Ein Jahr nach Hanau: kein Vergeben, kein Vergessen!

Jonathan Frühling, Infomail 1139, 19. März 2021

In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 erschoss in Hanau ein faschistischer Attentäter neun Menschen, weitere wurden schwer verletzt. Dabei nahm der Rassist Tobias Rathjen gezielt MigrantInnen ins Visier. Nach den Anschlägen flüchtete er nach Hause, tötete seine Mutter und nahm sich selbst das Leben.

Rechtsruck und faschistischer Terror

Der Attentäter von Hanau war aller Wahrscheinlichkeit nach in einschlägigen Incel-Foren unterwegs, wo sich Männer austauschen, radikalisieren und gegenseitig zu (terroristischen) Gewalttaten anstacheln. (Incel: Abkürzung für „involuntary celibate“; „unfreiwilliges Zölibat“) Tiefer Hass auf Frauen, eliminatorischer Rassismus und wahnhafte Verschwörungstheorien, angetrieben von tiefem Narzissmus, waren Teil von Rathjens menschenfeindlicher Ideologie, die er vor der Tat im Internet ähnlich anderen Rechtsterroristen wie Breivik (Norwegen), Balliet (Halle a. d. Saale) oder Tarrant (Christchurch/Neuseeland) auslebte und propagierte.

Die etablierte Politik hatte natürlich sofort das Märchen vom psychisch kranken Einzeltäter bemüht. Ein verwahrloster und dissozialer Mann, der durch Frust auf die schiefe Bahn geraten und dann auf eigene Rechnung aktiv geworden sei. Dieser Ansatz greift aber viel zu kurz.

Das Massaker fand nicht unabhängig von der Gesellschaft im luftleeren Raum statt, sondern ist Teil eines nationalen und internationalen Rechtsrucks, der von faschistischen bis rechtspopulistischen Parteien und Organisationen, aber auch von Parteien der sogenannten „Mitte“ aktiv befördert wird. Dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, kriminelle AusländerInnen abzuschieben seien, Warnungen vor deutschem „Identitätsverlust“, all das wird auch immer wieder vom bürgerlichen Mainstream von Union über FDP bis Grüne vertreten. Dass die Migration kontrolliert werden müsse und die Geflüchteten nicht noch einmal in Massen nach Europa kommen dürften – dem widersprechen auch SPD, Gewerkschaftsführungen, ja selbst bedeutende Teile der Linkspartei nicht.

Antisemitismus feiert derzeit durch die CoronaleugnerInnen ein unheimliches Comeback. Dass geheime Mächte unsere Welt steuern und es einen Überlegenheitsanspruch einer sogenannten „weißen Rasse“ gibt, das sind nicht nur die Vorstellungen eines psychisch kranken Terroristen. Sie bilden auch das ideologische Futter einer neuen rechten Massenbewegung, die sich aus weiten Teilen des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten zusammensetzt, die, wirtschaftlich zunehmend entgleist und individualisiert, anfällig werden für Verschwörungstheorien, Rassismus und den Glauben an eine höhere Volksidentität.

Was tun?

Auf die Polizei können wir uns im Kampf gegen den Rechtsruck nicht verlassen. Das zeigt gerade der Anschlag von Hanau. Obwohl sie mehrmals gerufen wurde, kam der Notruf nicht durch. Auch andere Vorwürfe wurden ihr gegenüber laut. Zudem hatte der Täter bereits Ende 2019 einen Brief an die Hanauer Staatsanwaltschaft geschrieben, in dem er seine rechtsextremen Ansichten offenlegte. Seinen Waffenschein durfte er trotzdem behalten.

Außerdem ist die Polizei mit der Umsetzung der rassistischen Regierungspolitik betraut, setzt Abschiebungen, „racial profiling“ und das Abriegeln der Außengrenzen um. Zahlreiche FaschistInnen sind in der Polizei, wie das Auffliegen diverser rechter Netzwerke hier beweist. Folglich ist das Gerede von Einzelfällen genauso lächerlich wie gegenüber den Attentätern von Halle und Hanau.

Die Hinterbliebenen und Angehörigen der Opfer vom 19. Februar fordern Aufklärung, Konsequenzen und Gerechtigkeit, doch diese werden von Staat und Regierung wohl kaum kommen. Die Frage des Selbstschutzes und der Aufklärung gegen rechten Terror und Drangsalierung durch Polizei und Staat wird deshalb gerade seit Hanau vermehrt durch die nicht-weiße Community aufgeworfen. Wir halten dies für einen richtigen Schritt, aus dem dauerhafte antirassistische und antifaschistische Selbstverteidigungsstrukturen weiter entwickelt werden sollten.

Faschismus und Rassismus können geschlagen werden. Aber dazu braucht es einen politischen Kurswechsel in der Linken und ArbeiterInnenbewegung. Dass der Rechtspopulismus zu einer Massenkraft geworden ist und in seinem Schlepptau auch faschistische Organisationen und Terrorismus verstärkt ihr Unwesen treiben, resultiert auch daher, dass sich die reformistische ArbeiterInnenbewegung als bessere Systemverwalterin zu profilieren versucht. In Wirklichkeit frustriert sie mit ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit nicht nur die eigene Basis, sie stößt auch jene Lohnabhängigen, die sie in den letzten Jahren verloren hat, weiter ab. GewerkschafterInnen wählten überdurchschnittlich die AfD. Wir setzen dem die Aktionseinheit der ArbeiterInnenbewegung, von SPD, der Linkspartei, der Gewerkschaften und der MigrantInnen gegen rechten Terror, Populismus und Rechtsruck, verbunden mit einem Kampf gegen die Auswirkungen der aktuellen Krise, für bessere Gesundheitsversorgung, Aufteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden entgegen!

Wir rufen alle AntifaschistInnen auf, sich an den Gedenkkundgebungen zu beteiligen, um den Angehörigen unser Beileid und unsere Anteilnahme zu zeigen. Aber die Teilnahme muss auch eine Machtdemonstration von linken Kräften gegen die rechte Bedrohung beinhalten. Die große Anzahl an angemeldeten Demos zeigt, dass das gelingen kann. Lasst uns unsere Wut, Trauer, Zorn und Solidarität auf die Straße tragen!

Liste der Kundgebungen und Demos in Deutschland und Österreich




Corona-Demonstrationen in Wien: Faschistische Aufmärsche oder harmlose Verwirrte?

Alex Zora, Infomail 1137, 4. Februar 2021

In den letzten Wochen hat Österreich einen Aufschwung in der Mobilisierung der Corona-SkeptikerInnen erlebt. Bei der bisher dahin größten Mobilisierung am 16. Jänner waren in Wien vermutlich mehr als 10.000 Menschen auf der Straße. Auch Ende Jänner protestierten trotz behördlicher Untersagung dort vermutlich mehr als 10.000 Menschen.

Wir betonen seit fast einem Jahr die Unfähigkeit bzw. den Unwillen der schwarz-grünen Bundesregierung, das Virus adäquat zu bekämpfen, und ihre Strategie, nur die wirtschaftlichen Interessen ausreichend gut zu bedienen. Auch der Anlass der Demonstrationen ist die Pandemie-Politik der Regierung: „Kurz muss weg!“ ist einer der Hauptslogans der Bewegung. Lässt sich deshalb irgendwie daran positiv an anknüpfen?

Rechte Führung

Seit Beginn der corona-skeptischen Mobilisierungen im Mai waren Rechte und FaschistInnen beteiligt. Die Identitären traten schon im Mai mit bekannten Gesichtern auf. Die FPÖ organisierte bald darauf eigene Kundgebungen, die aber nicht wirklich die gewünschte Dynamik auslösen konnten, so dass sich die FPÖ die Führung der Bewegung aneignen hätte können. Auch verschiedene Figuren aus der neonazistischen Szene waren schon früh auf den Demonstrationen im Frühling vertreten, z. B. aus dem Umfeld des verurteilten Neonazis Gottfried Küssel. Doch anfangs war die Bewegung vor allem von der „überparteilichen“ „Initiative für evidenzbasierte Corona-Information“ (ICI) geprägt, die von sich sagte: „Wir sind nicht rechts. Wir sind nicht links. Wir sind wütend!“ Richtig Fahrt nahm die Bewegung dann aber erst mit der zweiten Welle und den viel zu späten Anti-Pandemie-Maßnahmen auf. Was der FPÖ nicht gelungen war, wurde nun deutlich diffuser von unterschiedlichen Einzelpersonen und Netzwerken – vor allem über den Messenger-Dienst Telegram – organisiert. An Stelle von Organisationen wie der ICI oder auch der FPÖ sind mittlerweile weniger durchsichtige Zusammenhänge getreten.

Nichtsdestotrotz sind die führenden OrganisatorInnen weiterhin für ihre klar rechte Gesinnung bekannt. Jennifer Klauninger zum Beispiel, die zur komplett maskenverweigernden Hardliner-Fraktion gehört und durch das öffentliche Zerreißen einer Regenbogenfahne mediale Aufmerksamkeit bekam, organisierte schon 2015/16 rassistische Mobilisierungen an der österreichisch-slowenischen Grenze gegen die Aufnahme von Geflüchteten. Sie gründete im Zuge dessen die faschistische „Partei des Volkes“ mit. Kurzzeitig war sie auch Parteimitglied der FPÖ. Mittlerweile schwadroniert sie davon, dass die Elite – in ihrer antisemitischen Logik werden namentlich Rothschild und Soros genannt – das „überlegene weiße Volk“ am liebsten „ausrotten“ möchte.

Nach den Ereignissen am Wochenende 30./31. Jänner dürfte sich aber innerhalb der Bewegung Martin Rutter, mit dem Klauninger seit einiger Zeit im Zwist liegt, durchgesetzt haben. Als ehemaliger Landtagsabgeordneter für das Team Stronach wurde er wegen seines Auftritts beim sogenannten Ulrichbergtreffen – von SS-Traditionsvereinen und anderen rechts bis rechtsaußen stehenden Traditionsverbänden – aus der Partei ausgeschlossen. Daraufhin schloss er sich dem BZÖ (Bund Zukunft Österreich) in Kärnten an. Neben einem offenen Rassismus gegenüber MigrantInnen sind bei ihm auch antisemitische Verschwörungstheorien über George Soros und die „GlobalistInnen“ an der Tagesordnung. Außerdem repräsentiert er einen klar christlichen Flügel in der Bewegung.

Faschistische Bewegung?

Die Führung der Bewegung ist also zwischen rechter Esoterikszene, der FPÖ und verrückten VerschwörungstheoretikerInnen angesiedelt. Auch gibt es viele Ähnlichkeiten mit der Trump-Bewegung auf der Straße, in der sich QAnon-AnhängerInnen, Trump-Fans und faschistische Gruppierungen vermischen. Doch im Gegensatz zur Bewegung in den USA ist in Österreich die rechte ideologische Durchdringung noch weniger weit fortgeschritten. Von den zehntausenden Menschen, die auf der Straße waren, ist vermutlich nur eine Minderheit ideologisch klar rechts eingestellt. Für viele Menschen spielt anscheinend auch der soziale Charakter des Zusammentreffens mit FreundInnen und Bekannten aus der Bewegung eine wesentliche Rolle. Die Gründe der unterschiedlichen TeilnehmerInnen sind aber durchaus komplex, genauso wie ihre Zusammensetzung. So stellen auch MigrantInnen – wenn auch für Wiener Verhältnisse deutlich unterrepräsentiert – einen Teil der Bewegung dar. Insbesondere stark erkenntlich ist auch die breite Teilnahme aus den Bundesländern und sogar aus dem Ausland bei den Großmobilisierungen in Wien.

Was aber alle Teile der Protestierenden teilen, ist, dass sie offensichtlich kein Problem damit haben, mit mehr oder weniger offen auftretenden FaschistInnen auf die Straße zu gehen. Insbesondere bei der (behördlich untersagten) Massendemonstration am 31. Jänner stellte über weite Teile eine Mischung aus rechten Fußballhooligans, Identitären und Neonazis die Spitze der Demonstration und damit auch ihre Führung. Durch deren organisiertes Auftreten war die Durchsetzung der Demonstration gegen die Polizei in dieser Form überhaupt erst möglich. In der Bewegung stellen die rechten bis faschistischen Kräfte aktuell den einzig wirklich organisierten und organisierenden Teil dar. Deshalb ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Dynamik der Bewegung sich in den kommenden Wochen und Monaten – falls nicht aufgrund einer Änderung der Pandemiebekämpfung von Seiten der Regierung oder weiterer interner Konflikte die Luft rausgeht – vermutlich klar nach rechts verschieben wird. Eine gewisse Schicht an aktuell noch eher unpolitischen Leuten läuft Gefahr, klar rechts politisiert zu werden oder sich sogar den faschistischen Strukturen anzuschließen.

