8% bei 12 Monaten Laufzeit sind schon das Minimum! Urabstimmung und Vollstreik jetzt!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG, ursprünglich veröffentlicht auf vernetzung.org am 31. Oktober 2022), Infomail 1203, 4. November 2022

Der Gesamtmetallverband hat nach monatelangem Nullrunden-Geschrei in der dritten Verhandlungsrunde ein Scheinangebot vorgelegt: Eine Einmalzahlung oder auch Inflationsbeihilfe/-prämie genannt – von 3000 Euro – steuer- und sozialabgabefrei, plus eine unbezifferte Lohnerhöhung, letzteres aber nur, wenn 30 Monaten Laufzeit vereinbart wird. Außerdem wollen sie eine dauerhafte automatische Differenzierung je nach wirtschaftlicher Situation der Betriebe, also Ausstiegsmöglichkeiten aus tariflichen Erhöhungen. Diese Bedingungen sind eine klare Erpressung – von Leuten, denen es selbst zu gut geht, als dass ihnen steigende Energie- und Lebensmittelpreise auch nur annähernd wehtun würden! Da mussklar gesagt werden: Nicht mit uns!

Das Angebot von 3000 Euro – umgerechnet auf 30 Monate – wären gerademal 100 Euro mehr im Monat. Das ist einfach nur lächerlich und unverschämt, weil damit absolut nichts ausgeglichen werden kann und sich auch nicht in der Tabelle niederschlägt. Nach 4 ½ Jahren ohne tabellenwirksame Erhöhung ist es mehr als dringend, dass es jeden Monat mehr Geld gibt und nicht schon wieder nur eine Einmalzahlung. Auch die Differenzierungen sind abzulehnen – sie sind ein klarer Angriff auf den Flächentarif. Erkämpfte Errungenschaften bei Entgelt und Arbeitsbedingungen werden ausgehöhlt, die Entsolidarisierung und das Standortdenken befördert.

Nein zu halben Sachen

Nur mit tabellenwirksamen Erhöhungen kann der Lebensstandard erhalten werden. Da sind die im Juni beschlossenen 8 % inzwischen schon eher zu niedrig. So fordert z.B. verdi für den Öffentlichen Dienst 10,5 %, mindestens aber 500 Euro. Eine so bescheidene Forderung von 8 % darf nicht auf eine noch längere Zeit gestreckt werden, sonst ist der Reallohnverlust noch höher. Deshalb sagen wir – maximale Laufzeit von 12 Monaten – die Zeiten sind ungewiss, die Krise wird noch länger dauern. Die Handlungsfähigkeit muss gewahrt bleiben. Die Laufzeit darf nicht zur Verhandlungsmasse werden.

Die IG Metall hat das Angebot von Gesamtmetall als unzureichend bezeichnet. Das stimmt! Aber es ist ein Problem, dass die Forderungen in aktuellen Stellungnahmen nicht mehr benannt werden. Stattdessen ist nur noch die Rede von „8% mehr Geld“ nicht von „8% Tariferhöhung“. Wenn eine tabellenwirksame Tariferhöhung gefordert wird, dann immer ohne Zahl. Die 12 Monate werden gar nicht mehr erwähnt. Heißt das, dass die Spitze der IG Metall offen ist dafür, die 3000€ Einmalzahlung in die „8% mehr Geld“ einzubauen, nachdem sie dies in der konzertierten Aktion mitverhandelt hat? Gegen 3000 Euro ist nichts zu sagen – aber es muss dabei bleiben: es darf keine Kompensation dieser Einmalzahlung mit einem Tarifergebnis geben!

Es darf keine Schönrechnerei geben, wie es beim Chemieabschluss der Fall war. Gäbe es zum Beispiel 4 % ab jetzt und weitere 4% ab Oktober 2023, so bedeutet das bei einer Inflationsrate von aktuell 10% und weiteren 8% im nächsten Jahr deutlichen Reallohnverlust. Dazu kommt, dass der Anstieg bei Energie und Lebensmitteln deutlich über der Inflationsrate liegt. Daher brauchen wir die 3000 Euro abschlagsfreie Einmalzahlung ZUSÄTZLICH zu der Tabellenerhöhung von mindestens 8% auf 12 Monate!

Ernst machen!

Die Verhandlungsführer und Bezirksleiter der IGM betonen die Notwendigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen und die ersten Warnstreiks sind in der Nacht vom 28.10 auf den 29.10. angelaufen. Es wird allerdings notwendig sein, Urabstimmung und Voll-Streik vorzubereiten. Das hat Gesamtmetall mit ihrem Null-Rundengeschrei und dem unverschämten Angebot deutlich gemacht. Deshalb ist es wichtig, dass die IG-Metall-Vertrauenskörper jetzt Beschlüsse fassen, und den führenden Gremien der IG Metall den klaren Auftrag erteilen, Urabstimmung und Voll-Streik vorzubereiten.

Bei den 24-stündigen Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie 2018 mit Beteiligung von hunderttausenden Kolleg*innen wurde im Ansatz deutlich, welche Kraft in den Belegschaften steckt. Eine starke Streikbewegung in der M&E- Industrie ist möglich und nötig! Als Vorbereitung wären große Warnstreiks und ein flächendeckender 24-Stunden-Warnstreik sinnvoll. Innerhalb eines solchen könnten die Belegschaften zu Versammlungen zusammengebracht werden, um über die weitere Strategie für Urabstimmung und Vollstreik zu beraten und anschließend in kämpferischen Demonstrationen Stärke zeigen. Wo noch nicht geschehen, sollten betriebliche Arbeitskampfleitungen gewählt werden. Es ist jetzt wichtig, möglichst alle Kolleg*innen in einen Arbeitskampf einzubeziehen und alle Arbeitskampfschritte gemeinsam zu diskutieren und gemeinsam zu beschließen. Außerdem sollte in Streikversammlungen über jedes neue Angebot umfassend informiert, diskutiert und abgestimmt werden. Annahme eines Angebots sollte erst nach Diskussionen und Abstimmungen in Streikversammlungen erfolgen. Es muss endlich wieder ernst gemacht werden: Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still!

Flyer zum Herunterladen und Weiterverbreiten:

https://vernetzung.org/wp-content/uploads/2022/10/Erklaerung-VKG-TR-IGM-Angebot-Gesamtmetall.pdf




Die Green New Deals. Programm zur Rettung des Klimas oder des Kapitalismus?

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

In der Not verspricht auch die bürgerliche Politik Rettung für die Menschheit und den Planeten. Längst können selbst große Teile der herrschenden Klassen die Krise des Kapitalismus und die drohende ökologische Katastrophe nicht mehr ignorieren. Zu augenscheinlich mehren sich jährlich die Auswirkungen der Umweltkrise, vor allem des Klimawandels, in Form von Extremwetterlagen. Die wichtigsten kapitalistischen Mächte,  ob nun die USA unter Biden, die EU unter der Kommissionsvorsitzenden von der Leyen oder das aufstrebende China, bekennen sich zum Klimaschutz. Alle wollen erklärtermaßen nicht nur die Welt retten, sondern beanspruchen auch noch eine führende Rolle bei der ökologischen Runderneuerung des Kapitals.

Die Realität straft diese Behauptungen Lügen. Bei den Weltklimagipfeln kommt regelmäßig wenig mehr als heiße Luft heraus. Nichts gewesen außer Spesen und viel Blabla. Die Gipfel dienen mittlerweile allenfalls als Foren dafür, die eigenen Anstrengungen schönzureden, eine Reihe unverbindlicher Erklärungen abzugeben und ansonsten die Schuld für das weitere Voranschreiten der Katastrophe bei der Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu suchen. Wie unlängst im November 2021 in Glasgow besteht der gemeinsame Nenner dieser Umweltpolitik darin, Meeting für Meeting dieselben Ziele und Absichten zu formulieren – und ansonsten möglichst keine konkreten Verpflichtungen einzugehen.

Zugleich konstatieren die Berichte des Weltklimarates IPCC regelmäßig die Verschlechterung der Lage und ein Zurückbleiben hinter den selbst gestellten, ohnehin moderaten Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens aus dem Jahr 2015. Nachdem die Emissionen 2020 infolge von Corona und globaler Rezession zeitweilig zurückgingen, werden sie 2021 wieder das Vorkrisenniveau erreichen. 2022 droht, einen neuen Höchstwert des CO2-Ausstoßes mit sich zu bringen. Eine Zusammenfassung des IPCC-Berichts aus dem Jahr 2021 bringt das folgendermaßen auf den Punkt:

„Die globale Oberflächentemperatur wird bei allen betrachteten Emissionsszenarien bis mindestens Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. Eine globale Erwärmung von 1,5 °C und 2 °C wird im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten werden, es sei denn, es erfolgen in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2– und anderer Treibhausgasemissionen.“[i]

Diese und ähnliche Schlussfolgerungen werden mittlerweile durch beachtliche Fortschritte der Klimaforschung und durch Untersuchungen weiterer ökologischer Krisenprozesse so gut untermauert, dass sie über jeden ernst zu nehmenden Zweifel erhaben sind. Betrachtet man darüber hinaus nicht nur den Klimawandel, auf den sich die bürgerliche Umweltpolitik konzentriert, sondern weitere ökologische Krisenprozesse, so kann die aktuelle Gefahr kaum überschätzt werden. Parallel zum Klimawandel nehmen auch die Versauerung der Ozeane, die sinkende biologische Vielfalt, der Eintrag von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre, die Gefährdung der Ozonschicht, die Übernutzung von Land und Trinkwasser sowie die Verschmutzung durch Nanomaterialien und Mikroplastik kritische Ausmaße an. In der 2009 veröffentlichen Studie über die „Belastungsgrenzen des Erdsystems“ untersuchte der Agrarwissenschafter Johan Rockström diese verschiedenen Subsysteme und ihren Zusammenhang.

„Laut dieser Bestandsaufnahme der ökologischen Krise sind nur zwei von sieben Belastungsgrenzen noch nicht überschritten (nämlich die Süßwasser-Regeneration und Aufnahmefähigkeit der Ozeane für Kohlendioxid). Die Probleme sind zudem miteinander verbunden.“[ii]

Die wechselseitige Verbundenheit der oben benannten Phänomene erfordert nicht nur rasches, sondern vor allem auch planmäßiges, vorausschauendes Handeln, um den Stoffwechsel von Mensch und Natur und die Reproduktion des Erdsystems so zu organisieren, dass die Reproduktion der Menschheit dauerhaft und nachhaltig möglich ist. Das Fortschreiten nicht nur des Klimawandels, sondern auch aller anderen ökologischen Krisenphänomene droht letztlich, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit selbst zu zerstören.

Auf einen rationalen, vernünftigen Umgang durch die herrschende Klasse kann jedoch keinesfalls gerechnet werden, weil der eigentliche Zweck kapitalistischen Wirtschaftens, nämlich möglichst hohe Profite zu erzielen, nicht in Frage gestellt wird und von Kapitalseite auch nicht in Frage gestellt werden kann. Unabhängig davon, was einzelne UnternehmerInnen, AktionärInnen, ManagerInnen oder deren politische SprecherInnen auch wollen, sorgen die Zwangsgesetze der Konkurrenz dafür, dass sie bei Strafe des eigenen Zurückbleibens und Untergangs gezwungen sind, eben diesen Folge zu leisten, sich als Personifikationen des Kapitals zu verhalten.

Während zur Zeit die meisten Regierungen der Erde die Gefahr als solche durchaus anerkennen, ist das keineswegs bei allen der Fall. Die Leugnung des Klimawandels oder anderer ökologische Gefahren durch die Trumps und Bolsonaros dieser Welt ist zwar irrsinnig, hat aber nachvollziehbare systemische Ursachen. Angesichts der aktuellen strukturellen Krise des Kapitalismus, der verschärften Konkurrenz und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten stellen sie eine mögliche Rechtfertigung dafür dar, sich der Kosten des Klimawandels zumindest kurzfristig zu entziehen. Die aktuelle Weltlage bringt solche Formen des Irrationalismus durchaus folgerichtig hervor, sowohl bei einem Flügel des Kapitals als auch in Form reaktionärer kleinbürgerlich-populistischer Parteien und Bewegungen.

Vom Standpunkt der Konzerne und Nationalökonomien, die um ihre Stellung auf dem Weltmarkt fürchten, oder der Kleinunternehmen, die im Konkurrenzkampf zu unterliegen drohen, erscheint der Klimawandel als Ursache für ihren drohenden Niedergang oder Ruin. Sobald dieser oder der menschliche Einfluss auf ihn geleugnet wird, erscheint jede Anstrengung zur Abwendung der drohenden ökologischen Katastrophe als das  eigentliche Problem. Selbst die unzureichenden Pläne der Klimakonferenzen werden dann zum Anschlag, zur regelrechten Verschwörung gegen die „eigene“ Wirtschaft, Nation, den kleinen Laden oder den Arbeitsplatz verkehrt. Gerade weil sich die vorherrschende bürgerliche Klimapolitik als unfähig erweist und erweisen wird, auch nur eines der großen ökologischen Probleme zu lösen, werden früher oder später weitere reaktionäre bürgerliche und kleinbürgerliche Bewegungen auf den Plan treten, die die drohenden Katastrophen leugnen und mit nationalistischen, chauvinistischen und populistischen Lösungen reaktionär verknüpfen.

Das Versprechen des Green (New) Deal

Zur Zeit erkennen jedoch die vorherrschenden politischen Kräfte das Problem als solches an. Die EU-Kommission und alle Parteien, die sie tragen (Konservative, Liberale, Grüne und Sozialdemokratie), vertreten ein Programm des Green Deal. Biden verspricht das größte Klimaschutzprogramm der Geschichte im Umfang von zwei Billionen US-Dollar. Sowohl die EU als auch die USA, also die beiden (noch) größten Wirtschaftsregionen der Welt, haben sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein. China will dies 2060 erreichen, Indien 2070. Eine Klimapolitik, die ökologisch und ökonomisch nachhaltig sein will, versprechen heutzutage unter dem Titel Green Deal, Green New Deal oder einem ähnlichen Öko-Label fast alle.

Sicherlich sind die EU-Mächte wie Deutschland und Frankreich oder die USA nicht aus reinen Vernunftgründen zu dieser Einsicht gelangt, sondern wegen der kaum zu leugnenden Auswirkungen der ökologischen Krisen, vor allem aber aufgrund des politischen und gesellschaftlichen Drucks von Massenbewegungen und linker VertreterInnen einer sozialökologischen Transformation.

Es bedurfte langer, erbitterter Kämpfe vor allem jugendlicher und lohnabhängiger AktivistInnen der Umweltbewegung in den imperialistischen Metropolen, von Bauern und Bäuerinnen, von Landlosen, von GewerkschafterInnen und Indigenen in den halbkolonialen Ländern, um die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die „ökologische Frage“ überhaupt ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu rücken. Über Jahrzehnte bekämpften viele, die heute den Green Deal versprechen, diese Bewegungen und in zahlreichen Ländern werden Bauern und Bäuerinnen und indigene Völker, die sich gegen Landraub und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wehren, weiter mit brutaler Gewalt unterdrückt, vertrieben oder gar ermordet.

Selbst die Ideen des Green Deal (GD) und der ökologischen Modernisierung der Wirtschaft, der sich USA und EU mit milliardenschweren Programmen verschrieben haben, gehen ursprünglich auf radikalere Programme aus dem kleinbürgerlichen oder reformistischen Flügel der Umweltbewegung zurück. So wurden erste Vorschläge für einen Green New Deal (GND) 2007/2008 in Britannien von der Green New Deal Group veröffentlicht, der VertreterInnen von NGOs, eine grüne Abgeordnete und später auch einige der Labour Party angehörten. Ähnliche Vorstellungen wurden auch in anderen grünen Parteien in Europa entwickelt und zur Klimakonferenz in Dänemark 2009 einer größeren Öffentlichkeit präsentiert.

In den letzten Jahren wurde der GND von zahlreichen linken Kräften aufgegriffen und popularisiert. Die britische Labour Party machte ihn 2019 zu einem Bestandteil des Wahlprogramms. Linke demokratische US-amerikanischen PolitikerInnen wie Bernie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez (AOC) griffen ihn ebenfalls auf. Schließlich fordern auch die Parteien der europäischen Linkspartei einen Green New Deal, der sich durch eine stärkere Betonung der sozialen Frage und globaler Klimagerechtigkeit vom Green Deal der EU-Kommission abheben soll.

Im folgenden Artikel wollen wir uns mit verschiedenen Konzepten des GD und GND auseinandersetzen und diese einer Kritik unterziehen. Auch wenn die verschiedenen Ansätze selbst noch eine bunte Bandbreite unterschiedlicher Theorien, AutorInnen und Schwerpunkte inkludieren, so werden wir uns mit drei Hauptströmungen befassen bzw. mit AutorInnen, die für diese stehen. Zwischen ihnen existiert natürlich eine Reihe von Überschneidungen, Übergängen und Zwischenstufen. Dennoch macht unserer Meinung nach eine Unterscheidung Sinn, weil sie auf verschiedene soziale Kräfte zur Umsetzung des Green (New) Deal verweist.

1. Großkapitalistischer Green Deal

Hier handelt es sich um das Programm und die politische Strategie von Kräften der herrschenden Klassen wie der EU-Kommission, der Biden-Administration oder den Grünen. Auch die Versprechen ökologischer Erneuerung, wie sie der chinesische Imperialismus proklamiert, gehören letztlich zu dieser Form von Umweltpolitik.

Darüber hinaus steht auch der Mainstream der europäischen Sozialdemokratie sowie der Gewerkschaften in den imperialistischen Zentren auf dem Boden dieses Programms, ebenso wie die etablierten, bürgerlichen Umweltverbände, also BUND oder NABU in Deutschland, Oxfam oder Greenpeace auf internationaler Bühne.

Als AgentInnen des ökologischen Wandels fungieren beim GD Regierung und bürgerlicher Staat, die mithilfe von Konjunkturprogrammen, Steuerpolitik und Bepreisung (Emissionshandel, CO2-Bepreisung) ökologisch schädlicher Technik, Produkte oder Verhaltens eine Veränderung der Lebensweise der Menschen und eine stoffliche Erneuerung des Kapitals anstreben. Letzteres stellt ein zentrales Ziel dar, weil das ökologisch modernisierte Kapital auch konkurrenzfähiger sein soll als die fossile Abteilung.

Die Programme der EU oder USA (aber auch Chinas) sind daher wesentlich solche zur Erneuerung des Gesamtkapitals einer imperialistischen Nation oder eines imperialistischen Blocks.

2. Linksbürgerlicher und radikal kleinbürgerlicher GND

Zur Linken des Programms des Großkapitals finden sich VertreterInnen aus bürgerlichen Parteien wie  US-DemokratInnen (z. B. Sanders, AOC), AnführerInnen von politisch kleinbürgerlichen Massenbewegungen wie Fridays for Future (Greta Thunberg) oder AutorInnen wie Naomi Klein.

Sie betrachten soziale Bewegungen als notwendigen Bestandteil zur Durchsetzung eines GND, der nicht nur ökologisch nachhaltiges Wirtschaften gewährleisten, sondern auch soziale Gerechtigkeit herbeiführen soll. Das schließt auch eine diffus antikapitalistische Zielsetzung ihrer Politik ein, die jedoch nicht wirklich an die Wurzeln des Systems geht, sondern Antikapitalismus auf einen Bruch mit dem Neoliberalismus reduziert. Die Zielsetzung dieser Spielart des GND besteht darin, den Staat darauf zu verpflichten, eine regulierte, sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Marktwirtschaft weltweit durchzusetzen.

Als zentrale Akteurin des GND gilt dieser Strömung eine Bewegung, die sich auf verschiedene Communities (Gemeinschaften) stützt, auf Gewerkschaften, Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch „aufgeklärte“ bürgerliche Schichten und die eine andere, soziale und demokratische staatliche Politik durchsetzt.

Der GND soll also von eine Allianz scheinbar gleichberechtigter Klassenkräfte verwirklicht werden, die sich gegen das „fossile Kapital“ zusammenschließen, Druck auf die Staaten und Regierungen ausüben und ihrerseits ökologisch orientierte Regierungen an die Macht bringen. Die Triebkraft diese Politik sind daher nicht Klassen – und somit natürlich auch nicht die Lohnabhängigen –, sondern „das Volk“, „die“ Community oder „die“ Menschen. Daher trägt diese Politik einen (links)populistischen Charakter, der die gegensätzlichen Klasseninteressen diese Allianz verschleiern soll – und somit auch den eigentlich bürgerlichen Charakter dieses Programms.

3. Reformistische Transformationsstrategie

Der kleinbürgerlich-radikale GND weist viele Gemeinsamkeiten mit der reformistischen Strategie bürgerlicher ArbeiterInnenparteien auf. Dennoch unterscheidet er sich davon, auch wenn sich eine ganze Reihe der erhobenen Forderungen deckt. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch im Verhältnis eines Green New Deal zur organisierten ArbeiterInnenbewegung. Organisationen wie Labour unter Corbyn, die Democratic Socialists of America (DSA) oder die Europäische Linkspartei verknüpfen den GND mit einer sog. Transformationsstrategie, also einem Konzept des graduellen Übergangs zu einer „anderen“ Gesellschaft.

Das zentrale gesellschaftliche Subjekt der Veränderung bildet für diese Strömung die Klasse der Lohnabhängigen. Sie setzt auf eine Politik der Mobilisierung der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse, um eine Reformregierung durchzusetzen, die, gestützt auf diese Kräfte und im Bündnis mit den Mittelschichten, ein linkskeynesianisches Programm, einschließlich einer Reihe von Verstaatlichungen in Kernsektoren (Energie, Transport/Verkehr, Gesundheit, … ) durchsetzt, um so eine sozialökologische Transformation zu einer anderen Wirtschaftsordnung in Gang zu bringen.

Wir sehen also, dass der GD bzw. der GND zum Programm verschiedener Klassenkräfte geworden sind. Grundlegend gehen jedoch alle von der Vorstellung aus, dass auch unter kapitalistischen Bedingungen eine staatliche Politik möglich sei, die ein ökologisch nachhaltiges Wirtschaften erzwingen könne. Offen oder implizit beziehen sich der GD und noch mehr der GND auf die Politik F. D. Roosevelts in den 1930er Jahren und dessen New Deal, weil sie als Beweis für die Machbarkeit einer solchen Reformpolitik auch unter kapitalistischen Bedingungen gilt.

Der New Deal

Bevor wir uns mit der Interpretation der Politik Roosevelts und des New Deal beschäftigen, wollen wir deren Ursachen, Verlauf und Durchsetzung betrachten.

Der Börsencrash von 1929, die darauf folgende tiefe Rezession der US- und Weltwirtschaft hatten den US-Kapitalismus erschüttert wie keine andere ökonomische Krise davor und danach. Von 1929 bis 1933 halbierte sich das BIP der USA nahezu, von 103,6 Mrd. US-Dollar auf 56,4 Mrd. Selbst wenn wir eine inflationsbereinigte Rechnung zugrunde legen, so brach es um von 1929 auf 1933 um rund 25 % ein.[iii]

Infolge der Finanzkrise mussten 9 490 Banken – 40 % des gesamten Sektors – Insolvenz anmelden und schließen. Die Industrieproduktion halbierte sich in diesem Zeitraum und die Landwirtschaft erfasste ebenfalls eine tiefe Krise, Export und Investitionen brachen ein.

Die sozialen Auswirkungen waren verheerend. Die Einkommen der FarmerInnen sanken um rund 70 %, Millionen Betriebe mussten aufgeben. Die Massenarbeitslosigkeit traf die Lohnabhängigen mit voller Wucht. Die Arbeitslosenrate stieg von 3 % 1929 auf 24,9 % 1933 – und das ohne öffentliche Arbeitslosen-, Rentenversicherung und soziale Absicherung. Nur ein Prozent der ArbeiterInnen und Angestellten hatte eine private Versicherung abgeschlossen. Aufgrund des Zusammenbruchs der Banken verloren viele obendrein noch ihre restlichen Ersparnisse.

Auch die Organisationen der ArbeiterInnenklasse wurden Ende der 1920er Jahre und während der großen Depression in eine tiefe Krise gestürzt . Die Gewerkschaften organisierten Ende der 1920er Jahre nur noch rund 2 Millionen Lohnabhängige (gegenüber rund 4 Millionen nach der großen Streikwelle 1919), was nur rund 6 % der Beschäftigten entsprach. Zu diesem Zeitpunkt hatte die AFL-Bürokratie ihre Kontrolle über die gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen sogar noch ausgebaut und hielt hartnäckig an ihren reaktionären, berufsständischen Prinzipien fest. Auch deshalb trafen die sozialen Auswirkungen die Lohnabhängigen mit voller Wucht.

Auch wenn es schon 1932 zu wichtigen gewerkschaftlichen Kämpfen kam, so drückten sich Frustration, Wut und Empörung, aber auch die Desillusionierung von Millionen bis 1933 weniger in ArbeiterInnenkämpfen als vielmehr in lokalen Unruhen und einer Abwendung vom etablierten System aus.

Die Politik des amtierenden US-Präsidenten Herbert C. Hoover hatte sich nicht nur als vollkommen unfähig erwiesen, die Lohnabhängigen und die kleinbürgerlichen Massen vor Not, Elend und Ruin, vor Armut und Hunger zu bewahren, sondern konnte auch die herrschende Klasse nicht zufriedenstellen.

Dem Wahlsieg Roosevelts 1933 lagen also  eine grundlegende politisch-ökonomische Krise und die Unzufriedenheit aller Klassen zugrunde. Anders als Hoover erblickten er und seine BeraterInnen im Brain Trust, einer Gruppe von Wirtschafts- und RechtswissenschaftlerInnen, die maßgeblich den New Deal und seine Ausrichtung beeinflussten, die Ursachen für die Depression nicht in den Verhältnissen außerhalb der USA, sondern in inneren Problemen und Ungleichgewichten.

Die Monopolisierung der US-Wirtschaft und stagnierende Löhne hätten in den 1920er Jahren ein ökonomisches Ungleichgewicht – eine Art chronischer Unterkonsumtion – geschaffen, die durch staatliches Handeln ausgeglichen werden müsse. Der New Deal sollte Abhilfe schaffen. Erstmals verwandte Roosevelt diesen Begriff am 2. Juli 1932 in seiner Nominierungsrede: „Aus der ganzen Nation schauen Männer und Frauen auf uns, die von der politischen Philosophie der Regierung vergessen wurden, um Führung und eine gerechtere Chance auf einen Anteil am nationalen Wohlstand zu bekommen. Ich verpflichte mich zu einer Neuverteilung der Karten für das amerikanische Volk. Das ist mehr als eine politische Kampagne. Das ist ein Ruf zu den Waffen.“[iv]

Der New Deal selbst durchlief mehrere Phasen. Nach der Wahl zur ersten Präsidentschaft war Roosevelts Politik vor allem auf eine unmittelbare Stabilisierung der Wirtschaft und der sozialen Lage gerichtet. Dies umfasste eine Banken- und Finanzreform und die Abwertung des US-Dollar sowie Maßnahmen zur Stabilisierung der Agrarproduktion. Zur Bekämpfung der Deflation und Stabilisierung der Kaufkraft diente vor allem die National Recovery Administration (NRA), ein korporatistisches Projekt, das die Unternehmen auf einen Verhaltenscode verpflichten und Arbeit und Kapital zur Zusammenarbeit bringen sollte. Zu dem Maßnahmenkatalog der NRA gehörten außerdem auch Reformen, die die Rechte der LohnarbeiterInnen erweiterten – Mindestpreise und Mindestlöhne, gewerkschaftliche Organisationsrechte, die 40-Stunden-Woche und Ähnliches. Diese gingen naturgemäß vielen Unternehmen zu weit und wurde auf verschiedene Weise bekämpft. 1935 wurde die NRA vom Verfassungsgericht kassiert.

In den ersten Monaten erfreuten sich die Präsidentschaft Roosevelts und der New Deal unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zwar einer breiten Zustimmung. Dies änderte sich jedoch bald. Einerseits betrachteten Teile der herrschenden Klasse den GND als Angriff auf ihre Privilegien, andererseits ermutigte die Politik Roosevelts auch die ArbeiterInnenklasse. Teils durch den Präsidenten und die mit ihm verbündeten Gewerkschaften vorangetrieben, vor allem durch den neu entstandenen Congress of Industrial Organizations (CIO), teils durch Bewegung von unten stiegen sowohl der Organisationsgrad wie auch die Zahl der Streiks und Arbeitskämpfe massiv. In den Jahren 1933 – 37 vervielfachte sich die Mitgliedschaft der Gewerkschaften von 2 auf 7 Millionen.

Dieses Wachstum war selbst ein Resultat der neuen Gesetze, die die Organisierung der Beschäftigten erleichterten, als auch von Arbeitskämpfen zu deren Durchsetzung auf betrieblicher Ebene. Allein 1934 traten 1,5 Millionen Lohnabhängige in den Streik, oft um ihre neue gewonnenen, legalen Möglichkeiten gegen den Widerstand von UnternehmerInnen, StreikbrecherInnen, bewaffnete Schlägergruppen und Polizeikräfte durchzusetzen. In Städten wie San Francisco, Minneapolis und Toledo kam es zu lokalen Generalstreiks.

Der Widerstand des Kapitals gegen den New Deal und die Aufhebung des NRA durch das Verfassungsgericht entfachten den Kampfeswillen der Lohnabhängigen. In den Jahren 1935 – 37 ergriffen die Kämpfe weitere zentrale Industriesektoren, und der Sitzstreik (Sit In) geriet zu einer besonders effektiven und dynamischen Kampfform.

Roosevelt selbst beunruhigten diese Entwicklungen. Nachdem das NRA aufgehoben worden war, versuchten er und seine Administration durch eine Reihe weiterer Reformen, der wachsenden Militanz der ArbeiterInnenklasse und auch der Entstehung populistischer Strömungen Rechnung zu tragen.

Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Wagner Act von 1935. Mit ihm wurde den ArbeiterInnen erneut das Recht zugestanden, Gewerkschaften zu bilden und Löhne und Arbeitsbedingungen kollektiv zu verhandeln. Das Streikrecht wurde anerkannt und Lohnabhängige durften nicht mehr wegen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft entlassen werden.

Doch auch nach der Verabschiedung des Gesetzes gingen die Kämpfe weiter, teilweise in brutaler und blutiger Form, bei der etliche ArbeiterInnen von der Polizei getötet wurden. Doch der Wagner Act umfasste nicht nur eine Reihe von Garantien für die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten. Mit ihm wurde auch das National Labour Relations Board eingeführt, das bei Arbeitskämpfen vermitteln sollte und diese Funktion auch immer mehr ausübte, nachdem sich die Einzelunternehmen mit der neuen Gesetzeslage abgefunden hatten.

Ab 1935 wurde zudem eine Reihe weiterer Gesetze eingeführt, die die Lage der ArbeiterInnenklasse verbessern sollten – so eine Sozial- und Rentenversicherung, ein Mindestlohn und das Verbot der Kinderarbeit für alle unter 16, das allerdings nicht für die schwarze Bevölkerung der Südstaaten galt.

Dass die Verbesserungen des New Deal Stückwerk blieben, verdeutlichen jedoch gerade dessen Beschränkungen und Grenzen. Der Social Security Act blieb selbst hinter den meisten damals bereits bestehenden europäischen Regelungen zurück, was unter anderem auf die Intervention des damaligen Finanzministers Hans J. Morgenthau zurückzuführen ist. So blieben LandwirtInnen, Hausangestellte und Selbstständige von der Renten- und Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen. Dies bedeutete, dass gerade die ärmsten und unterdrücktesten Schichten der Lohnabhängigen nichts von den Segnungen des New Deal abbekamen. Diese Exklusion trug darüber hinaus einen eindeutig rassistischen Charakter. 65 % aller Schwarzen waren von der Sozialversicherung faktisch ausgeschlossen, in den Südstaaten sogar 70 – 80 %.

