzeitig – zumindest im Falle Großbritanniens – diejenigen zu verteufeln, die den Ärmelkanal in wackeligen Booten überqueren, bietet einen fruchtbaren Boden für die Hassprediger:innen.

In Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Not in strukturschwachen Gebieten, die sowohl von den regierenden Torys als auch von der Labour-Partei lange Zeit vernachlässigt wurden, bringen die Regierungen diejenigen, die es hierher geschafft haben, in heruntergekommenen Hotels unter, oft in Badeorten, wo sie unter erbärmlichen Bedingungen eingepfercht sind, weit weg von Freund:innen oder Unterstützungsnetzen der eigenen Community.

Dort hetzen die rassistischen Gruppen die Einheimischen auf, diese vermeintlichen Zufluchtsorte für Demonstrationen und Schlimmeres anzusteuern, und finden ein Publikum, das zwar noch nicht groß ist, aber wächst und gefährlich ist. Die antirassistische Kampagne „Hope not Hate“ weist in ihrem Bericht 2023 darauf hin:

„Die Proteste und Aktionen gegen Migrant:innen vor deren Unterkünften und Hotels haben sich im vergangenen Jahr verdoppelt. In der Zwischenzeit gab es eine Reihe von Aktionen zur Störung oder Absage von Buchveranstaltungen der Drag Queen Story Hour, die sich gegen Transrechte und die LGBTIA+-Community richteten.“

Die Tory-Boulevardblätter wie die Daily Mail mit ihrer Propaganda über eine Invasion von Bootsflüchtlingen oder Lehrer:innen, die versuchen, das Geschlecht „unserer“ Kinder zu ändern, haben den Boden bereitet, um diese Verbreitung reaktionärer Aktivitäten zu schüren. Daher rühren auch die Slogans auf diesen Demonstrationen, die Boote zu stoppen oder die „Pädos“ zu bekämpfen.

Die einwanderungsfeindliche Innenministerin Suella Braverman, die zunächst vorschlug, die Marine zu veranlassen, die Boote zurück in französische Gewässer zu „schieben“ und dann diejenigen, die die Überfahrt überleben, auf alten Kreuzfahrtschiffen festzuhalten, versucht immer noch, die Gerichte dazu zu bringen, die Menschen nach Ruanda abschieben zu lassen.

Warnung aus Merseyside

Das bedrohlichste Ereignis war der große Aufruhr am 11. Februar vor dem Suites Hotel in Knowsley, Merseyside, wo sich eine große Menschenmenge, darunter viele Einheimische, versammelte und rassistische Parolen rief. Die Aufregung wurde durch Behauptungen im Internet angeheizt, eine fünfzehnjährige Schülerin sei von einem Mann aus dem Hotel belästigt worden. Diese Behauptungen haben sich inzwischen als unbegründet erwiesen. Jemand aus dem Mob hatte eine Benzinbombe mitgebracht, offensichtlich in der Absicht, ein Pogrom zu veranstalten. Ein Polizeiauto geriet zur Zielscheibe.

Weitere Angriffe auf Hotels, in denen Migrant:innen untergebracht sind, fanden in Long Eaton (Derbyshire) bei Nottingham und Newquay in Cornwall statt. Hunderte nahmen an einer Demonstration in Skegness (Lincolnshire) teil. Rechtsextreme Gruppen wie Patriotic Alternative und Britain First haben in diesen Gebieten Flugblätter über „Luxushotels für Migrant:innen“ verteilt, während „unsere Leute“ obdachlos sind.

Das gemeinsame Muster ist die bewusste Entscheidung der Regierung für unwirtliche Orte für Menschen, die in ihren Heimatländern unter Kriegstraumata leiden, was durch lange Verzögerungen bei der Bearbeitung ihrer Asylanträge noch verstärkt wird. Dies geht auf Theresa Mays Politik der „feindlichen Umgebung“ zurück, als sie Innenministerin war (2010 – 2016).

Auch in der irischen Republik finden seit November landesweit antimigrantische Mobilisierungen unter dem Motto „Irland ist voll“ statt. Im Jahr 2022 gab es 307 solcher Proteste, 2023 waren es bereits 64. Bei der letzten Demonstration in Dublin gingen mehr als 2.000 Demonstrant:innen auf die Straße, wobei der Schwerpunkt auf einem Gebäude lag, das zu einem Wohnheim für Migrant:innen umgebaut worden war und in dem sich Woche für Woche Hunderte von Menschen versammelten. Im Dezember weiteten sich die Demonstrationen auf andere Gebiete aus: die Vororte Dublins Drimnagh, Finglas und Ballymun sowie Fermoy (Cork).

Auch in Schottland kam es in der dritten Woche in Folge zu Zusammenstößen zwischen Demonstrant:innen vor einem Hotel in Renfrewshire (bei Glasgow) wegen Plänen zur Unterbringung von Asylbewerber:innen. Mitglieder der Patriotic Alternative versammeln sich jeden Sonntag vor dem Muthu Glasgow River Hotel in Erskine (nahe Glasgow), um gegen die geplante Unterbringung von 200 Asylbewerber:innen zu protestieren.

Weitere Ziele der Rechten bilden die fortschrittlichen Vorschriften zur Geschlechtsanerkennung und transkulturelle Veranstaltungen. Transphobie war das Thema der jüngsten Veranstaltungen in London vor der Tate Modern-Kunstgalerie, und vor kurzem versuchten ein Dutzend Rechtsextremist:innen der Gruppe Turning Point, eine Drag Queen Storytelling-Veranstaltung im The Honor Oak Pub in Lewisham (London) zu verhindern, wurden aber von 200 Gegendemonstrant:innen empfangen.

Runter von unseren Straßen

Glücklicherweise haben sich in vielen dieser Fälle lokale Antirassist:innen, oft von der Organisation Stand Up to Racism, schnell mobilisiert und dazu beigetragen, mögliche gewalttätige Übergriffe zu verhindern. Obwohl die Polizei in Knowsley eingegriffen hat, können wir es nicht ihr überlassen, denn sie wird immer das „Recht auf friedlichen Protest“ der Faschist:innen verteidigen. Es ist klar, dass die neuen Antiprotestgesetze, die sich gegen diejenigen richten, die gegen die Umweltzerstörung durch den Kapitalismus protestieren, in erster Linie gegen Antirassist:innen und nicht gegen Faschist:innen eingesetzt werden.

Es ist die Pflicht der Arbeiter:innenbewegung, unsere Brüder und Schwestern zu verteidigen, die vor Umweltzerstörung, Armut, Verfolgung und Krieg fliehen. Wir müssen sagen: Öffnet die Grenzen für diejenigen, die vor Kriegen, Naturkatastrophen und wirtschaftlicher Not Zuflucht suchen!