Der 31. Jänner

Ein wichtiger Faktor in der Entwicklung der aktuellen coronaskeptischen Bewegung ist sicher das Wochenende vom 30. und 31. Jänner. Von Seiten der Polizei wurden da nahezu alle Versammlungen in Wien untersagt – und dabei nicht nur Versammlung von Corona-SkeptikerInnen, sondern auch klar linke Gegenveranstaltungen, die sich bisher immer aus eigener Überzeugung an das konsequente Tragen von Masken und Abständen gehalten hatten. Hier wird sichtbar, warum man im Kampf gegen rechts nicht auf den Staat vertrauen soll, weil der seine erweiterten Befugnisse auch genauso oder härter gegen die Linke und die ArbeiterInnenbewegung einsetzt.

Am 30. Jänner scheiterten die von Jennifer Klauninger ausgerufenen Proteste kläglich. Vermutlich nur einige dutzend Corona-LeugnerInnen folgten ihrem Aufruf. Doch am Sonntag war die Lage anders. Nahezu die gesamte österreichische rechte und faschistische Szene mobilisierte zu der von Martin Rutter und Co. angeführten Demonstration. Bis zum Verbot war auch Herbert Kickl als prominenter Redner vorgesehen gewesen. Die FPÖ versuchte dann auch nach dem Verbot, für die Corona-SkeptikerInnen eine eigene Kundgebung anzumelden, aber scheiterte hierbei auch an einer polizeilichen Untersagung.

Letztlich fanden sich trotz behördlicher Untersagung vermutlich mehr als 10.000 Menschen in der Wiener Innenstadt ein. Die Polizei stellte am Anfang zaghafte und letztlich erfolglose Versuche an, um die sich am Ring (auf der Höhe des Heldenplatzes) versammelte Menschenmenge einzukesseln bzw. am Formieren einer Demonstration zu hindern. Doch die von den organisierten FaschistInnen und Fußallhooligans angeführte Menschenmenge schaffte es, sich aus der Umklammerung der Polizei zu befreien, und startete eine stundenlange Demonstration einmal rund um die Wiener Innenstadt. Die Polizei verhielt sich nach anfänglichen Verhinderungsversuchen wie gegenüber einer normalen angemeldeten Demonstration. Die DemonstrantInnen wurden weitgehend begleitet, teilweise sogar sich selbst überlassen. Der Verkehr in den Seitenstraßen wurde so geregelt, dass die Demonstration ungehindert ihren Weg gehen konnte und kleinere antifaschistische Blockaden innerhalb von Sekunden von WEGA (Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung) und Co. aus dem Weg geräumt wurden. Erst nach 5 Stunden ungehinderter Demonstration durch Wien stellte die Polizei – vermutlich um zumindest etwas an Gesicht zu wahren – die Identitäten von den letzten verbliebenen DemonstrantInnen fest und das, nachdem der allergrößte Teil der DemonstrantInnen schon unbehelligt den Heimweg angetreten hatte. Gegen Ende bedankten sich noch TeilnehmerInnen bei der Polizei für ihr freundliches Vorgehen.

Was tun?

Der 31. Jänner war für die Bewegung ein klares Signal der Stärke. Seit Jahren gab es nicht so ein offenes und ungehindertes Auftreten der faschistischen und neonazistischen Szene in Österreich. Sie konnte über weite Teile die Demonstration anführen. Für die Linke und die ArbeiterInnenbewegung braucht es deshalb eine klare Antwort auf diese Gefahr von rechts.

Auf der einen Seite braucht es ein klares Entgegentreten gegen die rechten Teile der Bewegung und das auch auf der Straße. Das mehr oder weniger offene Auftreten von FaschistInnen und Neonazis darf nicht unbeantwortet bleiben, auch wenn sie nur Teil einer größeren Bewegung sind. Überall wo FaschistInnen offen auftreten, müssen wir uns ihnen in den Weg stellen und sie im Idealfall von der Straße vertreiben. Ein Teil der Taktik gegenüber der Bewegung ist ganz einfach klassischer Antifaschismus. Das darf aber nicht dazu führen, dass die gesamte Bewegung deswegen zu einer faschistischen umgetauft wird. Vielmehr ist sie eine kleinbürgerliche, populistische Massenbewegung mit einem faschistischen Flügel, der in der Tendenz stärker und wichtiger wird.

Darüber hinaus braucht es aber auch eine klare Alternative zur aktuellen fatalen Regierungspolitik. Wenn auf der einen Seite der Wintertourismus weiter aufrechterhalten wird und gleichzeitig dazu die Regierung den Kampf gegen die Pandemie fast ausschließlich in die eigenen vier Wände verlegt, ist klar, dass etwas falsch läuft. Einschränkungen bzw. verpflichtende Maßnahmen am Arbeitsplatz gibt es so gut wie nicht. Das wird großteils den Unternehmen selbst überlassen. Wir fordern ein Ende der verlogenen Pandemiebekämpfung der schwarz-grünen Bundesregierung. Stattdessen braucht es die Schließung aller nicht notwendigen Bereiche der Wirtschaft, bis die Fallzahlen ein Niveau erreicht haben, wo durch effektives „Test and Trace“ das Virus zur Gänze ausgemerzt werden kann. Es braucht eine Existenzsicherung und eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Gleichzeitig treten wird klar für die Verteidigung der demokratischen Rechte – inklusive auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit – ein. Denn wie das Wochenende 30./31. Jänner gezeigt hat, schränkt der Staat nicht einfach nur Demonstrationen von MaskenverweigererInnen ein, sondern genauso von Linken. Darüber hinaus dürfen die Kosten der Krise nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt, sondern müssen von Reichen, die in der Krise ihr Vermögen nochmal deutlich steigern konnten, gezahlt werden. Nur wenn es die Linke schafft, eine klar Perspektive weisende, von der Regierung unabhängige Position zur Eindämmung der Pandemie zu entwickeln, ist es möglich die von Covid-19 und Wirtschaftskrise Betroffenen nicht den Rechten zu überlassen.




Krise, Pandemie und die drohende Flut der Corona-LeugnerInnen

Martin Suchanek, Infomail 1116, 1. September 2020

Die zweite Welle der Corona-LeugnerInnen, von Querdenken 711 über die AfD, diverse rechte und rechtsradikale Vereinigungen bis zu ReichsbürgerInnen, Identitärer Bewegung und offenen FaschistInnen droht, zu einer regelrechten Flut zu werden.

An die 40.000 versammelten sich am 29. August in Berlin.  Gegenüber dem 1. August verdoppelte sich die Zahl der TeilnehmerInnen.

Zweifellos stiegen der Einfluss und die Mobilisierungskraft der extremen Rechten. Das wurde nicht nur bei der Erstürmung der Treppe zum Parlament durch hunderte ReichsbürgerInnen deutlich, sondern war auch für die 1.000 bis 2.000  Linken sichtbar, die gegen den reaktionären Spuk protestierten. Vor der russischen Botschaft und auf der Straße Unter den Linden waren zahlreiche Reichskriegs- sowie russische und US-amerikanische Fahnen sichtbar – allesamt ein getreues Kennzeichen der Demokratie, die sie in der Herrschaft Trumps, Putins und im Deutschen Reich offenbar als veritable Alternativen zur „Merkel-Diktatur“ erblicken.

Hinter dem ganzen Gerede von Demokratie, Grundrechten, dem Ruf nach einer verfassunggebenden Versammlung steckt der Aufschrei nach einer autoritären, plebiszitären „Ordnung“, die deutschen (Klein-)BürgerInnen wieder Sicherheit und „Freiheit“ garantieren soll.

Zweifellos verstehen die unterschiedlichen Kräfte in der Bewegung darunter Verschiedenes. Ihr einigendes Band bildet aber nicht nur die Ablehnung aller Corona-Maßnahmen der Regierung, die Leugnung der realen Gefahr, die die Pandemie für die Gesundheit von Millionen und Abermillionen bedeutet, und die Forderung nach Aufhebung aller (!) Maßnahmen des Hygieneschutzes.

Dabei lässt sich schon allein daran der wirkliche, reaktionäre Charakter der Mobilisierung erkennen, der auch nicht verschwinden würde, wenn kein/e einzige/r Rechtsextreme/r bei den Aktionen dabei gewesen wäre. Die Forderung von Querdenken 711, diversen VerschwörungstheoretikerInnen, ImpfgegnerInnen und „SkeptikerInnen“ läuft schließlich auf nichts weniger hinaus als die Aufhebung jedes Gesundheitsschutzes – faktisch auf ein Todesurteil für Zehntausende. Dass dabei auch noch einige Verwirrte aus der sog. Friedensbewegung mitlaufen, macht die Sache nicht besser.

Nazis und Rechtsradikale

Zweifellos sind die meisten der rund 40.000 TeilnehmerInnen der Kundgebung und erst die sehr viel zahlreicheren AnhängerInnen im ganzen Land keine Nazis und haben wohl auch nicht vor, sich in nächster Zeit einer faschistischen oder offen rechtsradikalen Gruppierung wie dem Dritten Weg, der NPD, den ReichsbürgerInnen oder der Identitären Bewegung anzuschließen. Mit der rechtspopulistischen AfD, die mittlerweile voll auf den Zug der Bewegung  aufgesprungen ist, verhält es sich wahrscheinlich anders. Sie sieht durchaus zu Recht die Chance, nicht nur Mitglieder, sondern auch WählerInnen in großer Zahl zu gewinnen.

Die verschiedene rechtsradikalen bis faschistischen Gruppierungen versuchen sich, als entschlossenster Teil der Bewegung, als deren völkischer, militanter, faschistischer Arm zu präsentieren und damit auch die vorhandene reale Wut und Existenzangst der Massen anzusprechen. Sie sind, das wurde am 29. August einmal mehr deutlich, anerkannte Bündnispartnerinnen der OrganisatorInnen um Querdenken 711. Auch von der großen Masse der Demonstrierenden werden sie nicht bloß „geduldet“, sondern als BündnispartnerInnen gegen die Regierung und deren „Corona-Diktatur“ begriffen. Daher ficht sie der Vorwurf nicht an, dass sie mit Nazis marschieren würden. Sie wissen das ohnehin, nehmen es billigend in Kauf und  glauben wahrscheinlich sogar, die Rechtsextremen für ihre Zwecke ausnutzen zu können.

Damit bilden die Aktionen zweifellos einen fruchtbaren Nährboden für die extreme Rechte, auch wenn sie zur Zeit noch weit davon entfernt ist, sie politisch zu dominieren, und die Masse der TeilnehmerInnen von anderen Kräften mobilisiert wird. Wie stark die faschistischen und halbfaschistischen Kräfte schon sind, offenbarte der 29. August nicht nur bei der medial spektakulären Erstürmung der Treppe des Parlaments durch ReichsbürgerInnen. Insgesamt waren mehrere Tausend Nazis, Rechtsradikale und deren Umfeld am Start, sie machten mindestens 10, vielleicht sogar 20 % der TeilnehmerInnen aus.

Rechtspopulismus

Dass die Masse der TeilnehmerInnen selbst nicht faschistisch ist, stellt aber nicht nur deshalb keinen Grund zu Beruhigung dar. Der von Regierung, bürgerlichen Medien, aber auch vielen linken Gruppierungen und Gegenmobilisierungen vorgetragene Hauptkritikpunkt, dass sich Michael  Ballweg und Querdenken 711 von Rechtsradikalen, Nazis, ReichsbürgerInnen, der QAnon-Sekte und anderen „instrumentalisieren“ ließen, greift viel zu kurz. Die von Ballweg gegründete „Bewegung“ gegen die Corona-Politik, Querdenken 711, gerät dabei nämlich aus dem Blick, als bestünde das Problem nur darin, dass auch Nazis und Rechtsradikale mitlaufen.

Es liegt aber gerade darin, dass in den letzten Monaten vor allem eine neue, gefährliche rechtspopulistische Bewegung entstanden ist. Ursprünglich vor allem gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung gerichtet, fordert sie jetzt ein Ende des „Merkel-Regimes“ und ihrer „Diktatur“. Ballwegs Bewegung sucht dabei nicht nur die Kooperation mit AfD und noch rechteren Kräften wie der Identitären Bewegung oder mit Figuren wie Ken Jebsen, sondern trifft sich auch schon Mal mit Max Otte von der Werteunion.