Neben diesen beinhaltete der New Deal der 1930er Jahre auch eine Reihe von Infrastruktur- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diese waren ursprünglich eigentlich eine Antwort darauf, dass die Arbeitslosigkeit trotz BIP-Wachstums weiter sehr hoch blieb. In den 1930er Jahren sank sie nie unter 14 % und nie unter die absolute Zahl von 10 Millionen. Roosevelt und die Mitglieder des Brain Trusts machten aus dieser Not eine Tugend.

1935 wurden mit der Emergency Relief Appropriation Bill erstmals Milliarden US-Dollar für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verwandt. Die Projekte wurden dabei auf Anweisung Roosevelts so konzipiert, dass sie arbeitsintensiv und langfristig sinnvoll sein sollten. Innerhalb weniger Jahre wurden so wichtige Infrastrukturprojekte in Gang gebracht, darunter eine Million Kilometer Autobahnen und Straßen, 77.000 Brücken, Bewässerungssysteme, die Elektrifizierung ländlicher Regionen und öffentliche Gebäude und Erholungseinrichtungen wie Schwimmbäder oder Parks.

Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren weit davon entfernt, ein Wohlfahrtsprogramm für die Lohnabhängigen darzustellen. Roosevelt persönlich bestand vielmehr darauf, dass die ArbeiterInnen bei diesen Projekten schlechter bezahlt werden mussten als jene in der Privatwirtschaft.

Auch wenn die Infrastrukturprojekte gegen den Widerstand einzelner Kapitalgruppen durchgesetzt wurden, entsprachen sie insgesamt den längerfristigen Interessen der besitzenden Klasse. Der Staat agierte als ideeller Gesamtkapitalist und leistete einen massiven Anschub zur Erneuerung der allgemeinen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen in den USA, also essentieller Voraussetzungen für eine anhaltende erweiterte Reproduktion des nationalen Gesamtkapitals.

Dennoch führte der New Deal während der 1930er Jahre keineswegs zu einer Wiederherstellung eines dynamischen, expansiven Gleichgewichts der US-Ökonomie. Nicht nur die Arbeitslosigkeit blieb chronisch hoch. Die Maßnahmen des New Deal wurden durch eine Erhöhung der Staatsverschuldung erkauft. Wie sehr die US-Wirtschaft auf die staatliche Nachfrage angewiesen war, verdeutlicht die reale Entwicklung. Nachdem Roosevelt 1936 das Haushaltsdefizit etwas senken konnte, schlitterte die Wirtschaft 1937 in eine Krise.

Der Grund dafür liegt im Charakter des New Deal selbst begründet. Damit er als Programm funktionieren konnte, bedurfte es nicht nur der Erneuerung der Infrastruktur des US-Kapitalismus. Um ein neues Akkumulationsregime samt höherer Profitraten und einer Neujustierung des Verhältnisses zwischen den Klasse etablieren zu können, mussten nicht nur innere, sondern vor allem äußere Bedingungen geschaffen werden, die eine Überwindung der strukturellen Krise des US-Kapitalismus erlaubten: Der New Deal hatte letztlich nur Aussicht auf Erfolg als Bestandteil eines umfassenderen Programms zur Neuordnung der Welt.

In seiner Schrift „Marxismus in unserer Zeit“[v] unterzieht Trotzki den New Deal einer Analyse. Er verweist dabei auf den aristokratischen Charakter dieser Politik, die im Grunde nur für reiche, imperialistische Nationen möglich ist.

„Die Politik des New Deal, die die imperialistische Demokratie durch Bestechung der Arbeiter- und Farmer-Aristokratie zu retten sucht, steht im großen Stil nur den sehr reichen Nationen offen; in diesem Sinn ist sie die amerikanische Politik par excellence. Die amerikanische Regierung hat versucht, einen Teil der Kosten dieser Politik auf die Schultern der Monopolisten abzuladen, indem sie diese ermahnte, die Löhne zu erhöhen und die Arbeitszeit zu verkürzen und so die Kaufkraft der Bevölkerung zu heben und die Produktion zu erweitern.“[vi]

Trotzki berührt hier einen entscheidenden Punkt bezüglich des Klassencharakters des New Deal, der versucht, die oberen aristokratischen Schichten der ArbeiterInnenklasse zu integrieren, nicht jedoch die Gesamtheit der Lohnabhängigen. Auch ließ der New Deal die Jim-Crow-Gesetze, also die Politik der sog. Rassentrennung, unberührt. Der Ausschluss der schwarzen Massen stellte den politischen Preis für die Unterstützung des New Deal durch die demokratischen Abgeordneten aus den Südstaaten dar. Doch die Bedeutung dieses Ausschlusses ist weit grundlegender.

Die Politik der Klassenzusammenarbeit, des Korporatismus, wie sie der New Deal einleitet und wie sie den westlichen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg prägen wird, entspricht einer Politik der Integration der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Staat. Sie kann ihrer eigenen Natur nach nicht auf die gesamte Klasse der Lohnabhängigen ausgedehnt werden, sondern setzt vielmehr eine imperiale und rassistische Spaltung der Arbeitskraft im Inneren wie erst recht auf globaler Ebene voraus und reproduziert diese, wenn auch in unterschiedlichen Formen.

Auch auf diesen Zusammenhang verweist Trotzki schon 1939: „Natürlich sind die sich auftürmenden Staatsschulden eine Hypothek für die Nachwelt. Aber der New Deal selbst war nur möglich auf Grund des von den früheren Generationen aufgehäuften Reichtums. Nur eine sehr reiche Nation kann sich eine solche Politik der Verschwendung erlauben. Aber auch eine derartige Nation kann nicht unbegrenzt fortfahren, auf Kosten vergangener Generationen zu leben. Die New Deal-Politik mit ihren eingebildeten Großtaten und ihrem sehr realen Steigen der Staatsschulden ist unvermeidlich dazu verurteilt, in wilder kapitalistischer Reaktion und in einer verheerenden Explosion des Imperialismus zu gipfeln.“[vii]

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also durch den Sieg über die imperialistischen RivalInnen, die Vernichtung überschüssigen Kapitals, die Etablierung hoher Ausbeutungs- und Profitraten, die Neuordnung des Weltmarktes und des Weltwirtschaftssystems unter Vorherrschaft der USA, des US-Dollar und des Bretton-Woods-Systems, können die Maßnahmen des New Deal Teil eines Ganzen werden, das eine dynamische Expansion des Kapitalismus über mehrere Zyklen erlaubt – und somit auch eine stabile Integration der ArbeiterInnenaristokratie und sogar breiterer Schichten der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Zentren. Hier wird deutlich, dass der New Deal eine Politik im Interesse der herrschenden Klasse war, die jedoch einzelnen konkurrierenden Kapitalen selbst aufgezwungen werden musste:

„Die artikulierte Mehrheit der amerikanischen Großbürger schrie Zeter und Mordio über Roosevelts ,New Deal’; sogar Trumans ‚Fair Deal’ wurde mit nicht wenig Geschrei über ‚schleichenden Sozialismus’ beantwortet. Aber kein objektiver Beobachter der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft der letzten 35 Jahre könnte heute bestreiten, daß sich in dieser Epoche die Akkumulation des Kapitals erweitert und nicht eingeschränkt hat; daß die amerikanischen Großkonzerne unvergleichbar reicher und mächtiger geworden sind, als sie in den zwanziger Jahren waren; daß die Bereitschaft anderer Gesellschaftsklassen – hauptsächlich der Industriearbeiterschaft – die Herrschaft dieser Konzerne unmittelbar gesellschaftlich und politisch in Frage zu stellen, geringer geworden ist, als sie während und sofort nach der großen Wirtschaftskrise war.“[viii]

Vom Klassencharakter des New Deal wie auch von seinen historischen Voraussetzungen wollen die heutigen ParteigängerInnen dieser Politik aus verschiedenen Lagern – vom bürgerlichen Linksliberalismus bis zu den „demokratischen SozialistInnen“ in den USA oder in der europäischen Linkspartei – nichts wissen.

Vielmehr negieren die VertreterInnen des GND dessen Klassencharakter und stellen ihn vielmehr als Politik im Interesse der gesamten Gesellschaft oder gar der ArbeiterInnenklasse dar, an die es heute anzuknüpfen gelte.

Sie abstrahieren dabei nicht nur von den Krisen und Kämpfen der 1930er Jahre und vom imperialistischen Charakter der US-Politik im Zweiten Weltkrieg. Sie abstrahieren auch  davon, dass der Einbindung von Elementen des New Deal in die US-geführte Nachkriegsordnung  eine historisch einzigartige Kapitalvernichtung vorausgehen musste und ein Weltkrieg, der überhaupt erst eine neue Periode der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab möglich machte.

Das überschüssige US-Kapital hätte ohne Krieg und Neuordnung der Welt auf Kosten der geschlagenen imperialistischen und verbündeten RivalInnen, ohne Sieg über den deutschen und japanischen Imperialismus und ohne Aufbrechen der britischen und französischen Kolonialreiche nie die erforderlichen Anlagegebiete gefunden. Nur durch Errichtung der US-Hegemonie im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegsperiode bis Ende der 1940er Jahre konnten die realen Bedingungen für die Expansion des Kapitalismus geschaffen werden.

Die VertreterInnen des GND müssen jedoch von diesen Voraussetzungen absehen, weil sie mit dem Bezug auf den New Deal zeigen wollen, dass eine solche Politik voraussetzungslos sei, dass sie unabhängig von der Akkumulationsdynamik des Kapitals und der internationalen Ordnung gewissermaßen jederzeit durchgeführt werden könnte, wenn nur der politische Wille vorhanden wäre.

Die ApologetInnen des New Deal in der heutigen reformistischen und kleinbürgerlich-radikalen Linken interpretieren ihn darüber hinaus als eine quasi antikapitalistische Politik, weil sie sich auch gegen wichtige Monopole und Konzerne wandte. Sie übersehen dabei, dass der Widerspruch zwischen den kurzfristigen Profitinteressen der Einzelkapitale und den langfristigen des Gesamtkapitals selbst ein notwendiges Element der Kapitalbewegung darstellt, der in Krisenperioden offen und sichtbar als politische Krise der Bourgeoisie und der Gesellschaft, als innerer Konflikt des Kapitals hervortritt. Genau das meint beispielsweise Lenin, wenn er davon spricht, dass eine revolutionäre Krise davon gekennzeichnet sei, dass die Herrschenden nicht mehr so regieren könnten wie bisher.

Diese Lage führte überhaupt erst dazu, dass das Programm Roosevelts und des Brain Trusts zu einer staatlichen Politik werden konnte. Diese musste jedoch in langjährigen Kämpfen gegen den Widerstand von Einzelkapitalen durchgesetzt werden.

Aufgrund der Verelendung breiter Massen und der Lage der ArbeiterInnenklasse konnte sich Roosevelt dabei auf ein Bündnis mit den Gewerkschaften, genauer mit Teilen der Gewerkschaften und ihres Apparates stützen. Die ökonomische Lage erforderte drastische Maßnahmen, um überhaupt die Reproduktion der Lohnabhängigen zu sichern und somit auch eine ausreichend qualifizierte und arbeitsfähige ausgebeutete Klasse dem Kapital zur Verfügung zu stellen. Die Verringerung der Arbeitszeit und die Erhöhung der Löhne sollten letztlich durch andere Mittel zur Erhöhung der Profitrate (Produktivitätssteigerung, Verringerung der Kosten für Transport, Infrastruktur, Extraprofite auf dem Weltmarkt) ausglichen werden.

Insofern trugen die Klassenkämpfe der 1930er Jahre auch einen zwiespältigen Charakter. Einerseits drückten sie eine potentiell revolutionäre Erschütterung des US-Kapitalismus aus, eine Zunahme des Klassenkampfes, der deutlich machte, dass auch die „unten“ nicht mehr so leben wollten wie bisher.

Zugleich ordneten sich die Gewerkschaftsführungen in diesen Jahren faktisch immer der Führung Roosevelts und der Demokratischen Partei unter. Ihre teilweise überaus militant geführten Kämpfe bargen zweifellos das Potential, über die Grenzen des New Deal und einer Modernisierung des US-Kapitals hinauszugehen. Dies hätte aber eine Überwindung des vornehmlich nurgewerkschaftlichen Kampfes erfordert – und somit einen politischen Bruch mit den US-DemokratInnen und mit Roosevelt, den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei, die sich auf die gewerkschaftliche und betriebliche Militanz stützt. Doch hätte eine solche Partei  nicht nur auf gewerkschaftlicher Ebene die US-Bourgeoisie bekämpfen müssen, sondern beispielsweise auch  den dem New Deal  inhärenten Rassismus. Sie hätte den New Deal als das betrachten müssen, was er war  – ein Programm zur Rettung des US-Imperialismus. Daher hätte eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei vor allem auch die US-amerikanische imperialistische Politik bekämpfen müssen. Genau dies taten die Gewerkschaften und vor allem ihre Führungen nicht. Spätestens mit dem Kriegseintritt wurden sie zu patriotischen Verteidigerinnen des demokratischen Imperialismus und seiner Weltmachtambitionen.

Und die heutigen ParteigängerInnen des ND wollen von all dem nicht nur nichts wissen. Sie stellen vielmehr die politische Unterstützung Roosevelts als vorbildlich hin. Sie behaupten nämlich, dass es möglich wäre, den bürgerlichen Staat zu Reformen für die ArbeiterInnenklasse zu nutzen und den Einfluss des Kapitals zurückzudrängen.

So wird der damalige Opportunismus auch heute gefeiert, während die Kritik am New Deal als „Sektierertum“ gebrandmarkt wird. Dafür reicht schon, den New Deal als bürgerliches Programm zur Rettung des Kapitalismus zu charakterisieren, wie es die TrotzkistInnen und RätekommunistInnen und sogar die stalinisierte KP in den 1930er Jahren taten.

Das Abfeiern des New Deal soll vor allem darauf einstimmen, dass seine grüne Neuauflage, sollte sie je verwirklicht werden, ähnliche Bündniskonstellationen erfordern wird.

Der bürgerliche GD/GND

Staats- und Regierungschefs wie Biden, von der Leyen, Scholz, Macron oder Xi eignen sich allerdings nicht gut als zeitgenössische Roosevelts. Das ficht die VertreterInnen des GND aber nicht oder nur bedingt an. Schließlich schwankte auch die US-Regierung in den 1930er Jahren und musste durch Gewerkschaften und Druck von unten zum Handeln gezwungen werden. Von den US-DemokratInnen, von der europäischen Sozialdemokratie oder den Grünen mag zwar keine konsequente sozialökologische Transformation erwartet werden. Aber wenn es eine linke Partei oder Bewegungen gäbe, die genügend gesellschaftlichen Druck entfalteten, könnten sie zum „vernünftigen“ Handeln gedrängt werden und der bürgerliche Staat zu einem Instrument sozialer und ökologischer Transformation mutieren.

Schließlich erkennen mittlerweile fast alle Regierungen und auch zahlreiche führende UnternehmensvertreterInnen die Realität der ökologischen Probleme an – und damit scheinbar auch die Notwendigkeit des Handelns. Vor diesem Hintergrund, so die Kalkulation der AnhängerInnen eines „echten“ Green New Deal, könnten auch die EU-Kommission, die Regierungen Deutschlands und der USA vom fossilen Saulus zum nachhaltigen Paulus mutieren. Wer lieber auf den chinesischen Imperialismus als alternatives Modell staatsinterventionistischer Politik setzt, kann seine Hoffnungen auf die Erneuerungspläne Pekings projizieren, auch wenn diese zur Zeit noch in den Kohlegruben des Landes lagern.

In diesem Abschnitt wollen wir daher kurz die proklamierten Klimaziele und Strategie der wichtigsten imperialistischen Regierungen oder Staatenbündnisse wie der EU sowie der Grünen skizzieren, um deren wesentliche Aspekte herauszuarbeiten.

USA

Zuerst betrachten wir das Programm der USA. Nach seiner Wahl zum Präsidenten verkündete Joe Biden bekanntlich eine Wende in der Klimapolitik. Auch auf diesem Gebiet wolle das Land nach den Jahren unter Trump wieder zum Vorreiter werden.

So verkündete er ein massives zwei Billionen US-Dollar schweres Programm, das  verschiedene Bereiche der US-Wirtschaft stimulieren und die Beschäftigung erhöhen soll. Einen damit verbundenen Teil bildet auch der „Clean-Energy Plan“. Insgesamt sah das Biden-Programm ursprünglich vor:

  • Die US-Infrastruktur soll massiv aufgebaut werden: Straßen und Brücken, Wasserversorgungssysteme, Strom- und Breitbandnetze sollen saniert oder verbessert werden.
  • Eine Million Jobs sollen in der Autoindustrie und bei ihren ZuliefererInnen geschaffen werden, dabei liegt der Schwerpunkt auf Elektroautos.
  • Alle Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern sollen mit emissionsfreien öffentlichen Transportmitteln ausgestattet werden.
  • Millionen Arbeitsplätze sollen auch durch Investitonen in den Energiesektor geschaffen werden, der bis 2035 saubere Energie „made in America“ ohne Emissionen erreichen soll.
  • Investitionen in die energetische Sanierung von vier Millionen Gebäuden und der Bau von 1,5 „Millionen nachhaltigen“ Häusern und Wohnungen sollen zur Jobmaschine werden.[ix]

Auf den ersten Blick erscheint das ursprünglich geplante Programm Bidens sehr umfangreich. Rund die Hälfte der im sog. Recovery Act anvisierten 2 – 2,7 Billionen US-Dollar sollten zur Umrüstung der US-Wirtschaft auf Klimaneutralität verwendet werden. Die Summe erscheint jedoch schon deutlich geringer, wenn man bedenkt, dass die Ausgaben über 8 Jahre verteilt werden. Aufgrund des Widerstandes der RepublikanerInnen und der Konzession der neuen Administration ist mittlerweile die Hälfte schon kassiert, aus über zwei Billionen wurde eine. Ähnliches gilt, nebenbei bemerkt, für die Sozial- und Arbeitsbeschaffungsprogramme.

Vergessen wird zudem, dass der Umfang des Umweltprogramms weit hinter dem zurückbleibt, was ÖkonomInnen für notwendig halten, um eine Volkswirtschaft von der Größe der USA bis 2050 umzurüsten, nämlich rund 5 – 7 % des BIP pro Jahr. Das Biden-Programm kommt hier dem Topfen auf den heißen Stein gleich:

„Großzügig geschätzt, ist etwa die Hälfte der zwei bis 2,7 Bill. für die Bewältigung der Klimakrise bestimmt. Verteilt man eine bis 1,3 Bill. über acht Jahre, kommt man auf etwa 0,5 Prozent des derzeitigen Bruttoinlandsprodukts jährlich. Das liegt weit unter jeder vernünftigen Schätzung des für die Dekarbonisierung benötigten Investitionsvolumens. Das Lager von Bernie Sanders verlangte, unterstützt von der 350.org-Kampagne des Aktivisten Bill McKibben, 16,3 Bill. Dollar. Die Thrive-Act-Initiative, die von Gruppen aus dem Umfeld des Green New Deal unterstützt wird, fordert zehn Bill. Dollar, von denen achtzig Prozent vor allem der Klimapolitik zufließen sollen.“[x]

Vergleicht man außerdem die konkreten Reformvorhaben der US-Regierung, so fällt auf, dass sie auf vielen Gebieten weit hinter ihren imperialistischen RivalInnen zurückliegen und wohl auch weiter zurückfallen werden – selbst wenn Bidens Pläne umgesetzt würden. Dazu 2 Beispiele:

  • China verfügt über ein Hochgeschwindigkeitsnetz für Züge in der Länge von 19 000 Kilometern, die USA über eines von – 500 Kilometern! Selbst wenn das gesamte Biden-Programm für den Ausbau der Schiene verwendet würde, würde das nicht reichen, um China einzuholen.
  • Für die Umstellung auf E-Autos plant die US-Regierung, bis Ende 2030 im ganzen Land 500 000 Ladestationen zu errichten. Das scheint viel, ist aber wenig im Vergleich zu China (3 Millionen) oder Deutschland (eine Million). Lassen wir einmal den problematischen Charakter der E-Mobilität als „Lösung“ der Verkehrsproblematik beiseite, so lässt sich anhand solcher Zahlen ermessen, wie ernst es der US-Regierung mit dem Ausstieg aus den fossilen Energieträgern wirklich ist.

Da sich die Regierung Biden nicht einmal im begrenzten Maße wie einst Roosevelt mit US-Unternehmen anlegen will und sie fürchten muss, die Mehrheiten im Kongress und Senat bei den Wahlen 2022 zu verlieren, sind große Taten auf diesem Gebiet wie bei anderen Reformvorhaben nicht zu erwarten.

Die „Lösung“ des Problems? Ganz einfach: Die staatlichen Ausgaben sollen nur einen Bruchteil der Summen ausmachen, die in „grüne“ Anlagen fließen. Sie sollen gewissermaßen nur als Funke wirken, der ein regelrechtes Investitionsfeuerwerk entfachen soll. Die staatlichen Ausgaben würden so als Multiplikatorinnen wirken – und schon löst sich das ganze Problem. Wer braucht schon Staatsintervention, wenn Kredite und Finanzmärkte für die notwendigen Investitionen zur Entwicklung neuer, grüner Märkte sorgen sollen?

Es bleibt also entweder die Hoffnung darauf, dass es ausgerechnet die Finanzmärkte richten. Damit diese nicht zuerst stirbt, muss die Regierung allerdings nachhelfen. Sie muss garantieren, dass die nachhaltige Investition vor allem profitabel, genauer profitabler ist als jene in traditionelle, auf fossilen Trägern basierende Produktion.

Das ist nicht nur von ökologischer Nachhaltigkeit weit entfernt. Es stößt auch beständig an die Grenzen der aktuellen Akkumulationsdynamik des Kapitalismus. Die chronische Überakkumulation von Kapital ist es ja gerade, die Investitionen in spekulative Anlagen, in Finanzgeschäfte fließen lässt. Die InvestorInnen und großen Player auf diesen Anlagemärkten vergleichen Gewinnerwartungen zwischen den einzelnen Sphären, um eine möglichst hohe und möglichst sichere Rendite einzufahren. Damit das Kapital also in ökologische Modernisierung fließt, müsste diese daher, wie bei jeder anderen Anlagesphäre, mit überdurchschnittlichen Gewinnerwartungen aufwarten. Dies wiederum erfordert Expansion, wachsenden Markt und hohe Ausbeutungsraten in der sog. Zukunftsbranche.

Gigantische Investitionen in erneuerbare Energien, in Infrastruktur usw., die über den Finanzmarkt vorfinanziert werden, werden zudem logischerweise zum spekulativen Markt, der alles Mögliche bewerkstelligen mag – aber sicher keine gezielte, effektive und ressourcensparende ökologische Umrüstung, weil die stoffliche Seite der Investition wie im Kapitalismus allgemein, so auf den Finanzmärkten in besonders drastischer Form, nur Mittel zum Zweck ist.

Hinzu kommt außerdem, dass eine Umrüstung der gesamten US-Wirtschaft auf „Nachhaltigkeit“ notwendigerweise das Ende oder wenigstens die Reduktion ganzer Produktionszweige (Öl, Gas, Bergbau) bzw. die Umstellung ganzer Sektoren usw. erfordern würde. Unter privatkapitalistischen Bedingungen schließt das die Vernichtung von bestehendem Kapital ein. Und das will die Regierung Biden nicht, jedenfalls nicht in den USA. Ökologische Erneuerung ist gut, aber sie darf die Profite der großen US-Kapitale – und das heißt natürlich auch der Ölmultis, der Autoindustrie usw. – nicht beschneiden. Ebenso wenig soll die internationale Konkurrenz die US-Konzerne auf dem Gebiet neuer, grüner Technologien ausstechen. Daher führt eine ökologische „Runderneuerung“ der KonkurrentInnen auf dem Weltmarkt gerade unter den aktuellen Bedingungen unvermeidlich zu einem ruinösen Wettbewerb zwischen den verschiedenen nationalen Kapitalen darum, wer bei der Neuorganisation des Weltmarktes die Nase vorn hat. Dieser muss nicht nur früher oder später zur Vernichtung der auf dem Markt unterlegenen Konkurrenz oder zur Austragung ebendieser mit außerökonomischen Mitteln führen, sondern resultiert logischerweise in einer Überakkumulation in diesen Sektoren samt Überproduktion, da unter Bedingungen der kapitalistischen Konkurrenz nicht in das ökologisch sinnvollste oder nachhaltigste Produkt, sondern in das mit den größten Profiterwartungen investiert wird.

Selbst wenn das Biden-Programm zum Klimaschutz voll umgesetzt würde, würde es am anarchischen Charakter des Kapitalismus nichts ändern, würde es in vielfacher Hinsicht das Problem verschärfen und den Output der US-Wirtschaft weiter erhöhen – also die ökologischen Folgewirkungen weiter verschärfen.

EU

So wie die US-Regierung ihren Green Deal hat, so auch ihre Konkurrenz. Unter der Kommissionspräsidentin von der Leyen erklärte die Europäische Union den Green Deal zur eigenen Kernstrategie. Getragen wird er von einer ganz großen Koalition aus Konservativen, Liberalen, Grünen und Sozialdemokratie. Folgen wir der Selbstdarstellung der Kommission, so liest sich das folgendermaßen:

„Klimawandel und Umweltzerstörung sind existenzielle Bedrohungen für Europa und die Welt. Mit dem europäischen Grünen Deal wollen wir daher den Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft schaffen, die

  • bis 2050 keine Netto-Treibhausgase mehr ausstößt,
  • ihr Wachstum von der Ressourcennutzung abkoppelt,
  • niemanden, weder Mensch noch Region, im Stich lässt.

Der europäische Grüne Deal führt uns auch aus der Corona-Krise: Ein Drittel der Investitionen aus dem Aufbaupaket NextGenerationEU und dem Siebenjahreshaushalt der EU mit einem Umfang von insgesamt 1,8 Billionen EUR fließt in den Grünen Deal.“[xi]

Wie alle grünen Wirtschaftsprogramme fehlt es auch bei jenem der EU nicht an philanthropischen Beschwörungsformeln. Niemand soll im Stich gelassen werden: Davon können nicht nur die Geflüchteten  an den EU-Außengrenzen ein Lied singen, sondern auch Millionen Arbeitslose und prekär Beschäftigte.

Wie die US-Regierung setzt auch die EU auf die Hebelwirkung ihres Förderprogramms, um Investitionen in den Umweltsektor zu fördern. Mit der Taxonomie-Verordnung vom 18. Juni 2020 wurde die weltweit erste „grüne Liste“ für nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten geschaffen, gewissermaßen ein offizielles Gütesiegel für Anlagen mit wirklichen oder jedenfalls behaupteten positiven Klima- und Umweltauswirkungen. Darüber hinaus hat die EU auch einen Fonds von 150 Milliarden Euro aufgelegt, um Regionen mit überdurchschnittlich hohem Verbrauch fossiler Energie den Übergang zu nachhaltigen zu subventionieren.

Anders als das aktuelle Biden-Programm setzt die EU auf die CO2-Bepreisung, um über diesen Mechanismus Konsum und Investitionen in grüne Produkte und Wirtschaftszweige zu stimulieren.

Ähnlich wie die USA – und alle anderen imperialistischen Staaten mit einem riesigen Kapitalstock – steht freilich auch die EU vor dem gigantischen Problem, die eigenen industriellen Konzerne und die Infrastruktur auf „Nachhaltigkeit“ umzurüsten. Dabei sollen die bestehenden Kapitalien nicht nur erhalten, sondern möglichst auch noch zu WeltmarktführerInnen in den neuen, grünen Branchen entwickelt werden.

Fazit

Alle Programme zur Erreichung der Klimaziele (Green Deal … ) der Großmächte – und das gilt auch für China, Japan oder andere imperialistische Konkurrenz von USA und EU – sind wesentlich solche zur Erneuerung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals der jeweiligen Nationen oder Blöcke. Sie unterscheiden sich natürlich angesichts der verschiedenen Herrschaftsformen, inneren Kräftekonstellationen und historischen Voraussetzungen, der Zusammensetzung der jeweiligen Kapitale wie auch ihrer Stellung in der globalen Konkurrenz.

Bei der grünen Erneuerung geht es daher vor allem darum, das eigene nationale Kapital so umzustrukturieren, dass es sich als produktiver und konkurrenzfähiger als die anderen erweist, es seine Stellung auf den internationalen Märkten ausbaut – und das notwendigerweise auf Kosten der anderen.

Daher sind alle Programme des Green Deal wesentlich nationale Wirtschaftsprogramme – nicht bloß in dem Sinne, dass ein Nationalstaat die Rahmenbedingungen( gesetzlichen Rahmen und Regularien für eine Umstrukturierung der Wirtschaft) setzt, überwacht oder  ökologisches Handeln mit wirtschaftlichen Anreizen oder Sanktionen herbeizuführen trachtet. Vor allem geht es darum, dass sich die jeweiligen Großkapitale als führende, als Champions auf dem Weltmarkt bewähren, also die Konkurrenz aus den anderen Blöcken übertreffen.

Die Aufgabe des imperialistischen Staates (oder eines Staatenbundes) besteht darin, genau diese überlegende Konkurrenzfähigkeit herzustellen und das Zurückbleiben der eigenen großen Konzerne zu verhindern. Solange die Aussicht auf eigene Überlegenheit besteht, erscheint der Green Deal als Zukunftskonzept für das Gesamtkapital. Doch genau aus denselben Gründen muss früher oder später auch auf die Bremse getreten werden. Die Rettung der Erde soll schließlich nicht auf Kosten des eigenen Kapitals oder der eigenen imperialen Ambitionen gehen. Besser ist es, in der fossilen Hölle zu herrschen, als im nachhaltigen Himmel zu dienen.

Vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation, einer verschärften Konkurrenz auf dem Weltmarkt und eines Kampfes um die Neuaufteilung der Welt kann von einem ausgewogenen, geplanten Umbau der Ökonomie im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit erst recht nicht die Rede sein.

Im Gegenteil. Die Fragen der Dominanz der Ökonomie und des Weltmarktes sowie der Halbkolonien durch das Großkapital (neuer Formen des Finanzkapitals, Großindustrie, Multis, Agrarkonzerne) taucht im kapitalistischen ökologischen Diskurs selbst als Aspekt imperialistischer Politik, der Sicherung grüner Rohstoffe und als Investitionsprojekt auf. Die Verpreisung der Umweltpolitik, der Zertifikathandel, ist dafür nur ein Beispiel.

Die Hilfen für die ärmsten Länder, die eigentlich 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr betragen sollen, existieren bis heute nur auf dem Papier. Wo es welche auf bilateraler Ebene gibt, nehmen sie die Form von Almosen oder Exportförderung für InvestorInnen aus den finanzstarken Ländern an.

Alle Ideologien bürgerlicher Umweltpolitik kennzeichnet eine Abstraktion von den grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüchen des Kapitalismus. Dessen innerer Zwang zur immer größeren Aneignung fremder Arbeit zur Vermehrung des Profits, der daraus resultierenden stetigen Ausdehnung des Kapitals und damit auch der Produktionsmittel und des Outputs spielt nicht nur keine Rolle. Er muss notwendigerweise negiert werden, beispielsweise in Phantasien von einem kapitalistischen Wachstum ohne Ausdehnung der Produktion und Ausbeutung. Dies mag zwar für einige Zeit in Form der Ausweitung fiktiven Kapitals möglich sein. Grundsätzlich ist das auf dem Boden des Kapitalismus aber ausgeschlossen. Da der ganze Zweck der Produktion und jeder anderen wirtschaftlichen Tätigkeit für das Kapital darin besteht, sich Mehrwert in Form von Profit anzueignen, dessen Rate und Masse zu erhöhen, bedarf es notwendigerweise auch der stetigen Suche nach neuen Feldern zur Ausbeutung der Lohnarbeit. Da mehr Lohnarbeit aber ohne mehr und neue Produktionsmittel nicht in Bewegung gesetzt werden kann, müsste das Kapital dem eigentlichen Zweck seiner Betätigung entsagen, müsste aufhören, Kapital zu sein.