Wir müssen uns auch dafür einsetzen, dass Asylbewerber:innen eine angemessene Unterkunft in Städten zur Verfügung gestellt wird, in denen es Gemeinschaften aus ihren Herkunftsländern gibt und in denen Gewerkschaften, Labourstadträte und sozialistische Gruppen sie willkommen heißen und ihnen bei der Verfolgung ihrer Ansprüche mit Rechtsberatung helfen können. Wir müssen die Beschränkungen bekämpfen, die ihnen das Recht auf Arbeit oder den Nachzug ihrer Familienangehörigen verwehren.

Sozialist:innen müssen dem rechtsextremen Hass in all seinen Formen, einschließlich der Transphobie, unbeirrt entgegentreten. Wo immer möglich, müssen wir diese rassistischen und transphoben Mobs von unseren Straßen vertreiben und sicherstellen, dass alle naiven Einheimischen, die sich ihnen anschließen, eine unangenehme Erfahrung machen, und die Faschist:innen, die sie wütend machen, in die Flucht schlagen.

Workers Power wird sich für eine große Beteiligung an den Demonstrationen am 18. März in London einsetzen. Auch in Glasgow und Cardiff wird es im Rahmen des weltweiten Tages der antirassistischen Proteste Demonstrationen geben. Angesichts der bösartigen Antimigrationspolitik vieler EU-Staaten, insbesondere der neuen extrem rechten italienischen Regierung unter Giorgia Meloni, und der Tragödie des Schiffsunglücks in Italien, bei dem 63 Flüchtlinge, darunter auch Kinder, ums Leben kamen, ist ein internationales Vorgehen dringend erforderlich.




Silvester 2022: Nach den Böllern kommt der Rassismus

Martin Suchanek, Infomail 1209, 5. Dezember 2023

145 Menschen hat die Polizei lt. Tagesschau bundesweit im Zusammenhang mit Silvesterkrawallen festgenommen, rund zwei Drittel entfielen auf Berlin. Diese sollen nicht nur Einsatzkräfte der Polizei, sondern auch der Feuerwehren, teilweise auch Passant:innen gezielt mit Böllern und Feuerwerkskörpern beschossen haben.

Silvesterkrawalle sind nun nichts total Neues in Deutschland – und erst recht nicht zahlreiche Verletzungen, Schlägereien, Unfälle bei den Neujahrsfeiern. Und ebenso wenig neu ist die fast schon alljährliche Debatte um das Verkaufsverbot von Böllern und Feuerwerkskörpern.

Es mag auch gut sein, dass die Zahl der Einsätze der Polizei und auch direkter bewusster Übergriffe und Angriffe auf Beamt:innen in diesem Jahr nach der Coronapandemie nach oben ging. Dass es sich dabei um eine neue Qualität handelt, muss aber in Zweifel gezogen werden. Bevor wir uns jedoch damit beschäftigen, müssen wir darauf eingehen, was wirklich neu ist: das Ausmaß an offen rassistischer Zuschreibung durch die bürgerliche Politik.

Rassismus und Law and Order

Nachdem sich der Rauch der Feuerwerke längst verzogen hat, legen Politiker:innen und sog. Expert:innen nach. CDU-Fraktionsvize Spahn, einst ein Shootingstar seiner Partei, bringt sich mit rassistischen Zuschreibungen und Law-and-Order-Parolen ins Gespräch – und macht auch gleich die Ursachen für eine angeblich neue Qualität von Rowdytum aus: „ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“. Die Berliner CDU und FDP legen nach:

„Der CDU-Bezirksstadtrat für Soziales in Neukölln, Falko Liecke, wurde der Berliner Zeitung gegenüber deutlicher. In Neukölln sei eine ‚komplette Parallelgesellschaft herangewachsen, die mit unseren Staatsorganen, der Polizei und unserem Bildungssystem nichts zu tun hat’. Die FDP-Bundesabgeordnete Katja Adler sprach auf Twitter von ‚kultureller Überfremdung’. Der innenpolitische Sprecher der Jungen Union NRW, Manuel Ostermann, ging noch weiter. Das Problem seien ‚nicht die Böller, sondern der asoziale Mob, der damit nicht umgehen kann’, schrieb er. Im Gespräch mit der Bild-Zeitung bedauerte er den Mangel deutscher Grenzkontrollen. Der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries scheint bisweilen die Rassentheorie für sich wiederentdeckt zu haben: Wollen wir Krawalle in Großstädten bekämpfen, schrieb er auf Twitter, ‚müssen wir auch über die Rolle von Personen, Phänotypus: westasiatisch, dunklerer Hauttyp sprechen’.“ (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/silvesternacht-die-boeller-debatte-ist-rassistisch-li.303337)

Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft DPolG im Deutschen Beamtenbund, Rainer Wendt, stößt ins selbe Horn und verweist auf das „Migrantenmilieu“ als Hort mangelnder Staatstreue. Zudem fordern Polizei- und Feuerwehrgewerkschaften stärkere Überwachung und Videocams.

Da fällt es der AfD und wohl auch so manchem Hardcorenazi schwer, sich nach rechts abzusetzen. AfD-Vorsitzende und -Bundessprecherin Alice Weidel versucht es dennoch und wendet sich gegen jede Erleichterung der Einbürgerung: „Ab diesem Jahr werden all die ‚Menschen‘ eingebürgert. Dann können die Medien ohne schlechtes Gewissen schreiben, dass ‚Deutsche‘ Einsatzkräfte attackierten.“ (https://www.belltower.news/rassistische-narrative-nach-silvester-neues-jahr-alte-hetze-144885/)

Laut Weidel und Co. kann es sich beim „Mob“ überhaupt um keine echten Deutschen, allenfalls nur um „Passdeutsche“ gehandelt haben. Selbst von Menschen mag sie nur unter Anführungszeichen sprechen – und setzt so den rassistischen Zuschreibungen von Liberalen und Konservativen noch eins drauf.

Bürgerliche Öffentlichkeit und Expert:innen

Während ein Teil der bürgerlichen Medien vor rassistischen Zuschreibungen warnt, fordern sog. Qualitätsmedien wie die FAZ, dass nicht weiter abgewiegelt werde, wenn es um Gewalt und Migration gehe. So lobt ihr Redakteur Jasper von Altenbockum den „Mut“ von Spahn und NRW-Innenminister Herbert Reul. die entgegen einer angeblichen Relativierungskultur die „Wahrheit“ ausgesprochen hätten. Schelte gibt es für den Berliner Senat, dem „in solchen Situationen die Worte ‚Linksextremisten’ oder ‚Migranten’“ nicht über die Lippen kommen könnten.

Doch nicht nur die bürgerliche Presse verkehrt die Lage so, also würden über Jahre Migrant:innen oder auch „Linksextreme“ diskursiv geschont, also würden jene, die die veröffentlichte Meinung privatkapitalistisch oder staatlich kontrollieren, vor lauter „Gutmenschen“ nicht mehr zu Wort kommen.