Querdenken 711 reiht sich unter die rechtspopulistischen Kräfte ein, die in den letzten Jahren in vielen Ländern entstanden sind. Irrationale, wissenschaftsfeindliche Kritik an der Corona-Gefahr und den Maßnahmen zum Gesundheitsschutz verknüpft sie mit einer demagogischen Kritik an der „Elite“, die die „ehrlich arbeitenden“ Menschen, also vor allem die fleißigen (Klein-)UnternehmerInnen in den Ruin treiben würde. Die Corona-Maßnahmen entpuppen sich so als Teil einer Verschwörung von Bill Gates, Angela Merkel, dem „Mainstream“ der VirologInnen …, die die Wirtschaft in ihrem Interesse mit unlauteren, verschwörerischen Mitteln ummodeln wollen und zudem die Welt mit der Corona-Diktatur überziehen.

Dabei greifen sie zwar reale Probleme wie die Ausschaltung demokratischer Rechte und den drohenden Ruin der „hart Arbeitenden“ auf, worunter Gewerbetreibende, KapitalistInnen (außer Menschen wie z. B. Bill Gates) und auch Lohnabhängige verstanden werden. Schuld an der Krise sind nicht Rezession und Marktwirtschaft, sondern deren Einschränkung aufgrund der Pandemie, die Schließung von Unternehmen, Schulen, öffentlicher Einrichtungen im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung.

Der Ruf nach Freiheit und Demokratie nimmt freilich einen eigentümlichen Charakter an. Nicht die realen Angriffe auf die „Demokratie“, z. B. die Entrechtung  von MigrantInnen, die Abriegelung der EU-Außengrenzen, die Einschränkungen des Streik- und Demonstrationsrechts werden kritisiert, sondern der „Maskenzwang“ beim Einkaufen und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Fallen sollen vor allem die Einschränkungen des Geschäftslebens wie Abstandsregeln und Hygienevorschriften in Gastronomie und Geschäften, an Schulen und in der Arbeitswelt.

Wo der Ruf nach „Freiheit“ konkret wird, entpuppt er sich als solcher nach rücksichtsloser Verfolgung der Geschäftsinteressen der Kleinunternehmen, der WarenproduzentInnen. Dafür wird die Gesundheitsgefährdung anderer Menschen, von KundInnen und Beschäftigten billigend in Kauf genommen. Die Corona-Leugung wird so zum zentralen Bestandteil einer Politik des ungebremsten Egoismus, der Freiheit der/s PrivateigentümerIn.

Zulauf

Ist auch ziemlich alles an den Argumenten und Vorbehalten zu Corona falsch, verkehrt, ja geradezu gemeingefährlich, erhebt sich doch die Frage, warum eine solche Politik, eine solche Bewegung Massenzulauf erhält – und zwar nicht nur von Nazis und Rechtsradikalen, sondern aus dem KleinbürgerInnentum, den Mittelschichten, von UnternehmerInnen wie auch politisch rückständigen und frustrierten ArbeiterInnen.

Der Grund dafür ist einfach. Die Existenzangst des KleinbürgerInnentums, kleiner UnternehmerInnen und erst recht der Masse der Bevölkerung ist real. Die gegenwärtige kapitalistische Krise zeitigt schon jetzt verheerende Auswirkungen – und dabei sind diese zum Teil noch „sozial“ abgefedert.

Natürlich werden sie letztlich nicht die KleinunternehmerInnen und des KleinbürgerInnentum an heftigsten treffen, sondern die ArbeiterInnenklasse in Form von drohenden Massenentlassungen, die proletarischen Frauen, MigrantInnen und Geflüchtete oder prekär Beschäftigte.

Doch große Teile des Proletariats wurden schon lange vor der Krise, im Grunde seit den Hartz-Gesetzen und Agenda 2010, nach unten gedrückt. Auf diese Menschen beziehen sich Ballweg und Querdenken auch nicht wirklich, für sie gibt es in den ganzen Reden keine konkreten Forderungen. Einen Bezug auf den Kampf gegen Entlassungen, die Forderung nach entschädigungsloser Verstaatlichung von Unternehmen, die mit Entlassungen drohen, das Eintreten für armutssichere Renten, Arbeitslosenunterstützung oder einen Mindestlohn von 13,50 Euro/Stunde wird man bei den QuerdenkerInnen vergeblich suchen. Erst recht findet sich nichts zum Gesundheitsschutz von Beschäftigten oder durch Corona besonders gefährdeter Menschen. Solche Maßnahmen erscheinen vielmehr als Teil einer „Diktatur“, die den Menschen schaden würden, weil sie „die Wirtschaft“ einschränken.

Sinn macht diese menschenverachtende Rücksichtslosigkeit, die sich ohne Corona-Leugnung nicht rechtfertigen ließe, jedoch vom Standpunkt der/s einzelnen UnternehmerIn. Da sie/er aufgrund von Maßnahmen des Hygieneschutzes ihren/seinen Geschäften nicht oder nur eingeschränkt nachgehen kann, müssen diese weg. Mit dieser Forderung versucht sie/er, auch die/den politisch rückständige/n Lohnabhängige/n ins Boot zu holen, die/der dann auch wieder arbeiten „dürfe“.

Im letzten Jahrzehnt und besonders in der aktuellen Krise sorgt sich ein wichtiger Teil des Kleinbürgertums nicht nur um seine Existenz, er verliert auch zunehmend Vertrauen in „seine“ Parteien, in das etablierte politische System. Dies zeigte sich schon in der sog. Flüchtlingskrise. Auch die Massenmigration wurde zu einer Verschwörung der „Elite“, zur versuchten Umvolkung stilisiert, ganz wie die sog. Klima-SektikerInnen bei Umweltschutz und ökologischem Umbau ihren Ruin fürchten. Die Corona-LeugnerInnen stellen eine weitere Form dieser Absetzbewegung dar, die zu einem nochmaligen Erstarken des Rechtspopulismus – und in seinem Fahrwasser auch des Faschismus – zu führen droht.

Der Rechtspopulismus rekrutiert seine AnhängerInnen vornehmlich unter jenen Klassen und Schichten, die über Jahrzehnte Stützen der Nachkriegsordnung, der bundesrepublikanischen Demokratie waren. Querdenken 711 könnte in Verbindung mit der AfD und all ihren Flügeln zu einer weiteren Belebung und Verbreiterung dieser reaktionären kleinbürgerlichen Kraft in Bewegungs- wie in Parteiform beitragen. Ihr Ziel ist, wie bei ähnlichen Formationen in den USA, Lateinamerika oder anderen europäischen Ländern, die „radikale“ Umwandlung des bestehenden Systems, also die Stärkung seiner autoritären, repressiven, bonapartistischen und antidemokratischen Elemente. Nationalismus, Rassismus sowie ein reaktionärer völkischer, rassistischer und antisemitischer Diskurs bilden den notwendigen Kitt, um die gegensätzlichen sozialen Gruppierungen zusammenzuhalten, die der Populismus zu vereinen sucht. Das „Volk“, die imaginäre Einheit aller Klassen, muss beschworen werden, um einer autoritären Herrschaft des Kapitals den Weg zu bereiten.

Dies ist wiederum ein Grund, warum faschistische oder halbfaschistische Bewegungen an Gruppierungen wie Querdenken 711 leicht anknüpfen können. Der Rechtspopulismus stellt somit eine doppelte Gefahr dar. Einerseits die drohende Umgestaltung der politischen Verhältnisse im Sinne der herrschenden Klasse, die sich dabei auf eine reaktionäre Volksbewegung gegen die Linke und die ArbeiterInnenklasse stützt. Andererseits bereitet er auch den Boden für eine noch radikalere, faschistische Krisenlösung vor, sollte sich die autoritäre, bonapartistische Umgestaltung der Verhältnisse als unzureichend oder unmöglich erweisen.

Wie den Kampf führen?

Die Bedrohung durch den Rechtspopulismus darf daher keineswegs unterschätzt werden. Um ihn erfolgreich zu führen, reichen freilich nicht Aufklärung oder antirassistische oder antifaschistische Gegenmobilisierung.

Der Rechtspopulismus zieht seine Kraft letztlich aus den krisenhaften Verwerfungen der Gesellschaft, aus dem realen oder drohenden Ruin ganzer Schichten. Er kann daher nur gestoppt werden, wenn ihm dieser Nährboden entzogen wird. Das wiederum erfordert, dass die ArbeiterInnenklasse als gesellschaftliche Kraft, als Alternative zur herrschenden Klasse und ihrer Regierung in Erscheinung tritt.

Doch genau hier liegt ein entscheidendes Problem. Die Gewerkschaftsführungen, die Spitzen der Konzernbetriebsräte, die reformistischen Parteien SPD und Linkspartei treten als Regierungsgehilfen, bessere KrisenverwalterInnen, Sozial- und StandortpartnerInnen des Großkapitals oder – wie bei der Linkspartei – allenfalls als linke BeraterInnen der Regierung in Erscheinung.

Das ermöglicht es erst dem Rechtspopulismus, als scheinbar radikale Opposition in Erscheinung zu treten. In der tiefsten Krise des Kapitalismus vertritt er eine Politik, die die Regierung anprangert, die eine radikale Veränderung, den Kampf gegen die „Elite“ und die „Diktatur“ verspricht. Er trifft damit trotz seiner reaktionären Forderungen und trotz seines Irrationalismus ein reales gesellschaftliches Bedürfnis nach Veränderung. Er spricht auf reaktionäre Weise an, dass das System selbst das Problem darstellt.

Die Regierung, aber auch die Führungen der ArbeiterInnenbewegung vertreten demgegenüber den Status quo. Der Berliner Innensenator und rechte Sozialdemokrat Geisel würde am liebsten alle Demonstrationen verbieten, die sich gegen das bürgerliche System und den Kapitalismus richten bzw. die Symbole dieser Ordnung „beschmutzen“. Mit dem versuchten Verbot der Demonstration der Corona-GegnerInnen scheiterte er zwar vor den Gerichten, aber die nächste Einschränkung demokratischer Rechte wird schon vorbereitet.

Diese richtet sich natürlich sicher nicht nur gegen Nazis oder Rechte, sie wird, wie immer in solchen Fällen, auch gegen die Linke und die ArbeiterInnenklasse verwendet werden. Mit derselben Begründung, mit der die Berliner Versammlungsbehörde die Corona-Demos verbieten lassen wollte, kann natürlich auch jede Blockade gegen die Räumung von Wohnungen, jede kämpferische Massendemonstration illegalisiert werden. Dass Geisel und erst recht die staatliche Bürokratie und der Polizeiapparat genau das auch vorhaben, haben sie schon hinlänglich bewiesen – in Berlin jüngst bei der Räumung der linken Kiezkneipe Syndikat.

Im Kampf gegen Rechtspopulismus und Faschismus dürfen wir uns daher nicht auf den Staat oder auf Verbote verlassen, die sich letztlich ebenso gegen die Linke und die ArbeiterInnenklasse richten werden. Wir müssen selbst mobilisieren. Dass gegen den schaurigen Aufmarsch der Corona-LeugnerInnen am 29. August nur 1.000 – 2.000 Menschen demonstrierten, dass nicht nur die Gewerkschaften und alle Massenorganisationen bis auf einzelne Ausnahmen fehlten, sondern auch große Teil der „radikalen“ Linken mit Abwesenheit glänzten, ist eine Schande. Der 29. August muss ein Weckruf, ein Alarmsignal an alle sein.

Der Aufmarsch der 40.000 sollte deutlich machen, dass wir nicht länger auf die reformistischen und gewerkschaftlichen Apparate warten dürfen, um eine Bewegung gegen die Abwälzung der Kosten von Krise und Pandemie aufzubauen. Der Kampf gegen den Rechtspopulismus wird nicht allein bei Gegenmobilisierungen entschieden. Wir müssen daran gehen, eine Bewegung aufzubauen, die eine klassenkämpferische Alternative zur Politik der Krisenverwaltung im Konzerninteresse verdeutlicht.

Sie muss natürlich versuchen, die Gewerkschaften und reformistischen Apparate zum Kampf zu zwingen. Auch deshalb ist es nötig, die Initiative zu ergreifen, um mit Demonstrationen und Aktionen sichtbar zu werden, Tarifkämpfe, antirassistische und antifaschistische Mobilisierungen und die Umweltbewegung zu unterstützen, um überhaupt die nötige Kraft zu entfalten, um die großen Organisationen zur Mobilisierung zu zwingen.

Eine Antikrisenbewegung kann so zu einer Alternative für den Kampf in den Betrieben, Büros, an Schulen und im Stadtteil werden. Es ist Zeit aufzuwachen, ansonsten wird es ein noch böseres Erwachen geben.