Die IdeologInnen des Green Deal müssen daher notwendigerweise nicht nur das Wesen des Kapitalismus negieren. Sie müssen die Frage der Nachhaltigkeit letztlich als technische begreifen, als Frage der Innovation, der „richtigen“ Lenkung von Angebot und Nachfrage. Rezessionen, Einbrüche, ja selbst die Umweltzerstörung gelten allenfalls als Exzesse, als Betriebsunfälle der Marktwirtschaft, der es mit etwas staatlicher Unterstützung und richtigem Konsumverhalten auf die Sprünge zu helfen gelte. Der Kapitalismus gilt einfach als die natürliche und beste Ordnung der Welt, die nur noch besser und so nachhaltig gemacht werden soll, dass sie ewig hält.

Allenfalls braucht es ergänzende Maßnahmen der Steuerpolitik, der sozialen Abfederung, um die Ärzte und Ärztinnen am Krankenbett des Kapitalismus, die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, an Bord zu halten.

Wie auch der New Deal stellt der Green Deal ein Programm zur Rettung des Kapitals dar. Wie der New Deal stellt er ein nationales Programm dar. Internationale Zusammenstöße und der Kampf um die Kosten der Klimakatastrophe bilden dabei einen integralen Bestandteil der imperialistischen Dominanz der ärmeren Länder wie auch der imperialistischen Konkurrenz.

Anders als der New Deal vermag der Green Deal wie jedes kapitalistische Umweltprogramm jedoch eines nicht: Das Problem, das er zu lösen vorgibt, irgendwo zu meistern. Der New Deal bzw. das Akkumulationsmodell, auf das er sich bezog, konnten nach der Etablierung des Nachkriegsordnung zu für mehrere Weltmarktzyklen dominierenden Modellen werden (Sozialstaat), weil es mit den Akkumulationsbedingungen des Kapitals nicht nur vereinbar war, sondern für eine bestimmte Periode sogar ermöglichte, die kapitalistische Expansion auf der Basis des relativen Mehrwerts mit einer Ausdehnung des Konsums der ArbeiterInnenklasse zu vereinbaren. Unter bestimmten, historischen Voraussetzungen erwies sich dieses Akkumulationsregime sogar als das günstigste für das Gesamtkapital der wichtigen imperialistischen Länder. Mit dem Ende des sog. langen Booms und mit der Krise der frühen 1970er Jahre ist diese Phase jedoch unwiederbringlich vorbei.

Der New Deal erwies sich für eine bestimmte Periode vor allem als ein Instrument, die Akkumulationsbedingungen des Kapitals zu verbessern. Diese Komponente inkludiert auch der Green Deal.

Sie steht aber in einem unauflösbaren Widerspruch zum eigentlich proklamierten Ziel ökologischer Nachhaltigkeit. Diese ist, wie oben kurz skizziert, auf der Basis einer kapitalistischen Marktwirtschaft grundsätzlich unmöglich. Die kann nicht einfach besser reguliert werden. Sie muss vielmehr durch eine demokratische Planwirtschaft ersetzt werden. Nur so können eine globale Wirtschaftsweise gemäß den Bedürfnissen der Menschen und eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft reorganisiert werden. Ziele und Umfang der gesellschaftlichen Gesamtarbeit müssen und können unter diesen Voraussetzungen bewusst bestimmt, das Was und Wie von Produktion und Reproduktion so festgelegt werden, dass die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit reproduziert werden können. Dazu ist der Kapitalismus grundsätzlich nicht in der Lage.

Das Programm der Grünen

Als Beispiel der ideologischen Verkleisterung wollen wir nicht liberale, konservative Umweltpolitik heranziehen, sondern das Wahlprogramm der deutschen Grünen.

Unter dem Titel „Deutschland. Alles ist drin.“[xii] versprechen sie nicht nur eine Klimaregierung und eine Kanzlerin, sondern auch allen Klassen und Schichten das Blaue vom Himmel.

Das erste Kapitel „Lebensgrundlagen schützen“ stellt uns einen klimagerechten Wohlstand, Versorgungssicherheit mit Erneuerbaren, nachhaltige Mobilität, ein gutes Leben für alle sowie eine Stärkung von Bauern, Bäuerinnen und deren Tieren in Aussicht. Diese Versprechungen werden in weiteren Abschnitten auf allen möglichen Ebenen ergänzt. So wollen die Grünen für faire Löhne und Gehälter sorgen, Kinder, Jugendliche und Familien fördern, Gerechtigkeit zwischen  Geschlechtern schaffen und soziale Netzwerke sichern.

Gleichzeitig wollen sie Unternehmensgeist, Wettbewerb und Ideen stimulieren, dem Markt einen sozialökologischen Rahmen verleihen, die Digitalisierung voranbringen, die Finanzmärkte stabiler und nachhaltiger gestalten sowie die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden.

Mehr als alle anderen stehen die Grünen für ein Konzept zur Überwindung der gegenwärtigen Krise: den Green New Deal. Diese „sozialökologische Transformation“ soll nicht weniger leisten als die Lösung der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und demokratischen Herausforderungen unserer Zeit. Dazu müssten nur alle anpacken und von den Grünen lernen: „Als Gesellschaft haben wir den Schlüssel für so vieles schon in der Hand. Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins Zeitalter der Klimaneutralität führt. Wie man dafür den Kohleausstieg beschleunigt und Versorgungssicherheit gewährleistet, wie viel mehr Strom aus Wind und Sonne gewonnen werden kann. Wir wissen, wie man eine sozialökologische Marktwirtschaft entwickelt, die zukunftsfähige Jobs, sozialen Schutz und fairen Wettbewerb in Deutschland und Europa zusammenbringt, wie man der Globalisierung klare Regeln setzt und Tech-Konzerne angemessen besteuert. ( … ) Wir sind in der Lage und fest entschlossen, Europa als Wertegemeinschaft demokratisch zu stärken und im globalen Systemwettbewerb gerechter und handlungsfähiger zu machen.“[xiii]

Die Frage, ob eine sozialökologische Umgestaltung im Kapitalismus an Systemgrenzen stößt, stellt sich für die Grünen im Unterschied zu linkeren Versionen des Green New Deal erst gar nicht. Kein Wunder also, dass die Umverteilungsvorschläge, also die soziale Komponente des Deals, auf den 137 Seiten des Programms dünn und vage ausfallen.

So versprechen die Abschnitte zu Arbeit, Löhnen und sozialen Netzen wenig mehr, als dass alles „sozialer werden“ solle. Hartz IV soll zwar durch eine „Grundsicherung“ ersetzt werden, über deren Höhe schweigen sich die Grünen aber aus. Das Rentenniveau soll auf gerade 48 % gehalten werden, das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren festgeschrieben bleiben, also beim erreichten Stand an Verschlechterungen der Großen Koalition. Der Mindestlohn soll auf gerade mal 12 Euro angehoben werden. Armut verhindert das Programm der Grünen trotz gegenteiliger Beteuerung also längst nicht.

Statt einer generellen Arbeitszeitverkürzung soll Vollbeschäftigung durch einen flexiblen Arbeitszeitkorridor von 30 – 40 Stunden pro Woche erreicht werden, ohne Lohnausgleich natürlich. Damit das alles auch weiter friedlich und reguliert über die Bühne geht, soll die SozialpartnerInnenschaft gestärkt werden. Schließlich versprechen die Grünen zur Milderung der Wohnungsnot neben einer Zügelung der Wohnungsspekulation und „fairen Mieten“, ganz wie alle tradierten bürgerlichen Parteien, die Erleichterung des Erwerbs von Wohneigentum.

Betrachten wir die sozialen Versprechungen, entpuppen sich jene der Grünen als bescheidener als jene des sogenannten ArbeitnehmerInnenflügels von CDU/CSU. Die Armen sollen etwas weniger arm werden – darin erschöpft sich die grüne Transformation. Andere Forderungen nach sozialer Absicherung oder nach Ausbau des Bildungswesens, Verbesserung der Digitalisierung usw. sind vor allem Versprechungen gegenüber bessergestellten Teilen der Lohnabhängigen und den bildungsbürgerlichen Mittelschichten, also der Kernklientel der Grünen, und natürlich auch dem Kapital, das besser qualifizierte Arbeitskräfte braucht.

Noch unbestimmter und zahmer erweisen sich die Umverteilungsforderungen gegenüber Kapital und VermögensbesitzerInnen. Neben allgemeinen Beschränkungen von Exzessen der Spekulation und Profitmacherei geht es vor allem darum, dass die Reichen einen gerechten, wenn auch nicht übertrieben hohen Anteil an der sozialökologischen Umgestaltung leisten.

So soll klimaschädliches Verhalten von ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht weiter subventioniert werden, was in einem ersten Schritt die Staatsausgaben um jährlich 10 Milliarden Euro reduzieren soll. Des Weiteren sollen mit Steuergeldern umsichtig umgegangen und die Vergabe von öffentlich-privaten Partnerschaften transparenter gestaltet werden.

Die Schuldenbremse soll reformiert werden, um den Spielraum für Staatsausgaben zur Steigerung von Konsum und Zukunftsinvestitionen in Ökologie, Bildung und Digitalisierung zu erleichtern. Der Spitzensteuersatz soll außerdem auf bis zu 48 % angehoben werden, würde also noch immer deutlich geringer als unter Helmut Kohl liegen. Außerdem soll für alle Vermögen von über 2 Millionen Euro eine Vermögensteuer von jährlich 1 % erhoben werden. Selbst davon ist bei den Koalitionsverhandlungen nichts geblieben. Zittern muss das Kapital also nicht, zumal auch Begünstigungen für Betriebsvermögen im verfassungsrechtlich erlaubten und wirtschaftlich gebotenen Umfang eingeführt werden sollen. Fazit des Ganzen: Die Reichen sollen etwas weniger reich werden.

Die Klassenspaltung der Gesellschaft kommt im Programm wie generell bei den Grünen überhaupt nicht vor. Sie erscheint erst gar nicht als Realität, daher auch nicht als Problem. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich wird als solche nicht Frage gestellt. Die Grünen stört nur, dass sie mittlerweile zu groß wird – so groß, dass sie den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gefährde. Dadurch würden nämlich die Demokratie, der soziale Frieden und die Möglichkeit eines „vernünftigen“, von allen akzeptierten Ausgleichs der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen untergraben. Doch genau ein solches Mindestmaß an Harmonie scheint der Partei notwendig, um auch den ökologischen Umbau „vernünftig“ zu gestalten und „alle mitzunehmen“.

An mehreren Stellen des Wahlprogramms wird der Green New Deal als neue Wirtschaftsweise verkauft. Jedoch Kritik am Kapitalismus oder an der Warenproduktion ist damit nicht gemeint.

Die neue Wirtschaftsweise soll allerdings klimaneutral sein. Erreicht werden soll das im Wesentlichen durch eine endlich konsequente Umsetzung der internationalen Vereinbarungen zum Klimaschutz und des Grünen Deals, den die EU-Kommission zu implementieren versucht. Während linkere Spielarten des Green New Deal – z. B. das Wahlprogramm der britischen Labour Party unter Corbyn – auch die Verstaatlichung strategischer Wirtschaftsbereiche inkludieren und anerkennen, dass ein ernsthafter ökologischer Umbau nur gegen mächtige Kapitalinteressen durchsetzbar wäre, wollen die Grünen den Konzernen und Banken vermitteln, dass eine ökologische Umgestaltung der Wirtschaft auch in ihrem längerfristigen ökonomischen Interesse läge. Sie präsentieren sich dabei als bessere, weitsichtigere SachwalterInnen der Gesamtinteressen des deutschen und europäischen Kapitals.

Diesem soll die Investition in die sozialökologische Transformation schmackhaft gemacht werden. Da das Kapital aber noch nicht nach Wunsch in diese Branchen strömt, müsse dem freien Spiel der Marktkräfte auf die Sprünge geholfen werden. Auf technologischer Ebene erscheint den Grünen dabei das Problem im Grunde schon als gelöst. Die Unternehmen müssten bloß dazu ermutigt werden, in enger Kooperation mit einer Regierung zu handeln, die sich dem Green New Deal verschrieben hat.

In dieser Politik finden sich Elemente des Keynesianismus wieder: Einerseits sollen Produktion und Konsum von ökologisch schädlichen Gütern durch den Abbau von Subventionen und durch Preissteigerungen (Ökosteuern; CO2-Preis) verteuert werden, so dass nicht nur die Unternehmen solcher Branchen Gewinneinbußen hinnehmen, sondern auch die KäuferInnen ihrer Produkte (also bei Konsumgütern vor allem die Lohnabhängigen) höhere Preise zahlen müssten.

Andererseits sollen steuerfinanzierte Programme zur ökologischen Erneuerung der Wirtschaft das Kapital in die gewünschten Sphären lenken. Dabei setzen die Grünen auf eine Stärkung der europäischen Kooperation und ein großes Investitionsprogramm, um „etwa gemeinsame europäische Energienetze oder ein Schnellbahnnetz“ zu finanzieren. Außerdem soll der Euro als internationale Leitwährung gestärkt werden, auch um zusätzliche InvestorInnen anzuziehen. Wie sehr dabei die Politik der Grünen von den Interessen des deutschen Großkapitals durchdrungen ist, verdeutlichen zwei Passagen:

„Jetzt braucht es Entschlossenheit und Zusammenarbeit, damit unsere Autobauer in Zukunft wieder die Nase vorn haben. Klar ist: Der fossile Verbrennungsmotor hat keine Zukunft. Wir wollen ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zulassen. Wir unterstützen bei Forschung und Innovation und sichern einen schnellen Aufbau der Ladesäuleninfrastruktur und eine weitere Förderung des Markthochlaufs von emissionsfreien Fahrzeugen zu. Aktuell haben Deutschland und Europa den Anschluss bei der Batteriezellenproduktion und damit viel Wertschöpfung verloren. Das darf sich bei den Batterien der nächsten Generation, die günstiger und ressourcensparender sind, nicht wiederholen. Wir wollen Europa zum Weltmarktführer einer ökologischen Batteriezellenproduktion machen.“[xiv]

Und weiter: „Um kritische Abhängigkeiten zu verringern, soll die EU-Kapazität im Bereich der Halbleitertechnologie wie von der EU-Kommission vorgeschlagen auf 20 Prozent der weltweiten Produktion ausgebaut werden. Das gilt vor allem für die Bereiche, in denen wir bei der Halbleitertechnologie für industrielle Anwendungen bereits eine starke europäische Stellung haben oder in denen eine besonders dynamische zukünftige Entwicklung zu erwarten ist.“[xv]

Bei allem kleinbürgerlichen Gedöns über Menschlichkeit, Zusammenhalt, Gerechtigkeit und sonstigen Phrasen präsentieren die Grünen hier ein Programm für den deutschen Imperialismus und eine in seinem Interesse vollendete EU. Diese soll zu einem Bollwerk im Kampf bei der Neuaufteilung der Welt werden, die in der grünen Ideologie zur sozialökologischen Vorreiterrolle Europas verbrämt wird.

Anders als rein neoliberale DoktrinärInnen erkennen die Grünen dabei an, dass es staatlicher Intervention bedarf, wenn ein solches Programm Wirklichkeit werden soll, dass der deutsche Staat und die EU im längerfristigen Interesse des Gesamtkapital als GeburtshelferInnen der Transformation der technischen Basis des Kapitals wirken müssen. Der soziale Anstrich dieser Politik erscheint darüber hinaus rational, weil eine zu große Vertiefung der sozialen Kluft der Gesellschaft das Projekt noch zusätzlich erschweren würde. Daher sollen die ärgsten Auswüchse des Neoliberalismus auch abgemildert werden. Schließlich lässt sich das Programm der kapitalistischen Ökotransformation auch besser verkaufen und gegen andere bürgerliche Kräfte und gesellschaftliche Opposition durchsetzen, wenn man es mit viel sozialer und demokratischer Tünche lackiert.

So wie die Interessen der deutschen Autoindustrie und anderer Konzerne offen benannt werden, so erinnert der Abschnitt „Klimaaußenpolitik“ sehr an klassischen, verlogenen Imperialismus:

„Sie bedeutet zum einen, dass wir Europäer*innen unseren Bedarf an grüner Energie durch Klimapartnerschaften decken helfen: grüner Wasserstoff statt Öl- und Gasimporte. Andererseits werden wir so endlich unserer historischen Verantwortung gerecht, indem wir Elektrifizierung und Technologietransfers insbesondere in afrikanischen Ländern vorantreiben und den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in diesen Ländern unterstützen. Nur so können wir es schaffen, global auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.“[xvi] Am deutschen (und europäischen) Kapitalexport soll also die Welt genesen. Der Imperialismus wird so endlich wieder seiner Verantwortung gerecht. In der Vergangenheit mag er Afrika geplündert haben, jetzt macht er es nachhaltig. Die imperialistische Ausbeutung wird bei der sozialökologischen Transformation mit neuen Phrasen beschönigt. Die Realität dieser Politik zeigt der EU-Afrika-Pakt, der seit Jahren im Interesse der europäischen Konzerne vorangetrieben wird, um sich Zugang zu strategisch wichtigen Rohstoffen, Investitionen und Märkten zu sichern. Zugleich bildet er einen Teil der europäischen Strategie, um im neuen Wettlauf um Afrika den USA und China Paroli bieten zu können. In der grünen Ideologie hingegen erscheint diese klassisch imperialistische Politik des europäischen Finanzkapitals als „Win-win“-Situation, ganz so wie die bürgerliche Wirtschaftstheorie immer gerne die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Metropolen und Peripherie als Vorteil für alle verklärt hat.

Die sozialökologische Transformation der Grünen erweist sich weder als sozial noch als ökologisch. Sie entpuppt sich vielmehr als Programm zur Umstrukturierung des deutschen Kapitals. Wie ökologisch das Ganze ist, zeigt der Schulterschluss mit der deutschen Autoindustrie. Die Grünen setzen auf E-Mobilität im privaten, vorgeblich klimaneutralen Pkw. Wenn notwendig, werden dafür auch Wälder gerodet und unsinnige, aber höchst profitable Autobahnbauten durchgesetzt wie zur Zeit im Dannenröder Wald. Was die Grünen für Deutschland und Europa versprechen, führt schon jetzt Kretschmann in Baden-Württemberg vor.

An der kapitalkonformen Ausrichtung lässt das Programm der Grünen keinen Zweifel übrig. Es wird aber nicht nur den ökologischen, geschweige denn den sozialen Fragen unserer Zeit nicht gerecht. Die Grünen skizzieren auch ein alternatives, imperialistisches Programm. Damit werden sie zu einer Option für die deutsche Bourgeoisie. Die Ampel schaltet auf Grün – freie Ökofahrt für das deutsche Kapital.

Linksbürgerliche, populistische und kleinbürgerliche Kritik

Vom bürgerlichen Green (New) Deal heben sich deutlich all jene Spielarten des GND ab, die ihn in ein Gesamtkonzept sozialer und globaler ökologischer und sozialer Transformation einbetten. Oft wird dieses Plädoyer mit einer teilweise recht beißenden und treffenden Kritik bürgerlicher Umweltpolitik und einer engagiert vorgetragenen am neoliberalen Kapitalismus verbunden.

Für diesen Flügel der Umweltbewegung steht u. a. Naomi Klein, eine der meistgelesenen AutorInnen dieser Richtung mit den Büchern wie „Kapitalismus vs Klima“[xvii] (2015) und „Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann“[xviii](2019). Kernthesen dieser Publikation wollen wir im Folgenden einer Kritik unterziehen, weil darin grundlegende Konzepte dieser politisch kleinbürgerlichen Strömung der Umweltbewegung deutlich werden.

Das Buch „Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann“ basiert zu einem bedeutenden Teil auf Artikeln und Reportagen der Autorin, die für die Veröffentlichung überarbeitet wurden. Wie bei anderen Texten Kleins liegt deren Stärke und Kraft in der  plastischen und engagierten Darstellung von Beispielen ökologischer Verheerungen, ihrer Verbindung zur Profitmacherei sowie ihren Auswirkungen auf Mensch und Natur. Die Betroffenen werden dabei nicht nur als Opfer, sondern auch als Subjekte von Widerstand, als Kämpfende dargestellt. Die Formen von Selbstorganisation, die sie dabei, ob nun als indigene Gemeinden, als Lohnabhängige oder als KlimaaktivistInnen entwickelt haben, nehmen einen wichtigen Platz in Kleins Artikeln und Büchern ein. Kein Wunder, dass sie viele junge AktivistInnen inspiriert und ermutigt haben.

Eine weitere, für vieler LeserInnen zweifellos mitreißende Seite solcher Texte besteht darin, den Blick auf die VerursacherInnen von Umweltzerstörung und deren soziale Folgen zur richten. Klein tut dies seit Jahren auf zweierlei Art. Erstens, indem sie konkrete ProfiteurInnen, also einzelne Konzerne, AkteurInnen auf den Finanzmärkten, Medien und staatliche Organe (Regierungen, Gerichte, Repressionskräfte) benennt und anprangert, die diese offen und gezielt unterstützen.

Zweitens richtet sie ihre Aufmerksamkeit auch auf die systemischen Ursachen der drohenden Umweltkatastrophe.

Welcher Antikapitalismus?

In dem Buch „Kapitalismus vs. Klima“ stellt Klein 2015 diesen Gegensatz folgendermaßen dar: „Wir haben nicht die notwendigen Dinge getan, um die Emissionen zu reduzieren, weil diese Dinge in fundamentalem Widerspruch zum deregulierten Kapitalismus stehen, der herrschenden Ideologie, seit wir uns um einen Weg aus der Krise bemühen. Wir kommen nicht weiter, weil die Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Katastrophe zu verhindern – und die dem Großteil der Menschheit zugute kommen würden –, eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellen, die unsere Wirtschaft, unseren politischen Prozess und unsere wichtigsten Medien im Würgegriff hält.“[xix]

Entscheidend für die Konzeption von Naomi Klein und einer sehr viel breiteren Strömung der Umweltbewegung, deren Positionen sie artikuliert, ist hier Folgendes. Das fundamentale gesellschaftliche Verhältnis, der grundlegende Widerspruch, der den ökologischen Katastrophen zugrunde liegt, wird nicht in der kapitalistischen Produktionsweise ausgemacht, sondern im „deregulierten Kapitalismus“ oder Neoliberalismus. Dieser erscheint darüber hinaus selbst gar nicht als Periode einer Produktionsweise, sondern als vorherrschende Ideologie und Politik.

Dieser Gedanke durchdringt sämtliche ihrer Arbeiten und auch ihre Konzeption des Green New Deal. Mit der neoliberalen Wende unter Thatcher und Reagan hätte es auch einen Bruch mit jenen Institutionen und Formen gegeben, die eine gewisse demokratische Regulierung des Kapitalismus ermöglicht hätten.

In „Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann“ betont Klein immer wieder diesen Bruchpunkt in der kapitalistischen Entwicklung selbst. So heißt es:

„Und es stimmt absolut, dass die weltweite Entfesselung des unregulierten Kapitalismus, also der Neoliberalismus, in den achtziger und neunziger Jahren den bei weitem größten Beitrag zu einer katastrophalen Emissionsspitze in der jüngsten Zeit geleistet hat und das bei weitem größte Hindernis für wissenschaftsbasierte Klimamaßnahmen darstellt, … “[xx] Doch nicht nur der deregulierte Kapitalismus erwies sich als Desaster. Auch der „autokratische, industrialisierte Sozialismus“ war „eine Katastrophe für die Umwelt“ [xxi]. Zweifellos kann niemand ernsthaft die verheerenden ökologischen Folgen der Herrschaft der Bürokratie in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten[xxii] bestreiten wollen. Indem Klein jedoch die bürokratischen Planwirtschaften mit Sozialismus gleichsetzt, verwirft sie zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit einer wirklich antikapitalistischen, demokratischen Planung, die auf der Enteignung des Kapitalismus und der Ersetzung des bürgerlichen Staatsapparates durch Organe der ArbeiterInnendemokratie und -herrschaft wie Räten beruht.

Kleins Antikapitalismus will von einem revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus nichts wissen. Vielmehr stellt sie diesem einen dritten, „demokratisch-sozialistischen“ Weg entgegen:

„Dem (Scheitern des autokratischen, industrialisierten Sozialismus und des Petropopulismus in Venezuela; Anm. d. Red.) müssen wir uns stellen, aber wir können auch darauf verweisen, dass Länder mit einer starken demokratisch-sozialistischen Tradition (wie Dänemark, Schweden und Uruguay) eine Umweltpolitik verfolgen, die zu den visionärsten der Welt gehört. Daraus können wir den Schluss ziehen, dass Sozialismus nicht unbedingt ökologisch ist, aber ein demokratischer Öko-Sozialismus – der die Demut besitzt, die Lehren der indigenen Völker über die Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen und die Verbundenheit aller Lebensformen zu befolgen – die beste Chance für ein kollektives Überleben der Menschheit bietet.“[xxiii]

Hier zeigt sich auch die Brücke zum New Deal Roosevelts. So wie die Beispiele Schwedens, Dänemarks oder Uruguays beweisen sollen, dass auf Basis eines regulierten Kapitalismus eine „visionäre“ Umweltpolitik und eine fast schon sozialistische Gleichheit möglich wären, so soll der New Deal der 1930er Jahre belegen, dass in Krisensituation auch auf Basis der Marktwirtschaft große gesellschaftliche Fortschritte erzielt werden können, wenn nur die richtigen gesellschaftlichen und politischen Weichen gestellt werden.

„Im Hinblick auf die Dimension, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, bezieht das Konzept des Green New Deal seine Inspiration aus Franklin D. Roosevelts New Deal, der mit einem bunten Strauß politischer Maßnahmen und öffentlicher Investitionen auf das Elend und den Zusammenbruch während der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre reagierte.[xxiv]

Natürlich, so Klein, war auch dieser nicht perfekt und enthielt einige offenkundige Schwächen wie die Reproduktion des Rassismus und den Ausschluss der indigenen Bevölkerung der USA. Darüber hinaus basierte er bekanntlich auf dem Ausbau fossiler Energieträger.

Naomi Klein und die ParteigängerInnen eines radikalen Green New Deal begegnen diesem Problem einfach, indem sie darauf verweisen, dass ein solches Programm heute mit Investitionen in erneuerbare Energien sowie einer entsprechenden Umgestaltung anderer Bereiche des Lebens (z. B. Umrüstung auf 100 % energiesparenden Wohnungsbau usw.) kombiniert werden könne. Die Forderungen indigener Gemeinden und rassistisch Unterdrückter müssten eben einfach nur aufgenommen werden – dann wäre ein großer Reformentwurf perfekt.

Was die globale Dimension betrifft, haben sie und verschiedene AnhängerInnen des GND auch ein simples, der Neugestaltung des Weltkapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg entlehntes, mit dem historischen New Deal verbundenes Konzept parat – einen neuen Marshallplan (European Recovery Program) für die Erde.

Das Fehlen eines tieferen Verständnisses der kapitalistischen Produktionsweise erlaubt es Klein und anderen VertreterInnen des linksbürgerlichen oder kleinbürgerlichen GND ironischer Weise, eine radikale, scheinbar gegen den Kapitalismus gerichtete Kritik an großen Konzernen und dem politischen Establishment mit einem Reformprogramm zu verbinden, das Marktwirtschaft und Privateigentum an den Produktionsmitteln nirgendwo grundlegend in Frage stellt. Wenn die eigentlichen Gegner, der Neoliberalismus und der deregulierte Kapitalismus, als eine herrschende Ideologie und Politik bestimmt werden, drängt sich geradezu die Schlussfolgerung auf, dass es genügen würde, dieser Politik einfach eine andere, inkludierende bürgerliche Reformpolitik entgegenzusetzen.

Klassenübergreifende Allianz

Neben diesen globalen und institutionellen Aspekten umfasst der Green New Deal Kleins außerdem auch die Ausweitung vorhandener,  widerständiger Erneuerungsbewegungen der kleinbürgerlich-bäuerlichen Selbstorganisation wie in Chiapas, populistischer wie der MAS in Bolivien, der indigenen Bauern und Bäuerinnen im selben Land oder der reformistischen Regierung wie im indischen Bundesstaat Kerala.

Damit sind für Klein auch schon die Kräfte gefunden, die im Rahmen einer globalen Allianz unterschiedlicher Klassen einen Green New Deal durchsetzen sollen:

  • Bürgerliche Kräfte wie z. B. vom linken Flügel der Demokratischen Partei in den USA. Deren bekannteste und auch linkeste VertreterInnen wie AOC und Bernie Sanders gelten Klein, nebenbei bemerkt, auch als SchlüsselautorInnen ihres Programms eines Green New Deal. In ihrem Buch verweist sie auf insgesamt 105 Mitglieder des US-Kongresses und des Senats, die sich vor den Wahlen öffentlich zur Green-New-Deal-Resolution von AOC bekannt hatten – darunter Politikerinnen wie Elizabeth Warren und selbst die nunmehrige US-Vizepräsidentin Kamala Harris.
  • Linke, in den Augen von Klein, demokratisch-sozialistische Regierungen in den imperialistischen wie auch in den halbkolonialen Staaten (Schweden, Dänemark, Uruguay), Parteien wie ein Teil der Grünen oder Bewegungen wie DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025).
  • Aktivistische und kampagnenorientierte Teile der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung wie das Sunrise Movement in den USA, Extinction Rebellion (XR) in Europa oder Fridays for Future. Diese Gruppierungen verfügen selbst nur über sehr rudimentäre Programme. Faktisch greifen sie nicht nur die Losung des Green New Deal auf, sondern übernehmen weite Teile des Programms von linken Grünen und linken DemokratInnen, betonen in Aktionen deren Dringlichkeit.
  • Bewegungen der indigenen und bäuerlichen Gemeinden in den Halbkolonien, einschließlich von linken kleinbürgerlichen Kräften wie den Zapatistas, die auf Basis genossenschaftlichen und kleinbürgerlichen Eigentums eine Form lokaler nachhaltiger Kommunen aufzubauen versprechen.
  • Reformistische Kräfte aus dem linken Flügel der ArbeiterInnenbewegung (Europäische Linkspartei, DSA in den USA, Corbyn-Flügel in Labour).

Für die AnhängerInnen eines linksbürgerlichen Green New Deals wie Naomi Klein stellt die ArbeiterInnenklasse dabei keinesfalls das entscheidende Subjekt der Veränderung dar. Sie ist vielmehr bloß Bestandteil einer breiten, klassenübergreifenden Allianz, die vom „linken“ Flügel des Kapitals über wichtige Teile der lohnabhängigen Mittelschichten und des KleinbürgerInnentums bis hin zu Teilen der ArbeiterInnenbewegung reicht.

Folgerichtig beschränkt sich der Antikapitalismus dieser Strömungen auf eine bestimmte Erscheinungsform und Ideologie der bestehenden Gesellschaftsordnung, den Neoliberalismus. An deren Stelle soll eine regulierte, nachhaltige ökosoziale Marktwirtschaft treten, deren Gehalt jedoch ideologisch überhöht wird, ja werden muss.

Programm des kleinbürgerlichen GND

Das beschränkte Ziel spiegelt sich deutlich in den Programmen des kleinbürgerlichen GND wider. Unbenommen der Tatsache, dass sich die verschiedenen Konzepte in etlichen Aspekten unterscheiden, arbeitet Naomi Klein im Anschluss an die GND-Resolution von AOC in ihren Büchern Eckpunkte dieser Strategie heraus.

Erstens verspricht der GND nicht nur ökologische Erneuerung und das Erreichen der Klimaziele. Er soll sich auch als wahres Jobwunder erweisen, als echte Win-Win-Situation für Klima, Kapital und Arbeit, für kleine und große ProduzentInnen.

Die Frage, welche inneren Hindernisse dem im Wege stehen, warum sich zentrale Teile des gesellschaftlichen Gesamtkapitals entweder gegen eine ökologische Transformation wenden oder sich diese wie die Kohleindustrie dreifach vergolden lassen, wird nicht oder nur oberflächlich betrachtet. Letztlich erscheint der Widerstand gegen den GND als Mischung aus Mangel an Vernunft, übermäßiger Profitgier, fehlenden finanziellen Mitteln und Ängsten von Lohnabhängigen, Jobs und Einkommen zu verlieren.