In solchen Situationen werden auch vorgebliche Expert:innen wie der Psychologe Ahmad Mansour gern in der Tageschau und anderen Medien zu Rate gezogen. Sie fabulieren dann von einer „puren Lust an Gewalt“, die auf den Straßen ausgelebt würde. Und weiter: „Es hat aber auch mit patriarchalischen Strukturen zu tun, die dazu führen, dass diese Menschen unseren Rechtsstaat, unsere Polizei, unsere Rettungskräfte als etwas Schwaches wahrnehmen, das man attackieren darf.“ (https://www.tagesschau.de/inland/silvester-gewalt-gegen-polizisten-101.html)

Lassen wir einmal beiseite, dass es an „patriarchalen Strukturen“ auch in „deutschen Milieus“ nicht mangelt, so erhebt sich doch die Frage, warum „unsere Polizei“ nur für wenige Stunden zu Silvester als „etwas Schwaches“ wahrgenommen wird, warum beim racial profiling in Neukölln und anderswo migrantische Jugendliche schikaniert, unterdrückt und Opfer von polizeilicher Gewalt werden?

Die These von der „Schwäche“ des Staates stellt die realen Verhältnisse einfach auf den Kopf. In Wirklichkeit leben die Menschen in keiner „Parallelgesellschaft“, sondern am Rand einer Gesellschaft, die sie nur als Marginalisierte, als billige, entrechtete Arbeitskräfte braucht, deren Wohnviertel gentrifiziert werden (auf Berlin-Kreuzberg folgt zur Zeit Neukölln). Nicht mangelnde „Integrationsbemühungen“, sondern systematische Diskriminierung und Verweigerung realer Integration prägen den Alltag. Die „Silvesterkrawalle“ sind kein Zeichen der Machtlosigkeit des Staates, sondern kurzfristige, emeutenhafte Äußerung der realen Machtlosigkeit Jugendlicher.

Verkehrung

Das polizeiliche, konservative, liberale und rassistische Narrativ stellt das faktisch auf den Kopf. Wer auf gesellschaftliche Ursachen auch nur im bürgerlich-demokratischen Sinn verweist, wird von der FAZ und anderen der Relativierung bezichtigt.

Zugleich werden einzelne, aus der Lebenssituation entrechteter und marginalisierter Jugendlicher entstehende gewaltsame Ausbrüche zu einem „kriminellen Migrantenmilieu“ konstruiert, das vorzugsweise vom Islam geprägt sein soll. Kriminalität, Angriffe auf die Polizei werden zur Tat von Migrant:innen.

Warum eigentlich sollen Menschen einen Staat und seine Repressionsorgane „respektieren“ und schätzen, der sie bei der streng reglementierten Einreise bürokratisch schikaniert und als Menschen 2. Klasse behandelt? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, der Geflüchteten über Jahre einen sicheren Aufenthaltsstatus, einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt und gleiche demokratische Rechte verwehrt? Warum sollten Menschen einen Staat „respektieren“, der Immobilienhaie schützt, wenn sie deren Wohnungen räumen? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, dessen Beamt:innen in der Regel als verlängerter Arm der Unterdrückung fungieren?

Es ist nichts „Überraschendes“ an solchen gelegentlichen Gewaltausbrüchen. Auch dass diese unter anderem in Berlin-Neukölln und Kreuzberg stattfanden, sollte niemanden verwundern – schließlich sind dies auch Zentren der Verdrängung der Armen. Im Grunde handelt es sich dabei um eine gewaltsame Äußerung von Wut und Frustration Marginalisierter, um einen, wenn auch blinden Ausbruch gesellschaftlicher Ohnmacht. Daher auch deren politisch unbestimmter Charakter, daher auch Angriffe nicht nur auf die Polizei, sondern auch auf Feuerwehren oder sogar einzelne Passant:innen. Sie sind Zeichen von Perspektivlosigkeit sowie einer systematischen rassistischen und damit verbundenen sozialen Marginalisierung eines Teils der Arbeiter:innenklasse und eines entstehenden Subproletariats. Der Hass auf „den Staat“, der selbst ihre Unterdrückung exekutiert und täglich befestigt, ist nicht verwunderlich, ja durchaus nachvollziehbar, auch wenn er politisch ohnmächtig in Erscheinung tritt.

Der Trick der rassistischen, konservativen und polizeilichen Zuschreibung besteht nun gerade darin, diese spezifischen, gewaltsamen Ausbrüche von Wut herzunehmen und als Ausdruck der Kriminalität und Asozialität „integrationsunwilligen“, „kulturfremden“, „islamisch“ und „patriarchal“ geprägten „Migrantenmilieus“ zuzuschreiben.

So wird eine direkte Linie zur Silvesternacht von Köln gezogen, so wird der Jahreswechsel herangezogen, um vorzugsweise jungen, männlichen Migranten Kriminalität zuzuschreiben.

Die Jahresstatistik spricht eine andere Sprache. Lt. einem Lagebericht des Innenministeriums wurden 2021 rund 88.600 Übergriffe auf Polizeibeamt:innen erfasst. „Von den bekannten Tätern seien 84 Prozent männlich und 70 Prozent deutsche Staatsbürger.“ (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-01/silvester-gewalt-jens-spahn) Von einem besonders hohen migrantischen Anteil an den Angriffen auf Polizist:innen kann also keine Rede sein.

Doch das kümmert nicht weiter. Schließlich geht es bei der aktuellen politischen Diskussion um die Silvesternacht nicht um Fakten, sondern um rassistische Stimmungsmache. Die Verschärfung bestehender Gesetze, die geradezu obligatorische Forderung nach rascherer und härterer Aburteilung der Täter:innen bildet dabei nur einen Teilaspekt.

Nicht minder wichtig ist es, den Verweis auf gesellschaftliche Ursachen der Ausschreitungen und auf den staatlichen Rassismus selbst zu diskreditieren. Beispielhaft dafür schlussfolgert ein Kommentar der FAZ:

„Der Gipfel der Relativierung ist erreicht, wenn nicht die Minderheit der Kriminellen, sondern ‚die Gesellschaft’ verantwortlich gemacht wird. Geht es um Migranten, soll das wohl heißen: Staat und Polizei sind selbst schuld, weil sie nicht genug Willkommenskultur gezeigt haben. Das eigentliche Übel beginnt aber in dem Augenblick, in dem politisch nicht wichtig genommen wird, was im Leben ganzer Stadtteile nicht wichtiger sein könnte. ( …  )

Kriminelle Jugendliche, die ‚ihren’ Kiez in Geiselhaft nehmen, rückt man weder mit Wattebäuschchen noch mit der Schweigespirale zu Leibe. Nichts feuert Respektlosigkeit in diesen Milieus mehr an als ein Opfer, das selbst keine Selbstachtung ausstrahlt. Selbstvertrauen, Durchsetzungsfähigkeit und Stärke zeigen Staat und Parteien aber viel zu wenig. Die Innen- ist in diesem Punkt ein Spiegel der Außenpolitik.“

Hier werden die Verhältnisse im Kiez noch einmal auf den Kopf gestellt, ganz so als würden Menschen, die sich als Billigjobber:innen oder Arbeitslose durchs Leben schlagen müssen, hierzulande mit „Wattebäuschchen“ angefasst. Dafür ereifert sich der FAZ-Autor schon über die Vorstellung, dass Staat und Polizei irgendwie für ihr Handeln, für eine rassistische Migrationspolitik und deren Umsetzung verantwortlich sein sollten. Die Schuldumkehr, die die FAZ beklagt, nimmt sie in Wirklichkeit selbst vor, indem in guter alter konservativer Manier gefordert wird, dass endlich Schluss sein müsse mit der Relativierung von Gewaltausbrüchen, die Migrant:innen und/oder Linksradikalen zugeschrieben werden.