6 Monate nach den Morden von Hanau: Kein Vergessen!

Martin Suchanek, Infomail 1115, 25. August 2020

Zehntausende solidarisierten sich am 19. und 22. August mit den 9 Opfern des rassistischen Mordes vom 19. Februar in Hanau. Damals wurden Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu bei Anschlägen in einer Shisha-Bar in der Hanauer Innenstadt und rund um einen Kiosk mit angeschlossener Shisha-Bar im Stadtteil Kesselstadt brutal durch einen Akt faschistischer Barbarei aus dem Leben gerissen. Weitere Personen wurden verletzt. Schließlich erschoss der Mörder sich selbst und seine Mutter.

Sein Bekennerschreiben lässt keine Zweifel übrig. Er betrachtete sich als Teil eines erz-reaktionären, faschistischen „Krieges“, der das Blutbad – ähnlich wie der norwegische Attentäter Breivik oder der Massenmörder von Christchurch – als Fanal zum Pogrom an „fremden Rassen“ und „VolksverräterInnen“ betrachtete.

Die Aktionen und Demonstrationen am 19. August, die von breiten Bündnissen antirassistischer, migrantischer, linker und gewerkschaftlicher Organisationen getragen wurden, wie auch das Gedenken am 22. August setzten hier nicht nur ein Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls. Sie setzten vor allem auch ein Zeichen gegen den grassierenden, weit verbreiteten Rassismus in Deutschland. Dieser hat in den letzten Jahren im Zuge des Rechtsrucks weiter zugenommen – nicht bloß bei Nazis, Pegida oder AfD, sondern, wie wir an der Forderung nach härteren Grenzkontrollen und repressiver Flüchtlingspolitik sehen können – auch bis tief in die „Mitte der Gesellschaft“.

Allein am 19. August wurden in mindestens 40 Städten Demonstrationen und Kundgebungen organisiert, die größten mobilisierten mit mehrere tausend TeilnehmerInnen.

Am 22. August wurde die für Hanau geplante bundesweite Demonstration jedoch abgesagt, nachdem der SPD-Oberbürgermeister Claus Kaminsky am Abend des 21. August die Versammlung mit Verweis auf steigende Corona-Infektionen verbot.

Statt der Demonstration fand eine bewegende Kundgebung mit den Angehörigen, FreundInnen, Familien der Opfer und BewohnerInnen des Hanauer Stadtteils Kesselstadt statt. Diese wurde in 30 Städte als Stream übertragen. In vielen gab es mehrere solcher Live-Übertragungen gleichzeitig, so dass es bundesweit wohl an die 100 Kundgebungen gab. Darüber hinaus verfolgten wohl weit über 100.000 Menschen die Reden der Betroffenen online. Die gesamte Kundgebung und die ergreifenden Beiträge können auch weiter auf dem YouTube-Kanal der „Initiative 19. Februar“ gehört werden.

So wurde der 22. August trotz Demonstrationsverbots in Hanau zum deutlichen, ermutigenden politischen Zeichnen. Das ist vor allem den vielen lokalen UnterstützerInnen und AktivistInnen zu verdanken, die im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht die Technik, Infrastruktur und Bewegung für die Kundgebungen stellten.

Auf uns selbst vertrauen!

Wir müssen an dieser Stelle aber auch einen kritischen Punkt ansprechen, der uns und wohl auch Tausende andere, die nach Hanau fahren wollten und sich an den Kundgebungen im ganzen Bundesgebiet beteiligten, wütend gemacht und verärgert hat. Wie Tausende andere erfuhren wir am Abend vom 21. zum 22. August, dass der Hanauer SPD-Oberbürgermeister, der ursprünglich als Redner bei der Abschlusskundgebung vorgesehen war, die Demo kurzerhand verboten hatte.

Wir wollen die Gefahr einer 2. Corona-Welle keineswegs leugnen. Wir halten ein Demonstrationsverbot aber für absolut falsch und unangebracht. Es stellt eine inakzeptable und gefährliche Einschränkung demokratischer Rechte dar, auch wenn es mit dem Hinweis auf Schutz vor Corona begründet wurde. Erstens hatte das Demo-Bündnis über Wochen in Verhandlungen mit der Stadt Hanau ein Hygienekonzept ausgearbeitet. Zweitens ist es – anders als bei den rechten 20.000 – 30.000 Corona-SpinnerInnen, die am 1. August anstandslos durch Berlin marschieren durften – bei allen antirassistischen Demos und Kundgebungen üblich, dass die TeilnehmerInnen Masken tragen und auf gegenseitigen Schutz achten. Natürlich kann das Virus, wie bei jeder Begegnung von Menschen auch auf Demonstrationen übertragen werden. Aber es ist zynisch und verlogen, so zu tun, als gingen angesichts von brummender Party-Gastronomie, Besäufnissen, angesichts der vom Kapitalinteresse diktierten Öffnung der Betriebe – beispielhaft sei hier auf die Zustände in den Schlachthöfen verwiesen – und Schulen ausgerechnet von politischen Demonstrationen Ansteckungsgefahren aus.

Außerdem fragt sich doch, warum die Absage erst wenige Stunden vor Beginn erfolgte, also zu einem Zeitpunkt, der eine Durchsetzung der Aktion vor Gericht innerhalb kurzer Fristen extrem erschwerte.

Wir wollen dem SPD-Oberbürgermeister gar nicht absprechen, dass er ganz gerne vor tausenden Menschen gesprochen hätte und im Allgemeinen auch antirassistisch eingestellt ist. Doch was nützt das, wenn er in einer Nacht- und-Nebel-Aktion die Absage einer konkreten Demonstration erzwingt. Wahrscheinlich ist auch ihm klar, dass diese nicht der „Super-Spreader“ des Virus gewesen wäre.

Aber offenkundig hatte er vor der demagogischen „Kritik“ und Hetze aus rechten Kreisen Angst, die im Falle einer großen und kämpferischen Gedenkdemonstration unvermeidlich von der AfD und anderen offenen RassistInnen, aber auch von „respektablen“ Bürgerlichen wie CDU und FDP sowie von einigen Grünen und selbst sozialdemokratischen ParteifreundInnen gekommen wäre. Alle jene, die den Rassismus in der Gesellschaft, vor allem aber bei Polizei, Bundeswehr und staatlichen Behörden verharmlosen, die MörderInnen gern als „EinzeltäterInnen“ hinstellen, hätten sicher die „Gelegenheit“ ergriffen, allen, die zum Gedenken an 9 Ermordete und unzählige weitere Opfer rassistischer Anschläge auf die Straße gehen, „Verantwortungslosigkeit“ vorzuwerfen.

Dabei hätten solche rechten „KritikerInnen“ und ihre FreundInnen in der politischen Mitte allerdings nur getan, was sie immer tun: Die TäterInnen und den Nährboden des Rassismus relativieren, verharmlosen – und gleichzeitig die Trauer, Wut, Angst der Betroffenen ignorieren und die reale Gefahr für MigrantInnen herunterspielen. Die Absage der Demo hat unserer Meinung nach nichts mit Gesundheitsschutz zu tun, sondern stellt ein Einknicken vor der zu erwartenden Verleumdung durch Rechte und bürgerliche Kräfte dar. In Wirklichkeit wird die Kapitulation diese nicht beschwichtigen, sondern nur ermutigen, jeder anderen linken Großdemo „Verantwortungslosigkeit“ vorzuwerfen – schon allein in der Hoffnung, dass deren OrganisatorInnen ihre Aktionen gleich freiwillig absagen.

Mit dem Untersagen der Demonstration wurden zugleich die Rechte tausender Anti-RassistInnen beschnitten – eine Einschränkung, die uns auch bei anderen antifaschistischen, antirassistischen oder antikapitalistischen Mobilisierungen droht.

Wir halten daher auch das Akzeptieren des Demo-Verbotes durch das Hanauer Bündnis „Initiative 19. Februar“ für politisch falsch. In Zukunft sollten wir versuchen, unsere Aktionen auch gegen einknickende und feige sozialdemokratische Stadtoberen durchzusetzen. Die GenossInnen der Frankfurter internationalistischen und antirassistischen Linken, die nach der Übertragung der Gedenkkundgebung eine Spontandemonstration mit hunderten TeilnehmerInnen durchführten und durchsetzten, agierten in diese Situation vorbildlich. GenossInnen von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION beteiligten sich an der Aktion. Vielen Dank an die OrganisatorInnen der Initiative! Hoch die internationale Solidarität! One solution – Revolution!

Link zum Flugblatt von ArbeiterInnenmacht und Revolution zu den Demos und Aktionen am 19. und 22. August:

Kein Vergessen! Beteiligt Euch an den Demonstrationen im Gedenken an die Ermordeten von Hanau!




Kein Vergessen! Beteiligt Euch an den Demonstrationen im Gedenken an die Ermordeten von Hanau!

Aufruf von Gruppe ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION

Gerade sechs Monate liegen die rassistischen Morde vom 19. Februar  zurück. Die Erinnerung an den barbarischen Anschlag eines rechtsextremen, völkischen und neo-nazistischen Terroristen erschüttert bis heute.

Wie viele andere AntirassistInnen und AntifaschistInnen rufen wir zur Teilnahme an den Aktionen am 19. August und an der bundesweiten Demonstration am 22. August in Hanau auf. Wir wollen damit den Familien, den Angehörigen und FreundInnen der Getöteten unsere Anteilnahme, unser Mitgefühl zeigen, sie in ihrem Schmerz, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung nicht alleine lassen. Wir wollen damit ein Zeichen der Solidarität mit allen Opfern rassistischer und faschistischer Anschläge, Angriffe und Morde setzen, ein Zeichen der Solidarität mit allen Abgeschobenen, mit den Opfern der mörderischen EU-Grenzpolitik sowie allen Formen staatlicher und institutioneller rassistischer Gewalt, Diskriminierung und Unterdrückung.

Damit aus Wut und Trauer, Zorn und Angst Widerstand gegen den rassistischen Terror und Rechtsextremismus wird, müssen wir uns bemühen, die Ursachen, die sozialen Wurzeln der barbarischen Morde zu verstehen.

Rechtsruck

Der Todesschütze von Hanau war darauf aus, möglichst viele migrantische Menschen zu töten. 9 riss er in den Tod. Über seine Motive besteht kein Zweifel. Seine Bekennerschreiben und Videos lesen sich wie Manifeste neo-faschistischer und völkischer Barbarei, sind Aufrufe zum Pogrom, zur Vernichtung „bestimmter Völker“! War sein Hass auch mit obskuren Verschwörungstheorien verbunden, so richtete er sich vor allem gegen MigrantInnen aus der Türkei und arabischen Ländern.

Er reiht sich damit in eine ganze Serie erschreckender rassistischer Morde und Anschläge der letzten 30 Jahre ein. Seit 1990 sind Untersuchungen der Amadeu Antonio Stiftung zufolge über 200 Menschen Opfer rechter, rassistischer und faschistischer Gewalt geworden. Menschen, die aus der Türkei und arabischen Ländern stammen oder als MuslimInnen wahrgenommen werden, stehen besonders stark im Visier dieser Angriffe, die von Schlägertrupps bis zu organisierten terroristischen Zellen wie NSU reichen.

Die Zunahme rechter Anschläge wie die Bildung terroristischer Gruppierungen, Zellen und Netzwerke stellt den zugespitzten Ausdruck eines internationalen wie bundesdeutschen Rechtsrucks dar. Dieser umfasst den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie der AfD, faschistischer Organisationen wie der „Identitären Bewegung“ und klandestiner Terroreinheiten. Tobias R., der Killer von Hanau, erinnert unmittelbar an den Attentäter von Christchurch oder an den norwegischen Massenmörder Breivik.

Rassistischer Wahn

Die faschistischen, neo-faschistischen, aber auch zahlreiche rechtspopulistische Organisationen stellen ein irrationales völkisches Wahngebilde zunehmend ins Zentrum  ihrer Ideologie, eine Mischung aus Verschwörungstheorie, Rassismus, Antisemitismus und allen möglichen Formen reaktionären Gedankenguts wie z. B. des Antifeminismus. So bizarr und wirklichkeitsfremd, ja die Realität auf den Kopf stellend diese Ergüsse auch wirken (und sind), knüpfen sie doch an die Vorstellungswelt eines viel breiteren rechten Spektrums an, das bis tief in bürgerliche und kleinbürgerlich-reaktionäre Schichten  reicht (und natürlich auch unter politisch rückständigen ArbeiterInnen Gehör finden kann.

Und diese Gefahr sollten wir nicht unterschätzen. Der zunehmende individuelle Terrorismus auf Seiten der Rechten signalisiert einen grundsätzlichen Stimmungsumschwung unter weiten Teilen des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten (samt demoralisierter ArbeiterInnen). Das drückt sich auch in der Herkunft vieler AttentäterInnen aus. Tobias R. war, den Informationen der Medien zufolge, ein „gebildeter Mensch“, veröffentlichte seine Gesinnung auf Deutsch und Englisch, studierte Betriebswirtschaftslehre.