Dem könne aber leicht abgeholfen werden durch Erhöhung staatlicher Ausgaben und massive Konjunkturprogramme, die sich, so die frohe Botschaft, rasch refinanzieren würden. Zustimmend zitiert Klein den US-amerikanischen Thinktank New Consensus. Diesem zufolge „werden durch den Green New Deal neue Arbeit von Waren und Dienstleistungen entstehen, die die zusätzlichen Ausgaben ausgleichen. Von daher besteht kein Grund zu Bedenken, es könnte durch dessen Finanzierung ein wirtschaftlicher Stillstand eingeleitet werden, ebenso wenig, wie dies bei der Finanzierung von Kriegen oder Steuererhöhungen der Fall war.“[xxv]

Laut AOC sollten alle Erfordernisse für den GND wie Notstandsmaßnahmen finanziert werden. Der Kongress solle einfach die notwendigen Mittel bewilligen, die ihrerseits vom Weltwährungsfonds abgesichert werden. Auf ähnlichem Wege sollte dieser auch die Programme anderer Länder und vor allem des globalen Südens absichern.

Die damit einhergehende Zunahme der Staatsverschuldung stelle kein Problem dar. Letztlich würde diese durch zukünftige Einnahmen infolge einer Expansion der Wirtschaftsleistung und Gewinne gedeckt werden. Die Schulden wären somit nur vorübergehender Natur. Die Austeritätspolitik, die von den neoliberalen und monetaristischen bürgerlichen WissenschaftlerInnen vertreten wird, kritisieren sie und andere VerfechterInnen des GND als „Vernichtungspolitik“. Ihr müsse eine konterzyklische, vom Keynesianismus inspirierte Konjunkturpolitik zur Stimulierung und Finanzierung einer ökosozialen Transformation entgegengesetzt werden.

Zusätzliche ideologische Schützenhilfe erhält diese Strömung durch die dem Neokeynesianismus zuzurechnende Modern Monetary Theory (MMT). Grundsätzlich gehen die AutorInnen der MMT, die dem GND nahestehen, davon aus, dass es ein Finanzierungsproblem eigentlich gar nicht gebe:

„Bezahlbarkeit ist für eine souveräne Regierung nie eine wichtige Frage – die relevante Frage betrifft die Ressourcenverfügbarkeit und ihre Aneignung. Es besteht daher eine natürliche Allianz zwischen der MMT und dem GND. Wenn es uns gelingt, technologisch machbare Projekte zu identifizieren, mit denen die Ziele des GND erreicht werden können ( … ), dann können wir die Finanzierung der Programme ermöglichen.“[xxvi]

Dazu müsse man letztlich nur den Staat und die mit ihm verbundene Zentralbank der Kontrolle des Kapitals, genauer seiner „fossilen“ Fraktion, entreißen und die nationale Souveränität – ganz wie es der Linkspopulismus proklamiert – für die „Linke“ einräumen.

Diese recht optimistischen Annahmen versucht die MMT, damit zu untermauern, dass der Staat über das Monopol der Geldpolitik verfügt, also Geld selbst emittieren kann. Die Gefahr der Staatspleite oder dauerhaften Inflation sei dabei gering, ja ausgeschlossen, wenn mit den quasi schon vorhandenen Mitteln produktive Investitionen getätigt würden.

Ganz in diesem Stil verspricht Naomi Klein daher, dass der GND auch krisenfest wäre. Denn: „Wenn die Weltwirtschaft in einen neuerlichen Abschwung oder eine weitere Krise gerät, was zweifellos der Fall sein wird, wird die Unterstützung für einen Green New Deal nicht abnehmen wie bei früheren größeren ökologischen Initiativen als Gegenmittel gegen eine Rezession. Da er die Wirtschaft in großem Stil stimulieren wird, bietet er die größten Hoffnungen auf ein Ende der wirtschaftlichen Not der Menschen und wird deshalb umso mehr Unterstützung finden.“[xxvii]

Kombiniert werden soll das mit einer Besteuerung der Reichen, einer Art Öko- und Sozial-Solidaritätszuschlag, und einer Mindestsicherung für die Armen, so dass es keine Rückschläge durch GND-VerliererInnen aus den Unterschichten und –klassen geben könne.

Den kleinbürgerlichen und linksbürgerlichen VertreterInnen des GND ist durchaus klar, dass sie mit ihrem Programm auf den entschlossenen Widerstand der Großkonzerne, vor allem des fossilen Kapitals stoßen werden. Diese – jedoch keineswegs alle Unternehmen – werden als Gegner ausgemacht. Die Konzerne sollen, so Klein, „gebändigt“ werden. Wie? Indem Subventionen gestrichen und höhere Steuern erhoben, staatliche Infrastrukturprogramme und Ausgaben für Nahverkehr, Stadterneuerung, Wohnungsbau auf den Weg gebracht werden. Darüber hinaus bedürfte es einer Rückkehr zur öffentlichen Raum-, Industrie- und Flächennutzungsplanung, wie sie in vielen kapitalistischen Ländern noch vor der neoliberalen Wende existierte.

Bemerkenswert an all diesen Reformvorschlägen ist weniger, welche Wünsche noch vorgetragen werden, sondern welche Forderung nirgendwo erhoben wird: die nach Enteignung der großen Kapitale oder auch nur der größten UmweltverschmutzerInnen!

Der ganze Antikapitalismus des GND macht vor dem Privateigentum an Produktionsmitteln aus mehreren miteinander verbundenen Gründe halt.

Erstens entspricht – und das ist auch der entscheidende Grund –  dies der klassenübergreifenden Zusammensetzung der GND-Allianz, die ihrerseits  die Begrenzung der Kritik auf den Neoliberalismus, d. h. einen beschränkten Antikapitalismus, widerspiegelt. Es erscheint, wie wir oben gezeigt haben, als systemische Ursache der aktuellen Umweltkatastrophe, nicht der Kapitalismus als solcher, sondern seine deregulierte, neoliberale Spielart.

Als eigentliche politische Gegnerin wird folglich nicht die herrschende Klasse insgesamt betrachtet, sondern nur eine (neoliberale und fossile) Fraktion dieser. Die anderen gelten als Verbündete im Kampf für den Green New Deal.

Es entspricht daher der gesamten Konzeption dieser Richtung, den Charakter ihres Programms, die Frage, welche gesellschaftliche Kraft eigentlich bestimmen soll, mit Formeln zu übertünchen, hinter denen der Klassenstandpunkt der einzelnen Kräfte zurücktritt.

So erscheinen bei Klein die VertreterInnen der demokratischen Partei nicht als solche einer der beiden tradierten Hauptparteien des US-Kapitals, sondern vielmehr als Dutzende, wenn nicht Hunderte neuer Abgeordnete, die mit ihrer Community, mit ihren WählerInnen verbunden sind, als wohlmeinende, wenn auch vielleicht etwas privilegiertere Menschen, denen die Nöte und Sorgen ihrer Gemeinde noch immer ans Herz gehen, als philanthropische UnternehmerInnen und EigentümerInnen, die sich nicht nur um Profit, sondern auch um ihre Beschäftigten kümmern.

Der Widerstand der Konservativen wird, so Klein, durchaus zu brechen sein – und zwar durch die Resultate des GND selbst. Selbst jene, die den GND als sozialistisches Projekt verteufeln und so gegen ihn polarisieren wollten, würden schließlich eines Besseren belehrt, wenn neue Jobs und Unternehmen geschaffen würden. Schließlich würde das ja auch neue grüne Gewinne mit sich bringen.

„Natürlich werden die Republikaner in Washington den Green New Deal auch weiterhin als das beste Rezept hinstellen, die Vereinigten Staaten in ein zweites Venezuela zu verwandeln. Damit ignorieren sie einen der größten Vorteile unseres Modells, das den Klimanotstand als ein umfassendes Infrastruktur- und Bodensanierungsprojekt betrachtet: Nichts hebt ideologische Trennlinien so schnell auf wie ein konkretes Projekt, das leidenden Gemeinden Arbeitsplätze und Ressourcen verschafft.“[xxviii]

Schließlich, so können wir hinzufügen, söhnten sich auch die bürgerlichen GegnerInnen von Roosevelts New Deal mit diesem aus, nachdem sie erkannt hatten, dass er die Interessen des Kapitals bediente.

Betrachten wir das Programm des GND von AOC oder Klein wie überhaupt der GND-Allianz, so entpuppt es sich letztlich als eines zur ökologisch-sozialen Transformation des Kapitalismus, wenn auch mit mehr sozialen Abfederungen und radikalerer Rhetorik als jenes der großen bürgerlichen Kräfte. Es entspringt dem Bedürfnis, der gesellschaftlichen Stellung der dominierenden aktivistischen Kräfte und der kleinbürgerlichen IdeologInnen dieser Strömung, es als radikaleres und zugleich als „klassenübergreifendes“ darzustellen.

Sie geben zwar vor, die Welt grundlegend verändern zu wollen – freilich ohne ihre eigentlichen Grundlagen, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und das System der Profitmacherei, selbst anzugreifen. Unbenommen ihrer vergleichsweise radikalen Aktionsformen ist ihr Ziel letztlich jenem des Bourgeoissozialismus aus dem Kommunistischen Manifest ähnlich: Sie wünschen „den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern.“[xxix]

Es gehört daher zum notwendigen Erscheinungsbild dieser Richtung, das eigene Reformprogramm als radikaler zu verkaufen, als es seinem Inhalt nach ausfällt. So wird die klassenübergreifende Bewegung des GND, die vor der Enteignung haltmacht und am Standpunkt seiner linksbürgerlichen Elemente, also am Klassenstandpunkt der Bourgeoisie, ihre politische Grenze findet, noch zur „intersektionalen Massenbewegung“[xxx] (Klein, S. 327) verklärt.

Dahinter steckt – wie bei der gesamten Intersektionalitätstheorie – letztlich, dass man sich die Allianz zwischen bürgerlichen Kräften, aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten stammenden UmweltaktivistInnen, kleinbürgerlich-bäuerlichen Communities in den Halbkolonien und Teilen der ArbeiterInnenklasse ähnlich wie bei der Volksfrontpolitik als Addition verschiedener Klassen vorstellt. In Wirklichkeit paralysieren sich jedoch die Kräfte, weil das Bündnis nur funktioniert, wenn die Lohnabhängigen entscheidende Klassenstandpunkte und Ziele ihren Verbündeten aus anderen Klassen, und das heißt vor allem aus der bürgerlichen, unterordnen. Der Verzicht auf die Enteignung auch zentraler Kapitalgruppen verdeutlicht das.

Es entspricht jedoch der inneren Logik solcher Bündnisse, dass das linksbürgerliche Programm – in diesem Fall der Green New Deal – mit scheinradikaler Rhetorik überhöht werden muss. Schließlich sollen die AktivistInnen, die eigentlich radikalere Absichten verfolgen, denen es jedoch an einer eigenen, revolutionären Strategie und einem Klassenstandpunkt fehlt, bei der Stange gehalten werden. Der proklamierte Antikapitalismus, das proklamierte „system change, not climate change“ bildete daher eine notwendige Ergänzung zum bürgerlichen Reformprogramm, das der GND letztlich darstellt.

Modern Monetary Theory

Klein und andere AnhängerInnen des GND propagieren diesen, wie wir oben gesehen haben, gern auch als wirtschaftliches Erfolgsprojekt. Dabei stützen sie sich einerseits auf die Kalkulation, dass ein Konjunkturprogramm allen Klassen der Gesellschaft helfen würde:  Die KapitalistInnen könnten Anlagen und Profite machen, die ArbeiterInnen hätten Jobs und Einkommen und könnten überdies neue grüne Produkte mit Öko-Siegel kaufen.

Finanziert werden soll dies durch eine vorübergehende Erhöhung der Staatsverschuldung, die früher oder später wieder eingespielt werden kann.

Doch selbst wenn dem nicht so wäre, so versichern die VertreterInnen der Modern Monetary Theory (MMT), die dem GND nahestehen, wäre das kein Problem. Wir haben schon oben gesehen, dass die praktischen Schlussfolgerungen dieser Theorie darauf hinauslaufen, dass Staatsschulden für einen  Staat eigentlich kein wirkliches Problem darstellen würden, dass also der Souverän nur Geld drucken müsse, um notwendige Infrastrukturprogramme anzuschieben. Das Finanzierungsproblem eines GND ist damit überhaupt kein ökonomisches, sondern ein rein politisches. Es ginge letztlich nur darum, dass der bestehende bürgerliche Staat für ein solches Programm eingesetzt, also dessen Souveränität gegenüber neoliberalen Gegenkräften behauptet oder wieder erkämpft wird.

Das fehlende Verständnis für den Klassencharakter des bürgerlichen Staates der MMT springt hier natürlich ins Auge. Darauf verweist auch Ingo Stützle in dem lesenswerten Aufsatz „Money makes the world go green?“[xxxi], in dem er die MMT einer grundlegenden Kritik unterzieht und auf den wir uns in den folgenden Ausführungen stützen. Die naive Sicht des bürgerlichen Staates, ja, das Fehlen einer Staatstheorie in der MMT bildet dabei letztlich nur die andere Seite einer falschen Geldtheorie und damit eines falschen Verständnisses des Kapitalismus selbst.

Der MMT zufolge sei eigentlich alles Geld seinem Wesen nach Kredit. Damit es als solches von den Gesellschaftsmitgliedern, also den Tauschenden, anerkannt wird, bedürfe es des Staates, der die Währung emittiert und ein Monopol darauf geltend machen könne, gewissermaßen die StaatsbürgerInnen zwingt, nur sein Geld zu verwenden und ihre Tauschgeschäfte nur mit diesem zu verrichten. Die Steuern erschienen daher nicht als zentrales Finanzierungsmittel des Staates, sondern als Mittel, die StaatsbürgerInnen zur Begleichung einer Schuld mit dem Geld zu zwingen, das der Staat selbst emittiert. Alle Tauschverhältnisse zwischen den Marktsubjekten, alle Steuern usw. werden als Schuldner-Gläubiger-, als Kreditverhältnisse begriffen.

Wie in anderen bürgerlichen Wirtschaftstheorien wird der Kredit nicht von den Geldfunktionen und dem Kapitalbegriff her entwickelt, sondern umgekehrt erscheint jedes Geld und jede Geldfunktion als Kredit. Mit dieser Setzung bedarf die MMT auch keiner werttheoretischen Fundierung. Geld wird nicht wie im Marx`schen Kapital aus der Wertform der Waren (allgemeines Äquivalent) entwickelt und daraus seine Funktionen herausgearbeitet (Maß der Werte, Zirkulationsmittel, Weltgeld usw.): Es wird vielmehr bloß als eine geniale Erfindung zur Erleichterung des Warentausches begriffen. Darüber hinaus bedarf die MMT auch keiner Klärung des Verhältnisses von kapitalistischer Akkumulation und staatlicher (Geld-)Politik und keiner Staatstheorie.

Der Staat bzw. die staatliche Notenbank, die in dieser Theorie einseitig auch bloß als Verlängerung der Regierung aufgefasst wird, setzten das Geld als Währung und zwängen damit  allen StaatsbürgerInnen oder Untertanen ihr Geld auf.

Der Staat steht dieser Theorie zufolge nicht erst vor der Notwendigkeit, Geld über Steuern einzunehmen. Er besitzt es bereits, da er über das Monopol verfügt, es zu drucken, also die Mittel zur Verfügung zu stellen, die notwendig sind, um z. B. die ökologische Umstellung der Wirtschaft zu finanzieren.

Dass der Staat zur Zeit nicht in diesem Sinne handelt, hat für die MMT letztlich zwei Ursachen. Einerseits folgt dies aus den mit dem Kredit selbst verbundenen Krisen- und Spekulationsphänomenen, die letztlich auch die eigentliche Ursache der kapitalistischen Krise ausmachen. Andererseits folgt das aus der falschen politischen Ausrichtung des Staates. Letzterer wird dabei nicht als Organ der Klassenherrschaft begriffen und auch nicht als Kampfterrain zwischen Klassen wie bei der reformistischen Konzeption von Poulantzas, sondern erscheint als eine Art Black Box, die prinzipiell verschiedenen gesellschaftlichen Kräften zur Verfügung stünde. Daher, so einige AutorInnen dieser Schule, müsse die politische Linke selbst zu einer Vorkämpferin der staatlichen Souveränität werden und ihre Distanz zu Begriffen wie „nationale Souveränität“ ablegen.

Da der Staat Geld als Mittel zur Allokation von Gütern und Arbeitskräften selbst in Umlauf bringen kann, kann er auch die negativen Ausformungen des Kredits (Spekulation, … ) politisch in den Griff kriegen. Die Warenproduktion selbst stellt für die MMT kein Problem dar. Um Krisen zu überwinden, genüge es letztlich, das Geld- und Kreditsystem für  bestimmte produktive Zwecke einzusetzen.

Bei den Schlussfolgerungen bezüglich des Staates springen nicht nur die grundlegenden Unterschiede zum Marxismus ins Auge. Die Differenzen beginnen schon bei der Frage, was eigentlich Geld und Kapitalismus sind. Für die MMT ist Geld letztlich nur ein Mittel zur Allokation von Ressourcen.

Der Fehler in der MMT beginnt schon damit, dass sie verkennt, dass eine bestimmte Ware überhaupt nur zur Geldware werden kann, wenn sie selbst vergegenständlichte menschliche Arbeit verkörpert:

„Die Waren werden nicht durch das Geld kommensurabel. Umgekehrt. Weil alle Waren als Werte vergegenständlichte menschliche Arbeit, daher an und für sich kommensurabel sind, können sie ihre Werte gemeinschaftlich in derselben spezifischen Ware messen und diese dadurch in ihr gemeinschaftliches Wertmaß oder Geld verwandeln. Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren, der Arbeitzeit.“[xxxii] Damit eine bestimmte Warenart überhaupt zum Geld werden kann, muss sie selbst Produkt menschlicher Arbeit sein. Sobald diese jedoch einmal als solche als Geld etabliert ist, sie dauerhaft zur besonderen allgemeinen Äquivalentform aller Waren wird, verschwindet die Wertfundierung des Geldes in der Erscheinung.

„Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die andren Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist. Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine Spur zurück. Ohne ihr Zutun finden die Waren ihre eigne Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper.“[xxxiii]

Marx nennt dies den Geldfetisch. Genau diesem sitzt die gesamte Geldtheorie der MMT auf.

Doch damit nicht genug. Marx arbeitet im „Kapital“ heraus, welchen grundlegenderen systemischen, mit der Warenproduktion untrennbar verbunden Charakter Geld hat. Dazu Stützle:

„Die im Kapitalismus nachträgliche vergesellschaftete Privatarbeit erschöpft sich nicht in der Produktion von Gütern, diese sind lediglich Mittel zur Verwertung des Werts, der im Geld seine selbstständige Gestalt hat – es ist Maßstab der Verwertung. Die voneinander getrennten Privatarbeiten sind als Kapitalverhältnis organisiert, Kapital beutet Arbeitskraft aus, um Profit zu machen. Investiertes Geld muss sich rentieren, aus G (Geld; Anm. d. Red.) muss G’ (mehr Geld; Anm. d. Red.) werden, und Produktion, die kein G’ macht, wird nicht als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt. Diese Prozesse muss das Geld organisieren, sonst ist es kein Geld und wird nicht als Geld akzeptiert.“[xxxiv]

Anders als für die MMT fungiert Geld nicht als bloßes Hilfs- oder Schmiermittel des Warentausches, sondern stellt Ausgangs- und Endpunkt der Kapitalbewegung dar. Erst auf deren Basis lässt sich die Funktion des bürgerlichen Staates, seine historische Besonderheit gegenüber früheren Staatsformen verstehen. Sein Zweck besteht nämlich, unbenommen aller konkreten Unterschiede zwischen verschiedenen Staaten, darin, die allgemeinen Bedingungen der Kapitalakkumulation zu garantieren.

Formal hat der Staat (oder seine Notenbank) zwar das Recht, beliebig viel Geld zu emittieren. Die MMT  verwechselt aber hier diese formelle Souveränität damit, dass diese materiell keineswegs existiert, sondern vielmehr durch das Kapitalverhältnis, und zwar nicht bloß durch ein nationales, sondern den Weltmarkt und die internationale Arbeitsteilung  beschränkt, ja, bestimmt wird.

„Ob und inwieweit diese staatlichen Zahlungsmittel aber Geld sind, wie weit ihre Zugriffsmacht (,Kaufkraft’) reicht, was dieses Aneignungsrecht gilt, das bestimmt der Staat ebenso wenig wie die Frage, ob sie als Kapital fungieren. Eine Zentralbank kann zwar eine Währung herausgeben. Doch was diese Währung kann, welche Macht sie als Zugriffsmittel hat, das entscheidet sich in der kapitalistischen Privatwirtschaft – und letztlich kommt es darauf an, ob das Geld als Mittel der Verwertung fungieren kann oder nicht.“[xxxv]

Ob ein bestimmtes staatliches Konjunktur- und Investitionsprogramm die Akkumulation des Gesamtkapitals befördert oder es sich als Milliarden schweres Strohfeuer entpuppt, hängt daher nicht vom Willen und politischen Entscheidungen des Staates ab. Entscheidend sind vielmehr der Stand der Akkumulation des Gesamtkapitals, dessen organische Zusammensetzung, die Entwicklung der Profitrate etc.

Für die MMT ist Kapital letztlich bloß eine große Menge Geld, ein „Kredit“, der den Anspruch auch bestimmte Ressourcen (Arbeitskraft und Produktionsmittel) begründet. Ebenso verfüge auch der Staat (über Steuern, Aufnahme von Schulden und über Gelddruck) über eine Menge Geld.

Übersehen wird dabei jedoch, dass Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt, dessen Zweck darin besteht, aus Kapital in Geldform noch mehr Geld, aus G  G’ zu machen. Der Staat ist für das Kapital notwendig, um allgemeine gesellschaftliche Voraussetzungen der Kapitalakkumulation zu sichern, das Konkurrenzverhältnis zwischen konkurrierenden Einzelkapitalen wie auch zwischen den Gesellschaftsmitgliedern zu regeln sowie das Kapitalverhältnis nach innen und außen abzusichern. Dazu bedarf es eines Staatsapparates, einer Bürokratie, eines Heeres, Gemeindiensten, Gerichten, FinanzbeamtInnen und auch staatlicher Investitionen in Bereichen, die einzelnen Kapitalen nicht lukrativ erscheinen.

Die einzelnen KapitalistInnen, ja, die gesamte Klasse nehmen zu diesen Ausgaben ein zwiespältiges Verhältnis ein. Einerseits sind sie unerlässlich, andererseits Abzüge vom Mehrwert. Daher soll der Staat möglichst nichts kosten, aus den Steuern der Masse der Gesellschaft, also vor allem denen der Lohnabhängigen, finanziert werden und zugleich die Interessen des Kapitals bedienen.

Da sich die bürgerliche Gesellschaft als eine unabhängiger PrivatproduzentInnen und voneinander unabhängiger, freier WarenbesitzerInnen konstituiert, muss ihnen der Staat notwendigerweise als eine scheinbar über der Gesellschaft stehende, von ihnen unabhängige Instanz gegenübertreten.

Nur so kann er überhaupt zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse vermitteln, das Interesse des Gesamtkapitals gegen widerstreitende Einzelkapitale durchsetzen. Nur so kann er den Schein wahren, das gesellschaftlich Allgemeine, also auch die unterdrückten Klassen und Schichten der Gesellschaft, zu repräsentieren. Wie sich diese widerstreitenden Interessen in staatlicher Politik ausdrücken, ist selbst eine Machtfrage im Kampf zwischen den Klassen. Dass die Lohnabhängigen dabei in der Lage sind, auch reale Verbesserungen durchzusetzen, nährt zusätzlich den Schein der Klassenneutralität des Staates.

Es ist diese formelle Unabhängigkeit des Staates, über die und hinter der sich jedoch dessen materieller Klassencharakter durchsetzt. Die MMT sitzt hier einmal mehr der Oberflächenerscheinung gesellschaftlicher Verhältnisse auf. Dass sie diesen Fehler mit der gesamten kleinbürgerlichen Umweltbewegung und dem Reformismus teilt, macht die Sache natürlich nicht besser. Betrachten wir die Programme von Sanders, AOC und anderen, können wir jedoch leicht erkennen, warum die MMT bei diesen VertreterInnen des GND so beliebt ist. Sie verspricht eine Finanzierung einer „radikalen“ Umweltpolitik aus dem Nichts. Wenn der Staat einfach Geld, also die notwendigen Mittel für ökologische Investitionen schöpfen kann, spielen Eingriffe in die Verfügungsgewalt des Kapitals über die Produktionsmittel nur eine Nebenrolle. Selbst partieller Verstaatlichungen z. B. des Energiesektors, des Transportwesens oder der Banken und Finanzinstitutionen bedarf es dann nicht. Die Eigentumsfrage spielt keine Rolle, weil der Staat die Realallokation von Ressourcen (Arbeitskraft, Produktionsmittel) auch selbst hervorbringen oder lenken könne, ohne zu verstaatlichen. Selbst die Frage der Besteuerung spielt eine untergeordnete Rolle, auch wenn die Programme des GND eine Umverteilung der Steuerlast in der Regel vorsehen.

Die MMT führt somit zu falschen Schlüssen, denen die reale Entwicklung entgegenschlägt. In Wirklichkeit ist der Zugriff des Kapitals auf den Staat nur zu brechen durch die Aufhebung des Kapitalverhältnisses selbst. In den letzten Jahrzehnten wurde das Kapital zudem nicht nur ideologisch, sondern auch materiell noch stärker gegenüber dem Staat,  sei es durch Privatisierungen, Umverteilung der Steuerlast, Ausweitung der Staatsschulden. Letztere bilden selbst einen mächtigen Hebel nicht nur des Einflusses des Kapitals auf den Staat. Für es bescheren diese gleich zwei Vorteile: Erstens müssen so weniger Steuern gezahlt, also weniger Gelder den Unternehmen entzogen werden. Zweitens bilden Staatsanleihen und Schulden imperialistischer Staaten einen sicheren Hafen für InvestorInnen in wirtschaftlich stürmischen Zeiten. Das zinstragende Kapital kann also mit einer sicheren Rendite rechnen. Drittens verschafft diese Abhängigkeit den privaten GläubigerInnen auch einen materiellen Hebel. Damit AnlegerInnen „Vertrauen“ in einen mit anderen konkurrierenden Staat als Schuldner haben, muss dieser auch glaubhaft machen, dass er die Kapitalinteressen bedient.

Schon diese Überlegungen verdeutlichen, wie naiv die Sicht ist, dass Staatsschulden kein Problem darstellen. Außerdem kann keineswegs jeder Staat beliebig Schulden bedienen. Deren Höhe ist vielmehr nur so lange ein handhabbares Problem, als Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen ihre Tilgung und Zinsen garantieren. Jede große globale Krise stellt genau diese Fähigkeit der schwächeren, vom Imperialismus beherrschten Länder in Frage. Die sog. Schwellenländer Argentinien oder Türkei sind nur zwei markante Beispiele für diese Entwicklung, die durch einen weiteren Faktor verschärft wird, für den MMT blind ist.

Den verschiedenen Nationalökonomien und den Staaten, die darauf basieren, weisen der Weltmarkt und die imperialistische Ordnung einen bestimmten Platz in der internationalen Arbeitsteilung, in den Wertschöpfungsketten bezüglich des Zugangs zu Finanzmitteln usw. zu. Dieser Hierarchie entspricht auch eine der nationalen Währungen.

Selbst die formelle Währungssouveränität existiert auf dem Weltmarkt letztlich nur für wenige imperialistische Staaten. Ganz oben stehen hier (noch) die USA. Der US-Dollar fungiert als Leitwährung, als Weltgeld, auch wenn China und die EU ihm diesen Platz streitig machen wollen. Für die meisten Länder der Welt existiert eine Währungssouveränität nicht wirklich, so wie die meisten halbkolonialen eben nur formell unabhängig, ökonomisch jedoch als untergeordnete, ausgebeutete Teile in den Weltmarkt integriert sind. Ihre Ökonomien werden vom imperialistischen Großkapital beherrscht – und die Unterordnung ihrer Landeswährungen ist selbst nur ein Ausdruck des Klassenverhältnisses auf imperialistischer Stufenleiter. Diese etablierte und durch das Weltwährungssystem reproduzierte Arbeitsteilung verfestigt logischerweise auch die ökologische Seite der imperialistischen Arbeitsteilung.

Entgegen ihrer eigenen Proklamation, eine Theorie zur Rettung der Menschheit vor der Krise zu liefern, entpuppt sich die MMT eigentlich als Schönwetterideologie, die den  grundlegenden Charakter des Kapitalverhältnisses verkennt.

5. „Linker“, transformatorischer Green New Deal

Die linkeste Variante des Green New Deal, die sich in vielen Forderungen mit denen von Sanders oder AOC durchaus deckt, wurde in den letzten Jahren von reformistischen Parteien bzw. von deren VertreterInnen entwickelt. Im Folgenden wollen wir uns mit dem Wahlprogramm von Labour aus dem Jahr 2019 und mit dem Buch „System Change“ von Bernd Riexinger, dem ehemaligen Vorsitzenden der Linkspartei, beschäftigen, der darin versucht, das Konzept in eine strategische Perspektive einzuordnen.

Das Programm von Labour

Im September verabschiedeten die Delegierten des Labour-Parteitags das, was weithin als die radikalste Umweltpolitik einer großen politischen Partei in der Welt gefeiert wurde:

„Die Maßnahmen des Labour-Konzepts beinhalten die Installation eines Nationalen Transformationsfonds von 400 Milliarden Pfund zur Umsetzung der ‚Green Industrial Revolution’. Davon sollen 250 Milliarden Pfund direkt in den Ausbau erneuerbarer Energie, für den Umbau des Transportwesens, den Erhalt von Biodiversität und Umweltschutz fließen. Die ‚Green Industrial Revolution’ verspricht insgesamt die Schaffung von einer Million neuer Jobs.

Im britischen Energiesektor soll der Übergang zu netto-null Emissionen in den 2030er Jahren erfolgen. Dafür sollen bis 2030 bis zu 90 Prozent der Elektrizität und 50 Prozent der Wärme durch den Ausbau von Off- und Onshore Windenergie, Solar- und Kernenergie erzeugt und auf verbesserten Stromnetzen verteilt werden.

Der Energieverbrauch in Gebäuden verursacht 56 Prozent der britischen CO2-Emissionen; er soll durch den Ausbau und die Erforschung verschiedener Technologien wie Wärmepumpen, solare Warmwassererzeugung und Wasserstofftechnologien reduziert werden. Auch die britischen Haushalte könnten laut Labour profitieren und ab 2030 im Durchschnitt 417 Pfund pro Jahr sparen.

Wichtige Bausteine der ‚Green Industrial Revolution’ sind zudem die Förderung regionaler wirtschaftlicher Entwicklung, besonders in den deindustrialisierten und ökonomisch schlechter gestellten Regionen Großbritanniens, sowie der massive Ausbau öffentlichen Eigentums. Durch demokratische Selbstverwaltung sollen die Menschen bei Entscheidungen über die regionale Entwicklung der Energieversorgung und alle Investitionen mitbestimmen.