Der Staat wird so zum „Opfer“, das endlich mehr „Selbstachtung“ an den Tag legen müsse, mehr Selbstvertrauen, Durchsetzungsvermögen, Stärke – mit anderen Worten mehr Willkür, und das nicht nur im Inland, sondern auch auf der ganzen Welt. Dort gibt es schließlich noch mehr „kriminelle Ausländer:innen“, die dem deutschen Imperialismus nicht den nötigen Respekt entgegenbringen.

Ohnmacht von Rot-Grün-Rot und das Böllerverbot

SPD und Grüne, aber im Grunde auch die Linkspartei stellen sich natürlich auch hinter „unsere Polizei“. Allzu offenen Rassismus der Marke CDU und Co. wollen sie aber auch nicht an den Tag legen. Daher folgen die üblichen Forderungen nach mehr Überwachung und verbesserter Ausrüstung der Polizei durch SPD und Grüne. Die Berliner Regierende Bürgermeisterin Giffey will außerdem auch einen „runden Tisch“ zur Kriminalitätsbekämpfung einberufen. Die Berliner Linkspartei hält sich mit total einseitiger Polizeilobhudelei etwas zurück.

Dafür setzen SPD, Grüne und Linkspartei umso euphorischer auf die Wunderwaffe „Böllerverbot“. Campact hat nach der „Nacht des Grauens“ auch einen Onlineappell für das Verbot gestartet.

Sicherlich lässt sich über Sinn und Unsinn von Feuerwerken und Böller streiten. Unbestreitbar gehören sie aber auch zu der Neujahrsfeier für breite Teile der Bevölkerung. Die Forderung nach einem Totalverbot trifft nicht nur diese Menschen und gängelt sie noch mehr. Sie zieht auch die Forderung nach Stärkung der polizeilichen Befugnisse und zur Vergrößerung des Personals zur Durchsetzung eines solchen Verbotes nach sich. Sie läuft also, ob gewollt oder nicht, auf eine Stärkung des Gewaltmonopols des bürgerlichen Staates hinaus.

Gegen unverantwortlichen und gefährlichen Umgang mit Feuerwerkskörpern und Böllern braucht es in Wirklichkeit keine Polizei – schließlich provoziert die Präsenz der sog. Sicherheitskräfte oft gerade jene Ausschreitungen, die sie angeblich verhindern soll. Statt der Polizei könnten von der Wohnbevölkerung selbst organisierte Selbstschutzgruppen, die von den verschiedenen Communities getragen werden, dafür sorgen, dass alle friedlich und ohne Polizei feiern können.

Der Ruf nach dem Böllerverbot stärkt hingegen die bürgerliche Polizei. Er erweist sich vor allem als völlig hilflos angesichts der rassistischen Hetze. Lahm fordern zwar Campact und Vertreter:innen von SPD, Grünen und Linkspartei ihre bürgerliche und offen rassistische Konkurrenz dazu auf, die Silvesterausschreitungen nicht zu rassistisch „aufzuladen“ oder zu „missbrauchen“. Doch dieser Appell erweist sich als wirkungslos, wenn die Ursache dieser ohnmächtigen Ausbrüche der Wut nicht thematisiert wird, wenn der Zusammenhang zwischen Zusammenstößen mit der Polizei, Rassismus, Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft und Perspektivlosigkeit der Jugend selbst nicht in den Blick genommen wird.

Dies ist jedoch für die reformistischen und linksbürgerlichen Parteien schlechthin unmöglich. Schließlich haben sie selbst jene Politik mitzuverantworten, die Millionen rassistisch diskriminiert, die die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in Deutschland auf 13 Millionen steigen ließ. Wer über Jahre der Immobilienlobby zuarbeitet, deren Enteignung bekämpft, den Billiglohnsektor ausweitet, hat auch keine Antworten, die Lage von Millionen in Armutsvierteln zu verbessern. Der ruft allenfalls nach dem Placebo Böllerverbot. Im Kampf gegen Rassismus, Armut und kapitalistische Ausbeutung brauchen wir keine Placeboparteien, wir brauchen Kampforgane und eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, so dass anstelle der Wut, der Verzweiflung der Kampf der Unterdrückten treten kann.




Ukraine: Zwei-Klassen-Migration

Karl-Heinz Hermann, Infomail 1180, 1. Juni 2022

Der Ukrainekrieg hat das weltweite Flüchtlingsproblem drastisch verschärft. Doch nicht nur die neuen Rekordzahlen an Geflüchteten empören, sondern auch ihre ungleiche Behandlung. Dabei müssen wir nicht nur an durch kriegerische Gewalt Vertriebene denken, sondern auch an durch Klimawandel und Armut Verdrängte. Was tun die Verantwortlichen in den Aufnahmeländern und warum ist das unzureichend?

Zahlen

100 Millionen Menschen sind weltweit vor gewaltsamen Konflikten geflohen, so viele wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen des UN-Flüchtlingshilfenetzwerks UNHCR. Hungerkatastrophen drohen, weil seit dem Krieg die Ukraine als Kornkammer für die Welternährung ausfällt. Hinzu vertreibt der Klimawandel Menschen aus ihren angestammten Regionen.

Durch den Krieg sind bereits acht Millionen innerhalb der Ukraine und mehr als sechs Millionen außer Landes vertrieben worden. Weitere Herde gewaltsamer Auseinandersetzungen stellen Äthiopien, Burkina Faso, Myanmar, Nigeria, Afghanistan und die Demokratische Republik Kongo (ehem. Zaire) dar. Zu den Zahlen des UNHCR gehören allein 53,2 Millionen Binnenflüchtlinge.

Somalia ist ein Beispiel, wo sich Krieg und Klimakrise paaren: anhaltende Dürre mit der Folge wachsender Armut gesellt sich hier mit einem de facto Bürgerkrieg der Regierung gegen die islamistische Terrormiliz Al-Shabaab.