Viele andere rechte TerroristInnen entpuppten sich als Menschen mit klassischen kleinbürgerlichen Karrieren, besonders häufig im Polizei- und Sicherheitsapparat. Über alle jeweiligen biographischen Besonderheiten hinweg verdeutlicht die Gemeinsamkeit der sozialen Herkunft, dass sich die gegenwärtige Krise im KleinbürgerInnentum, in den Mittelschichten ideologisch nicht nur als Angst vor Deklassierung, sondern auch als zunehmendes Misstrauen und Ablehnung gegenüber der traditionellen bürgerlichen Führung und dem Staat manifestiert. Es bedarf eines rechten Aufstandes, einer Pseudorevolution, der Entlarvung von „Verschwörungen, eines Pogroms an den „fremden Rassen“ und „VolksverräterInnen“, was im individuellen terroristischen Akt, im Mord an möglichst vielen schon exemplarisch vorgeführt wird.

Wie bekämpfen?

Wie der Mord am Regierungspräsidenten Lübcke gezeigt hat, kann sich der rechte Terrorismus auch gegen RepräsentantInnen des bürgerlichen Staats und Parlamentarismus richten. Die Masse seiner Opfer findet er jedoch – und darin gleicht er dem Terror faschistischer Massenbewegungen – unter der ArbeiterInnenklasse, MigrantInnen, rassistisch Unterdrückten, linken AktivistInnen oder dem Subproletariat (z. B. Obdachlose). Darüber hinaus drückt sich die reaktionäre Radikalität dieser Form des Terrorismus auch darin aus, dass ihre Anschläge den eigenen Tod mit einkalkulieren, ihn als ein Fanal inszenieren.

So wichtig es daher ist, rechte terroristische Zellen und EinzeltäterInnen schon im Vorfeld zu stoppen, so zeigt die Erfahrung jedoch auch zweierlei: Erstens können wir uns dabei – wie im Kampf gegen den Faschismus insgesamt – nicht auf den bürgerlichen Staat und seine Polizei verlassen. Auch die Forderung nach verschärfter Repression und Überwachung geht dabei nicht nur ins Leere, sondern letztlich in eine falsche Richtung, weil sie einem bürgerlichen, repressiven, rassistischen Staatsapparat mehr Machtmittel in die Hand gibt, die in der Regel gegen uns eingesetzt werden.

Zweitens können aber auch der Selbstschutz, der Aufbau von Selbstverteidigungseinheiten, antifaschistische Recherche – so wichtig sie im Einzelnen auch sind – gegen klandestine Terrorzellen oder Individuen nur begrenzt Schutz bieten.

Das Hauptgewicht des Kampfes muss daher auf dem gegen die gesellschaftlichen Wurzeln liegen, und zwar nicht nur, indem der Kapitalismus als Ursache von Faschismus, zunehmender Reaktion, Rechtsruck, Krise identifiziert und benannt wird. Es kommt vor allem darauf an, dass die ArbeiterInnenklasse als jene soziale Kraft in Erscheinung tritt, die einen fortschrittlichen Ausweg aus der aktuellen gesellschaftlichen Krise zu weisen vermag. Der Zustrom zur AfD, die Mobilisierungskraft von Corona-LeugnerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen, also der gesellschaftliche Rechtsruck und Irrationalismus, stellen keine unvermeidliche, automatische Reaktion auf eine Krisensituation dar.

Dass der Rechtspopulismus zu einer Massenkraft geworden ist und in seinem Schlepptau auch faschistische Organisationen und Terrorismus verstärkt ihr Unwesen treiben, resultiert auch, ja vor allem daher, dass sich die reformistische ArbeiterInnenbewegung nicht als anti-kapitalistische Kraft, sondern als bessere Systemverwalterin zu profilieren versucht. SPD und die Gewerkschaften machen auf Bundesebene der Großen Koalition die Mauer und üben den nationalen Schulterschluss mit dem Kapital. Die Linkspartei, wie immer hoffnungsfroh, setzt abwechselnd auf die „Einheit der DemokratInnen“ (bis hin zu CDU und FDP, wenn es gegen die AfD geht) und auf eine „Reformkoalition“ mit SPD und Grünen.

In Wirklichkeit frustrieren die Spitzen von SPD, Gewerkschaften und auch der Linkspartei mit ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit nicht nur die eigene Basis, diese stößt auch jene Lohnabhängigen, die sie in den letzten Jahren verloren haben, weiter ab. Die größte ökonomische Krise seit fast einem Jahrhundert, die sich vor unseren Augen entfaltet, wird nicht durch die „gemeinsamen Anstrengungen“ aller Klassen, nicht durch eine imaginäre „gerechte Verteilung“ der Kosten der Krise überwunden werden können. Das ist auf Grundlage des Kapitalismus, von Marktwirtschaft und Privateigentum an Produktionsmitteln, unmöglich.

Faschismus, Rassismus und Rechtspopulismus können geschlagen werden. Aber dazu braucht es einen politischen Kurswechsel, ein Programm, eine Strategie, die die Mobilisierung gegen diese Kräfte als Teil des Klassenkampfes versteht. Nur so kann dem Rechtsruck sein Nährboden entzogen werden. Nicht Einheit über alle Klassengrenzen hinweg, sondern Einheit der ArbeiterInnenbewegung, der Linken, der MigrantInnen gegen rechten Terror, Populismus und Rechtsruck ist das Gebot der Stunde.

Lasst uns unsere Wut, Trauer, Zorn und Solidarität in den nächsten Tagen auf die Straße tragen! Schaffen wir eine breite Aktionseinheit der ArbeiterInnenbewegung, der Linken, der migrantischen, antirassistischen und antifaschistischen Organisationen! Lasst uns den Kampf gegen Rassismus und Faschismus mit dem Aufbau einer Anti-Krisenbewegung verbinden!

Bundesweite Aktionen und Demonstration

Gedenken am 19. August: Übersicht über Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen: Initiative 19. Februar Hanau

Samstag, 22. August 2020, 13.00, Kurt-Schumacher Platz: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Bundesweite Demonstration in Hanau




Rechtsextremismus bei der hessischen Polizei – „Einzelfälle“ mit System

Stefan Katzer, Infomail 1111, 19. Juli 2020

Seit fast zwei Jahren verschicken Unbekannte Mord- und Anschlagsdrohungen und unterzeichnen diese mit „NSU 2.0“. Augenscheinlich gelang es einer Gruppe von rechtsextremen PolizistInnen, ein Netzwerk innerhalb der Behörde aufzubauen und durch Zugriff auf behördliche Datenbanken persönliche Daten von Personen abzugreifen, gegen die sich die Drohungen richten. Mit der Selbstbezeichnung als „NSU 2.0“ verorten sie sich ganz bewusst in der Tradition der neonazistischen Terrorgruppe NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), die zwischen 2000 und 2007 mindestens neun Menschen aus rassistischen Motiven sowie eine Polizistin ermordet hat. Die verantwortlichen bürgerlichen PolitikerInnen erwiesen sich bis dato als unfähig, diesem Treiben ein Ende zu setzen.

Der erste Drohbrief vom August 2018, der mit dem Kürzel „NSU 2.0“ unterzeichnet war, richtete sich gegen Seda Basay-Yildiz, die im NSU-Prozess als Anwältin der Nebenklage die Familie von Enver Simsek vertrat. Sie erhielt seitdem mehr als zwölf solcher Morddrohungen. Weitere Drohschreiben gingen an die Kabarettistin Idil Baydar, die LINKEN-Politikerin Janine Wissler und weitere VertreterInnen der Linkspartei sowie an Journalistinnen.

In drei Fällen (Basay-Yildiz, Baydar und Wissler) enthielten die Drohungen persönliche Daten, die zuvor aus Computern der Polizei Hessen abgerufen worden waren. Dies lässt vermuten, dass es innerhalb derer ein rechtsradikales Netzwerk gibt, das hinter dem Kürzel „NSU 2.0“ steckt.

Staatliche Behörden und rechte Strukturen

Wer sich daran erinnert, welche Rolle andere staatliche Behörden wie etwa der „Verfassungsschutz“ im Zusammenhang mit dem NSU gespielt haben, wird über die Verbindung staatlicher Sicherheitsbehörden mit rechtsradikalen bzw. -terroristischen Netzwerken nicht mehr sonderlich verblüfft sein. Die Duldung und Unterstützung rechtsterroristischer Gruppen durch den „Verfassungsschutz“ führte aber bis heute nicht zu dessen Zerschlagung. Im Gegenteil. Nach mehreren Untersuchungsausschüssen, die trotz Behinderungen in der Ermittlung zahlreiche Ungereimtheiten aufdecken konnten, wurde die Behörde letztlich noch gestärkt und mit weiteren Kompetenzen ausgestattet. Die NSU-Akten sollen derweil für 120 Jahre verschlossen bleiben. An der Größe des Teppichs lässt sich erahnen, wie viel Dreck darunter gekehrt werden soll.

Ein anderes Beispiel ist das KSK (Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr). Auch dort haben sich vermutlich rechtsterroristische Strukturen herausgebildet, deren Mitglieder sich bereits Munition und Sprengstoff besorgt haben. Dass es dort rechtsextremistische Vorfälle gibt, ist seit Jahren bekannt. Erst seit Kurzem jedoch wird in Erwägung gezogen, dagegen konsequenter vorzugehen und Teile der Truppe aufzulösen – letztlich natürlich auch nur, um das Spezialkommando, „demokratisch“ gesäubert, weiterzuführen oder gar auszubauen.

Es sind zudem zahlreiche weitere Fälle bekannt, in denen hessische PolizistInnen rechtsextremistisches Verhalten an den Tag legten. In Chat-Gruppen wurde gegen Geflüchtete, gegen Menschen mit Behinderung sowie Jüdinnen und Juden gehetzt. Nachrichten mit Nazisymbolen wurden ebenso verschickt wie „Witze“ in Anspielung auf die Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Bei zwei weiteren Polizisten wurden Waffen, Munition sowie zahlreiche NS-Devotionalien gefunden. Allein in Hessen gibt es über ein Dutzend Verdachtsfälle, bei denen aufgrund rechtsradikaler Einstellungen oder Handlungen von PolizistInnen ermittelt wird.

Wie all diese Fälle belegen, wird der „Kampf“ gegen Rechtsextremismus innerhalb des bürgerlichen Staatsapparates offensichtlich mit Samthandschuhen ausgetragen. Schon beim NSU schienen die politisch Verantwortlichen nicht so sehr an der Aufklärung und schonungslosen Bekämpfung rechter Netzwerke interessiert zu sein als vielmehr daran, das Ansehen der eigenen Behörden nicht gänzlich zu beschädigen. KritikerInnen rassistischer Handlungen durch staatliche Behörden wird häufig mit dem Vorwurf begegnet, die Polizei unter „Generalverdacht“ zu stellen. Statt von Strukturen redet man lieber von massenhaften Einzelfällen.

Halbherzig wäre noch zu viel gesagt: Das Verhalten der verantwortlichen PolitikerInnen

Hauptanliegen der staatlichen AkteurInnen im Fall NSU war es dann auch, diesen als isolierte Gruppe darzustellen und den Fall mit dem Schuldspruch für die letzte Überlebende des „Trios“, Beate Zschäpe, zu den Akten zu legen. Darauf, dass die These von der isolierten Kleingruppe ohne weitere Verbindungen in die rechtsradikale Szene hinein unhaltbar ist, hatten schon während des NSU-Prozesses zahlreiche Gruppen hingewiesen. Die Bedrohung durch ein weit größeres, rechtes Terrornetzwerk wurde seitens der Verantwortlichen in der Regierung jedoch nicht ernst genommen.

Auch als im August 2018 der Fall von Seda Basay-Yildiz bekannt wurde, deren Drohbrief mit „NSU 2.0“ unterzeichnet war – also in klarer Anspielung auf ein rechtsterroristisches Netzwerk –, sah der hessische Innenminister Beuth (CDU) keine Anhaltspunkte für die Existenz eines solchen innerhalb der hessischen Polizei und stellte sich schützend vor seine Behörde. Erst Anfang Juli 2020, als zahlreiche weitere Fälle mit gleichem Muster bekannt wurden und neben der Polizei Frankfurt auch eine Dienststelle in Wiesbaden damit in Verbindung gebracht werden konnte, änderte Beuth seine Einschätzung. Dieser ist nun selbst zum Empfänger ähnlicher Drohschreiben geworden.