• Bus und Bahn sollen wieder verstaatlicht und ausgebaut werden. Der öffentliche Nahverkehr soll verbessert und Straßen für Fußgänger*innen sowie Radfahrer*innen sicherer und komfortabler werden. Zusätzlich ist eine Verbesserung der Infrastruktur für Elektroautos und die Förderung von E-Auto Carsharing Clubs vorgesehen. Bereits ab 2030 sollen in Großbritannien keine neuen Autos mit Verbrennungsmotoren mehr verkauft werden.“[xxxvi]

Der Beschluss, den mittlerweile der Nachfolger Corbyn’s kassiert hat, verpflichtet Labour zu „öffentlichem Eigentum an Energie“ und „öffentlichem Eigentum an den großen Sechs [Energieversorgern]“. Dies stellte zweifellos einen Fortschritt dar gegenüber der bisherigen Politik der Labour-Partei, die zwar das öffentliche Eigentum an den Stromnetzen befürwortete, die Energieverteilung aber in privater Hand belassen wollte. Aber die Grenzen dieses Vorhabens sollten nicht unerwähnt bleiben. Während ein von der Partei in Auftrag gegebener Bericht einräumte, dass erhebliche staatliche Subventionen notwendig sein würden, um Anreize für die Erzeugung von Wind- und Solarenergie zu schaffen, würde Labour der Privatwirtschaft die Freiheit lassen, die Gewinnung fossiler Brennstoffe und die Stromerzeugung aus Kernkraft fortzusetzen, solange sie rentabel seien.

Der Labour-GND sprach auch von einer Verstaatlichung der Verkehrsindustrie und massiven Investitionen in kostenlose oder erschwingliche öffentliche Verkehrsmittel. Die Partei hatte jedoch deutlich gemacht, dass sie bei Verstaatlichung der Eisenbahnen alle privaten Vermögenswerte zum Marktpreis zurückkaufen würde, finanziert durch staatliche Anleihen – ein gewaltiger Vermögenstransfer von den SteuerzahlerInnen zu den ProfiteurInnen. Ähnliches war für den Energiesektor vorgesehen.

Die Betonung technologischer Lösungen, die zu einer verstärkten Nutzung erneuerbarer Energien, einschließlich Elektroautos, führen sollten, kam außerdem einer unkritischen Unterstützung von Industrien gleich, die weiter schädliche Auswirkungen auf die Umwelt hätten. So werden für den Bau von Wind- und Solarparks Metalle aus seltenen Erden und nicht erneuerbaren Materialien benötigt, deren Herstellung zudem energieintensiv ist. Die Autoindustrie kompensiert geringere Gewinne bei der Produktion von Elektroautos durch den Verkauf von Luxusmodellen an weniger energiebewusste VerbraucherInnen oder durch die billigere Produktion von benzinbetriebenen Modellen in anderen Teilen der Welt.

Am wichtigsten ist jedoch, dass der Labour-Ansatz jeden privaten Industriezweig (Solar, Wind, Autos, Busse, Energieerzeugung) als einzelnes Puzzleteil betrachtete, das sich, wenn es nur mit genügend staatlichen Mitteln gefördert würde, in ein harmonisches Gesamtbild einer grünen Wirtschaft einfügen würde. So als ob die Anarchie des Marktes und das Motiv der Profitmaximierung aufgehoben würden, wenn alle privaten AkteurInnen gleich gefördert würden.

Damit sind wir bei der entscheidenden Frage der Eigentumsverhältnisse angelangt. Auch wenn sie wichtige Verstaatlichungen vorsah, räumt die Labour-Partei letztlich der Logik des Privatkapitals Vorrang ein. Sie betrachtet die Unternehmen als „Partner“ beim grünen Wandel, die vom Staat nur von Zeit zu Zeit an ihre ökologische und soziale Verantwortung erinnert werden müssten. Selbst wenn die versprochenen Summen an staatlichen Investitionen bereitgestellt würden, räumte selbst der Labour-GND ein, würden wesentliche Teile der „grünen“ Industrie in privater Hand bleiben.

Somit erweist sich selbst der relativ radikale „Green New Deal“ in Wirklichkeit als Subventionierung, um Anreize für die Ökologisierung von profitorientierten Unternehmen und Finanziers zu schaffen, von denen viele zu den größten VerursacherInnen der Umweltzerstörung gehören.

Ein radikales Verstaatlichungsprogramm müsste die entschädigungslose Enteignung vorsehen und den gesamten Sektor der Energie und Verkehrswirtschaft umfassen, um eine Planung wenigstens für diesen Bereich gemäß gesellschaftlichen Bedürfnissen sicherzustellen. Doch Labour verpflichtete sich, die Unantastbarkeit des Privateigentums grundsätzlich zu respektieren, indem den ehemaligen EigentümerInnen eine „faire“ (d. h. marktgerechte) Entschädigung angeboten und andere Unternehmen als „Partner“ begriffen werden sollen.

In Wirklichkeit hätten diese „Partner“ freilich auch Labours Programm als Kriegserklärung aufgefasst. Wenn die Partei z. B. bereit gewesen wäre, wesentlich radikalere Steuerpläne zur Finanzierung des GND durchzusetzen, hätte das eine Kapitalflucht in großem Umfang ausgelöst, um das Eigentum in Sicherheit zu bringen und eine Schuldenkrise auszulösen, um damit diese Labour-Regierung zu Fall zu bringen. Die Androhung von Enteignungen hätte zweifellos eine ähnliche Wirkung. In jedem Fall aber müsste Labour auf eine solche Sabotage mit strengen Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen reagieren und diese erzwingen, wobei die Gewerkschaften die ArbeiterInnenkontrolle und die Öffnung der Konten, Bücher und Finanzunterlagen der betroffenen Unternehmen hätten durchsetzen müssen.

All das hätte jedoch zu einer massiven Verschärfung des Klassenkampfes geführt, die ihrerseits die Systemfrage, also die der Enteignung der herrschenden Klasse, der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft aufgeworfen hätte.

Das wollte aber auch die linke Labour-Führung unter Corbyn nicht. Mehr noch. Da die Labour-Führung eine sozialistische Umwälzung gegenwärtig als nicht möglich, unrealistisch und utopisch zurückwies und eine Planwirtschaft prinzipiell ablehnte, blieb ihr letztlich nur eine mehr oder minder radikale Reformpolitik übrig.

Die Verhandlungen am Labour-Parteitag brachten jedoch nicht nur die Schwächen und Grenzen ihres New Deals hinsichtlich der herrschenden Klasse zum Ausdruck. Viele Abschnitte stellten auch einen Formelkompromiss mit jenen GewerkschaftsvertreterInnen dar, die vor allem um die Zukunft „ihrer“ Industrie fürchteten.

Die Spannungen zwischen eng definierten Gewerkschaftsinteressen (Erhalt bestehender Arbeitsplätze und Verbesserung der Arbeitsbedingungen) und der Umweltpolitik sind nicht neu. Wie die AktivistInnen zu Recht erkannt haben, ist eine breite Unterstützung der ArbeiterInnenklasse, einschließlich derjenigen, die derzeit z. B. in fossile Energieträger verbrauchenden Industrien arbeiten, für eine ökologische Transformation unerlässlich. Aber die Gegensätze lassen sich nicht dadurch lösen, dass man sie unter den Teppich kehrt, wie es die Labour-Partei z. B. bei der Frage des Flughafenausbaus getan hat. Die Bewegung muss offen zugeben, dass einige Produkte und Produktionsstätten verschwinden müssen – und zwar schnell.

Staatliche Unterstützung für Umschulungsprogramme kann zwar einen gewissen Beitrag leisten, die sozialen Folgen kapitalistischer Umstrukturierungen abzufedern. Sie wird aber niemals in der Lage sein, den anarchischen Marktkräften vollständig entgegenzuwirken, die – zumindest vorübergehend – LohnarbeiterInnen verdrängen und sie in schlechter bezahlte Arbeit zwingen werden.

Auch hier zeigt sich, dass eine grundlegende ökologische Umstrukturierung der Wirtschaft ein Gesamtprogramm der ArbeiterInnenklasse erfordert, das Arbeitskräfte aus Branchen, die geschlossen werden, ohne Einkommensverlust und zu gleichen Arbeitsbedingungen in andere überführt. Allein diese notwendige Neuverteilung der gesellschaftlichen Arbeit lässt sich viel leichter, reibungsloser durchführen, wenn die entsprechenden Unternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.

Schließlich sprach der Green New Deal der Labour-Partei auch einige Folgen des Umweltimperialismus und dessen Dynamiken an. Doch blieb er, wie ein großer Teil der vorherrschenden Umweltpolitik, bei freiwilligen Lösungen und wohlklingenden Phrasen stehen, indem er sich auf die Förderung des internationalen Austauschs von Technologien und Ressourcen beruft, um anderen Ländern zu helfen, einen Green New Deal zu erreichen. Diese unverbindliche Erklärung verpflichtet zu nichts. Noch wichtiger ist jedoch, dass die Labour-Partei angesichts ihres Engagements für marktwirtschaftlich-keynesianische Lösungen im eigenen Land sicherlich nicht bereit gewesen wäre, die Zerschlagung aller Institutionen des globalen Imperialismus zu unterstützen, die notwendig wäre, um die Volkswirtschaften des globalen Südens aus den Fesseln zu befreien.

Der linke, reformistische GND – und nicht nur der von Labour – behandelt sowohl soziale Transformation, internationale Verhältnisse wie Umweltfrage als Verteilungsproblem.

Sofern eine Überwindung des Kapitalismus angestrebt wird, geht sie mit einer verengten, reformistischen Vorstellung von Sozialismus einher und einer Wiederbelegung utopischer, marktsozialistischer Konzeptionen. So heißt es z. B. bei Klaus Dörre:

„Neben kollektivem Selbsteigentum benötigt eine neue Wirtschaftsdemokratie drei weitere Säulen:

– eine induktive demokratische Rahmenplanung einschließlich der Abstimmung über Planalternativen im Rahmen allgemeiner, gleicher und freier Wahlen;

– ein Maximum an direkter Partizipation und Demokratie in Region, Kommune, Betrieb und Unternehmen;

– echte Marktwirtschaft und Märkte als wichtiger Allokationsmechanismus.

In einer solchen Wirtschaft könnten noch immer Unternehmen existieren, die Gewinne erwirtschaften. Aber eine gesamtwirtschaftliche Koordination würde sie einer social order unterwerfen, die keine kapitalistische wäre.“[xxxvii]

Was im Labour-Programm noch vergleichsweise altbacken, traditionsreformistisch daherkommt, hebt sich in Dörres Vorstellung von einer „großen Transformation“ letztlich nur durch eine anders geartete Verkennung der Zwangsgesetze der Kapitalakkumulation ab.

Die Vorstellung, dass eine Art „Rahmenplanung“ neben einer funktionierenden oder gar „echten“ Marktwirtschaft harmonisch zum Wohl aller existieren könnte und, ganz nebenbei, sich auch noch ein nachhaltiges Verhältnis von Mensch und Natur etablieren würde, ist kompletter Utopismus. Sie kommt dem Versuch gleich, die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise unangetastet zu lassen und gleichzeitig alle ihre Missstände und Nachteile durch eine nebulöse, nichtkapitalistische „social order“ auszumerzen. Ebenso gut könnte man die Abschaffung des Kapitalismus auf Basis des Kapitalismus verlangen.

In Wirklichkeit greifen alle Formen eines Green New Deal zu kurz, weil sie das Privateigentum intakt lassen – und somit notwendigerweise auch die Grundstruktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

Riexinger

Nachdem wir das Programm der Labour-Partei unter Corbyn betrachtet haben, wollen wir uns dem ehemaligen Vorsitzenden der Linkspartei, Bernd Riexinger, zuwenden. Gegen Ende seine Funktionsperiode ging dieser unter die BuchautorInnen und versuchte sich als Stratege seiner Partei. Schon 2018 legte er mit „Neue Klassenpolitik“[xxxviii] einen Text vor, in dem er die Ausrichtung der Linkspartei zu begründen suchte. Mit seinem vor wenigen Monaten beim Hamburger VSA-Verlag erschienenen „System Change, Plädoyer für einen linken Green New Deal“[xxxix] versucht er, eine langfristige, strategische Antwort auf die derzeitige Krise vorzulegen.

Er will deshalb die herrschenden Zustände angreifen, den „Status quo in Frage stellen“. Auch wenn er den Kapitalismus nicht abschaffen will, so strebt er eine andere „Formation“ desselben an. Dass der Vorsitzende einer reformistischen Partei dem Reformismus treu bleibt, überrascht nicht weiter. Die Beschäftigung mit seinem Buch erweist sich dennoch als sinnvoll. Reformistische Parteien und ParteichefInnen begründen ihre „Realpolitik“ in der Regel erst gar nicht theoretisch, da sie diese ohnedies, ganz im Sinne ihres engen, pragmatischen Horizonts, für alternativlos erachten.

Riexinger hingegen hält eine theoretische Begründung für nötig, weil er einen „neuen“ Linksreformismus begründen will, dessen Vorstellung von Systemwandel (System Change) und Green New Deal sich nicht nur vom revolutionären Marxismus, sondern auch von den Konzepten der Sozialdemokratie und der Grünen unterscheiden und abgrenzen soll.

Dabei greift er reale Probleme auf: „Lange schon schwelen verschiedene Krisen des Kapitalismus: Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, Grenzen des Wachstums, soziale Ungleichheit, Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und das Gefühl von vielen, dass die Gesellschaft nicht mehr zusammenhält. Corona hat diese Vielfachkrise des Kapitalismus verschärft und zugespitzt.“[xl] Er beschreibt Erscheinungen und Probleme, die mit dem Kapitalismus zu tun haben bzw. von ihm produziert werden. Aber eine marxistische Krisenanalyse stellt dies nicht dar.

Eine theoretisch fundierte, konkrete Untersuchung des Kapitalismus findet nicht statt und auch nicht, wie diese „einzelnen Krisen“ zusammenhängen. Er beschreibt die Erscheinungen meist ganz treffend und belegt, dass die vorgeblichen Bemühungen von Bundesregierung oder EU-Kommission, bestimmte Probleme, z. B. die globale Erwärmung, anzugehen, hilflos sind, Einzelmaßnahmen darstellen und durch die generelle Ausrichtung der Politik konterkariert werden.

Ein Beispiel: „EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits Ende 2019 ein Konzept für einen Green Deal auf den Weg gebracht, der die Klima- und Wirtschaftspolitik stärker aufeinander abstimmen soll. Ziel sind massive Investitionen in neue Technologien zur effizienteren Ressourcennutzung und zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen. Das klingt gut, erweist sich aber bei näherem Hinsehen wie eine Mischung aus ,Greenwashing’ und Wettbewerbspolitik. Das Ziel, bis 2050 eine ,grüne Null’ zu erreichen, ist für die EU ein Fortschritt, reicht aber nicht aus, um die Klima-Katastrophe zu verhindern. Während aus einem Fonds Investitionen in den Klimaschutz finanziert werden sollen, fördern zahlreiche EU-Töpfe mit Milliarden Euro klimaschädliche Großprojekte.“[xli]

Aus all diesen Beispielen folgt für Riexinger, dass eine neue Politik nötig ist. Er beansprucht dabei nicht weniger, als alle genannten Probleme in ihrer Vielfältigkeit anzugehen. Sein Ziel ist es, alle Bewegungen, die gegen diese aktiv sind, zu einer einzigen zu vereinen, die dann alles für alle erreicht, was sozial und ökologisch ist, unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Riexinger fasst das so zusammen: „Entscheidend ist, ein Bündnis sozialer Bewegungen für den sozialökologischen Umbau und unteilbare Solidarität aufzubauen. Dafür ist der Green New Deal kein Masterplan, sondern ein strategischer Vorschlag, wie wir eine bessere Welt gewinnen können.“[xlii]

Die Ziele, die er vorschlägt, basieren auf den bekannten Forderungen der Linkspartei:

  • Löhne, die zum Leben reichen; 13 Euro Mindestlohn; Leiharbeit verbieten: prekäre Arbeit abschaffen; Arbeitszeit um die 30-Stunden-Woche mit Lohnausgleich.
  • Rentenniveau auf 53 % anheben; Mindestrente von 1 200 Euro; AlG I auf 24 Monate verlängern; Elterngeld auf 24 Monate anheben.
  • Für die „Transformation der Autoindustrie“ stellt Riexinger sich unter anderem vor, Fahrzeuge für kollektive Mobilitätskonzepte herzustellen und einen Ausbau der Bahn zu forcieren.

Um diese Ziele zu erreichen, sollen die Bewegungen, die es schon gibt und die sich noch mehr verbinden müssen, soviel Druck auf den Staat ausüben, dass dieser die Konzerne und das Kapital dazu zwingt. Am Beispiel der Autoindustrie liest sich das so: „Der Staat muss die Auto-Konzerne auf einen sozial gerechten, ökologischen Transformationspfad verpflichten. Das wird nur gelingen, wenn Belegschaften, Gewerkschaften, Umweltverbände und Klimabewegung an einem Strang ziehen.“[xliii]

Er verweist darauf, dass es im Konjunkturpaket Gelder der Regierung für Transformation gebe.

Für die Zukunft will er außerdem die Wirtschaft demokratisieren. DAX-Unternehmen sollen mindestens zu 21 % in öffentlichem Eigentum stehen, 30 % Belegschaftseigentum, den Rest dürfen private AktionärInnen behalten.[xliv]. Was er nicht sagt, ist, wie den DAX-Konzernen 51 % ihres Kapitals genommen werden sollen. Darüber hinaus liegt seinem Buch die Vorstellung zugrunde, dass die VertreterInnen des Staates, des „öffentlichen Eigentums“ und die Belegschaften einen Block formen würden. Realistischer ist jedoch, dass der Staat mit dem Kapital zusammengeht. Hinzu kommt, dass das „Belegschaftseigentum“ letztlich auch eine Form des Privateigentums, nämlich Gruppeneigentum darstellt. Die Beschäftigten wären (Mit-)EigentümerInnen „ihres“ Betriebes und daher auch an dessen Konkurrenzfähigkeit interessiert. Was Riexinger als Schritt zu einer Vergesellschaftung ausgibt, könnte sich nur allzu leicht als weitere Fessel der Lohnabhängigen an „ihr“ Unternehmen erweisen.

Solche Utopien kann man nur schreiben, wenn man alles ignoriert, was MarxistInnen über Konkurrenz und den bürgerlichen Staat formuliert haben. Die Marx’sche Sichtweise erledigt Riexinger, indem er die Aussage, der „Staat sei nur ein Instrument in den Händen von Kapital und Konzernen“[xlv], so interpretiert, als würde sie bedeuten, dass Staat und Kapital als identisch betrachtet würden, dass sich der Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht im Staat reflektieren würde, als könnten überhaupt keine politischen Reformen errungen werden. Zwar weist er die platte bürgerliche Idee, dass „der Staat ein neutrales Instrument sei“ zurück und erklärt stattdessen, „dass sich im Staat Kräfteverhältnisse verdichten. Er ist das Feld, auf dem die verschiedenen Interessen (Klasseninteressen) ausgetragen werden.“[xlvi]

Hinter diesen Ideen steckt zwar ein Körnchen Wahrheit, nämlich dass rein gewerkschaftliche oder soziale Kämpfe allein nicht ausreichen, um grundlegende Veränderungen zu erzielen, sondern ein politischer Kampf notwendig ist. Aber durch die Weigerung, den bürgerlichen Klassencharakter dieses Staates anzuerkennen, verkommt das Ganze nur zu einer komplexeren Begründung einer reformistischen, bürgerlichen Reformstrategie. Letztlich muss und kann die ArbeiterInnenklasse in Riexingers Augen den Staat in einem langwierigen gesellschaftlichen und institutionellen Kampf übernehmen und verändern.

Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zur marxistischen Staatstheorie, die den bürgerlichen Staat als Herrschaftsinstrument des Kapitals begreift, das über tausende Fäden materieller Spitzenprivilegien die Armee, den Repressionsapparat, die Justiz- und Staatsbürokratie auf sich als herrschende Klasse verpflichtet, um die Interessen des Gesamtkapitals wahrzunehmen. Die Crux besteht gerade darin, dass der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist fungieren kann, weil er nicht mit einzelnen Kapitalen oder der ökonomischen Vertretungen der Bourgeoisie identisch ist. So kann er deren Gesamtinteresse auch gegen einzelne dieser Fraktionen durchsetzen – wie beim New Deal der 1930er Jahre.

Das ist auch der Grund, warum ein revolutionäres kommunistisches Programm immer auf die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch einen Rätestaat der ArbeiterInnenklasse, die Diktatur des Proletariats, zielt.

Es würde aber auch reichen, die politische Realität wahrzunehmen: Es ist ja kein Ausrutscher, wenn in den Konjunkturpaketen keine Auflagen für die Lufthansa oder die Autokonzerne enthalten sind, denn es geht diesem Staat, seiner Regierung und seinem Apparat dabei immer um das, was im Wortsinn „systemrelevant“ ist: den Erhalt der Profitmaschinen der deutschen Bourgeoisie im Konkurrenzkampf mit ihren internationalen KonkurrentInnen. Dem werden alle sozialen und ökologischen Fragen untergeordnet.

Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Schwammigkeit zu Beginn des Buches bei der Darstellung der vielfältigen „Krisen des Kapitalismus“ ihre Ergänzung und Fortsetzung findet, wenn es um den Staat im Kapitalismus geht. Die Utopie schließt auch ein, dass dieser sozial und ökologisch gebändigte Kapitalismus funktionieren und nicht weiter Krisen produzieren würde.

Riexinger hält seine Utopie für Realismus. Sein Credo ist, man müsse an die realen Bewegungen anknüpfen, weil nur Menschen in Bewegung etwas verändern können. Sein Irrtum besteht darin, dass er auch an den falschen Vorstellungen der Bewegungen festhält, ja sie zu seinen eigenen macht. Die Führung der Umweltbewegung beispielsweise glaubt, dass eine ökologische Wende in diesem System, ja sogar mit diesen Regierungen möglich sei.

RevolutionärInnen vertreten einen anderen Ansatz: Sie wollen, dass Menschen in der Bewegung lernen und ihre Ziele ändern. Dafür gilt es immer, Vorschläge zu unterbreiten, die realistisch sind, weil sie funktionieren können. Wir leugnen, dass der Staat der Bourgeoisie durch eine Bewegung zu einem anderen werden kann, selbst wenn es möglich ist, Maßnahmen im Interesse der Lohnabhängigen durchzusetzen.

Notwendig ist vielmehr, dass die ArbeiterInnenklasse diese Kämpfe für Reformen – einschließlich von Forderungen nach Verstaatlichung – mit dem Kampf um Kontrolle eben dieser Maßnahmen und den Aufbau ihrer eigenen Macht verbindet. Dass die Beschäftigten Betriebe besetzen, die geschlossen werden sollen. Dass sie für die Verstaatlichung, die Fortführung und Umstellung, Konversion der Produktion unter ihrer eigenen Kontrolle kämpfen und diese gegen Übergriffe des Staates verteidigen.

Eine solche Perspektive ist im revolutionären Sinne realistisch, weil sie von den realen gegensätzlichen Interessen der Klasse und der Rolle des Staates ausgeht und nicht selbst Luftschlösser produziert. Indem sie die Kämpfenden in den Bewegungen darauf vorbereitet, deren Illusionen und falschen Vorstellungen solidarisch kritisiert und darlegt, welche Aktionen und Forderungen notwendig sind, um kurz- und langfristige Ziele zu erreichen, tritt sie für einen revolutionären Realismus ein.

Für seine Vision muss sich Riexinger aber nicht nur den Kapitalismus und seinen Staat schönreden, sondern auch die AkteurInnen seiner Bewegungen. Das fängt an bei der Linkspartei, die sich „behauptet“ und die „stabil“ ist, aber auch in „ständiger Veränderung“[xlvii]. Dies würde wahrscheinlich auch Riexinger nach der Wahlniederlage 2021 anders formulieren. Blauäugig war es aber auch vorher schon. Schon damals musste man die Frage stellen, warum die Linke so gut wie nichts aus den Verlusten der SPD gewinnen konnte. Was ist mit der Politik der Linken an der Regierung? Martin Schulz sagt zu Recht: „Eine Regierung SPD-Grüne-Ramelow, zum Beispiel, vor der hat in Deutschland keiner Angst.“

In den Gewerkschaften sieht Riexinger völlig zu Recht eine entscheidende Kraft für jede Veränderung. Er erkennt auch, dass diese sich entscheiden müssen, „ob sie sich als mobilisierende, organisierende und konfliktorientierte Interessenvertretung stärken oder ob sie sich auf die korporatistische Zusammenarbeit mit (exportorientiertem) Kapital konzentrieren wollen.“[xlviii]  Dann lobt er das IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban, um anschließend festzustellen: „Selbstverständlich gibt es auch ganz andere Stimmen. Betriebsräte und GewerkschafterInnen, die Abwrackprämien auch für neue Dieselautos fordern.“[xlix]  Diese „anderen“ Stimmen stellen in der IG Metall die absolute Mehrheit! Auch Urban hat der Forderung nach Kaufanreizen für Verbrennerautos nicht widersprochen.

Aber die SozialpartnerInnenschaft floriert nicht nur in der Exportindustrie. Die maßgeblich von der Linkspartei und ihren FunktionärInnen in ver.di angestoßene Pflegekampagne wurde trotz breiter Wirkung von der ver.di-Bürokratie auf einzelne Betriebe beschränkt, eine Politisierung durch die Verbindung mit der Forderung nach Rekommunalisierung der Krankenhäuser bekämpft und die ganze Kampagne in die Sackgasse von BürgerInnenbegehren gelenkt.

Um die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für antikapitalistische Kampagnen jeder Art zu gewinnen, ist also eine systematische Auseinandersetzung mit der SozialpartnerInnenschaft und ihrer Trägerin, der Gewerkschaftsbürokratie, nötig. Schon die Debatte darüber, wie diese aussehen könnte und sollte, wird in der Linken nicht geführt und auf den Streikkonferenzen der Luxemburg-Stiftung konsequent verhindert.

Die Idee eines sozial gebändigten Kapitalismus‘ ist nicht neu. Riexinger will dem Raubtier nur neue ökologische Fesseln anlegen. Dieser Traum ist immer wieder befeuert worden, weil es Phasen gab, in denen die Bourgeoisie Zugeständnisse an die ArbeiterInnenbewegung machen musste. Er wurde auch genährt, weil in Krisenperioden die gängigen bürgerlichen Ideologien selbst fraglich werden. Daher suchen auch viele nach radikalen Alternativen. Auch das versuchen Riexinger und die Linkspartei wie auch viele ähnliche Strömungen in Westeuropa, den USA und auf der gesamten Welt aufzugreifen, indem sie einen scheinbar radikaleren Reformismus als gangbare quasi revolutionäre, antikapitalistische Politik zu begründen versuchen.

Die Aufgabe für SozialistInnen und KommunistInnen bleibt beständig, in einer historischen Krise des kapitalistischen Systems nicht für eine neue sozialere Formation des Kapitalismus zu kämpfen, welche dieses verrottete System sofort wieder zerlegen würde, sobald es kann.

Fazit

Die reformistischen Spielarten des Green New Deal lösen weder die sozialen und politischen Probleme unserer Zeit noch die ökologischen Krisen. Ganz grundlegend behandelt dieser GND die soziale Transformation, nationale und internationale  Klassenverhältnisse als Verteilungsprobleme. Und in diesen Reigen fügt sich auch die Umweltfrage ein, die sich, ebenso wie Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Verhältnisses von Norden und Süden usw. angeblich durch eine stärkere Regulation der kapitalistischen Wirtschaft lösen ließen. Ob es nun Teilverstaatlichungen, eine „Rahmenplanung“ durch den bürgerlichen Staat oder Belegschaftseigentum an großen Unternehmen sein sollen, in jedem Fall bleiben die grundlegenden Mechanismen der Konkurrenz und der kapitalistischen Akkumulation intakt.

Was den reformistischen Green New Deal von anderen, vor allem vom linksbürgerlichen unterscheidet, ist nicht, dass er Bündnisse mit Teilen der herrschenden Klasse ablehnen würde. Er sieht nur im Unterschied zu anderen Spielarten des GND die Notwendigkeit, dass die ArbeiterInnenklasse, die gewerkschaftlich und in reformistischen Massenparteien organisiert ist, im Bündnis mit der Umweltbewegung ständig Druck auf den Staat, die Regierung und auf die KapitalistInnen ausüben muss, quasi als ständiger Reparaturbetrieb wirken muss, um die „Transformation“ voranzubringen, was, wie jede reformistische oder rein gewerkschaftliche Strategie, bestenfalls einer Sisyphusarbeit gleichkommt.

Bei günstigem Geschäftsgang des Kapitals kann sie noch eine gewisse Logik für sich beanspruchen, weil sich der Umverteilungsspielraum der rein gewerkschaftlichen und sozialreformerischen Aktivität bei Prosperität des Kapitals erweitert, dann die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft günstiger sind. Krisenperioden jedoch  unterhöhlen die Basis dieser Sisyphusarbeit.

Was die Frage der ökologischen Transformation betrifft, stößt diese Reformpolitik jedoch auf ein zweites, grundlegendes Problem. Während die Prosperität des Kapitals den Spielraum für Sozialreformen erhöhen kann, so gilt dies keineswegs für die Lösung  ökologischer Probleme. Im Gegenteil, der freie Gang der Akkumulation verschärft und beschleunigt diese Krise. Daher greift eine Politik, die die Frage der gesellschaftlichen Transformation letztlich als Verteilungsproblem analog zum gewerkschaftlichen Kampf betrachtet, notwendigerweise immer zu kurz.

Die verschiedenen Formen der ökologischen Krise (in gewisser Weise auch die Corona-Pandemie) werfen vielmehr die Frage nach grundlegender bewusster Reorganisation der Gesellschaft auf: nach dem Was, Wie, Wieviel, Womit und Für wen produziert wird, nach bewusster gesellschaftlicher Planung.

Um die sieben, zu Beginn des Artikels dargestellten, großen ökologischen Krisenphänomene bewältigen zu können, sind grundlegende Eingriffe in die Bestimmung dessen, was wie produziert wird, notwendig. Diese sind untrennbar mit der Überwindung der globalen kapitalistischen Ausbeutungsordnung verbunden, also der internationalen Revolution. Nur so kann Produktion und Reproduktion vernünftig und ökologisch nachhaltig im Interesse der gesamten Menschheit bewusst reorganisiert werden.

Ein Aspekt dieses Gesamtkomplexes betrifft auch die Frage der Endlichkeit von Ressourcen. Sozialismus und Kommunismus können nicht einfach als ein Mehr an Produktion und eine Verallgemeinerung des Konsums der Bevölkerung auf dem Stand der ArbeiterInnenklasse der Industrieländer aufgefasst werden. Für diese wird vielmehr eine Beschränkung des aktuellen individuellen Konsumniveaus notwendig sein.

Dem stehen natürlich ein Gewinn an frei verfügbarer Zeit, weniger Arbeitsstunden, gemeinschaftlich statt nur persönlich nutzbare, wiederverwertbare und langlebige Güter und die Möglichkeit zur viel breiteren, umfassenderen individuellen Entfaltung entgegen, so dass eine sozialistische Umwälzung letztlich im Interesse der gesamten ArbeiterInnenklasse liegt.

Beim Green New Deal werden diese Fragen jedoch entweder grundsätzlich ignoriert oder bloße Scheinlösungen präsentiert, weil auch ein „reformierter“ oder „gebändigter“ Kapitalismus, der notwendigerweise auf einer erweiterten Reproduktion des Gesamtkapitals beruhen muss, mit einer planmäßigen, an den Bedürfnisse von Mensch und Natur ausgerichteten Produktion unvereinbar ist.

6. Zusammenfassende Kritik

a) Alle Spielarten des ND oder GND erkennen an, dass der „reine“ freie Markt nicht ausreicht zur ökologischen Transformation, sondern ein staatliches Eingreifen erforderlich ist. Insofern impliziert der GD oder der GND immer zumindest eine begrenzte Kritik am Neoliberalismus und das Aufgreifen einzelner keynesianischer Momente.

b) Alle unterstellen jedoch zugleich, dass kapitalistisches Wachstum mit ökologischem Umbau erfolgreich verbunden werden muss.

Dies impliziert also die Möglichkeit einer erfolgreichen Regulierung des Kapitalismus durch Regierungen – durch Preispolitik, Stimulation der Konkurrenz für ökologische Ziele, Investitionsprogramme oder, in den linksten Varianten, durch partielles Eingreifen in die Verfügungsgewalt des Privateigentums bis hin zu Verstaatlichungen in einzelnen Sektoren.