„Unsere Stimmen sollen endlich gehört werden“

So äußerte sich ein Teilnehmer einer Demonstration am 14. Mai 2022 in Frankfurt (Oder) unter dem Motto „Fight Fortress Europe – Solidarität mit allen Geflüchteten an den EU-Außengrenzen“, organisiert von Seebrücke Jena und Potsdam sowie den Gruppen „No Border Assembly“ und „Borderline Europe“. Die Aktivist:innen bemängelten, dass nach Beginn des Ukrainekriegs plötzlich die seit 2001 geltende EU-Massenzustromrichtline aus dem Ärmel gezaubert wurde, aber nicht 2015 oder angesichts der unhaltbaren Zustände jüngst an der polnisch-belarussischen Grenze. Mit ihr entfallen viele Einschränkungen, die den Behördenhindernislauf durchs Asylverfahren normalerweise begleiten. Mit „Festung Europa“ sprachen sie nicht nur die EU- Außen-, sondern auch strukturelle Grenzen an, die beispielsweise das Recht, zu gehen und zu bleiben, nach Hautfarbe  unterschiedlich verteilten. Darunter fallen auch solche aus der Ukraine.

Thema Wohnen: Viele Asylsuchende und ausländerrechtlich einstweilen Geduldete sind manchmal über Jahre gezwungen, in Lagern zu leben. Hier erfolgen Eingangs- und Zimmerkontrollen, Übergriffe seitens des Wachpersonals und von außen. Für Frauen und queere Menschen gibt es keinen Schutz. In Brandenburg liegen vier Erstaufnahmezentren in ehemaligen Kasernen, schlecht an den Verkehr angebunden und weit ab vom Schuss.

82 % der „richtigen“ Geflüchteten aus der Ukraine sind hier dagegen privat untergebracht. Sozialministerin Nonnenmacher (Grüne) kündigte Unterstützung bis zu 7000 Euro Pauschale pro Wohnung an.

Thema Arbeit: Diese Personengruppe soll ab Tag 1 arbeiten dürfen. Viele Asylsuchende in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie sog. Geduldete unterliegen dagegen zum Teil über Jahre einem Beschäftigungsverbot. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fristen sie ein Leben unterhalb des Existenzminimums, während Geflohene mit ukrainischem Pass ab Juni reguläre Sozialgelder beziehen können sollen. Selbst Geduldete dürfen also weder ihre Wohnung frei wählen oder regulär mieten noch sich Arbeit suchen.

Trostpflaster gegen Überausbeutung

Doch auch Ukrainer:innen mit „richtiger“ prowestlicher Gesinnung und Hautfarbe unterliegen rassistischer Segregation auf dem Arbeitsmarkt. Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping warnt Geflüchtete vor dem Krieg vor dubiosen Stellenanzeigen. Arbeiten ohne Pass, Zwang in die Scheinselbstständigkeit, Schuften ohne offiziellen Vertrag: Das ist für viele Arbeitsalltag. So hat Fleischganove Tönnies in Auffanglagern an der polnisch-ukrainischen Grenze Anwerbungsversuche gestartet. Die Reinigungsbranche und subunternehmerische Paketzustelldienste erweisen sich als Horte prekärer Beschäftigung. Europol und Zoll warnen lt. Philipp Schwertmann, Fachbereichsleiter des Berliner Beratungszentrums für Migration und Gute Arbeit (Bema), vor Menschenhandel und Arbeitsausbeutung. Marxist:innen würden es Überausbeutung nennen, denn schließlich wird jede, auch die reguläre Form von Lohnarbeit (Normalarbeitsverhältnis) ausgebeutet.

Mehrwert ist kein Randprodukt des Arbeitsmarkts, sondern sein Kern. Schwertmann weist auch zu Recht auf das relativ bessere Schicksal von Flüchtigen hin, die unter die Massenzustromrichtline fallen (s. o.), im Unterschied zu denen, die z. B. 2015 aus Syrien oder Afghanistan kamen. Anzubieten hat er Aufklärung und Beratung, v. a. durch seine Behörde – hoffentlich in den jeweiligen Landessprachen der Klient:innen, denn mit ausländerrechtlichem Beamtendeutsch kommen selbst deutsche Jurist:innen oft nicht klar.

Allerdings tangiert das nicht das Problem der Berufsanerkennung, was zur Entscheidung drei bsi vier Monate braucht – mit ungewissem Ausgang, versteht sich. Gen. Sozialsenatorin schiebt denn auch die Verantwortung für die Lösung des Problems, das sie niedlich auf Staus in den Anerkennungsstellen verkürzt, gleich auf den Bund, genauer die Bildungsminister:innenkonferenz ab. So sind sie, unsere Beamt:innenseelen! Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsere Hände wieder rein!

Herz für Migration – oder Scherz?

In der Aktuellen Stunde des Berliner Abgeordnetenhauses am 19. Mai 2022 kam u. a. heraus, dass seit Beginn des Ukrainekriegs 250.000 Menschen in der Hauptstadt angekommen waren und zwischenzeitlich untergebracht werden mussten. Ohne den uneigennützigen Einsatz vieler ehrenamtlicher Helfer:innen wäre die Bewältigung dieses Zustroms nicht möglich gewesen. Ihnen sei gedankt.

Was gedenkt man, für die 800.000 Personen ohne deutschen Pass, mehr als ein Fünftel der Hauptstadtbewohner:innen, zu tun? Man will die Einbürgerungsquote von jährlich 6.000 auf 20.000 erhöhen, was das Verfahren von 133 auf 40 Jahre verkürzen würde. Trotzdem werden viele ihren Pass erst posthum erhalten können. Die neue Zentralstelle, die das Verfahren so rasant beschleunigen, mit 200 Stellen besetzt werden und rund 10 Millionen Euro kosten soll, wird wohl erst in zwei Jahren tätig werden können. Das sei ein zäher Prozess, wurde geäußert. Aber das ist in unserem Beamt:innenstaat ja nahezu alles. So wundert es nicht, dass ca. 14.200 Menschen teils seit Jahrzehnten im Rahmen sogenannter Kettenduldungen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in der Spreemetropole verbringen dürfen – ein „zäher Prozess“ eben!

Volle demokratische Rechte für alle Geflüchteten erleichtern ihre Integration in die Arbeiter:innenbewegung

Wir treten für offene Grenzen, volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben wollen, und Abschaffung aller Ausländersondergesetzgebung ein, weil die Legalisierung aller Migrant:innen die vom imperialistischen System befeuerte Spaltung in einheimische und ausländische Arbeitskräfte zu überwinden erleichtert. Damit kann ein erster Schritt gemäß der proletarischen Losung „Arbeiter:innen aller Länder, vereinigt euch!“ zurückgelegt werden. Dies erleichtert die Integration in Gewerkschaften und andere Arbeiter:innenorganisationen, die Unterschiede in Herkunft, Nationalität, Geburtsland, Geschlecht, Religions- und Parteizugehörigkeit sowie sexueller Orientierung ignorieren müssen, wollen sie für die ökonomischen und politischen Interessen so wirksam wie möglich kämpfen, die Konkurrenz innerhalb der Klasse so weit wie möglich unterm kapitalistischen System minimieren. Dazu gehören auch kostenlose Sprachkurse, durch progressive Besteuerung bezahlte Dolmetscher:innen, Anstellung in den gelernten Berufen. Ferner sollen die Auswanderungsländer eine nach Dauer der Auswanderung ins „Exil“ anteilig bemessene Rückerstattung ihrer Ausbildungskosten erhalten, wie sie für die Aufnahmeländer entstanden wären, bezahlt aus Unternehmensbesteuerung.