Er ist allerdings nach wie vor nicht in der Lage, dafür zu sorgen, dass die von rechtsradikalen PolizistInnen wiederholt angewandte Methode des Abschöpfens persönlicher Daten durch den Zugriff auf behördliche Datenbanken beendet wird. Sein Versuch, diese Versäumnisse den ihm unterstehenden Behörden anzulasten, sowie der Rücktritt des hessischen Polizeipräsidenten Münch dienen Beuth offensichtlich dazu, seinen eigenen Posten zu retten. In der Zwischenzeit können die rechtsradikalen Bullen weiterhin ungehindert ihnen unliebsame Personen terrorisieren. Dass die Opfer dieser Drohungen vorwiegend Frauen sind, macht zudem deutlich, dass es sich dabei nicht nur um rassistische, sondern auch um sexistische, frauenfeindliche Angriffe handelt.

Die Ermittlungen, die zwischenzeitlich vom LKA geleitet und nun einem Sonderermittler übertragen wurden, ziehen sich derweil mehr oder weniger ergebnislos in die Länge. So ist nach wie vor nicht geklärt, wer die Daten von Seda Basay-Yildiz abgerufen hatte, kurz bevor diese im August 2018 ein Drohschreiben erhielt. Die verdächtigen PolizistInnen der Frankfurter Polizei sind lediglich vom Dienst suspendiert.

Der Polizist aus Wiesbaden, der eingeloggt war, als die Daten von Janine Wissler abgefragt wurden, gab während seiner Befragung an, von all dem nichts gewusst zu haben. Er wird seitdem nicht mehr als Verdächtiger, sondern nur noch als Zeuge geführt. Die Polizei hat es dabei nicht einmal für nötig befunden, seine persönlichen Datenträger zu durchsuchen, um etwaige rechtsextreme Einstellungen oder Verbindungen in die rechte Szene zu ermitteln.

Von den Grünen, die in Hessen immerhin schon seit acht Jahren gemeinsam mit der CDU regieren, ist indessen nicht viel zu hören. Ihr Vorschlag zur Lösung scheinbar aller Probleme bezüglich rechtsextremer Aktivitäten und Netzwerke in der Polizei besteht in der Schaffung der Stelle eines Polizeibeauftragten, der unabhängig von bestehenden polizeilichen Strukturen arbeiten soll. Das fordern die Grünen allerdings schon seit Jahren. So wichtig, dass sie dafür die Koalition mit der CDU platzen lassen und auf ihre liebgewonnenen MinisterInnenposten verzichten würden, scheint ihnen das Ganze offenbar nicht zu sein. Grundsätzliche Kritik an der Polizei, die mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zugleich eine strukturell rassistische Ordnung verteidigt, ist von diesen hippen Konservativen ohnehin nicht zu erwarten.

Aufgabe der Linken

All dies macht eines deutlich: Die Linke und die gesamte ArbeiterInnenbewegung darf in diesen Staat kein Vertrauen hegen. Sie müssen sich mit den Opfern solidarisch zeigen und endlich daran arbeiten, dem rassistischen Treiben in Staat und Gesellschaft organisiert und entschlossen entgegenzutreten. Dessen Hauptaufgabe ist der Schutz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, nicht der von MigrantInnen und AntifaschistInnen. Die bestehenden Verhältnisse, die von den staatlichen „Sicherheits“behörden verteidigt werden, sind durch und durch nationalistisch und rassistisch. Die Überwindung dieser Verhältnisse und der Kampf für eine von jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung freie Gesellschaft sind daher Aufgabe konsequenter antifaschistischer Politik. Es geht nicht nur um die Zerschlagung staatlicher Behörden, in deren Reihen sich Rechtsextreme scheinbar ungehindert entfalten können. Es geht darüber hinaus um die Überwindung rassistischer und sexistischer Formen der Arbeitsteilung und Unterdrückung weltweit, um die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen im Zuge einer globalen sozialistischen Revolution.

Hinsichtlich der Drohschreiben und rechten Netzwerke bei den Repressionsorganen sollten wir für die Veröffentlichung aller Unterlagen, aller Akten, aller Aufzeichnungen, allen Mail-Verkehrs … von Polizei und Verfassungsschutz eintreten. Der Verschluss solcher Materialien durch die Behörden selbst ist nichts anderes als der Ausschluss der Gesellschaftskenntnis von den Dateien und Aktivitäten jener, die offenbar unfähig und unwillig zum Kampf gegen Rassismus und Faschismus sind, die vielmehr selbst ständig jene rechten Umtriebe hervorbringen, die sie zu bekämpfen vorgeben. Eine solche Untersuchung sollte nicht von einer weiteren staatlichen Behörde, sondern von VertreterInnen von MigrantInnenorganisationen, Flüchtlingen, Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien geführt werden – also von VertreterInnen jener gesellschaftlichen Gruppierungen und Organisationen, die im Visier der rechten Umtriebe stehen.

Um dem Rassismus seitens der staatlichen Behörden und von rechten Netzwerken in und außerhalb dieser Institutionen hier und heute etwas entgegenzusetzen, brauchen wir vor allem eine entschlossene antifaschistische Einheitsfront aus Gewerkschaften, der Linken und MigrantInnen, die perspektivisch auch in der Lage ist, für darüberhinausgehende gesellschaftliche Fortschritte zu kämpfen.

Die Forderung nach der Schaffung einer solchen Einheitsfront und von Selbstverteidigungsstrukturen gilt es, in die Bewegung gegen staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus zu tragen, an der sich alle Linken in vorderster Reihe beteiligen sollten.

Kundgebung: Polizei kein Freund und Helfer. Rechte Polizeinetzwerke aufdecken!

Montag, 20. Juli, 18.00, Frankfurt/Main, Konstabler Wache

Mehr Infos: https://frankfurter-info.org/termine/solidaritaet-mit-den-betroffenen-des-nsu2.0




Österreich: Zu den faschistischen Übergriffen in Favoriten und dem Angriff auf das EKH

Mo Sedlak, Infomail 1109, 30. Juni 2020

In den vergangenen Wochen wurden immer wieder feministische Kundgebungen, die von kurdischen Frauenorganisationen mitorganisiert wurden, von FaschistInnen angegriffen. Mittwoch den 24. Juli eskalierte die Situation in Wien Favoriten dann – um die hundert junge Männer attackierten eine Kundgebung gegen Morde an Frauen in Österreich und der Türkei und verfolgten die TeilnehmerInnen zum besetzten Ernst-Kirchweger-Haus (EKH). In den Tagen danach kam es immer wieder zu bewaffneten Angriffen auf solidarische DemonstrantInnen. Die lange schwelende Gefahr türkischer FaschistInnen und ihrer breiten UnterstützerInnenbasis ist damit plötzlich zu einem entscheidenden Kampf für InternationalistInnen und AntifaschistInnen geworden.

Die AngreiferInnen

Die AngreiferInnen sind vor allem junge Männer, die die Symbole der faschistischen MHP, ihrer islamistischen Abspaltung BBP und sogar des IS zeigen. Ein Beitrag auf dem „Mosaikblog“ weist darauf hin, dass diese immer näher an den türkischen Diktator Erdogan heranrücken und vor allem seine KritikerInnen angreifen. Vor allem im zehnten Bezirk werden aber auch generell Linke und politisch aktive Frauen attackiert, die FaschistInnen beanspruchen die Gegend um den Reumannplatz im 10. Bezirk als ihr Territorium. Das wurde schon am 1. Mai klar, als eine Kundgebung von türkischen, kurdischen und österreichischen Linken umzingelt wurde.

Der STANDARD schreibt, dass die faschistischen und islamistischen Gruppen in etwa 25 Vereinen organisiert sind, die der MHP und ihren Abspaltungen zuzuordnen sind. Sie sind in der Lage, sehr schnell recht viele Jugendliche zu mobilisieren, mit einer Mischung aus rechtsradikaler Ideologie und einem Versprechen auf Action. Daraus ergeben sich die vielen kleinen und größeren Angriffe aus dem Hinterhalt und auf Seitenstraßen, ebenso wie die schnellen Rückzüge in Wohngegenden und Parks.

EU finanziert, Türkei bombardiert

Die Angriffe erfolgen nicht zufällig nur wenige Tage, nachdem die Türkei am 15. Juni eine neue Offensive gegen die KurdInnen in Südkurdistan (Nordirak) begonnen hat. Nach den Angriffen auf Rojava und dem Einmarsch in Afrin (kurdisch: Êfrin) im letzten Jahr begannen Regimetruppen das autonome Flüchtlingslager in Mexmûr und die jesidischen Dörfer im Sengal zu bombardieren. Seitdem kurdische Truppen aus Rojava (YPG/YPJ) und dem türkisch besetzten Teil Kurdistans (HPG) den geplanten Genozid durch den IS an der jesidischen Minderheit verhindert hatten, gelten diese in den Augen des türkischen Regimes als PKK-Verbündete. Diese Angriffe erfolgen offensichtlich in Absprache mit der NATO, in der die Türkei Mitglied ist, und mit den Geldmitteln des schmutzigen EU-„Flüchtlingsdeals“. Sie reihen sich ein in eine Vernichtungsstrategie des türkischen Regimes gegen die nationale Befreiung der KurdInnen genauso wie gegen die türkische Linke.

Fast gleichzeitig begann übrigens auch das iranische Regime, gegen KämpferInnen und ZivilistInnen in Ostkurdistan vorzugehen). Der Großteil der kurdischen Gebiete wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt und mit Flugzeugen und Artillerie bombardiert. Auch die erste türkische Offensive in Südkurdistan wurde wohl von iranischem Artilleriefeuer begleitet.

Um den anti-kurdischen Rassismus und die Bestrebungen in Richtung „Großtürkei“ können sich auch die FaschistInnen der MHP und deren islamistische Abspaltungen sammeln. Bei den FaschistInnen gilt ja, dass wer sich durchsetzt oft Recht hat, und so wird Erdogan zur Führerfigur und seit Neuerem sogar offiziell zum Koalitionspartner.

Der internationale Charakter der anti-kurdischen Offensive, die Rolle europäischer Rüstungskonzerne und der EU-Gelder an die Türkei wurde bereits auf einer Demonstration gegen das Bombardement am vorigen Samstag auf der Mariahilfer Straße betont. „Türkische Armee raus aus Kurdistan“ und „Deutsche Panzer raus aus Kurdistan“ wurden dort gerufen.

Kämpfe und Polizeigewalt

Von Mittwoch bis Samstag kam es zu täglichen Solidaritätsaktionen im Bezirk. Das angegriffene EKH und sein Nebengebäude sind seit bald 30 Jahren das Zentrum autonomer, türkischer und kurdischer Linker im Bezirk. Nach einer nervenaufreibenden Demonstration am Donnerstag, die in jeder Seitenstraße teilweise mit Messern und Schlagstöcken angegriffen wurde, versuchten die FaschistInnen spätnachts sogar das Haus anzuzünden. Und schon da richtete sich die Reaktion der Polizei gegen die linken DemonstrantInnen. Faschistische Angriffe wurden durchgelassen, aber AntifaschistInnen die sich mit Händen und Füßen zur Wehr setzten attackiert.

Am Freitag setzte die Polizei die AntifaschistInnen schließlich nach einem massiven Angriff drei Stunden in einem Kessel fest, der derweil mit Flaschen beworfen wurde. Nach Abschluss der Demonstration am Hauptbahnhof wurden nur Zehnergruppen hinausgelassen, von denen einige in Überzahl überfallen wurden, es kam zu schweren Verletzungen. Am Samstag schließlich ließ es sich die Polizei nicht nehmen nach Abschluss der Demonstration zur türkischen Botschaft im vierten Bezirk noch 30 AntifaschistInnen zu kesseln, durch solidarischen Druck anderer AktivistInnen wurden diese aber wieder freigelassen. Auch österreichische Rechte konnten ungestört die Demonstration provozieren. Selbst wenn es nicht die Identitären oder klassische Stiernackennazis sind, stellt sich die Wiener Polizei verlässlich auf Seite der FaschistInnen.

Tatsächlich sind die Angriffe aber nichts Neues. Auf der Demonstration am Samstag berichtete eine Sprecherin des internationalistischen Frauenbündnis, das am 24. Juni am Keplerplatz angegriffen worden war, dass davor schon Kundgebungen im 17. und 20. Bezirk zum ziel faschistischer Mobilisierungen geworden waren.