Grundsätzlich gehen alle Varianten des GD/GND davon aus, dass die kapitalistische Produktionsweise ökologisch nachhaltig gemacht werden könne, wenn nur eine dementsprechende Technologie verallgemeinert und ökologisch nachteilige Effekte durch staatliche Rahmenbedingungen oder Wirtschaftspolitik ausgeglichen würden.

c) Der bürgerliche Staat wird als Instrument zur Regulierung des Kapitalismus im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit (und bei den linkeren Konzeptionen auch sozialer Gleichheit) begriffen . Er muss gewissermaßen nur selbst reformiert und „richtig“ eingesetzt werden.

d) Staatliche Politik soll durch eine gesellschaftliche Mehrheit (Allianzen) oder Bewegungen gestützt werden. Gesellschaftliche Hegemonie soll hergestellt werden, um den GND (oder GD) gegen Widerstände durchzusetzen. Bei allen Unterschieden zielen sämtliche Konzepte auf eine Art korporatistische und zivilgesellschaftliche Einbindung verschiedener Klassen, auf eine „progressive Allianz“.

e) Alle Varianten des GND unterstellen, dass sich eine nachhaltige Ökonomie analog zur Einbeziehung von Teilen der ArbeiterInnenklasse in eine reformierte kapitalistische gestalten ließe. Das heißt, die ökologischen Fragen werden letztlich wie Umverteilungsfragen behandelt.

f) Alle sind letztlich nationale (oder allenfalls auf einen Staatenbund wie die EU bezogene) Programme, deren internationale Komponente nie über wechselseitige, völkerrechtliche Abmachungen bürgerlicher Staaten und nebulöse Bekenntnisse zu mehr „Fairness“ in den Wirtschaftsbeziehungen hinausgeht. Die bestehende imperialistische Ordnung und die ihr zugrunde liegende Arbeitsteilung werden faktisch vorausgesetzt und bleiben letztlich unangetastet.

7. Umwelt und sozialistische Transformation

Bei aller Kritik wirft der Green New Deal die Frage auf, wie die Produktion, wie Gesellschaft, wie das Verhältnis von Mensch und Natur in Zukunft organisiert werden sollen. Natürlich mussten sich Menschen immer schon zur Natur verhalten, haben immer in diese eingegriffen, diese verändert. Das trifft für alle menschlichen Gemeinschaften und damit natürlich auch alle vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen zu.

Das Verhältnis dieser Gemeinschaften zur Natur war natürlich nie ein naiv-harmonisches. Die äußere Natur tritt dem Menschen oft genug als unbeherrschter, noch wenig erkannter und verstandener Zusammenhang entgegen. Die Mittel zur eigenen Existenz werden teilweise vorgefunden oder als Mittel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse entdeckt oder müssen einer oft übermächtigen Naturgewalt abgerungen werden. Die Natur, die natürliche Umwelt, tritt also selbst als sich durch menschlichen Eingriff, Arbeit verändernde Materie auf. Ein „harmonisches“ Mensch-Natur-Verhältnis existiert nicht. Dieses Bild entsteht vielmehr erst auf späteren Stufen der Entwicklung der Klassengesellschaft, insbesondere in verschiedenen Spielarten der Romantik und ihren Ausläufern, als immer schon verklärtes und ideologisiertes, seinem Wesen nach reaktionäres Naturbild.

Reaktionär ist es insbesondere deshalb, weil es den Blick auf das Mensch-Natur-Verhältnis selbst verstellt. Dieses ist immer schon durch die gesellschaftliche Arbeit vermittelt, ja, die menschliche Arbeit konstituiert überhaupt erst den Unterschied zwischen Mensch und Natur. Neben die natürliche Umwelt tritt eine zweite, mit dieser immer eng verbundene menschliche, gesellschaftliche Natur:

„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.“[l]

Mit der menschlichen Arbeit geht also immer schon ein zweckmäßiger Eingriff in Natur einher, und als Bildnerin von Gebrauchswert stellt sie, egal, ob nun als Arbeitsmittel oder zum individuellen Verbrauch, eine Grundbedingung jeder menschlichen Gesellschaft dar. Mit der menschlichen Arbeit geht aber auch ihre Zwecksetzung einher. Dies unterscheidet sie von den entwickeltsten anderen Spezies auf dem Planeten. Auch Primaten können z. B. Gegenstände als Hilfsmittel einsetzen, aber sie produzieren diese nicht. Bienen, Termiten oder Ameisen kooperieren instinktiv in riesigen Gemeinschaften, aber sie setzen sich diese Zwecke nicht selbst. Marx macht diesen Unterschied und damit auch ein Wesenselement der menschlichen Arbeit im 1. Band des Kapitals deutlich:

„Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt.“[li]

Diese allgemeinen Bestimmungen der menschlichen Arbeit verweisen schon darauf, dass im Arbeitsprozess nicht nur ein unvermeidlicher Eingriff in die Natur stattfindet, sondern auch darauf, dass dieser auch die Möglichkeit einer rationalen, nachhaltigen Regelung dieses Stoffwechsels beinhaltet. Auf den ersten Blick erscheint das Verhältnis von Mensch und Natur dabei als recht einfaches, transparentes.

Nicht so jedoch im realen historischen Entwicklungsprozess. Die Menschen machen bekanntlich zwar ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie unter vorgefundenen, ihnen selbst als gegeben entgegentretenden Bedingungen, weder aus freien Stücken noch mit vollem Bewusstsein in Gestalt eines Gesellschaftsplans. Die von ihnen selbst geschaffenen Verhältnisse erscheinen ihnen wie Naturgewalten, als außerhalb ihres Willens und ihrer Kontrolle liegend. Die Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen, die sie im Laufe ihrer Entwicklung hervorgebracht haben und die letztlich auf Entwicklungsstufen der menschlichen, und das heißt immer schon der gesellschaftlichen, Arbeit beruhen, erscheinen ihnen daher in ideologisierter Weise.

Auch frühere Produktionsweisen griffen teilweise massiv und extrem zerstörerisch in die Natur ein – bis hin zur Verwüstung ganzer Landstriche, der Ausrottung zahlreicher Tierarten oder auch der Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen lokaler oder regionaler menschlicher Gemeinschaften, die, wenn auch ungewollt, zum Untergang ganzer Kulturen führen konnten. Allerdings waren diese Prozesse letztlich lokal oder regional begrenzt.

Der Kapitalismus stellt das Verhältnis von Mensch und Natur auf eine nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ neue Grundlage. Anders als frühere Produktionsweisen greift er in globalem Maßstab und auf Grundlage der großen Industrie in dieses Verhältnis ein. Die Menschheit wird im Kapitalismus selbst zu einem bestimmenden Faktor der Entwicklungen globaler ökologischer Systeme. Der Klimawandel ist dafür nur ein Bespiel.

Dabei kommt zweierlei zum Ausdruck. Erstens stellt der Kapitalismus von Beginn an eine globale Produktionsweise dar. Zweitens prägt der Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Charakter der Arbeit und privater Aneignung der Arbeitsprodukte diese Produktionsweise grundlegend.

Der nützliche Charakter der Arbeit erweist sich erst im Nachhinein über den Markt, also  hinter dem Rücken der ProduzentInnen. Ob ein Produkt das Bedürfnis eines/r Dritten befriedigt, ist dabei jedoch nur eine Bedingung für die erfolgreiche Vermittlung über Kauf und Verkauf. Die Ware muss nicht nur ein Bedürfnis befriedigen, der Bedürftige muss  seinerseits auch kaufkräftig sein.

Wesentlich für das über den Markt vermittelte Verhältnis ist jedoch, dass in der kapitalistischen Produktionsweise noch in einem viel grundlegenderen Sinn die Bedürfnisse Dritter nur Mittel zum eigentlichen Zweck der Produktion verkörpern. Die Metamorphosen (Umwandlung) der Waren stellen selbst ein dem Kapitalkreislauf und den Metamorphosen des Kapitals untergeordnetes Moment dar. Der eigentliche Zweck der Produktion besteht in der Verwertung des Werts, darin, aus Kapital C mehr Kapital C’ zu schlagen. Daher muss der kapitalistische Produktionsprozess ständig nach Expansion, nach Ausdehnung seiner Basis und nach Erweiterung der Akkumulation streben. Ein Kapitalismus ohne Wachstum wäre gleichbedeutend mit einem Kapitalismus ohne erweiterte Reproduktion des Kapitals, wie Sklaverei ohne Versklavung.

Akkumulation ist das Lebenselixier der bestehenden Produktionsweise; ohne diese keine Vermehrung von Profit. Historisch betrachtet, ging dies mit einem enormen Fortschritt gegenüber vorhergehenden Gesellschaftsformationen einher, nämlich der Umwälzung der technischen Grundlage der Produktion, der Einbeziehung von Wissenschaft und Technik in den Arbeitsprozess und damit auch der Schaffung der produktiven Grundlagen für eine bewusste Form der Vergesellschaftung. Doch solange das Kapitalverhältnis selbst besteht, geht der Widersprich zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung auf Kosten von Mensch und Natur. Er  besteht in der Ausbeutung und damit in der Zurichtung der Arbeitenden einerseits in der Ausnutzung der Naturbedingungen ohne Rücksicht auf langfristige Folgen, also der Unterminierung und tendenziellen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit andererseits.

Die Stärke des Marxismus und seiner Kapitalanalyse besteht zweifellos darin, dass er im 19. Jahrhundert bereits diese grundlegende Tendenz erkannt hat:

„In der Agrikultur wie in der Manufaktur erscheint die kapitalistische Umwandlung des Produktionsprozesses zugleich als Martyrologie der Produzenten, das Arbeitsmittel als Unterjochungsmittel, Exploitationsmittel und Verarmungsmittel des Arbeiters, die gesellschaftliche Kombination der Arbeitsprozesse als organisierte Unterdrückung seiner individuellen Lebendigkeit, Freiheit und Selbständigkeit. Die Zerstreuung der Landarbeiter über größre Flächen bricht zugleich ihre Widerstandskraft, während Konzentration die der städtischen Arbeiter steigert. Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt in Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“[lii]

In der imperialistischen Epoche wird dieser Widerspruch weiter auf die Spitze getrieben. Die Tendenzen zur Monopolisierung, die immer größere Konzentration und Zentralisation des Kapitals verstärken erstens den Umfang des Produktionsprozesses und der Warenzirkulation, zweitens aber auch die Tendenz zum Beharren auf bestehender (umweltschädlicher) Produktion.

Globale Konkurrenz, Aufteilung der Welt zwischen den großen Kapitalgruppen und die Beherrschung der sog. Dritten Welt bedeuten auch, die Kosten etwaiger ökologischer „Folgeschäden“ auf ärmere Regionen, deren ArbeiterInnenklasse und Bauern- und Bäuerinnenschaft abzuwälzen – allesamt Folgen einer Produktionsweise, die sich auf der Ebene des Mensch-Natur-Verhältnisses zu einem System des Umweltimperialismus’[liii] verdichtet hat.

Die krisenhafte, katastrophische Zuspitzung dieses Widerspruchs drängt in den letzten Jahrzehnten unwillkürlich ins Bewusstsein der Gesellschaft, in den öffentlichen Diskurs. Klimawandel, wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Nord und Süd, die Fragen der Zukunft der Landwirtschaft, der Energieversorgung, des Artensterbens, die Zunahme von Schadstoffen und Müll sind nur einige Problemfelder, die deutlich machen, dass sich die Gesellschaft in einer ökologischen Sackgasse befindet.

So wie bei großen ökonomischen und gesellschaftlichen Krisen muss das Kapital auch bei der ökologischen Zuflucht beim Staat nehmen. Die Akkumulation und Konkurrenz führen an den Abgrund. Die ökologische Katastrophe bedroht nicht nur den ökonomischen Reproduktionsprozess, sondern die Lebensgrundlagen der Menschheit selbst. Daher ruft auch ein Teil der herrschenden Klasse nach Staatsintervention, ähnlich wie beim ökonomischen Krisenprozess.

So wie die gesellschaftlichen Formen des Kapitals (z. B. die Aktiengesellschaft) und das Staatseigentum ihre jeweilige Kapitaleigenschaft nicht abstreifen können, somit also keine Lösung seiner inneren Widersprüche darstellen können, sondern nur deren Austragungsform verändern, so kann auch kein noch so gut gemeinter Green New Deal, kein noch so ökologisch auftretender bürgerliche Staat ein nachhaltiges Verhältnis zu den natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz herstellen.

Ähnlich wie bei Kapitalverhältnissen kann er zwar reformierend eingreifen, z. B. indem bestimmte Umweltauflagen für Unternehmen erlassen, bestimmte Technologien und damit verbundene Kapitalgruppen gefördert werden, indem versucht wird, durch Steuerpolitik einzugreifen usw.

Doch in Wirklichkeit sind die Möglichkeiten, den ökologischen Krisenprozessen mit staatlichen Reformen beizukommen, noch viel begrenzter, als der Verelendung der Lohnabhängigen durch den rein ökonomischen bzw. gewerkschaftlichen Kampf der ArbeiterInnenklasse zu begegnen.

Das liegt daran, dass der Lohnkampf bis zu einem gewissen Grad selbst notwendig ist, um das Wertgesetz im Kapitalismus überhaupt zur Geltung zu bringen. Ohne kollektive gewerkschaftliche Aktionen oder ohne staatliche Gesetze, also ohne Begrenzung des Arbeitstages oder Mindesteinkommen würde der Arbeitslohn für große Teile der Lohnabhängigen unter die Reproduktionskosten sinken, der Arbeitstag immer mehr ausgeweitet werden. Für die einzelnen Kapitale hätte dies natürlich unmittelbare Vorteile, weil es die Mehrwertrate deutlich erhöhen würde, aber für die Reproduktion des Gesamtkapitals würde es langfristig ein Problem darstellen, wenn sich die ArbeiterInnenklasse aufgrund zu geringer Löhne nicht ausreichend reproduzieren könnte. Ihr Gebrauchswert würde damit nämlich zerstört oder zumindest nicht in ausreichendem Maße hergestellt.

Allerdings kennt die herrschende Klasse Lösungswege auf dem Boden der Kapitalakkumulation und der imperialistischen Ordnung. Erstens können Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen oder eine Erhöhung des Soziallohns (Arbeitsschutzbestimmungen, Sozialversicherungen oder staatliche, über Steuern finanzierte Leistungen wie Schulbildung … ) durch eine Erhöhung des relativen Mehrwerts   so kompensiert werden, dass die Akkumulation sogar über mehrere Konjunkturzyklen hinweg weiter expansiv und dynamisch ausfallen kann. Zweitens erzwingt die imperialistische Arbeitsteilung auch, dass neben der Durchschnittsarbeit auch Lohnarbeitende in den Kolonien oder Halbkolonien bzw. rassistisch unterdrückte ihre Arbeitskraft unter ihrem Wert verkaufen müssen. Die Entlohnung der Arbeitskraft zu ihrem Wert findet daher auch im Normalbetrieb des Kapitalismus nur für einen Teil der globalen ArbeiterInnenklasse statt. In Krisenperioden wird auch dieses geschichtlich etablierte Niveau angegriffen.

Doch darüber hinaus muss noch ein weiterer grundlegender Unterschied in Betracht gezogen werden. Die Reproduktion von globalen ökologischen Systemen folgt einer anderen Logik als die des Kapitals. In letzter Instanz trifft das zwar auch auf die menschliche Arbeitskraft zu, aber in Phasen der Prosperität kann diese noch eher mit der Entwicklungsdynamik des Kapitals vermittelt werden.

Für den/die einzelne/n Lohnabhängige/n wie auch ganze Beschäftigtengruppen, ja, für eine gesamte ArbeiterInnenschaft, springt das Interesse an Löhnen, die die Reproduktionskosten auf Basis der kapitalistischen Verhältnisse decken, unmittelbar ins Auge und wird z. B. in der ideologisierten Forderung nach gerechtem Lohn erhoben.

Anders bei den ökologischen Folgekosten des Kapitalismus. Diese sind ohnedies oft externalisiert. Sie erscheinen darüber hinaus in einem Gegensatz zum eigentlichen Produktionsverhältnis. Indem die natürlichen Grundlagen der Produktion und des menschlichen Lebens gewissermaßen gratis vorgefunden werden, scheinen die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Produktion nur als „äußeres“ technisches Problem, nicht als Teil des Gesamtkomplexes gesellschaftlicher Arbeit.

Dies trifft ganz offenkundig auf die kapitalistische Umweltpolitik, aber auch auf linkere Varianten des Green New Deal zu. Alle unterstellen einen dauerhaft expandierenden, aber sozial regulierten Kapitalismus. Die ökologische Frage wird so allenfalls analog zu einem gewerkschaftlichen Problem betrachtet. Doch genau das bleibt unterhalb der eigentlichen Problematik.

In Wirklichkeit wirft die ökologische Krise dauerhaft die Frage auf, die auch jede Krise des Kapitalismus erhebt: die nach der Reorganisation des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs. Schon in der „Deutschen Ideologie“ begründen Marx und Engels die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution aus der Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus und verweisen in diesem Zusammenhang auf den grundlegenden Unterschied der kommunistischen Umwälzung gegenüber der bürgerlichen:

„Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. Seine Einrichtung ist daher wesentlich ökonomisch, die materielle Herstellung der Bedingungen dieser Vereinigung; sie macht die vorhandenen Bedingungen zu Bedingungen der Vereinigung. Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist.“[liv]

Kurzum, die Aufgabe der sozialistischen Umwälzung besteht darin, die Verkehrsform der Gesellschaft selbst bewusst hervorzubringen und zu gestalten. Dies schließt zugleich ein, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, also ökologische Nachhaltigkeit selbst zu sichern. Im „Kapital“, wo Marx auf den zunehmenden Riss von Landwirtschaft und Industrie, von Mensch und Natur verweist, deutet er auch allgemein auf die Mittel zur Lösung des Problems:

„Die Zerreißung des ursprünglichen Familienbandes von Agrikultur und Manufaktur, welches die kindlich unentwickelte Gestalt beider umschlang, wird durch die kapitalistische Produktionsweise vollendet. Sie schafft aber zugleich die materiellen Voraussetzungen einer neuen, höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie, auf Grundlage ihrer gegensätzlich ausgearbeiteten Gestalten.“[lv]

Die Verbindung von Industrie, Agrikultur und Wissenschaft bildet den Schlüssel für diese Produktion der Verkehrsform – aber eben nur unter der Voraussetzung der Enteignung der herrschenden Klasse und einer planwirtschaftlichen Reorganisation der gesamten Produktion und Reproduktion.

Die Entwicklung der Produktivkräfte schafft zwar die Bedingungen zur Lösung der gesellschaftlichen und ökologischen Probleme. Erstere darf aber nicht nur als rein technische  Entwicklung verstanden werden, also solche der Erfindung neuer nachhaltiger Energieträger, effizienterer, Ressourcen sparender Produktion und Technik.

Vielmehr müssen solche in zukünftige Planungen und auch bereits in ein Programm von Übergangsforderungen eingebunden werden, um auf diesem Weg von Beginn an Parameter und Gleichgewichtsbedingungen für den Erhalt (oder teilweise auch die Wiederherstellung) ökologischer Geosysteme zu installieren.. Eine gesellschaftliche Gesamtplanung muss daher nicht nur als Planung bestimmter menschlicher Bedürfnisse, effektiverer, arbeitszeitsparender Produktion und dazu notwendiger Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf verschiedene Bereiche von Produktion und Reproduktion verstanden werden. Es muss auch der Stoffwechsel mit der Natur in die Planung selbst einfließen, so dass die menschliche Produktion als Teil eines größeren, globalen Kreislaufes begriffen wird.

Die gesellschaftliche Produktionsweise muss und kann nicht nur als Gegensatz zur natürlichen Umwelt verstanden, sondern muss auch als ihr Bestandteil erfasst werden – nämlich weil sich die Menschheit zwar selbst eine eigene, zweite gesellschaftliche Natur schafft, zugleich aber immer auch Naturwesen bleibt.

Die Enteignung des Kapitals, die Eigentumsfrage, stellt wie generell im Übergang zum Sozialismus die Schlüsselfrage zur Reorganisation der Wirtschaft gemäß menschlichen Bedürfnissen und ökologischer Nachhaltigkeit dar. Jedes Programm von Übergangsforderungen muss in der „Expropriation der ExpropriateurInnen“ gipfeln und in der Errichtung einer umfassenden demokratischen Planung.

Auch wenn es möglich und notwendig ist, Umweltreformen auch vom bürgerlichen Staat zu fordern, so entspricht die ökologische Transformation keiner Addition solcher, sondern sie erfordert vielmehr einen grundlegenden Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung.

Daher nimmt schon im Hier und Jetzt die Frage der Kontrolle über solche Maßnahmen, über Gesetze, erkämpfte Verbesserungen usw. eine Schlüsselrolle ein. Die Reorganisation der Produktion erfordert die Kontrolle durch die Lohnabhängigen, und zwar nicht nur auf betrieblicher, sondern auf gesellschaftlicher Ebene. So darf die ArbeiterInnenkontrolle z. B. bei der Umstellung von Produktionsverfahren oder Produktion nicht nur auf betrieblicher Ebene gedacht werden. Die Kontrolle z. B. über die Prioritäten der Verkehrsplanung muss über die betriebliche Ebene hinaus erfolgen. Selbiges gilt für die Frage der Reorganisation des Verhältnisses von Stadt und Land, für die Veränderungen in der Agrarproduktion, die Schaffung von Verbindungen und Kontrollorganen nicht nur der ArbeiterInnenklasse, sondern auch mit Bauern und Bäuerinnen, insbesondere der Kleinbauern-/bäuerinnenschaft und den Landlosen, wenn wir an die halbkolonialen Länder denken.

Die ökologische Transformation muss in jedem Fall mit einer massiven Umverteilung der Ressourcen einhergehen, einschließlich einer gewaltigen Zentralisation ebendieser, um das Erreichen von bedrohlichen Kipppunkten bei globalen Erdsystemen wie dem Klima zu verhindern, aber auch um die Mittel für die Bekämpfung der Folgen ökologischer Veränderungen gerade in den ärmsten Ländern und Regionen massiv zu erhöhen.

Die ökologische Transformation ist daher untrennbar mit der Machtfrage verbunden, dem Kampf für ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen und seiner Verallgemeinerung zur globalen sozialistischen Revolution.

Damit die ArbeiterInnenklasse selbst zum Subjekt, zur entscheidenden Trägerin dieser Umwälzung werden kann, muss sie selbst aber grundlegend verändert werden. Nicht nur die Jahrzehnte der Vorherrschaft von Stalinismus und Sozialdemokratie haben Verheerendes im Bewusstsein der Klasse angerichtet. Auf dem Weg zu einer Revolutionierung der Klasse müssen auch Scheinlösungen wie der Green New Deal politisch überwunden werden. Erst recht trifft das auf  rein ökonomistische Sichtweisen in der Umweltfrage und im ArbeiterInnenbewusstsein zu.

So erfordert beispielsweise ein Übergangsprogramm, auch offen auszusprechen, dass bestimmte Produktionsfelder eingestellt werden müssen, wenn wir die ökologische Krise überwinden wollen. Natürlich können und sollen die Arbeitenden in diesen Sektoren weiter Beschäftigung finden, ja, ihr Wissen, ihre Expertise stellt selbst eine enorme Ressource für die Konversion in ökologische nachhaltige Produktion dar. Zugleich erlaubt eine solche Umverteilung der Arbeit auch eine Reduktion der Arbeitszeit oder eine Verlagerung von Arbeit auf Sektoren, die heute chronisch an Überbelastung leiden (z. B. im Gesundheitswesen). Die Überwindung des entfremdeten Charakters der Arbeit und der repressiven Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft wird schließlich auch die Bedürfnismuster verändern und die Grundlagen für den vorherrschenden Konsumfetisch allmählich zum Verschwinden bringen.

Aber ein Gesamtprogramm ökologischer Transformation erfordert, auch deutlich zu machen, dass es reale Einschränkungen des Verbrauchs an Konsumgütern nicht nur für KapitalistInnen und Mittelschichten wird geben müssen, sondern auch für bedeutende Teile der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Ländern, wenn nicht für die gesamte Klasse. Schon Lenin wies in der Diskussion über die sozialistische Umwälzung des 20. Jahrhunderts darauf hin, dass das kommunistische Programm den privilegierteren Schichten der ArbeiterInnenklasse – damals der ArbeiterInnenaristokratie in Westeuropa und den USA – nicht einfach den bestehenden Zugang zu Konsumgütern weiter garantieren könne. Schließlich muss die globale sozialistische Revolution zuerst die Lebensbedingungen der Masse der Lohnabhängigen und vor allem der ärmsten und unterdrücktesten Schichten in den halbkolonialen Ländern sichern.

Was die sozialistische Revolution und eine damit einhergehende ökologische Transformation jedoch der gesamten Klasse der Lohnabhängigen und insbesondere auch der oft hoch qualifizierten, für die planmäßige Umgestaltung der Gesellschaft in vielen Fällen überaus wichtigen ArbeiterInnenaristokratie garantieren kann, ist erstens die Überwindung der Entfremdung ihre Arbeit, ihrer knechtischen, vereinseitigenden Unterordnung unter das Kapital und zweitens eine Reduktion der Arbeits- und damit eine deutliches Mehr an disponibler Zeit, um sich selbst umfassend als menschliches Individuum zu entwickeln.

Natürlich muss auch heute eine sozialistische Revolution für die große Masse der weltweiten ArbeiterInnenklasse wie auch der Bauern und Bäuerinnen eine Zunahme an Gütern bedeuten – sei es an Konsumgütern, an Wohnraum, an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, an Gesundheits- und Altersversorgung usw. Für die privilegierteren Teile der ArbeiterInnenklasse gerade in den imperialistischen Ländern können wir uns jedoch eine sozialistische Revolution nicht ökonomistisch als weitere Vermehrung von Konsumgütern vorstellen. Diese würde die klassenlose Gesellschaft zu einer Unmöglichkeit machen. Auch der Überfluss der kommunistischen Gesellschaft, von dem Marx spricht (z. B. in der Kritik des Gothaer Programms) darf nicht als unbegrenzter Zugang zu Gütern missverstanden werden. Der Überfluss, den die klassenlose Gesellschaft allerdings herbeiführen kann, besteht vielmehr in der Reduktion gesellschaftlich notwendiger Arbeits- und in der Ausdehnung disponibler, frei verfügbarer Zeit, die zur eigenen allseitigen Entwicklung verwendet werden kann. Eng damit verbunden ist die Tatsache, dass eine klassenlose Gesellschaft, eine Reorganisation von Produktion und Reproduktion im Interesse der Gesellschaft selbst und ökologischer Nachhaltigkeit auch dazu beitragen werden, die für den Kapitalismus typische Trennung von entfremdeter Arbeit und, oft nur auf andere Weise entfremdeter, Freizeit zu überwinden, so dass die gesellschaftliche Arbeit selbst zu einem Bedürfnis und Teil einer allseitigen menschlichen Entwicklung wird.

Eine solche Perspektive der sozialistischen Transformation wird jedoch nicht spontan in der ArbeiterInnenklasse entstehen, ja, nicht entstehen können. Grundsätzlich entwickeln die Lohnabhängigen revolutionäres Klassenbewusstsein nie spontan oder auch nur aus ihren ökonomischen Kämpfen heraus. Dieses muss vielmehr von außen in die Klasse getragen werden.

Die aktuelle ökologische Krise und deren Verschärfung führen zweifellos Millionen Lohnabhängige und vor allem Millionen Jugendlicher zur Suche nach einer Lösung für die großen ökologischen Probleme.  Aufgrund der Verhältnisse werden sie geradezu auf den Weg der Systemkritik, auf die Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus  gestoßen. Worin der oft geforderte Systemwandel jedoch besteht, wie er erkämpft werden kann, welche gesellschaftliche Neuorganisation daher notwendig ist und wie diese erkämpft werden soll, ergibt sich daraus jedoch noch nicht. Das erfordert vielmehr die Verbindung von ArbeiterInnenklasse, ökologischer Kritik und wissenschaftlichem Sozialismus zu einer Einheit, zu einer revolutionären Partei und Internationale. Es erfordert ein internationales Programm von Übergangsforderungen, das den Kampf gegen die ökologische Krise als Teil der sozialistischen Weltrevolution begreift. Und es erfordert eine Rückbesinnung auf einen umfassenden Begriff von sozialer Umwälzung und Kommunismus. Nur die Umwerfung aller Verhältnisse, die den Menschen zu einem verächtlichen, ausgebeuteten, geknechteten, unterdrückten und vereinseitigten Wesen machen, stellt die notwendige, unerlässliche Voraussetzung dafür dar, dass die Menschen selbst ihre eigene gesellschaftliche Verkehrsform bewusst gestalten und hervorbringen – im Einklang mit ihren natürlichen Lebensbedingungen.

Endnoten

[i] https://www.de-ipcc.de/media/content/Hauptaussagen_AR6-WGI.pdf

[ii] Matthias Martin Becker, Klima, Chaos, Kapital, PapyRossa Verlag, Köln 2021, S. 78

[iii] http://pdwb.de/nd23_2011.htm

[iv] Roosevelt, Nominierungsrede 1932, Zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/New_Deal

[v] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/marxismus.htm

[vi] Leo Trotzki, Faschismus und New Deal. In: Ders., Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution [Hrsg.: Isaac Deutscher/George Novack/Helmut Dahmer], Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1981, S. 254)

[vii] Ebenda, S. 255

[viii] Ernest Mandel, Trotzkis Faschismustheorie, Einleitung zu Schriften über Deutschland, in: Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, Band 1, EVA, Frankfurt/Main 1971, S. 14.)

[ix] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/biden-klimaschutz-billionenprogramm-101.html

[x] https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/juni/bidenomics-klimawende-mit-angezogener-handbremse

[xi] https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de

[xii] https://cms.gruene.de/uploads/documents/Wahlprogramm-DIE-GRUENEN-Bundestagswahl-2021_barrierefrei.pdf

[xiii] Ebenda, S. 6

[xiv] Ebenda, S. 34

[xv] Ebenda, S. 34

[xvi] Ebenda, S. 117

[xvii] Naomi Klein, Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015

[xviii] Naomi Klein, Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann, Hoffmann und Campe, Hamburg 2019

[xix] Klein, zitiert nach: Ebenda, S. 280

[xx] Klein, ebenda,  S. 281

[xxi] Ebenda, S. 282

[xxii] Unter degenerierten ArbeiterInnenstaaten verstehen wir Staaten, in denen der Kapitalismus zwar abgeschafft wurde, jedoch die Bürokratie die politische Macht monopolisiert hat. Die Sowjetunion entwickelte sich nach einer genuinen proletarischen Revolution zu einem ArbeiterInnenstaat mit bürokratischen Auswüchsen, Deformationen aufgrund ihrer Isolation. Die Etablierung der stalinistischen Herrschaft bedeutete den Abschluss dieses Prozesses. China, Kuba, Nordkorea, Vietnam oder die Länder Osteuropas waren von Beginn an degenerierte ArbeiterInnenstaaten. Zur Analyse siehe: Revolutionärer Marxismus 52, Theoretisches Journal der Liga für die Fünfte Internationale, Stalinismus und der Untergang der DDR, global red, Berlin 2019

[xxiii] Klein, Warum nur ein … , a. a. O., S. 282

[xxiv] Ebenda, S. 38

[xxv] Ebenda, S. 320

[xxvi] Yeva Nersisyan/Randall L. Wray, How to Pay for the Green New Deal, in: Working Paper des Levy Insitute of Bard College, No 931, Mai 2019; zitiert nach: Ingo Stützle, Money makes the world go green, in: PROKLA 202, 51. Jg., Nr. 1, Bertz + Fischer, Berlin März 2021, S. 72

[xxvii] Klein, Warum nur ein … , a. a. O., S. 324

[xxviii] Ebenda, S. 328

[xxix] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959, S. 488

[xxx] Klein, Warum nur ein … , a. a. O., S. 327

[xxxi] Ingo Stützle, Money makes the world go green? In: PROKLA 202, Bertz + Fischer, Berlin 2021, S. 71 – 94

[xxxii] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971, S. 109

[xxxiii] Ebenda, S. 107

[xxxiv] Ingo Stützle, Money makes … , a. a. O.,  S. 83

[xxxv] Ebenda

[xxxvi] Katharina Schramm, Radikal bis neoliberal – aktuelle Konzepte des Green New Deal, in: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung 121 [Hrsg.: Forum Marxistische Erneuerung e. V./IMSF e. V.], Frankfurt(Main März 2020; [online]: https://www.linksnet.de/artikel/47932

[xxxvii] Dörre, Great Transformation: Die Zukunft moderner Gesellschaften (Vortrag, gehalten auf dem 30. ordentlichen Bundeskongress der NaturFreunde Deutschlands e. V., Nürnberg 31. März bis 2. April 2017); [nur online]:

http://www.intranet.naturfreunde.de/sites/default/files/attachments/nfdbk_vortrag-doerre_great-transformation.pdf

[xxxviii] Bernd Riexinger, Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen, VSA Verlag, Hamburg 2018

[xxxix] Bernd Riexinger, System Change, Plädoyer für einen linken Green New Deal –
Wie wir den Kampf für eine sozial- und klimagerechte Zukunft gewinnen können.
Eine Flugschrift, VSA Verlag, Hamburg 2020

[xl] Ebenda, S. 9

[xli] Ebenda, S. 24

[xlii] Ebenda, S. 132 f.