Nur ein sozialistisches Weltsystem kann jedoch nach und nach die Unterschiede in Lebensstandards mittels gleichmäßiger Verteilung von Industrie und Technik über den gesamte Erdball nivellieren. Wiederum ist es der Imperialismus, der nämlich mithilfe des Finanzkapitals die vom europäischen Kolonialismus ausgeraubten und von europäischen Siedler:innen unterdrückten, wenn nicht ausgelöschten Völker täglich weiter bestiehlt. Das Wertgesetz wirkt ja bekanntlich auf dem Weltmarkt ungleichmäßig und ungleichzeitig, degradiert die nationale Durchschnittsarbeit der Halbkolonien immer weiter im Verhältnis zu den imperialistischen Metropolen. Diese Schere zu schließen, einen wirklich weltweiten Entwicklungs-, Reparations- und Wiedergutmachungsplan zur Herstellung gleicher Lebensverhältnisse umzusetzen, ist eine der vordringlichsten Aufgaben jedes zukünftigen Arbeiter:innenstaats und erhält bereits heute einen vorrangigen Platz im Programm revolutionär-kommunistischer Organisationen, die sich der Herkulesaufgabe des Aufbaus einer neuen, revolutionären Fünften Internationale verschrieben haben.




Mannheim: Tödliche Polizeigewalt

Leo Drais, Infomail 1187, 7. Mai 2022

Am 2. Mai wird ein 47-jähriger Mann von der Polizei am Mannheimer Marktplatz kontrolliert. Er ist in einem psychisch labilen Zustand, seit zwanzig Jahren ist er wegen Angstzuständen in psychiatrischer Behandlung, hat migrantische Wurzeln. Mitarbeiter:innen einer psychiatrischen Klinik hatten die Polizei alarmiert und angegeben, dass der Patient womöglich Hilfe brauche. Die Polizei findet ihn und wendet Gewalt gegen den Mann an, schlägt ihm auf den Kopf. Er bricht zusammen und stirbt im Krankenhaus. An der Leiche des Verstorbenen wurden Spuren stumpfer Gewalt festgestellt.

Hunderte demonstrieren spontan in Solidarität mit dem Opfer. „Mord durch Polizei“ schreiben Demonstrant:innen mit Keide auf den Gehweg, wo der Mann tödlich verletzt wurde.

Während Politik und Polizei nun meinen, sie seien geschockt, weigern sie sich, von Mord oder Todschlag zu sprechen. Körperverletzung im Amt mit Todesfolge, heißt es – reine Verharmlosung! Baden-Württembergs Innenminister Strobl warnt gar vor „pauschler“ Kritik und „Hetze“ gegenüber den Tätern.

Nur die Eisbergspitze

Polizeigewalt ist kein Einzelfall und sie erfolgt täglich. Es ist eher Glück, dass durch sie nicht viel mehr Menschen in Deutschland sterben. Opfer werden besonders oft die sowieso am meisten Erniedrigten: wohnungslose Menschen, von Rassismus Betroffene wie Geflüchtete, sexistisch Unterdrückte, Arme, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke – wie, als würde ihre gesellschaftliche Schwäche ein extra hartes Zuschlagen provozieren. Die Uniform sorgt dann schon dafür, straffrei davonzukommen.

In Baden-Württemberg gab es in den letzten beiden Jahren laut SWR 1.039 Anzeigen wegen Polizeigewalt, ganze 6 führten zu Verurteilungen oder Disziplinarmaßnahmen. Womöglich wird es aufgrund des öffentlichen Drucks auch in Mannheim dazu kommen. Die Demos in Antwort auf den Mord und gegen Polizeigewalt waren zumindest ein guter Anfang, um auf den Staat Druck auszuüben.

Aber selbst wenn die Gewalttäter:innen verurteilt werden, ändert das gar nicht an der allgemeinen Polizeigewalt. Denn die hat System und ist politisch gewollt. Es gibt keinen bürgerlichen Staat, keinen Kapitalismus ohne den Knüppel, der beide verteidigt. Dass er sich dabei oft gegen die Schwächsten richtet, liegt nicht nur daran, dass sie sich meistens juristisch nicht zu wehren wissen, sondern passiert auch deshalb, weil sie die Ersten sind, die vom Kapitalismus ausgespuckt werden und in Konflikt mit ihm und seinen Gesetzen geraten.

Und schließlich zieht die Polizei auch einfach überdurchschnittlich stark Charaktere an, die gerne knüppeln, die sich unter Gehorsam wohlfühlen, Gehorsam verlangen und darin ihre eigene Größe suchen. Auch das ist eigentlich der Auswuchs einer Gesellschaft, die die tägliche, im Grunde mörderische Konkurrenz zelebriert.

Abolish the Police!

Dass die Polizei nun gegen sich selbst ermittelt, ist wie bei allen anderen Fällen von Polizeigewalt ein Joke. Wir sollten darin kein Vertrauen haben, sondern eine unabhängige Ermittlung und Verurteilung der Täter:innen fordern, nicht durch den Staat, sondern durch gewählte Vertreter:innen der Unterdrückten und der Arbeiter:innenbewegung. Nur so kann den Betroffenen und Opfern wirklich Gerechtigkeit zuteil werden.

Ihnen zu gedenken, heißt, die Ursachen von Polizeigewalt zu bekämpfen, zu zerschlagen, abzuschaffen: den kapitalistischen Staat und die Polizei, die ihn schützt.




Gerechtigkeit für Zohra Mohammad Gul!

Offener Brief der Geschwister der Ermordeten, Infomail 1187, 4. Mai 2022

Am 29. April wurde Zohra Mohammad Gul in Berlin Pankow brutal ermordet. Die sechsfache Mutter wurde von ihrem Ex-Partner auf offener Straße und auf dem Boden liegend mit einem Messer hingerichtet. Die Berichterstattung sprach von einem „Familiendrama“. Es wurden der afghanische Hintergrund und der Fluchthintergrund von Ermordeter und Mörder in den Vordergrund gestellt.

Das Wort Femizid war kaum zu lesen. Von systematischer Gewalt an Frauen, von fehlenden Schutzeinrichtungen, von ausbleibendem Schutz durch die Polizei und von der Tatsache, dass eine sechsfache und alleinerziehende Mutter in einem Flüchtlingslager leben musste, welches keine Privatsphäre und unzureichenden Schutz bietet, kein Wort. Erst eine Kundgebung in Erinnerung an Zohra am Montag, den 2. Mai, die von sozialistischen Frauen organisiert wurde, sollte dies ändern.

Zu der Trauerversammlung erschienen auch die Geschwister der Ermordeten. Sie erzählten von ihrem Schmerz, ihren systematischen Problemen und auch dem Versagen der Polizei. Sie haben nun einen Brief verfasst, den wir ungekürzt auf Deutsch und Farsi veröffentlichen.