Rassistische Antworten

Wie nicht anders zu erwarten warfen sich die rechtspopulistische FPÖ und die Strache-Abspaltung sofort auf das Thema. Sie schrieben einen „Ausländerkonflikt“ herbei und forderten schnelle Abschiebungen sowie den Rücktritt der Grünen Vizebürgermeisterin Hebein, die sich auf einer Solidaritätsaktion blicken hatte lassen. Aber auch aus der SPÖ kamen die Forderungen nach Abschiebungen vor den Solidaritätsbekundungen mit AntifaschistInnen, zum Beispiel vom Landtagsabgeordneten Peko Baxant). Die regierende ÖVP hat sich voll auf FPÖ-Linie eingeschossen, spricht von „Integrationsversagen“ und „ausländischen Konflikten“.

AntifaschistInnen müssen allen Aspekten dieser Argumentation entschieden entgegentreten. Erstens handelt es sich hier um einen politischen Konflikt, keine „ethnischen Auseinandersetzungen“. An den Angriffen beteiligen sich auch Jugendliche und FaschistInnen ohne Bezug auf die Türkei, angegriffen werden KurdInnen, TürkInnen und ÖsterreicherInnen gleichermaßen. Zweitens versuchen ÖVP, FPÖ und auch SPÖ-nahe „Intellektuelle“ wie Robert Misik beide Seiten gleichzusetzen, während für uns klar ist, wo wir stehen.

Aber vielleicht am wichtigsten, ist das Erstarken türkischer FaschistInnen in Favoriten ein österreichisches Phänomen. Es ist die österreichische Regierung, die sich für Milliarden an Erdogan eingesetzt hat, damit dieser Geflüchtete an der Reise nach Europa hindert. Die Zusammenarbeit mit den Vereinen von AKP, MHP und BBP findet durch österreichische Stellen statt, ebenso wie die Kriminalisierung kurdischer und türkischer Oppositioneller. Aber auch die ständige Ausgrenzung von migrantischen und armen Jugendlichen in Favoriten, die es den FaschistInnen erlaubt sich als scheinbarer Gegenpol aufzustellen ist österreichische Politik. Wenn wir gegen die FaschistInnen kämpfen, müssen wir auch die Regierungen angreifen, die sie hervorgebracht haben.

Widerstand

Mehrere Diskussionsbeiträge der letzten Tage haben darauf hingewiesen, dass die Zusammensetzung der AngreiferInnen nicht so eindeutig ist. Anscheinend stellen organisierte FaschistInnen die Minderheit, aber unorganisierte und an den Rand gedrängte Jugendliche die Mehrheit der AngreiferInnen. Damit müssen sich Linke in Wien ernsthaft auseinandersetzen.

Aber die Antwort auf faschistische Gewalt kann nicht sozialarbeiterisch sein. Das haben die blutigen Erfahrungen aus dem Deutschland der 1990er-Jahre, wo sich eine mörderische Neonaziszene um Jugendzentren und „akzeptierende Jugendarbeit“ aufgestellt hat, leider gezeigt. Die konkrete Aufgabe von AntifaschistInnen ist es, uns selbst und unsere GenossInnen zu schützen. Das gelingt am besten wenn Demonstrationen durchgesetzt, unsere Zentren verteidigt und Angriffe zurückgeschlagen werden. Nur der physische Beweis, dass sie die Macht eben nicht haben, bringt FaschistInnen von weiteren Angriffen ab.

Dafür braucht es in erster Linie ernst gemeinte internationalistische Solidarität. Der radikalen wie der reformistischen Linken ist es, bis auf Ausnahmen, in den ersten Tagen nicht gelungen stark zu den Protesten zu mobilisieren. Das muss sich ändern.

Aus einem solidarischen Bündnis müssen organisierte Selbstverteidigungsstrukturen aufgebaut werden. Nur so können wir unsere Demonstrationen gegen FaschistInnen und Polizei schützen, aber auch im Grätzl gegen Angriffe und faschistische Zusammenrottungen vorgehen. Die versuchte Stürmung des EKH, die massiven Angriffe um den Reumannplatz und Übergriffe wie am Hauptbahnhof dürfen sich nicht wiederholen, und auf die Polizei ist bewiesenermaßen kein Verlass.

Außerdem müssen wir es schaffen, die Ursachen des Problems frontal anzugreifen. Das bedeutet einen internationalistischen Widerstand gegen die Angriffe der NATO und ihre ProfiteurInnen in Europa und Österreich. Aber auch dem rassistischen Ausschluss und der wirtschaftlichen Misere in den Wiener Außenbezirken müssen wir ein klar antikapitalistisches Programm entgegenstellen. Das würde den FaschistInnen ihre SympathisantInnenbasis dauerhaft entziehen.

Schließlich ist es selbstverständlich, dass wir uns mit dem politischen Kampf der KurdInnen um nationale Befreiung und Autonomie solidarisieren. Relativierungen oder ein vages „Ablehnen von jedem Nationalismus“ bedeutet hier auf der Seite der UnterdrückerInnen zu stehen. Bijî Berxwedana Kurdistan – es lebe der Widerstand in Kurdistan!




Gegen rechte Angriffe auf Stuttgarter DGB! Wehret den Anfängen!

Karl Kloß, Infomail 1106, 6. Juni 2020

Am 5. Juni fand als Reaktion auf den Angriff der Identitären vom vergangenen Wochenende auf das DGB-Haus in Stuttgart eine Kundgebung statt. Aufgerufen dazu hatte der DGB Bezirk Baden-Württemberg unter dem Motto „Demokratie stärken und schützen!“. Die Kundgebung war für etwa 100 Leute angemeldet, etwa 300 nahmen teil. Als RednerInnen sprachen neben dem DGB-Bezirksvorsitzenden Martin Kunzmann der Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg Roman Zitzelsberger, der ver.di-Landesbezirksleiter Martin Gross und die ver.di-Jugend Baden-Württemberg, die Erste Bevollmächtigte der IG Metall Stuttgart Nadine Boguslawski sowie der VKL-Vorsitzende Jose-Miguel Revilla von Mercedes-Benz Stuttgart-Untertürkheim.

Während sich Zitzelsberger darauf beschränkte, die Erhöhung des gesetzlichen KurzarbeiterInnengeldes auf 80 % als Erfolg zu verkaufen und sich nebenbei noch ein bisschen über die Aktion der Identitären aufzuregen, betonten die anderen RednerInnen auch den geschichtlichen Hintergrund des DGB-Hauses in Stuttgart. Dies war 1933 wie auch viele andere Gewerkschaftshäuser von der NSDAP und ihren Schlägerbanden gestürmt worden. Viele GewerkschaftInnen wurden festgenommen oder gar ins KZ gesteckt und das Gewerkschaftsvermögen eingezogen. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur wurde das DGB-Haus in Stuttgart wieder seinem ursprünglichen Zweck gewidmet. Der DGB konnte es wieder nutzen, was auch dem Engagement des damaligen IG-Metall-Bezirksleiters Willi Bleicher (ab 1959) zu verdanken war.

Insgesamt kann die Kundgebung als positiv betrachtet werden. Zwar wurde schon am Tag des Angriffes selbst bei einer anderen Kundgebung des Anti-Krisenbündnisses Stuttgart eine entsprechende Reaktion auf den Angriff der Identitären angekündigt. Allerdings wurde jedoch der gesamte Prozess von der Anmeldung bis zur Mobilisierung vom DGB hinausgezögert und nur wenige bekamen überhaupt eine genaue Info, wann und wo genau die Aktion stattfinden sollte. Für dieses Vorgehen muss der DGB kritisiert werden. Statt alle Gewerkschaften und deren Mitglieder in möglichst großer Zahl zu mobilisieren, begnügte man sich lieber damit, eine kleine ausgewählte Menge vor dem DGB-Haus zu versammeln. Daher auch der Hinweis am Ende des Mobilisierungsaufrufes, dass die TeilnehmerInnenzahl auf maximal 100 TeilnehmerInnen beschränkt sei. Dies wurde mit den Kontaktbeschränkungen gerechtfertigt. Wichtiger wäre es gewesen, breit und möglichst zahlreich zu mobilisieren, um nicht nur ein Zeichen der Stärke gegen rechte Angriffe zu setzen, sondern um sich auch klar gegen die Einschränkungen demokratischer Grundrechte wie das Recht auf Versammlungsfreiheit zu positionieren und den Kampf gegen die Abwälzung der Kosten der Krise auf die ArbeiterInnenklasse zu thematisieren.




Nein zu rechten Verschwörungsmythen! Kampf der Abwälzung der Krise auf die ArbeiterInnenklasse!

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht Berlin für den 30. Mai, Infomail 1105, 29. Mai 2020

Das Coronavirus hat unser aller Leben nachhaltig verändert. Einerseits befinden wir uns in einer Pandemie, die allein in Europa und den USA mehr als 200.000 Menschen das Leben gekostet hat (weltweit über 350.000!) und deren langfristige Folgen nicht abschätzbar sind. Während im Großteil der sogenannten Dritten Welt nicht einmal mehr gezählt wird, ist im größten Geflüchtetenlager der Welt in Kutupalong in Bangladesch am 15. Mai der erste Covid-19-Infizierte erkannt worden. Wir befinden uns in einer gesundheitlichen Katastrophe, deren ungehinderte Ausbreitung kein Gesundheitssystem dieser Welt fähig wäre zu stoppen!

Globale Krise

Zugleich stehen wir am Beginn der schwersten globalen Wirtschaftskrise seit fast 100 Jahren. Hierzulande müssen Millionen Menschen in Kurzarbeit massive Einkommensverluste hinnehmen, Scheinselbstständige, Hartz-IV-BezieherInnen und prekär Beschäftigte wissen kaum, wie sie die laufenden Kosten decken sollen. Die GroKo nimmt Milliarden für Rettungspakete auf, die jedoch in erster Linie zum Erhalt des deutschen Kapitals dienen, wie es die Diskussionen rund um Abwrackprämien oder Milliardenstützen für die Unternehmen, vor allem die Großkonzerne, zeigen. Zugleich fordern diese obendrauf eine Absenkung des Mindestlohns und die weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten.

International droht ein Einbruch lebenswichtiger Produktionsketten, die zur Versorgung der Menschheit notwendig sind. Auch dafür sollen die Lohnabhängigen weltweit zahlen. Beispielsweise sind allein in Deutschland die Lebensmittelpreise um durchschnittlich 14 % gestiegen im Vergleich zum April 2019. In Ländern wie Pakistan oder Indien, in vielen Ländern Afrikas und Lateinamerikas droht der Hunger, für Millionen zum Alltag zu werden. Dies verdeutlicht die Wichtigkeit einer internationalen Antwort der ArbeiterInnenbewegung. Es bedeutet, für eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle zu kämpfen, für die Umstellung von Produktion und Verteilung im Interesse der großen Mehrheit der Weltbevölkerung, also für eine demokratische Planung unter Kontrolle der Arbeitenden.

Wir stehen vor einer doppelten Krise. Für das Kapital und die Regierung sind Schutz und Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung, der Jugend und RentnerInnen nur eine Nebenfrage. Für sie geht es vor allem darum, dass die kapitalistische Profitmache weitergeht. Daher fordern sie wirtschaftliche Lockerungen und überhastete Schulöffnungen – egal, ob der nötige Arbeits- und Gesundheitsschutz existiert oder nicht und trotz der Warnungen medizinischer ExpertInnen vor einer zweiten Welle der Pandemie.

Demonstrationsrecht

Zugleich durften politische Versammlungen bis zum 30. Mai nur unter drastischen Einschränkungen stattfinden. Diese Einschränkung politischer Rechte, insbesondere des Demonstrationsrechts, wird nun zwar wieder aufgehoben, wir müssen aber sicherstellen, dass dies nicht wieder kassiert wird, wenn wir Lohnkürzungen, Verarmung, Abschiebungen und Entlassungen verhindern wollen.

Von den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, den Gewerkschaften, Parteien wie DIE LINKE und die SPD fordern wir ein Ende der Politik des „nationalen Schulterschlusses“, der Beteiligung an oder der Zusammenarbeit mit der Bundesregierung. Wir brauchen vielmehr eine Politik der Opposition – in den Betrieben, an Schulen, Unis, im Stadtteil, auf der Straße. Die Aufgabe der Stunde besteht darin, mit der Politik des Burgfriedens zu brechen und eine klassenkämpferische Antikrisenbewegung aufzubauen. Denn wir sitzen nicht in einem Boot!

RattenfängerInnen nicht auf den Leim gehen!