[xliii] Ebenda, S. 59 f.

[xliv] Ebenda, S. 62

[xlv] Ebenda, S. 103

[xlvi] Ebenda, S. 103

[xlvii] Ebenda, S. 16

[xlviii] Ebenda, S. 96

[xlix] Ebenda, S. 97

[l] Marx, Das Kapital, Band 1, a. a. O., S. 192

[li] Ebenda, S. 193

[lii] Ebenda, S. 528 ff

[liii] Chris Kramer, Umwelt und Kapitalismus, Revolutionärer Marxismus 54, S. 7 – 40

[liv] Karl Marx/Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, in: MEW 3, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1969, S. 70

[lv] Marx, Das Kapital, Band 1, a. a. O.,  S. 528




Nieder mit der Festung Europa – öffnet die Grenzen jetzt!

Martin Suchanek, Infomail 1092, 3. März 2020

In Syrien droht der Konflikt zwischen dem Assad-Regime und
Russland einerseits, der Türkei und ihren Verbündeten anderseits weiter zu
eskalieren – selbst eine militärische Konfrontation zwischen NATO und Russland
scheint möglich.

Doch selbst wenn diese Zuspitzung vermieden werden sollte, haben die bewusste Vertreibung Hunderttausender durch das syrische Regime und der Kampf um die Neuaufteilung des Landes zwischen imperialistischen Mächten wie Russland und den USA sowie ihren regionalen Verbündeten oder KontrahentInnen wie dem Iran oder der Türkei Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht gezwungen.

Wie schon Millionen vor ihnen bleibt ihnen nur der Weg in
die Türkei; und wie Millionen vor ihnen hoffen sie, es doch irgendwie in die EU
zu schaffen. Die Öffnung der Grenzen durch Erdogan – sicherlich einzig dadurch
motiviert, von seinen europäischen „ParternInnen“ finanzielle, politische und
ggf. auch militärische Unterstützung zu erhalten – wirkt für Hunderttausende
vertriebener, verarmter, entrechteter und traumatisierter Menschen wie ein
unerwarteter Hoffnungsschimmer, als letzter Strohhalm in größter Not.

Jeder vernünftige Mensch kann dies nur zu gut nachvollziehen. Eigentlich wären die unmittelbaren Maßnahmen zur Linderung der humanitären Katastrophe, zur Verbesserung des Schicksals Millionen Geflüchteter ganz einfach umzusetzen. Die EU, dieser selbsternannte Hort der Humanität und Menschenrechte, müsste nur die Grenzen für die Geflüchteten öffnen – nicht nur in Griechenland und Bulgarien, sondern auch deren Weiterreise in jenes Land der EU ermöglichen, in das die Geflüchteten wollen.

Vom Rechtsruck zur Barbarei

Doch während die öffentliche Meinung in den meisten EU-Staaten 2015 noch nicht bereit war, Menschen in großer Zahl sehenden Auges im Mittelmeer ertrinken oder durch Schießmanöver abschrecken zu lassen, so lautet 2020 das Credo aller Regierungen, dass sich genau das Durchbrechen der Festung Europa nicht wiederholen dürfe.

Griechenland und Bulgarien sollen mehr Unterstützung erfahren – nicht durch die Aufnahme von Flüchtlingen, die auf Inseln wie Lesbos eingepfercht werden –, sondern um sie zu stoppen und abzuschrecken. Die Zusammenstöße zwischen Geflüchteten und BewohnerInnen griechischer Inseln wurden schon vor der Aufkündigung des Türkei-EU-Flüchtlingsdeals durch Erdogan von der griechischen Regierung sowie rechten, rassistischen wie faschistischen, Kräften befeuert, um noch brutalere Abschiebungen und die gewaltsame Abschreckung syrischer Flüchtlinge zu legitimieren. Auf Lesbos wurde am 1. März ein ehemaliges UN-Begrüßungszentrum für Geflüchtete angezündet. RassistInnen versuchten, einen Polizeibus mit MigrantInnen auf dem Weg nach Moria mit Ketten und Steinen zu stoppen.

Vor allem aber erreicht die rassistische, offizielle Politik
jetzt eine neue Eskalationsstufe – mit Unterstützung aller EU-Staaten.
Rechts-populistische oder konservative Regierungen wie jene Österreichs
verkünden schon, dass sie vorsorglich SoldatInnen an den eigenen Landesgrenzen
stationieren werden, um jene Geflüchteten, die es vielleicht doch über den
Balkan nach Mitteleuropa schaffen sollten, zu stoppen.

Bulgarien und Griechenland haben in den letzten Tagen tausende zusätzliche PolizistInnen, GrenzschützerInnen und SoldatInnen an die Landgrenzen zur Türkei verlegt, um die Flüchtlinge mit Tränengas und schwer bewaffneten Patrouillen zu stoppen. Griechenland hat das Asylrecht ausgesetzt.

In der Ägäis ziehen die griechische Marine und das Heer weiter Kräfte zusammen. Auf einigen Inseln soll die Armee auf Befehl ihres Oberkommandos Schießübungen durchführen – und die EU schickt Verstärkung durch Frontex. Gegen die Geflüchteten wird regelrecht Krieg geführt.

Der Rechtsruck in Europa wird selten deutlicher als angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien und der Türkei. Erdogan wird ausgerechnet dafür gescholten, dass er sich an den menschenverachtenden Deal zur „Entsorgung“ der syrischen Flüchtlinge nicht mehr halten will. Er erpresse sie – das sei „schäbig“. Darunter verstehen die RepräsentantInnen der EU, dass der türkische Regierungschef nicht mehr bereit ist, sie gegen Milliarden Euro eines Problems zu entledigen. Daher soll neben Grenzsicherung und Abschreckung eine Neuverhandlung das Abkommen mit der Türkei retten, vorzugsweise indem sie etwas mehr Geld erhält, damit das Land wieder als Endstation für Bürgerkriegsflüchtlinge fungiert.

Die europäischen PolitikerInnen von rechts bis zu Grünen und „linken“ ReformistInnen brüsten sich gern ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber Erdogan. Ihr eigenes Verhalten, die barbarische Genzsicherung durch EU-Kommission und alle Landesregierungen straft freilich ihren eigenen „Humanismus“ Lügen, offenbart die ganze Heuchelei dieser DemokratInnen. An den Außengrenzen wird das Ertrinken der Geflüchteten zwecks Abschreckung billigend in Kauf genommen.

Der Rechtsruck in Europa kommt auch hier zum Ausdruck. Keine konservative, liberale, grüne oder sozialdemokratische Partei möchte sich vorwerfen lassen, „zu viel“ für die Geflüchteten tun zu wollen. Die wenigen Vorschläge einzelner Städte wie Berlin, einige tausende Menschen aufzunehmen, stellen das „höchste“ der Gefühle dar. Es sind wohl kalkulierte begrenzte humanitäre Gesten, Tropfen auf den heißen Stein, die solchen Stadtverwaltungen oder einzelnen PolitikerInnen erlauben, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Eine Öffnung der Grenzen für alle, „unkontrollierbare Zustände“, die Hunderttausende Geflüchtete angeblich mit sich bringen würden, wollen natürlich auch sie nicht. Die Masse der syrischen Flüchtlinge soll auch nach ihrem Kalkül in der Türkei verbleiben. Dort sind die Zustände zwar auch längst unhaltbar und katastrophal. Doch während die ökonomisch viel schwächere Türkei gerügt wird, sich nicht ausreichend um Millionen zu kümmern, will die EU möglichst jede/n abweisen, der/die nicht den Verwertungserfordernissen des europäischen Kapitals entspricht. Während Regelungen für die Beschäftigung von FacharbeiterInnen aus Drittstaaten von der EU kürzlich gelockert wurden, um keinen Arbeitskräftemangel zu erleiden, so sollen die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien dicht bleiben, ja unüberwindbar werden.

Offene Grenzen jetzt!

Die Linkspartei fordert immerhin die Aufkündigung des Deals mit Erdogan und lehnt die Entsendung weiterer Frontex-Truppen ab. Zur Forderung nach Öffnung der Grenzen kann sie sich freilich nicht entschließen. So fordert Cornelia Ernst, die migrationspolitische Sprecherin der Linkspartei im Europaparlament, „die Einrichtung sicherer Fluchtwege, beispielsweise durch die Gewährung humanitärer Visa an EU-Botschaften“ und das Bereitstellen von Kapazitäten, „damit diesen Menschen ein faires Asylverfahren garantiert werden kann.“ (https://www.dielinke-europa.eu/de/article/12632.t%C3%BCrkei-pakt-mit-erdo%C4%9Fan-muss-enden.html)

Und wo sollen die Menschen bleiben, bis sie ein Visum von
einer EU-Botschaft erhalten? Soll die Entscheidung darüber, wer kommen darf,
tatsächlich deutschen, italienischen oder anderen EU-BeamtInnen überlassen
werden? Sollen Hunderttausende, ja Millionen warten, bis die Kapazitäten für
ein „faires Asylverfahren“ von der EU bereitgestellt werden?

Allein diese Fragen verdeutlichen, wie ungenügend, ja
geradezu weltfremd und bürokratisch diese Vorschläge sind angesichts von
Hunderttausenden, die jetzt der Hölle von Idlib zu entfliehen versuchen, von
Millionen in der Türkei, die seit Jahren als menschliche Manövriermasse
verschoben werden, angesichts von Zehntausenden, die in entwürdigenden Lagern
in Griechenland ihr Leben fristen müssen.

Es gibt nur eine einzige humanitäre Lösung, die diesen Namen verdient – die Öffnung der Grenzen der EU, die Aufnahme der Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten ihrer Wahl, die Schaffung und das Zurverfügungstellen von Wohnraum, von kostenloser medizinischer und psychologischer Betreuung, von Ausbildung und Schulung sowie von Arbeitsplätzen, die zu tariflichen Löhnen bezahlt werden. Um zu verhindern, dass bürgerliche Regierungen und rechte DemagogInnen die Geflüchteten gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausspielen, geht es darum, Arbeit, Mindesteinkommen, soziale Leistungen wie Alterssicherung für alle zu erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen.

Aktionen und Mobilisierungen wie jene von antirassistischen Bewegungen, von Seebrücke und anderen AktivistInnen zeigen, dass es Kräfte gibt, die sich dem Rechtsruck und der Abschottung der Festung Europa entgegenstellen wollen. Die Linkspartei, die Gewerkschaften, alle Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, von MigrantInnen und der radikalen Linken müssen sich jetzt mit den Geflüchteten solidarisieren – gegen die Abschottung der EU, für offene Grenzen – sofort!




Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung

Thesen zum Charakter der Frauenunterdrückung

Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 1989, erstmals veröffentlicht in: Revolutionärer Marxismus Nr. 1, September 1989, erneut veröffentlcht in Revolutionärer Marxismus 42, Oktober 2010

Die Ursprünge und der sich ändernde Charakter der Frauenunterdrückung

1. Die systematische gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen ist untrennbar mit der Existenz der Klassengesellschaft verbunden. Es war ein direktes Resultat der Herausbildung von Privateigentum und der Teilung der Gesellschaft in Klassen, dass den Frauen die volle soziale, ökonomische und politische Gleichstellung mit den Männern verwehrt wurde. Es gibt nichts ’natürliches‘ oder ‚ewiges‘ an der Unterordnung der Frauen. Auf der Entwicklungsstufe, die Engels als „primitiven Kommunismus“ bezeichnete, hat es menschliche Gesellschaften gegeben, in denen der Beitrag der Frauen zur und ihre Rolle in der Gesellschaft als gleichwertig (in manchen Fällen sogar als übergeordnet) zu denen der Männer angesehen wurden. Die durch Anthropologen und Archäologen bewiesene Existenz solcher Gesellschaften entkräftet die Argumente jener, die die Unterordnung der Frauen mit der Behauptung ‚Es war schon immer so und muss daher immer so bleiben‘ verteidigen. Es wird dadurch auch der Irrtum jener FeministInnen aufgezeigt, die die Existenz der Frauenunterdrückung in verschiedenen Klassengesellschaften als Beweis dafür betrachten, dass diese Unterdrückung nicht auf der Teilung der Gesellschaft in verschiedene Klasse beruhe.

Die Klassengesellschaft und die mit ihr verbundenen Eigentumsformen entstanden aus der Auflösung der Gentilgesellschaft. Verwandtschaftsgruppen besaßen Eigentum kollektiv oder kommunal und es waren eher Haushalte als Familien, die die grundlegenden Einheiten der sozialen Organisation bildeten. Die Verwandtschaftsgruppen waren oft matrilinear aufgebaut, d.h. die Abstammung folgte der weiblichen Linie, aber einige waren auch patrilinear. Die Produktionsgrundlage für die Gemeinschaften bestand hauptsächlich im Ackerbau und teilweise in Viehzucht und Hirtenleben. Die ältesten Formen menschlicher Gesellschaft jedoch waren nach Nahrung suchende Horden, die den Boden noch nicht als Arbeitsmittel, sondern nur als Arbeitsgegenstand gebrauchten. Das Land war noch kein Eigentum, nicht einmal im gemeinschaftlichen Sinne. Solche Gruppen beruhten anfangs auf dem Jagen und Sammeln. Später wurden Gartenbau und die Zähmung von Tieren die Grundlage der Subsistenz.

In solchen Gesellschaften gab es je nach Geschlecht und Alter verschiedene Arbeitsteilungen. Sie waren weder starr noch durch Rituale oder Sitten formalisiert. Solche Arbeitsteilungen entstanden nicht in jeder Gruppe in identischer Art und Weise, aber in Bezug auf die Rollen, die Männer und Frauen auf dieser Stufe der menschlichen Gesellschaft einnahmen, bildeten sich doch etliche gemeinsame Merkmale heraus. Im allgemeinen waren Frauen eher mit dem Sammeln als mit dem Jagen beschäftigt. Das ergab sich aus ihrer Rolle als Reproduzentinnen der Gattung Mensch. Schwangerschaft und anschließendes Säugen der Kinder (was oft sehr lange getan wurde) erklären, warum Frauen eine Tendenz zum Sammeln als dem Hauptelement ihrer Arbeit hatten. Obwohl es mühsam war, war das Sammeln besser mit dem Tragen eines zu säugenden Kindes vereinbar. Männer waren mit Jagd und anderen Aktivitäten beschäftigt, die eine größere Mobilität erforderten.

Es gibt Ausnahmen (und es gibt viele Fälle von jüngeren Frauen, die vor ihrer Einbeziehung in die Reproduktion an Jagden teilnehmen), aber in den meisten JägerInnen- und SammlerInnengesellschaften, die untersucht wurden, fand man dieselben allgemeinen Merkmale. Jedoch war diese aufkommende Arbeitsteilung damals nicht unterdrückerisch und musste es auch von Natur aus nicht sein. Der Beitrag der Frauen durch das Sammeln war gegenüber dem, was die Männer durch das Jagen herbeischafften, nicht minderbewertet. Zwischen den Geschlechtern existierte eine grobe Gleichheit. In bestimmten Situationen in kleinen Clans, in denen die Reproduktion des Clans durch einen Frauenmangel gefährdet war, wurden Frauen gerade wegen ihrer Gebärfähigkeit zu den bevorzugten Opfern von Raubzügen, während männliche Krieggefangene meist sofort umgebracht wurden. Um sich gegen solche Übergriffe zu schützen, waren die Frauen auf den Schutz der Männer ihres eigenen Clans angewiesen, da sie selbst weniger in der Kriegskunst geübt waren. Mit diese Tatsachen versuchen feministische AutorInnen die Unterdrückung der Frauen auch in urkommunistischen Gesellschaften zu beweisen. Aber das ist falsch. Vielmehr bildete dieses Angewiesensein ein Element einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Männern und Frauen in primitiven Gesellschaften. Jedenfalls bedeutet die Maßgeblichkeit der Reproduktion bei der Bestimmung der Art der Arbeitsteilung nicht, dass die Unterdrückung biologisch festgelegt war. Die Rollen in der Reproduktion trugen ihren Teil zur Ausformung einer anfangs nicht unterdrückerischen Arbeitsteilung bei. Aber die Entwicklung der Produktivkräfte und das sich ändernde Verhältnis der Reproduktion zu ihnen, nicht die Tatsache der reproduktiven Rolle der Frauen an und für sich, waren die zentralen Faktoren bei der Verwandlung der Arbeitsteilung in eine unterdrückerische.

Als sich die Produktivkräfte mit der Entwicklung des Gartenbaus und später des Ackerbaus, der Zähmung und Züchtung von Tieren und mit der Entwicklung der Metallbearbeitung, die zur Produktion besserer Werkzeuge (und Waffen) für die Durchführung solcher Arbeiten führte, ausweiteten, wurden die Bedingungen für die Produktion eines Überschusses, d.h. von mehr Nahrungs- und Lebensmitteln als für den unmittelbaren Konsum der Gruppe gebraucht wurden, geschaffen. Die Existenz eines Überschusses stimulierte einen Kampf innerhalb der Verwandtschaftsgruppen. Eine Schicht von Individuen (die aus den komplexen Rangordnungssystemen, die in den Verwandtschaftsgruppen vorherrschten, hervorkam) begann im Widerspruch zu den Normen des Gemeineigentums, die zuvor üblich waren, ihre direkte Kontrolle über den Überschuss durchzusetzen. Individuen, die embryonale Formen von Privateigentum erlangen und kontrollieren konnten, gerieten mit der Verwandtschaftsgruppe als Ganzes in Konflikt.

Dieser Kampf war noch kein Klassenkampf, sondern repräsentiert vielmehr die Geburtswehen der Klassengesellschaft. Für den ‚primitiven Kommunismus‘ hatten die Totenglocken geschlagen. Während dieser Periode wurde die Verwandtschaftsgruppe durch die Familie ersetzt und den Frauen wurde die Monogamie aufgezwungen. Das Ergebnis dieses Prozesses war, dass die Frauen nun systematisch gesellschaftlich unterdrückt wurden.

Selbstverständlich existierten alle möglichen Arten der ‚Unterdrückung‘ auch schon während der frühen Stadien der menschlichen Entwicklung – Gefangene z.B., männliche wie weibliche, waren oft unterdrückt. Und es ist auch diese Zeit, wo die Unterdrückung der Sexualität, v.a. der Frauen, ihren Ursprung hat. Allerdings ist die Unterdrückung der Frauen in allen Gesellschaften an der Schwelle der Klassenspaltung noch weit davon entfernt, ein kohärentes System geschlechtsspezifischer Unterdrückung und Diskriminierung darzustellen. Die Auflösung der ursprünglich urkommunistischen Gleichgewichtung der Geschlechter vollzog sich im Laufe von Jahrtausenden und erlebte in den meisten Stammesgesellschaften auch gegenläufige Tendenzen, um die alte Ordnung beizubehalten. In Gesellschaften, die um die Erhaltung ihrer Existenz noch im Rahmen einer Subsistenzökonomie kämpften, konnten besondere Faktoren, wie z.B. demographische Probleme, zur Einrichtung von Ritualen und Tabus führen, die oftmals brutale Konsequenzen für Frauen hatten, eben wegen deren Rolle in der Reproduktion, z.B. bei den australischen Aborigines. Aber solche Beispiele bleiben Ausnahmen, die durch zufällige materielle Ursachen erklärbar sind, und bilden keinen Beweis für eine verallgemeinerte gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen. Die systematische gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen als Geschlecht war eine Folge des Kampfes zwischen dem Gemeineigentum und dem Privateigentum (oder, wie im Falle der asiatischen Produktionsweise, dem Staatseigentum) und des Triumphs des letzteren über das erstere. Diese gesellschaftliche Unterdrückung bedeutete, dass die Frauen von einem gleichberechtigten Anspruch am gemeinschaftlichen Sozialprodukt ausgeschlossen wurden und ihnen gleichzeitig die Kontrolle über die Produkte ihrer eigenen Arbeit verwehrt wurde. Diese Form der Unterdrückung, eben gesellschaftliche Unterdrückung, kann nur entstehen, wo es eine längere Produktion von gesellschaftlichem Mehrprodukt gegeben hat und wo der Kampf um die Kontrolle über dieses Mehrprodukt eine Kontrolle der produktiven wie der reproduktiven Funktionen der Frauen erfordert. Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen war ein Ergebnis des Aufkommens der Klassengesellschaft. Als solches kann sie nur auf dem Misthaufen der Geschichte landen, wenn auch die Klassengesellschaft zerstört wird.

Sobald Überschüsse produziert wurden, wurde der Austauschprozess zwischen den Gruppen gegenüber der einfachen Verteilung zum Verbrauch, wie sie in der Verwandtschaftsgruppe üblich gewesen war, immer wichtiger. Der Handel entwickelte sich und der Wert des Überschusses zeigte sich klar in der Fähigkeit, Produkte anderer Gruppen zu erlangen. Die Gruppen, die die Kontrolle über diesen Überschuss bekamen und daher die herrschende Klasse der neuen Gesellschaften wurden, waren infolge ihrer damaligen Rolle in der Produktion im allgemeinen Männer. D.h., die schon vorher existierende Arbeitsteilung wurde, obwohl sie anfangs nicht unterdrückerisch war, bei der Herausbildung einer herrschenden Klasse zentral. Das Erbe der männlichen Rolle bei der Jagd war auf dreierlei Weise entscheidend: Erstens bedeutete es, dass Männer die Kontrolle über die gezähmten Tiere inne hatten, eine dynamische Produktionssphäre im Bezug auf die Ausweitung des Überschusses. Zweitens führte die wachsende Bedeutung des Landes als wertvolle Ressource zu entsprechenden Kämpfen um Land. Männer hatten, dank ihrer Jägerrolle, Kontrolle über die Waffen (und verbunden damit auch über die ersten Werkzeuge) und hatten Fähigkeiten zu deren Herstellung und Anwendung entwickelt. Ihre Rolle im Krieg bestand nicht nur darin, rivalisierende Verwandtschaftsgruppen zu besiegen, sondern diente auch dazu, die weibliche Kontrolle über das Land zu zerstören. Frauen bearbeiteten noch immer das Land, aber die Männer bemächtigten sich sowohl des neuen Landes, als auch der Kontrolle über die Produkte davon. Der dritte Vorteil der Männer war, dass meistens sie die Mitglieder der Gruppe waren, die reisten. Mit der Ausweitung der Produktivkräfte bedeutete Reisen nicht nur Krieg, sondern auch Handel. Von Anfang an kontrollierten im allgemeinen Männer den Handel (obwohl es Ausnahmen, wie bei bestimmten Stämmen Westafrikas, gibt).

Männer genossen daher sowohl in der Produktion wie auch im Austausch Vorteile. Daher wurde der Teil der Männer, der am besten platziert war, um die Kontrolle über die Verteilung des Mehrprodukts des Kollektivs zu erlangen, eine embryonale herrschende Klasse. In den frühesten Klassengesellschaften wurde dem Übergang vom gemeinschaftlichen Überschuss zum Privateigentum oft eine religiöse Verkleidung gegeben, wobei die Eigentümer als priesterliche Kaste auftraten. Der Gedanke, dass das Privateigentum in Wirklichkeit nur Gemeineigentum sei, das durch die Vertreter der ‚Götter‘ kontrolliert würde, war ein Erbe der Traditionen der Verwandtschaftsgruppe, die erst kürzlich gestürzt worden war und zugleich eine ideologische Rechtfertigung für das neue Regime, das sie ersetzt hat.

Dieser Prozess formte die ökonomische Ordnung des privaten Haushaltes. Die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen wurde für die Frauen durchgehend unterdrückerisch. Die vorher gesellschaftliche Arbeit der Frauen – Sammeln, Landwirtschaft und Haushaltsführung – wurde in privatisierte Arbeit im Dienste der Haushaltseinheit, der frühen monogame Familie, umgewandelt.

Es war die Rolle der Frauen in der Produktion, die sie in eine untergeordnete Stellung in der Gesellschaft brachte. Aber in diesem Prozess hatte der Konflikt zwischen dem Gemein- und dem Privateigentum einen verändernden Effekt auf die gesellschaftliche Organisation, der zur systematischen Unterdrückung von Frauen führte. Die Akkumulation von Privateigentum durch eine kleine Kaste erforderte die Beendung der egalitären Verteilung, die in den Verwandtschaftsgruppen noch existierte. Das große Netzwerk von Leuten innerhalb der Verwandtschaftsgruppe, die Anspruch auf Produkte erhoben (alle aus einer großen Reihe ziemlich entfernter Verwandter haben gleiches Anrecht), musste aufgegeben werden, wenn der Überschuss konzentriert werden sollte.

Eine kleinere gesellschaftliche Einheit, in der nur die direkten Nachkommen legitime Erben waren, wurde als Folge des Widerspruchs zwischen Gemein- und Privateigentum geschaffen. Diese Gruppe, die Familie, wie wir sie heute nennen, entwickelte sich aus der Verwandlung einer temporären, leicht löslichen ‚Paarungsehe‘ zwischen einem Mann und einer Frau aus verschiedenen Verwandtschaftsgruppen in eine dauerhafte Grundstruktur für den neuen Haushalt. Die lockere Paarungsehe wurde beständig und für die Frauen lag nun das sexuelle Betätigungsfeld ausschließlich in ihr. Dies bedeutete, dass alle ihre Kinder notwendigerweise diejenigen ihres Gatten und daher legitime Erben seines Reichtums waren. Als dies zur vorherrschenden Form sozialer Organisation wurde, wurden Kodizes und Gesetze eingeführt, die die Unterordnung der Frau erzwangen und zum Verlust jeglicher gleicher Rechte auf Eigentum oder auf politisches und soziales Leben führten. Der kollektive Haushalt der Verwandtschaftsgruppe war in das Gefängnis der monogamen Familie verwandelt worden. Patrilinearität wurde die Norm, die Matrilinearität war gestürzt.

Der Zusammenstoß zwischen den Verwandtschaftsgruppen (Gentilgesellschaften) und der Familie, der den Zusammenstoß zwischen dem Gemein- und dem Privateigentum widerspiegelte, schuf die objektive Notwendigkeit für eine öffentliche Macht, die als Schiedsrichter fungieren konnte. Die materielle Basis für den Staat war geschaffen. Innerhalb der Verwandtschaftsgruppen war keine externe Macht nötig, da die Gruppen kooperativ handelten, wobei alle Mitglieder gleiche Rechte und Verantwortungen hatten. Der externe Staat verstärkte den patriarchalischen Charakter der Familie und der Erbfolge. Diese Entwicklungen, die sich über viele tausend Jahre und in einer sehr kombinierten und ungleichen Weise ereigneten, brachten die ersten Klassengesellschaften hervor (die alten Stadtkönigreiche Mesopotamiens, Ägyptens etc). Die Klassengesellschaften waren patriarchalisch. Die Frauen hatten eine historische Niederlage erlitten.

Engels‘ Analyse der Ursprünge der Frauenunterdrückung war in seinen Grundaussagen richtig. Neues anthropologisches Material hat gewisse Details seiner Analyse in Frage gestellt, die wir daher abändern oder ergänzen müssen. Und zwar folgende: Engels‘ Anerkennung des Mutterrechts als universelles Stadium der Gesellschaft und seine Implikation, dass dieses Stadium eine Periode weiblicher Dominanz in der Gesellschaft beinhaltete, wird von der modernes archäologisches und anthropologisches Material nicht bestätigt. Während unzählige Zeugnisse von matrilinearen Verwandtschaftsgruppen vorhanden sind, gibt es nur wenige für die Annahme, dass sie gesellschaftlich von Frauen dominiert worden wären. Eine ungefähre Gleichheit existierte. Diese Gleichheit herrschte aber auch in patrilinearen Gesellschaften vor, die es in dieser frühesten Phase der menschlichen Gesellschaft ebenfalls gab. Jedoch, insoweit die Vernichtung der Matrilinearität immer ein Merkmal der Entwicklung zur Klassengesellschaft ist, hat Engels recht, von einer historischen Niederlage für die Frauen zu sprechen. Der Punkt ist, dass diese Niederlage vielmehr das Ergebnis eines Prozesses war, als ein bewusster und umsturzähnlicher Akt der Männer gegen die Frauen.

Engels‘ Betonung der Viehwirtschaft als primärem Gebiet der Akkumulation von Überschuss darf uns gegenüber der Wichtigkeit des Kampfes um Land nicht blind machen. Dieser war ebenfalls ein Bestandteil jenes Prozesses, durch den die Frauen als Geschlecht unterdrückt wurden. Die Entwicklung vom Gartenbau zum Ackerbau machte das Land zu einer wesentlichen Quelle von Mehrprodukt. Während die Frauen in vielen Hackbaugesellschaften mehr oder weniger ihre Gleichheit zunächst beibehielten, stellen die später entwickelten nomadischen Hirtengesellschaften das andere Extrem dar. Bei ihnen trug die von den Männern kontrollierte Produktion von Vieh mehr zum Sozialprodukt bei als die Arbeit der Frauen. In diesem Zusammenhang bildeten sich entscheidende Züge des Patriarchats und der Frauenunterdrückung heraus und diese wurden im Zuge kriegerischer Eroberungen den unterworfenen Ackerbaukulturen aufgezwungen . Die männliche Vorherrschaft in der Kriegsführung stellte sicher, dass Männer die Hauptnutznießer der real stattfindenden Kämpfe um Land waren.

Engels bezeichnet erst die SklavenInnenhalterInnengesellschaft als die erste voll entwickelte Klassengesellschaft, in der die Unterdrückung der Frauen gesetzlich verankert ist. Tatsächlich aber waren schon die städtischen Zivilisationen Mesopotamiens Klassengesellschaften – beherrscht durch große Landbesitzer und eine PriesterInnenkaste, die Tribute aus der Masse der unterworfenen Bauern/Bäuerinnen herausholten – in denen sich die patriarchalische Familie durchgesetzt hatte und in den Gesetzen des Staates anerkannt wurde. Ihr Unterschied zu den SklavenInnenhalterInnengesellschaften der klassischen Welt war, dass sie noch mehr und deutlichere Spuren der gemeinschaftlichen Verwandtschaftsgruppen aufwiesen, aus denen sie entstanden waren (z.B. die Idee, dass das Eigentum eher den Göttern gehörte als irgendwelchen Individuen und die PriesterInnen nur deren Verwalter seien, oder auch die Möglichkeit für Frauen, einzelnen Aspekten ihrer Unterdrückung zu entkommen, indem sie sich in den Tempeldienst einkauften usw.).