Wir unterstützen die in dem Brief erhobenen Forderungen uneingeschränkt. In den kommenden Wochen sind weitere Proteste für ihre Anliegen und in Gedenken an den verhinderbaren Mord an Zohra G. geplant. Weitere Informationen werden in Kürze folgen.

Offener Brief der Geschwister der Ermordeten

Am 29.04.2022 wurde unsere geliebte Schwester in Berlin ermordet. Sie hatte es nach Jahren häuslicher Unterdrückung gewagt, das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben wahrzunehmen. Zum Mord an ihr kam es, nachdem sie und ihre Umgebung die Behörden in Berlin über ihre Bedrohung durch den Mann informiert hatten, der sich als ihr Eigentümer sieht. Unserer Schwester wurde der Schutz verwehrt, der ihr das Leben hätte retten können, und der ihren Kindern die traumatische Erfahrung des Verlusts erspart hätte. Sie war nicht das erste Opfer einer Schutzlosigkeit, die man nicht anders erklären kann als mit der zynischen Geringschätzung des Lebens von Frauen mit muslimischem Migrationshintergrund. Offenbar gibt es in Deutschland zweierlei Rechtsnorm: die Norm mit den durch Grundgesetz jeder Person zustehenden Rechten, und die relativierte Norm, die auf die vermeintliche Parallelgesellschaft der Migrant:innen angewandt wird.

Immer wieder spricht die deutsche Polizei nach Femiziden von „Beziehungsdramen“. Diese zynische Verharmlosung von Frauenmorden muss aufhören. Damit unsere Schwester nicht umsonst gestorben ist, muss die deutsche Politik für eine grundlegend geänderte Praxis der Polizei bei der Vorbeugung von Femiziden sorgen. Die Alarmzeichen müssen von den deutschen Behörden ernstgenommen werden.

Die Würde unserer Schwester gebietet, dass die Behörden hier vor Ort ihre Versäumnisse transparent aufarbeiten. Unterlassene Hilfeleistung muss auch bei Amtsträgern geahndet werden. Wir fordern von den Berliner Behörden eine Erklärung der Umstände für das Ignorieren der Warnungen vor der Gefahr, die unserer Schwester drohte und auf bitterste Weise wahr wurde. Wir fordern, dass die Berliner Behörden alles tun, um das Leid der Hinterbliebenen zu lindern.

Wir klagen den Mörder an, und mit ihm die Menschenverachtung, die jedem Recht eines Mannes zum Umgang mit einer Frau als seinem Eigentum zugrundeliegt. Wir fordern die Würdigung unserer Schwester und ihres Leids, auch wenn das Geschehene damit nicht ungeschehen werden kann. Unsere Schwester wurde Opfer nicht nur der toxischen Frauenverachtung seitens ihres Mörders, sondern auch der Gleichgültigkeit, die schutzbedürftigen Migrantinnen ins Gesicht schlägt. Wir fordern die deutschen Behörden auf, endlich ihrer Verantwortung für das Leben von bedrohten Migrantinnen gerecht zu werden und jede Warnung so zu nehmen wie es sich gehört – todernst. Wenn eine Frau Schutz sucht, darf niemand ihre Glaubwürdigkeit infrage stellen. Keine Frau sucht Schutz außerhalb ihrer häuslichen Umgebung, wenn sie nicht bedroht wird. Keine Frau gibt ein erträgliches Leben auf. Wenn eine Frau den Schutz der Gesellschaft sucht, dann ist sie hochgradig gefährdet.

Die Berliner Behörden müssen ausnahmslos allen Frauen, die Schutz suchen, diesen in Einrichtungen gewähren, in denen die Frauen willkommen sind, auf Dauer und so lange sie diesen Schutz brauchen. Die Politik muss die Mittel für Frauenschutzeinrichtungen erheblich anheben, damit keine Frau schutzlos bleibt. Angekündigte Femizide sind ein Schandfleck für ein reiches Land. Nur wenn ernsthaft dagegen gehandelt wird, nehmen wir das Mitgefühl der Berliner Politiker:innen ernst.

Offener Brief in Farsi

روز ۲۹ آوریل ۲۰۲۲ خواهر محبوب ما در برلین به قتل رسید. او پس از سالها تحمل آزار و خشونت خانگی، به خود جرأت داده بود که از حق خود برای داشتن یک زندگی مطابق میل خود استفاده کند. قتل او پس از این اتفاق افتاد که او و اطرافیانش به مقامات برلین اطلاع داده بودند که خواهر ما از سوی مردی که خود را صاحب او می داند مورد تهدید است. خواهر ما را از حمایتی که می توانست جان او را نجات دهد و فرزندانش را از رنج از دست دادن مادر مصون بدارد، محروم کردند. خواهر ما نخستین قربانی بی پناهی نبود. این بی پناهی را طوری دیگر از این نمی توان توضیح داد که در آلمان جان زنان مهاجر مسلمان کم ارزش تلقی می شود. به نظر می رسد در آلمان دو نوع معیار حق وجود دارد: یکی معیار مبتنی بر حقوق که طبق قانون اساسی آلمان هر فرد باید از آن برخوردار باشد،‌ و دیگری معیاری که شامل جامعه به اصطلاح موازی مهاجران می شود.

پلیس آلمان به طور مکرر پس از قتل زنان از نوعی تراژدی در روابط زن و مرد سخن می گوید. باید به این گفتمان غیرانسانی که قتل را امری پیش پاافتاده نشان می دهد، پایان داد. برای آنکه مرگ خواهر ما بی عقوبت نماند،سیاستمداران در آلمان باید کاری کنند که رفتار پلیس در جلوگیری از قتل زنان اساسا تغییر کند. علائم هشدار دهنده باید از سوی مقامات آلمان جدی گرفته شوند.

کرامت خواهر ما ایجاب می کند که ادارات دولتی آلمان به طور شفاف علل کوتاهی خود را بررسی کنند. کوتاهی در کمک رسانی باید مجازات شود ولو عوامل آن در میان مقامات باشند. ما از مقامات برلین خواهان توضیح علل نادیده گرفتن خطری هستیم که در مورد خواهر ما به تلخ ترین وجه تحقق یافت. ما می خواهیم ادارات برلین هر چه در توان دارند برای تخفیف رنج بازماندگان انجام دهند.

ما قاتل را محکم می کنیم و همراه با او، فکری غیر انسانی را که به مرد اجازه می دهد با زن به مثابه مایملک خود رفتار کند. ما خواهان آنیم که کرامت خواهر ما لااقل پی از مرگ او احیا شود، هر چند این امر دیگر فایده ای برای او ندارد. خواهر ما تنها قربانی زن ستیزی زهرآگین قاتلش نشد،‌ در مرگ او بی تفاوتی در مورد سرنوشت مهاجران نیز موثر بود. ما از مقامات آلمان می خواهیم پس از مدتها بالاخره به مسئولیتشان در حفظ جان زنان مهاجر مورد تهدید عمل کنند و هر هشداری را همان قدر جدی بگیرند که هست. وقتی یک زن پناه می جوید، هیچ کس حق ندارد در صحت سخن او تردید کند. هیچ زنی که خطر تهدیدش نکند به دنبال پناهگاهی خارج از خانه خود نمی رود. هیچ زنی اگر به شدت در معرض خطر نباشد، خواهان حمایت جامعه نمی شود.