In der Krise inszeniert sich ein Haufen verängstigter KleinunternehmerInnen, KünstlerInnen und sozial vor dem Abgrund Stehender im Schulterschluss mit neurechten StrategInnen, ReichsbürgerInnen, FaschistInnen und sonstigen CorvidiotInnen als scheinbarer Widerstand. Hier wird die berechtigte Frage der Kontrolle über die Corona-Maßnahmen entstellt und ergänzt durch giftige Leugnung des Virus, die in ihren Erklärungen nur einen gemeinsamen Punkt finden: sie sind allesamt irrational. Uns bedrohen keine Echsenwesen und Impfdiktaturen. Die Krise wird auch nicht durch eine False-Flag-Aktion verursacht, sondern erwächst aus den Widersprüchen der kapitalistischen Marktwirtschaft und Konkurrenz.

Eine breite Antikrisenbewegung muss sich diesen rechten RattenfängerInnen in den Weg stellen. Sie muss deutlich machen, dass diese nur einem weiteren Erstarken der Rechten dienen können und keinen Schutz vor Entlassungen und Spardiktaten bieten. Die RattenfängerInnen verwechseln Freiheit mit Rücksichtslosigkeit, von der es im Kapitalismus ohnehin schon zu viel gibt. Deshalb kann der Kampf gegen die doppelte Krise nur verbunden mit dem gegen diese neurechte Bewegung erfolgreich sein!

Wir zahlen nicht für Pandemie und Krise!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle, Fortzahlung der vollen Löhne statt KurzarbeiterInnengeld, Mindesteinkommen von 1600,- für alle Arbeitslosen, RenterInnen, Studierende und Kranke!
  • Keine Milliarden-Geschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle!
  • Aufhebung aller Einschränkungen des Demonstrations- und Versammlungsrechts! Rassismus und Faschismus entgegentreten – Selbstschutz aufbauen!
  • Unterstützung von Streiks und Kämpfen gegen Entlassungen, Lohnraub, Räumungen von Wohnraum! Internationale Solidarität statt nationaler Abschottung!



Die Rote Armee – Befreiungsarmee gegen den Faschismus

Wilhelm Schulz, Infomail 1103, 9. Mai 2020

Am 8. Mai jährt sich zum 75. Mal die Niederlage des deutschen Faschismus gegenüber den Westalliierten und am 9. Mai die Kapitulation der Wehrmacht vor den sowjetischen Streitkräften. Die Rote Armee stellte hierbei eine besondere, gar die bedeutendste Kraft in der Befreiung vom Faschismus dar. Sie kämpfte an der sogenannten Ostfront fast vier Jahre lang. Hier wurden der Wehrmacht die stärksten Verluste zugefügt. Die Sowjetunion hatte mit mehr als 27 Millionen Toten die größten Opferzahlen des Krieges zu beklagen, ein Großteil waren zivile Verluste.

Heute werden die Leistungen der Roten Armee zumeist gegenüber denen der Westalliierten heruntergespielt oder „vergessen“. Deswegen werden wir hier auf diese eingehen und damit verbunden die Sowjetunion als eine außerordentliche Kriegspartei beleuchten.

Die Rote Armee

Sie wurde am 28. Januar 1918 gegründet, um die Errungenschaften der Oktoberrevolution gegen die kapitalistische Weiße Armee zu verteidigen. In der Eidesformel verpflichtete sie sich der internationalen sozialistischen Revolution. Die Rote Armee war die Armee eines proletarischen Staates. Auch wenn sie bestimmte Formen (stehendes Heer) beibehielt, war sie keine bürgerliche Armee. Die innere Hierarchie wurde auf das Nötigste begrenzt, z. B. gab es keine Unterschiede in den Uniformen. Die RotarmistInnen konnten ursprünglich ihre VertreterInnen wählen und es gab demokratische Kongresse. Dies wurde jedoch bereits Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts aufgrund des schweren Krieges gegen die Weiße Armee ausgesetzt. Bis 1925 war Leo Trotzki der Volkskommissar für Kriegswesen. Zu Zeiten des BürgerInnenkriegs gab es auch Kommissarinnen. Ein bekanntes Beispiel ist Larissa Reissner.

Doch mit dem Sieg der politischen Konterrevolution durch Stalins Bürokratie in der Kommunistischen Internationale (KomIntern) und der Sowjetunion (SU) wurden diese Errungenschaften angegriffen. Die Rangzeichen wurden wieder eingeführt. Die Eidesformel wurde so verändert, dass fortan auf das Vaterland statt auf die internationale Befreiung der ArbeiterInnen geschworen wurde. Im Rahmen von Stalins Säuberungen (u. a. Moskauer Prozesse) wurde knapp ein Viertel der Offiziere bis zur untersten Ebene abgesetzt oder ermordet, was für die Rote Armee eine deutliche Schwächung im Kampf gegen den Faschismus bedeutete.

Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

In der Zeit von 1928 bis 1933 lehnte die bürokratisierte KomIntern jede Einheitsfrontpolitik mit der Sozialdemokratie ab und verleumdete die SPD als „gemäßigten Flügel des Faschismus“, als dessen „Zwillingsbruder“. Die Folge war eine Isolation der KommunistInnen und der Sieg Hitlers über die deutsche ArbeiterInnenbewegung.

Anstatt daraus eine korrekte Einheitsfrontpolitik als Lehre zu ziehen, arbeitete die KomIntern nach 1933 nicht nur mit der Sozialdemokratie zusammen, sondern auch mit angeblich progressiven Teilen der Bourgeoisie – ohne einen offenen politischen Kampf zu führen. Die proletarische Revolution wurde dem untergeordnet und verraten – einschließlich der Liquidation linker KritikerInnen. Auch das führte zu Niederlagen wie z. B. in Spanien 1939 gegen Franco.

Am 24. August 1939 unterzeichnete die SU den Ribbentrop-Molotow-Nichtangriffspakt, auch bekannt als Hitler-Stalin-Pakt. Dieser verschaffte zwar Zeit bis zu ihrem wirklichen Kriegseintritt, jedoch auf Kosten der Überlassung weiter Teile Osteuropas an den Faschismus, darunter die Aufteilung Polens zwischen der SU und Nazi-Deutschland.

Das NS-Regime überfiel am 22. Juni 1941 die SU und beendete somit den Pakt. Zwei Tage später propagierte die Prawda (sowjetische Tageszeitung) den „Heiligen Krieg“ – später: „Großer Vaterländischer Krieg“ – gegen das „faschistische Böse“. Die Losung der sozialistischen Revolution gegen den Faschismus wurde nicht aufgeworfen.

Bis zum Sieg der Roten Armee in Stalingrad im Februar 1943 befand sich die SU weitgehend in der Defensive, sodass die Wehrmacht kurz vor Moskau stand. Mit dem heldenhaften Sieg in Stalingrad wendete sich das Blatt und die Wehrmacht konnte über die kommenden Jahre bis nach Berlin zurückgedrängt werden. Hier ist auch die Bedeutung der PartisanInnenkämpferInnen hervorzuheben, die in den vom deutschen Faschismus besetzten Gebieten im Widerstand standen und dabei oftmals ganze Divisionen banden.

Die gigantischen Potentiale der Planwirtschaft, selbst in ihrer bürokratischen Abart, zeigte die kurzfristige Reorganisation der Produktion beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Nicht nur wurde sie schnell auf Kriegsmaschinerie umgerüstet, sondern es wurden auch 1.300 Betriebe innerhalb weniger Jahre weg von der drohenden Front in den Osten des Landes verlagert.

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht bedingungslos gegenüber den Westmächten und dann am 9. Mai gegenüber der Sowjetunion. Der imperialistische Vernichtungskrieg kostete 60 Millionen Menschen das Leben. In seinem Schatten fand die verbrecherische industrielle Massenvernichtung politischer GegnerInnen und vor allem von Juden und Jüdinnen in der Shoa (Holocaust) statt.

Rote Armee – eine besondere Kraft

Die Sowjetunion war keine Kriegspartei wie die anderen, kapitalistischen Staaten. Die Politik der anderen Alliierten bestätigt das: Neben dem Sieg über den Faschismus (der in erster Linie eine wild gewordene imperialistische Konkurrenz darstellte) war auch die Schwächung der Sowjetunion ihr Ziel. Die SU war zu dieser Zeit ein sogenannter degenerierter ArbeiterInnenstaat: Die Fabriken und Ländereien waren zwar verstaatlicht und die Bourgeoisie entmachtet, jedoch lag die Kontrolle über die Produktionsmittel nicht in den demokratischen Händen der ArbeiterInnen, sondern in denen einer Bürokratie.

Diese verfolgte ihre eigenen privilegierten Interessen und wurde so zu einem Hindernis in der internationalen Revolution. Vielmehr ging es der Bürokratie um einen Kompromiss mit dem Imperialismus – der Hitler-Stalin-Pakt, aber auch die Zusammenarbeit mit den Alliierten zeigen das. Dies bedeutete einen Verrat an der Losung Lenins der „Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg [, als] […] die einzig richtige proletarische Losung.“ Wir kritisieren dabei nicht die taktisch-militärischen Absprachen an sich, sondern deren politische und strategische Dimension. Letztlich schloss die Bürokratie ihren Frieden mit dem Kapitalismus auf Weltebene.

Im Februar 1946 wurde die Rote Armee in Sowjetarmee umbenannt, was den falschen Frieden der Sowjetunion mit dem kapitalistischen Ausland unterstreicht. Leo Trotzki analysierte in seinem Werk „Die verratene Revolution“ von 1936 die Sowjetunion als einen degenerierten ArbeiterInnenstaat, in dem die Bürokratie der ArbeiterInnenklasse die politische Macht entrissen hat. Die SU verharrte in einem Zwischenstadium zwischen Kapitalismus und Sozialismus und in nationaler Isolation. Dieser Zustand musste entweder zum Sturz der Bürokratie durch eine politische Revolution mit Wiedereinführung einer ArbeiterInnendemokratie und zur Internationalisierung der Revolution führen oder zur konterrevolutionären Restauration des Kapitalismus – die nach 1989 eintrat.

Trotzdem war die Sowjetunion mit dem vergesellschafteten Eigentum eine historische Errungenschaft, die es auch für InternationalistInnen zu verteidigen galt. Deshalb war auch der Kriegseintritt berechtigt und notwendig. Auch als GegnerInnen Stalins traten die TrotzkistInnen für ihren Sieg ein. Dieser führte zur Zerschlagung des Faschismus als Rammbock gegen die ArbeiterInnenbewegung, beendete den Völkermord und erhielt zeitweilig die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution. Deshalb sagen wir, damals, wie heute: Dank euch ihr SowjetsoldatInnen!

Anhang: Die Rote Armee und die Frauen

Etwa 800.000 Frauen kämpften in der Roten Armee, ob im Heer, in der Luft, zur See oder im Innendienst. Ab 1941 begann die Anwerbung von Frauen, die bis dato die „traditionellen Männerberufe“ an der „Heimatfront“ übernehmen sollten. Zuerst nur in Zuarbeit als Funkerinnen oder Sanitäterinnen, wurde ab 1942 die Ausbildung ausgeweitet. Die Möglichkeit für Frauen, für einen, wenn auch degenerierten, ArbeiterInnenstaat zu kämpfen, ist eine Errungenschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt keine andere Armee in dieser Form freiwillig einführte. Es gab aber auch negative Seiten. So mussten sich Frauen vor allem gegenüber den Rotarmisten und deren Vorurteilen durchsetzen. Viele gingen aus Angst vor Vergewaltigungen und Übergriffen „Liebesbeziehungen“ ein. So stellte die Menstruation als auch ihr Ausbleiben im Gefecht eine hohe Gefahr für die Soldatinnen dar. Nach dem Krieg hielten viele ihre Vergangenheit geheim, um weiterhin als heiratsfähig, somit weiblich, zu gelten. Ausführlicher hierzu, aber auch zu Heldinnentaten, können wir „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ von Swetlana Alexijewitsch empfehlen.

Verhalten der Roten Armee gegenüber Zivilistinnen

Es wird geschätzt, dass zwei Millionen Frauen und Mädchen im Zuge der Geländeeroberungen der Roten Armee Vergewaltigungen zum Opfer gefallen sind. Dies ist ein abscheuliches Verbrechen und zeigt die Verrohung der Roten Armee im Krieg. Doch im Nachhinein wurde dies oft als antikommunistisches Argument benutzt, indem es verzerrt dargestellt wird, denn die Gewalttaten der Faschisten und des gesamten imperialistischen Krieges waren unbeschreiblich und haben erst zu dieser Verrohung beigetragen.
Der Umgang unter Rotarmisten mit Frauen ist ein Beispiel für den Bruch mit der alten Eidesformel des Rates der VolkskommissarInnen. Hier hieß es u. a. „Ich verpflichte mich, mich selbst und die Genossen von Handlungen abzuhalten, die die Würde eines Bürgers der Sowjetrepublik herabsetzen, und mein ganzes Tun und Denken auf das große Ziel der Befreiung aller Arbeitenden zu richten.“