ادارات برلین باید بدون استثنا به زنانی که پناه می جویند در اماکن مخصوص امکان سکونت بدهند، تا هر زمان که این زنان نیازمند پناه باشند، بدون محدویت زمانی. سیاستمداران باید منابع مالی اختصاص داده شده به پناهگاه های زنان را به طور قابل توجه افزایش دهند. قتل های قابل پیش بینی زنان، لکه ننگی برای یک کشور ثروتمند مانند آلمان است. ما فقط زمانی همدردی ابرازشده از سوی سیاستمداران برلین را جدی می گیریم که در این مورد جدا اقدام کنند




Antirassismus ist Antikapitalismus!

Rede von Arbeiter:innenmacht Stuttgart beim internationalen Aktionstag gegen Rassismus in Stuttgart am 19. März, Infomail 1182, 21. März 2022

Es ist gerade 5 Wochen her, da wurde an der polnisch-belarussischen Grenze einigen hundert Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan, aus Ländern, die der freie, demokratische Westen mit Krieg überzogen und zerstört verlassen hat, der Zugang in die EU unter Missachtung der Genfer Flüchtlingskonvention gewaltsam verwehrt.

Familien mit schwangeren Frauen, mit Kindern wurden bei eisiger Kälte mit verbotenen „Push Backs“ in die Wälder von Belarus zurückgetrieben und einige dem Erfrierungstod überlassen, ohne dass eine/r der Vertreter:innen der „höheren demokratischen Werte“ in Politik und öffentlichen Medien ein schlechtes Gewissen bekam. Im Gegenteil! Erstmals waren sich alle Regierungsspitzen der EU einig: Es dürfen keine falsche Signale an Flüchtlinge gesendet werden.

Jetzt, nach der Okkupation der Ukraine durch die russische Armee sehen wir scheinbar das Gegenteil: eine Welle der Hilfsbereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen. Ukrainische Kriegsflüchtlinge sollten sich sogar frei, ohne Registrierung, Aufenthaltserlaubnis und Ärger mit Ausländerbehörden und BAMF in Deutschland und der EU für 6 Monate aufhalten können.

Doch mittlerweile melden sich die alten Reflexe des deutschen und europäischen Nationalismus (z. B. Friedrich Merz), der es für unerträglich hält, fremde Menschen ohne Erlaubnis, Kontrolle und Registrierung in seinem Staatsgebiet zu dulden.

Waren es 2015 die jungen, allein reisenden Männer mit Hormonstau, die als Gefahr für deutsche Frauen ausgemacht wurden, (wir erinnern uns an die Kölner Domplatte Silvester 2015), sind es heute die allein reisenden jungen ukrainischen Frauen, denen unterstellt wird, zwecks Unterhaltssicherung die Bordelle bevölkern zu wollen.

Der bürgerliche Staat, auch der noch so demokratische, ist nicht nur unfähig, Rassismus, Nationalismus, Rechtspopulismus und Faschismus zu bekämpfen, im Gegenteil, er  reproduziert permanent diese Geiseln der Gesellschaft.

Schon in ihren Verfassungen stellen die Staaten zwar alle Menschen rechtlich gleich, das gilt aber nur für die eigenen Staatsbürger:innen. Schon im zweiten Paragrafen unterscheiden sie zwischen In- und Ausländer:innen.

Ausländer:innen benötigen einen Aufenthaltstitel. Alleine davon gibt es mehr als ein Dutzend, von der Registrierung als Asylbewerber:in bis zur Niederlassungserlaubnis.

Ausländer:innen, wenn sie nicht aus der EU kommen, haben erst einmal kein Recht zu arbeiten und benötigen eine Arbeitserlaubnis, zu deren Erteilung penibel nachgewiesen werden muss, warum diese Tätigkeit nicht auch ein/e Inländer:in ausüben kann.

Sie haben kein Wahlrecht, sind also weitgehend vom sozialen Leben ausgeschlossen.

Das ist nur die formal-rechtliche Wurzel des Rassismus im bürgerlichen Staat.

Dieser muss sich permanent in der Konkurrenz gegen alle anderen Staaten bewähren. Daher muss er sich abgrenzen gegen sie. Dazu dienen das „ … Deutschland, Deutschland über alles“, das „Vive la France“ und das „God save the Queen“ genauso wie die Olympischen Spiele, Fußballweltmeisterschaften usw. Es feiert sich jeweils der Nationalstaat.

Daneben produziert die kapitalistische Gesellschaft, wie wir in den letzten 30 Jahren zunehmend sehen, eine ökonomische Weltkrise nach der anderen. Diese Krisen werden in einem scharfen Kampf um Preise und Weltmarktanteile geführt. Eine Rationalisierungswelle jagt die andere. Arbeitsplätze werden zu hunderttausenden abgebaut. Familienunternehmen sind der Konkurrenz nicht mehr gewachsen und machen Pleite. Kleine Konzerne werden von großen geschluckt.

Haben in den 1950er bis 1980er Jahren die Kaufhäuser schon einen Großteil der Klein- und Familiengeschäfte in den Ruin getrieben, so werden sie heute selber durch globale Giganten wie Amazon ruiniert.

Das heißt, die Mittelkassen stehen vor dem Bankrott und bilden die neue Basis für rechtspopulistische, antiglobalistische und  Anti-EU-Parteien und zersetzen die alten Volksparteien.

Damit löst sich auch das Fundament des demokratischen Parlamentarismus auf, da Parteien immer weniger in der Lage sind, die Interessen aller Schichten und Klassen der Gesellschaft zu vertreten.

Die kapitalistische Gesellschaft produziert zudem immer mehr Waren mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft und ruiniert so durch schwindende Kaufkraft der Menschen den profitablen Verkauf ihrer Waren.

Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gibt es keine Lösung für diesen systemeigenen Widerspruch.

Nur eine Gesellschaft, die ohne nationalistische Konkurrenz und Profitwirtschaft, ohne Unterscheidung der Menschen nach Rassen, Nationalität, Kultur, Herkunft und Bildung die Probleme der Menschheit global angeht, ist in der Lage, die großen Fragen der Menschheit wie Krieg, Hunger, Massenelend, Zerstörung der Lebensgrundlagen und die Gleichstellung aller Menschen und Geschlechter zu lösen.

Das kann nur in einer freien, demokratischen, sozialistischen Gesellschaft unter der Verstaatlichung der großen Produktionsmittel erreicht werden.

Nur wenn es der Linken gelingt, diese Perspektive in die Bevölkerung und die abhängig Beschäftigten zu tragen, kann dem kleingeistigen Rassismus, Rechtspopulismus und Faschismus der Boden entzogen werden.