Wir müssen Engels‘ Analyse hinzufügen, warum es die Frauen waren, die als Geschlecht untergeordnet wurden. Dies resultiert aus der Umwandlung der ursprünglichen JägerInnen- und SammlerInnen-Arbeitsteilung (die wiederum geprägt war durch die Rolle der Frauen in der Reproduktion, was sie für die Jagd weniger geeignet machte) von einer vorwiegend kooperativen in eine systematisch unterdrückerische. Die Ursache für diese Umwandlung ist in dem Konflikt zwischen der sich entwickelnden Familieneinheit und der Verwandtschaftsgruppe zu finden.

Eine Hauptidee bei Engels‘ Herleitung des Ursprungs der Frauenunterdrückung gründete sich auf Darwins Prinzip der natürlichen Auslese, das er in einem universell verallgemeinerten Inzesttabu verwirklicht sah. Folglich verstand Engels die Entwicklung der Menschheit als eine von voranschreitenden Stufen: beginnend mit der promiskuitiven Urhorde, über die Punalua-Familie und die Gentes zur Paarungsehe, die dem Patriarchat als günstige Voraussetzung für die gewaltsame Errichtung der monogamen Ehe entgegenkam. So fortschrittlich es auch von Engels war, die monogame Ehe als späteres Stadium der menschlichen Geschichte zu betrachten, so ist doch die von ihm vorgeschlagene Stufenfolge weit davon entfernt, universell gewesen zu sein. Bei diesem Punkt überwand Engels den biologischen Determinismus nicht vollständig, da er es nicht verstand, die Entwicklung von Produktion und Reproduktion mit dem Entwicklungsniveau der sozialen Strukturen in Verbindung zu setzen. Die Entwicklung der Familienformen muss genauso mit der historisch-materialistischen Methode untersucht werden wie die Sphäre der unmittelbaren Produktion, und nicht auf darwinistische Art. Inzest-Tabu und Heiratsregeln müssen gesellschaftlich hergeleitet werden, d.h. vom Niveau der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen.

Mit diesen Abänderungen und Zusätzen können die Ursprünge der Frauenunterdrückung immer noch mit die Methode des dialektischen Materialismus, die Engels verwendet hatte, erklärt werden. Die Frauenfrage kann damit grundsätzlich als Klassenfrage verstanden werden.

2. Das Entstehen der Klassengesellschaft brachte (für die Frauen) die monogame Ehe mit sich. Die Formen der Ehe waren in den primitiven Gesellschaften verschieden. Paarungs- und Gruppenehen waren üblich. Im ersteren Fall war es im allgemeinen relativ leicht, die Ehe auf Wunsch eines Partners aufzulösen. Da das Ausmaß der sexuellen Freiheit in den Eheregeln der primitiven Gesellschaften sehr verschieden war, kann man nicht sagen, dass Monogamie die vorherrschende Norm war. Ihr Aufkommen als die vorherrschende Norm in den frühen Klassengesellschaften bezeichnet eine neue historische Periode sowohl für die Familie, als auch für die Frauen. Zur geschlechtlichen Arbeitsteilung wurde noch eine neue Dimension hinzugefügt, die die Frauenunterdrückung verstärkte und zu einem allgemeinen Merkmal dieser Unterdrückung in jeder folgenden Klassengesellschaft wurde. Das war die Dimension der Privatisierung der Hausarbeit in der individuellen Familieneinheit. Wie es die Anthropologin Eleanor Leacock ausdrückte:

„Die Unterordnung des weiblichen Geschlechtes hatte ihre Grundlage in der Umwandlung ihrer gesellschaftlich notwendigen Arbeit in eine private Dienstleistung, hervorgerufen durch die Trennung der Familie vom Clan. Es war in diesem Zusammenhang, dass die Haus- und anderen Arbeiten der Frauen unter Bedingungen der praktischen Sklaverei durchgeführt wurden“. (Einleitung zu Engels, Der Ursprung …, englische Ausgabe, Lawrence & Wishart).

Trotz der massiven Ausweitung der Produktivkräfte seit der Zeit der Kulturen des Altertums, sind Frauen immer noch Haussklavinnen.

In der SklavInnengesellschaft umfasste die Familie nicht nur (und auch nicht vorwiegend) die Eltern und deren Kinder. Im Griechenland des 5. Jahrhunderts war die Familie der neu aufkommenden herrschenden Klasse (große SklavInnenhalterInnen und Landbesitzer in Attica) um den Haushalt, den Oikos, herum organisiert. In diesem Rahmen führten die Frauen den Haushalt und webten (für den eigenen Verbrauch und für den Handel), während die Männer mit öffentlichen Angelegenheiten, Handel, Angelegenheiten des Staates usw. beschäftigt waren. Die Frauen wurden durch Gesetze im wesentlichen vom Handel ausgeschlossen. Während sie formal Eigentum besitzen durften, konnten sie dieses nicht kontrollieren. Kontrolle war etwas, das mit ihren Ehemännern verbunden wurde, oder, im Fall von Töchtern, die mangels Söhnen den Familienschatz erbten, mit männlichen Vormunden (Kyrios). Der Vater oder Vormund der Frau arrangierte Ehen, um Reichtum für die Familie zu gewinnen. Es ist überflüssig zu sagen, dass die Sklavinnen in den Händen dieses streng patriarchalen Systems unterdrückt wurden, indem sie einerseits zu ökonomischem Nutzen und andererseits zum sexuellen Vergnügen der Männer der herrschenden Klasse eingesetzt wurden. Ihnen wurden alle Rechte auf eine eigene Familie untersagt, da ja die Kinder der SklavInnen einfach Besitz der Herren waren.

Diese ökonomische Unterordnung war gepaart mit einem unbarmherzigen Regime in sozialen Fragen. Die Frauen in Athen (Sparta war weniger streng in seinen Gepflogenheiten, doch die KriegerInnenkultur unterdrückte die Frauen auf andere Weise) waren abgesondert in ihren eigenen Bereichen im Haushalt und wurden von ihren Männern als Gebärmaschinen betrachtet. Individuelle geschlechtliche Liebe spielte dabei keine Rolle. Ein zynischer griechischer Redner des 4. Jahrhunderts fasste die Einstellung der am höchsten entwickelten SklavInnenhalterInnengesellschaft (Athen) vor dem Römischen Reich so zusammen: „Wir begeben uns zu unseren Kurtisanen für unser Vergnügen, halten uns Konkubinen für unsere täglichen Bedürfnisse und heiraten Frauen, die uns legitime Kinder geben und treue Hüterinnen unserer Feuerstelle sind.“

Im antiken Rom genossen die Frauen (der herrschenden Schicht) größere persönliche Freiheiten als ihre athenischen Vorfahrinnen. Jedoch heißt relative persönliche Freiheit auf manchen Gebieten nicht, dass die soziale Unerdrückung zu existieren aufhörte. In allen Grundzügen war die römische Familie, die familia, wie der Oikos ein Haushalt, in dem die Frauen für alle häuslichen Belange verantwortlich waren, über dessen Produkte sie aber keine unabhängige Kontrolle hatten.

Der Zusammenbruch des römischen Reiches und der langsame und schmerzliche Übergang zum Feudalismus veränderten die Familienstruktur beträchtlich. Der Triumph der Barbarei bedeutete: a) das Ende der Sklaverei als dominante Produktionsweise; b) die Fusion der barbarischen Familie, die im großen und ganzen noch harmonisch mit dem Clan existierte , mit der individuellen Familieneinheit des eroberten Reiches.

Über eine Periode von einigen Jahrhunderten entwickelte dieser Prozess eine neue Produktionsweise und eine heue Familienform. Der Feudalismus, eine Produktionsweise, die sich aus der Übergangsperiode entwickelte und die von bürgerlichen HistorikerInnen die „dunklen Jahre“ genannt wird, verwandelte das Claneigentum der germanischen Stämme in Eigentum der Feudalherren und -fürsten. Der Haushalt der Leibeigenen, der ein Stück Land auf einem der Feudalgüter bearbeitete, arbeitete kooperativ als Produktionseinheit und versuchte permanent den ihm verbleibenden Rest zu vergrößern, den er nach Erfüllung seiner Pflichten gegenüber dem Feudalherren genießen konnte. Klarerweise war das Leben der Leibeigenen miserabel und die Feudalherren versuchten, ihnen alles außer den grundlegenden Subsistenzmitteln zu verweigern. Aber durch die Beendigung der Sklaverei als vorherrschender Produktionsweise und durch die Verwandlung der Leibeigenenfamilie in einen produktiven Haushalt spielte der Feudalismus (eine dynamische agrarische Wirtschaft, verglichen mit dem späten römischen Reich und mit den primitiven landwirtschaftlichen Methoden der germanischen Clans) eine wichtige Rolle dabei, die Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Antike weiterzubringen.

In dieser Situation änderte sich die Form der Frauenunterdrückung. Für die Frau der herrschenden Klasse wird die Führung des Haushaltes zur Aufsicht über die DienerInnen und deren Einteilung und jener ist damit für die Wirtschaft weniger entscheidend als der Oikos oder die familia. Zusätzlich bekamen die Töchter der herrschenden Klasse einen großen Wert bei der Errichtung von Bündnissen, der Vergrößerung der Güter usw. durch die Heiratspolitik. Für die Leibeigenen andererseits war die Familie die grundlegende Produktionseinheit. Mann, Frau und Kinder bearbeiteten das Land gemeinsam, um den Lebensunterhalt für sich und den Überschuss für ihre Herren zu produzieren. Jedoch konnte die schon zuvor existierende Verdrängung der Frauen von der gleichwertigen Kontrolle über den Überschuss oder die Subsistenzmittel von den Leibeigenen nicht rückgängig gemacht werden. Die Ideologie der Feudalherren, verfeinert und ausgedrückt durch die Kirche, legte für alle Frauen einen niederen Status fest. Im mittelalterlichen Europa gab es für die Frauen aus unterschiedlichen Klassen ein durchaus verschiedenes Ausmaß an sexueller Unterdrückung. In der herrschenden Klasse war die ‚höfische Liebe‘ zwischen einer Frau und einem (adeligen oder ritterlichen) Mann im großen und ganzen toleriert. Auf der anderen Seite bedeuteten die Vorschriften der christlichen Moral für die große Masse der leibeigenen Frauen, dass jede sexuelle Aktivität außerhalb der Ehe, stigmatisiert wurde. Insbesondere Ehebruch wurde mit Folter oder gar dem Tode bestraft. Die Einführung bestimmter Regeln durch die Kirche, z.B. die Verpflichtung, zumindest jährlich die Beichte abzulegen (eine Maßnahme, die im Mittelalter eingeführt wurde), stellte sicher, dass die ortsansässigen Priester direkt in das Privatleben der Leibeigenen eingreifen konnten. Natürlich war die Realität vielfältiger als die christliche Moralität. ‚Abweichende‘ sexuelle Aktivitäten, einschließlich jene der Priester, die sexuelle Beziehungen manchmal zu mehreren verheirateten Frauen des Ortes hatten, kamen oft ungestraft davon.

Leibeigene Frauen wurden noch immer als Besitz des Herren angesehen (ein eindeutiges Relikt der Sklaverei), und vielerorts im feudalen Europa waren die männlichen Leibeigenen gezwungen, ihre Bräute dem Lehensherren vorzustellen, damit dieser sein „Recht der ersten Nacht“ ausüben konnte. Die Erhaltung der privaten, häuslichen Sklaverei neben der gemeinschaftlichen, sozialen Produktion in ein und derselben Familie von Leibeigenen war der entscheidende Faktor für das Fortbestehen der Unterdrückung der großen Masse von Frauen während der feudalen Produktionsweise.

Der Haushalt der Leibeigenen konnte nur so lange überleben wie der Feudalismus selbst. Die Auflösung des Feudalismus führte schließlich zu einer Zerstörung der britischen BäuerInnenschaft. Grundbesitzer vertrieben die kleinen Pächter von ihrem Land und legten den Grundstein für die Bildung einer Klasse von freien ArbeiterInnen, ProletarierInnen. Ihres Landes beraubt, das sie gemeinsam bearbeiteten, hörten die BäuerInnenfamilien auf, Haushalte zu sein, die in die gesellschaftliche Produktion einbezogen waren (obwohl die Heimarbeit Aspekte des alten Haushalts während der frühesten Periode der Manufakturen beibehielt). In den Städten und Dörfern wurde die BäuerInnenfamilie während der industriellen Revolution untergraben, indem alle ihre Mitglieder in die Fabriken oder Bergwerke gebracht wurden. Und zwar als vereinzelte ProletarierInnen, die für einen Unternehmer anstatt für die Aufrechterhaltung des Haushalts arbeiteten. Obwohl der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht in jedem Land diesem britischen Modell gefolgt ist, waren dessen wesentliche Züge und die Auswirkungen auf das Wesen der Familie überall die gleichen.

In den deutschen Landen und in Mitteleuropa z.B. hatte ein größerer Teil der Leibeigenen, der als Gesinde am Gutshof arbeitete, gar keine Familien. Der Feudalherr hatte das Recht, eine Ehe zu erlauben, zu verbieten oder sie zu verlangen. Erst der Kapitalismus löste diese Fesseln an persönlicher Abhängigkeit auf. Dies führte zu losen Formen von sexuellen Beziehungen, was eine gewaltige Bevölkerungsexplosion hervorrief. Erst später gewährte ihnen der kapitalistische Staat das gesetzliche Recht auf sexuelle Aktivität, aber nur dadurch, dass ihnen die bürgerliche, monogame Ehe aufgezwungen wurde.

Die Muster von Entwicklung und Übergang, die hier beschrieben wurden, gelten hauptsächlich für Europa. Die Formen und das Ausmaß an Unterordnung der Frauen außerhalb Europas hingen natürlich von den verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen ab, die jeweils existierten (z.B. in der asiatischen Produktionsweise). Nichtsdestotrotz ist die Unterdrückung der Frau, die in ihrer Position innerhalb der Familie ursächlich angesiedelt ist, allen Klassengesellschaften gemeinsam.

3. Der industrielle Kapitalismus revolutionierte den Charakter der menschlichen Produktion und mit ihr die spezifische Form der Frauenunterdrückung. Der Haushalt hörte auf, die grundlegende Produktionseinheit zu sein, und wurde ersetzt durch die kapitalistische Fabrik und den kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieb. Die ArbeiterInnenfamilie produzierte nicht mehr die Subsistenzmittel für sich selbst, ihr gehörten die Produktionsmittel nicht mehr. Der Kapitalismus hatte also das Proletariat geschaffen, das nichts besitzt außer seine Fähigkeit zu arbeiten. Der Verkauf der Arbeitskraft wurde die einzige Möglichkeit für das Proletariat zu überleben. Die Einführung von Maschinen in der Industrieproduktion erlaubte es allen Teilen der ArbeiterInnenklasse – egal welchen Geschlechts oder Alters, im Produktionsprozess nützlich zu sein.

In der frühen Periode des industriellen Kapitalismus, der zuerst in England am deutlichsten entwickelt war, brachen die neuen Produktionsverhältnisse die alten Formen der Familie und des Haushaltes auf, indem sie alle Mitglieder in die Fabriken und Mühlen zogen. Der Fähigkeit der ArbeiterInnen zu überleben und sich zu reproduzieren, wurde durch diese Entwicklung geschadet, da die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Zeit für Hausarbeit von der kapitalistischen Produktion aufgebraucht wurde. Dies führte zu ArbeiterInnenkämpfen um die Länge des Arbeitstages und die Beschränkung der Kinder- und Frauenarbeit.

Obwohl der Haushalt als grundlegende Produktionseinheit durch den Kapitalismus zerstört worden war, blieb die Familie weiterhin bestehen, als Mittel, wodurch die neue Klasse von Proletariern sich selbst und ihre Arbeitskraft reproduzierte. Der Kapitalismus untergrub die Fähigkeit des Proletariats, dies zu leisten. Er untergrub die Familie selbst, indem er jedes Mitglied jeder proletarischen Familie zwang, unter erschreckenden Bedingungen über lange Stunden hinweg zu arbeiten. Angesichts des entschlossenen Kampfes des Proletariats erkannten Teile der KapitalistInnenklasse die Notwendigkeit zu handeln.

Objektiv war die Erhaltung der proletarischen Familie als Mittel zur Reproduktion der Arbeitskraft und des Proletariats selbst im Interesse der UnternehmerInnen. Das Profitinteresse machte die KapitalistInnen jedoch blind gegenüber ihren eigenen langfristigen objektiven Interessen. Nur wenn die Aktion der ArbeiterInnenklasse Brüche in ihren eigenen Reihen erzeugt, sind Teile der herrschenden Klasse gezwungen, die Widerstände „reaktionärer“ UnternehmerInnen zu überwinden und Reformen zu gewähren, die entworfen wurden, um die Herrschaft des Kapitals selbst zu bewahren. Daher beugte sich im 19. Jahrhundert in Großbritannien, dem Prototyp des modernen Industriekapitalismus, die liberale Bourgeoisie dem Druck des Proletariats und gewährte eine Reform, da sie selbst deren Notwendigkeit einsah.

Es gab nichts Automatisches bei diesem plötzlichen Ausbruch der „Aufklärung“ des Kapitalismus, als er eine Gesetzgebung zugestand, die den Arbeitstag einschränkte. Er war gespalten und gewährte eine Reform, um noch Schlimmeres zu verhüten – die revolutionäre Aktion der Arbeiter Innenklasse. Daher erkannte Marx richtig diese Gesetzesreformen als einen entscheidenden Sieg für die politische Ökonomie der ArbeiterInnenklasse an. Die Einführung der Gesetze, die die Länge des Arbeitstages für alle ArbeiterInnen begrenzten und speziell die Arbeit von Frauen und Kindern beschränkten, gewährten der ArbeiterInnenklasse die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Zeit. Dies war ein Faktor, der die Verankerung der Frauen in der Produktion schwächte und ihnen die Verantwortung für die Hausarbeit zuwies. Das Resultat war, dass die Familieneinheit, die durch die Brutalität der frühen Industrialisierung zerrüttet worden war, reformiert wurde, und zwar mit der veränderten und beschränkten Funktion, die Arbeitskraft zu reproduzieren. Daraus folgte nicht der völlige Ausschluss der Frauen aus der sozialisierten, kapitalistischen Produktion, aber es hatte zur Folge, dass diese eine sekundäre Rolle spielten und gleichzeitig eine flexible Reservearmee darstellten.

In Großbritannien verwendeten in der Periode von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts Teile der ArbeiterInnenaristokratie in den Facharbeiter Innengewerkschaften die Durchsetzung der Schutzbestimmungen und den Wiederaufbau der Familie dazu, die Frauen von der Produktion weiter gehend auszuschließen, als für die Reproduktion der Klasse notwendig gewesen wäre. So war die Fabriksgesetzgebung sowohl progressiv als auch für die ArbeiterInnenklasse notwendig, durchgeführt wurde sie aber auf Kosten der Frauen, die dadurch keine große Rolle im beschäftigten Arbeitskräftepotential spielen konnten. Die Familie wurde zum einzigen physischen und sozialen Überlebensmittel der ArbeiterInnenklasse im brutalen, kapitalistischen System und deshalb von der Klasse verteidigt. Sie war jedoch auch ein Gefängnis für die Frau. Sie war als Mittel zur Reproduktion der Arbeitskraft institutionalisiert worden. Dies bedeutete, dass die bereits existierende Trennung zwischen Hausarbeit und gesellschaftlicher Produktion verschärft und die Unterdrückung der Frauen dadurch verstärkt wurde. Die proletarische Familieneinheit war daher in dieser Periode zutiefst widersprüchlich (und bleibt dies bis heute). Auf der einen Seite war sie der einzige Platz, wohin sich die ArbeiterInnen – Männer wie Frauen – zu physischer Regeneration, Entspannung und emotionaler Unterstützung zurückziehen konnten. Auf der anderen Seite zerstörte ihre zwangsläufig unterdrückerische Struktur sehr oft ihre Fähigkeit, diese Bedürfnisse wirklich zu befriedigen. Sie war daher nur ein beschränkter Schutz gegen die kapitalistische Verwüstung.

In Ländern wie England war es der ArbeiterInnenaristokratie aufgrund ihres Wohlstandes möglich, zu Hause reine Hausfrauen zu haben, das ‚Ideal‘ der bürgerlichen Familie imitierend. Durch die ArbeiterInnenaristokratie wurde dieses Ideal in die ganze ArbeiterInnenklasse hineingetragen. Die Verteidigung dieses Ideals wurde auf das Banner des politischen Reformismus geschrieben. Die Verteidigung der Familie als Mittel zum Überleben wurde also durch die reformistischen Führer, deren Basis die Aristokratie des Proletariats war, in eine Verteidigung des reaktionären, bürgerlichen Ideals der Familie umgewandelt. Dies erklärt teilweise, warum, entgegen den Erwartungen von Marx und Engels, die Familie des Proletariats nicht verschwand. Ein anderer Grund jedoch bestand darin, dass der Kapitalismus selbst keine andere gesellschaftliche Struktur entwickeln konnte, die fähig zur Erfüllung seiner Bedürfnisse hinsichtlich der Arbeitskraft gewesen wäre.

Mit der Herausbildung des Kapitalismus im Weltmaßstab und im speziellen mit der Entwicklung des Imperialismus wurde die Zerstörung der Familie, die ein Erbe vorkapitalistischer Perioden ist, wiederholt. Der Kapitalismus hat im Laufe seiner Entwicklung ständig sein Familienideal widerlegt. Unter Bedingungen, wie dem afrikanischen Sklavenhandel nach Amerika, kam es zur völligen Zerstörung der Familie und auch der Familienideologie. In den imperialisierten Ländern werden in Zeiten schneller Industrialisierung Männer, Frauen und Kinder in die Lohnarbeit gezogen, mit geringem Arbeitsschutz und kaum einer Rücksichtnahme auf deren Möglichkeit, Heim und Familienleben aufrechtzuerhalten. In ähnlicher Weise unterminieren in industrialisierten Ländern in Krisenzeiten Arbeitslosigkeit, Armut und die physische, durch Wanderarbeit verursachte Trennung von Familien die bürgerliche Familiennorm. Jedoch anerkennt der bürgerliche Staat das allgemein- gesellschaftliche Interesse der Bourgeoisie an der Aufrechterhaltung der Familie und ‚modernisierende‘ Staaten propagieren das Ideal der Familie, während sie oft in der Praxis deren Fähigkeit, als Einheit zur Reproduktion der Arbeitskraft zu dienen, aushöhlen. In Südafrika werden Familien physisch geteilt, um die Ausbeutung der schwarzen ArbeiterInnen zu ermöglichen. Mit faktisch keinen sozialen Einrichtungen, die die ArbeiterInnenfamilie schützen, wird sie in den Barackensiedlungen und Ghettos zerrissen, die die städtischen Industriezentren der Halbkolonien umgeben. Von den Banden heimatloser und Essen suchender Jugendlicher in Sao Paolo und Mexiko City bis zu den unbarmherzig ausgebeuteten Kindern, die als Halbsklaven in den Ausbeuterbetrieben Thailands arbeiten, reichen die Beweise für die Bereitschaft des Kapitalismus, die ArbeiterInnenfamilie dem übermäßigen Profit zuliebe zu opfern.

Nur der Kampf der ArbeiterInnenklasse kann diesen brutalen Prozess aufhalten. Marx erkannte den Sieg der europäischen ArbeiterInnen, sich die gesetzliche Begrenzung des Arbeitstages zu sichern (eine Schutzmaßnahme, die den Wiederaufbau der Familie ermöglichte) als Sieg für die politische Ökonomie der ArbeiterInnenklasse über die KapitalistInnen an. So ein Sieg ist in den Halbkolonien notwendig, aber seine Erringung wird unlösbar verbunden sein mit der Zerstörung der imperialistischen Dominanz durch die Erlangung der ArbeiterInnenmacht. Das wiederum stellt sicher, dass die ArbeiterInnenklasse nicht Zuflucht in der bürgerlichen Familie sucht, in der die Frau versklavt ist.

4. Die Familie der Bourgeoisie bildete sich im Kapitalismus mit einer anderen Rolle heraus. Ihre primären Funktionen sind die Reproduktion der nächsten Generation der herrschenden Klasse und die patrilineare Übertragung des Wohlstandes. Dies verlangte die fortgesetzte Kontrolle über die weibliche Sexualität, und die Monogamie für die Frau blieb erforderlich, da die Vaterschaft des Mannes garantiert werden musste. Die bürgerliche Familie wurde oft verwendet, um die Anhäufung von Kapital in den reichsten Familien zu sichern. Die bürgerliche Ehe war von der Ehe vorangegangener Epochen verschieden. Bis zum Triumph des Kapitalismus wurde die Heirat immer von anderen Leuten als den dabei betroffenen EhepartnerInnen arrangiert. Sogar bis heute sind arrangierte Ehen in einer Anzahl von halbkolonialen Ländern vorherrschend. Dies ist ein Zeichen der Rückständigkeit solcher Länder, in der sie in der Epoche des Imperialismus gefangen bleiben.

Für die entstehende Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts wurden die arrangierten Heiraten durch Eheverträge ersetzt, einen Vertrag, der von zwei freien Individuen, die sich selbst entschieden hatten, wer ihr/e PartnerIn sein sollte, unterzeichnet wurde. Um dieses neue Arrangement in ihrem Kampf gegen die Feudalaristokratie zu rechtfertigen, griff die Bourgeoisie die Vorstellung der individuellen Geschlechtsliebe als Motiv für die Heirat auf und romantisierte sie. Diese Vorstellung war jedoch eine heuchlerische Verkleidung für die wirklichen Motive der aufstrebenden Bourgeoisie. Sie versorgte sie mit einem moralischen Schutz gegen die „ausschweifende“ Aristokratie und befähigte sie gleichzeitig, der monogamen Ehe ihren eigenen, besonders gemeinen Stempel aufzudrücken.

Der „Vertrag“, den beide Parteien frei eingingen, besiegelte die Vorherrschaft des Mannes innerhalb der Familie und garantierte, dass die individuelle Geschlechtsliebe das Mittel war, um die Treue einer Ehefrau in der Ehe sicherzustellen. Der Vertrag ließ aber dem Mann die Freiheit, individuelle Geschlechtsliebe mit anderen Frauen (und als sich der Kapitalismus entwickelte, v.a. mit Prostituierten) zu praktizieren. Die frühen Entwicklungsstadien des Kapitalismus schlossen auch bürgerlich-demokratische Revolutionen ein, welche die wirtschaftlichen und politischen Fesseln, die die kapitalistische Produktion behinderten, zerbrachen. Diese Revolutionen proklamierten die „Menschenrechte“ (Rights of MEN), haben jedoch bis jetzt ziemlich dabei versagt, die „Gleichheit der Frau“ in der Praxis zu verwirklichen, obwohl bürgerliche Revolutionäre gelegentlich bereit waren, sie auf ihre Fahnen zu schreiben, um die Unterstützung des gesamten Volkes zu erlangen.

Die weiterhin bestehenden gesetzlichen Beschränkungen versagten den Frauen viele Dinge, z.B. ihr Recht, Eigentum zu besitzen und zu kontrollieren, ihr Stimmrecht, ihr Recht, ein Staatsamt auszuüben, ihr Recht auf Scheidung, auf Zugang zu Bildung, zu qualifizierten Berufen und zu verfügbaren Methoden der Kontrolle ihrer eigenen Fruchtbarkeit. Das stand im Widerspruch zu den erklärten Idealen der bürgerlichen Demokratie.

Der Kampf für diese Rechte war die Basis für die bürgerlichen Frauenbewegungen des späten 19. Jahrhunderts. Trotz Ausnahmen reflektiert der allgemeine Widerstand der herrschenden Klasse, diese beschränkten Rechte auch nur den Frauen ihrer eigenen Klasse zu gewähren, ihre Notwendigkeit, jene Familienform zu verteidigen, die die Erben ihres Eigentums produzierte. Zugleich zeigte dies ihren Widerwillen, demokratische Rechte auszuweiten, die von den untergeordneten Klassen wahrgenommen und dann im Kampf gegen die Bourgeoisie verwendet werden könnten.

In den meisten imperialistischen Ländern wurden den Frauen im Laufe des 20.Jahrhunderts viele, wenn nicht alle formalen, gesetzlichen, demokratischen Rechte gewährt. Die gesetzlichen Rechte bleiben aber beschränkt und sind häufig Angriffen ausgesetzt, sobald kapitalistische Krisen die Bourgeoisie dazu treibt, die Ideologie der Familie und die ungleiche Stellung der Frauen zu verstärken. Während das primär erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die ArbeiterInnenfamilie wachsende Verantwortung für ihre Mitglieder übernimmt, kann es sein, dass die bürgerliche Frau als Beispiel für die „natürliche“ Familienrolle gebraucht wird. Die Rechte, die die bürgerlichen Frauen errungen haben, bewirken keine wirkliche Gleichheit, nicht einmal für sie selbst, da sie es versäumten, den Kern ihrer eigenen Unterdrückung, und damit auch den der Arbeiterfrau, anzugreifen, der immer noch die Existenz der Familie ist.

Die systematische Unterdrückung der Frauen im Kapitalismus

5. In der kapitalistischen Produktionsweise leiden alle Frauen unter der Unterdrückung. Das ist das Ergebnis ihrer ungleichen Stellung in der Produktion. Für die überwältigende Mehrheit der Frauen, d.h. jene der ArbeiterInnenklasse, ist die Unterdrückung ein Resultat ihrer Verpflichtungen in der Familie. Die materielle Wurzel ihrer Unterdrückung ist die fortgesetzte Existenz der Haussklaverei. Die Zuordnung der Aufgabe, die Kinder zu versorgen und einen Haufen Arbeiten im Haushalt zu erledigen, führt bei den Frauen dazu, dass es ihnen nicht möglich ist, eine volle und gleichwertige Rolle in der sozialisierten Produktion zu spielen. Frauen sind entweder ausgeschlossen vom sozialen Leben, eingeschlossen im Haushalt, oder, wenn sie in die gesellschaftliche Arbeit miteinbezogen sind, geschieht das oft in Bereichen, die eng mit der häuslichen Wirtschaft und den dazugehörigen Fähigkeiten verbunden sind.

So ist in den imperialistischen Hauptländern trotz der Anwesenheit einer großen Zahl von Frauen in der Industrie „Frauenarbeit“ überwiegend in Bereichen wie Einzelhandel, Bekleidung, Verpflegung, Sozial-, Gesundheits- und Reinigungswesen etc. zu finden. Wo Frauen in Fabriken und Büros neben Männern arbeiten, sind sie im allgemeinen beschränkt auf ungelernte, angelernte und schlechtbezahlte Sektoren. Die Erziehung und Ausbildung von Frauen und Mädchen soll diese „Spezialisierung“ verstärken. Vor allem wird die Familie als Zentrum dargestellt, als oberste Verantwortung der Frau, der die Lohnarbeit untergeordnet ist.

Das Bild in den Halbkolonien ist einigermaßen anders. Der Imperialismus gründet sich auf der Überausbeutung solcher Länder und ist in Zusammenarbeit mit räuberischen einheimischen KapitalistInnen sehr wohl bereit, Frauen in großer Zahl zu beschäftigen und sie lange Stunden für sehr geringe Bezahlung in der verarbeitenden Industrie arbeiten zu lassen. Diese ‚Subversion‘ seiner eigenen ideologischen Ansichten über die Rolle der Frauen ist für die Superprofite des imperialistischen Kapitals notwendig und wird durch die politische und wirtschaftliche Beherrschung der halbkolonialen Länder aufgewogen.

Die Jobs, die Frauen haben, bleiben trotz der steigenden Zahlen auf wenige Bereiche beschränkt. Frauen arbeiten selten neben Männern mit gleichem Rang. Lohn und Arbeitsbedingungen reflektieren diese Abtrennung, so dass die Gesetze für die Lohngleichheit die Durchschnittslöhne der Frauen in den meisten Ländern nicht wesentlich verbessert haben. In manchen Ländern nahm der durchschnittliche Lohn für Frauen in Ganztagsstellungen relativ zu dem der Männer in den letzten 15 Jahren sogar ab. Im öffentlichen Sektor gibt es eine große Zahl von nichtmanuellen weiblichen Angestellten, die in den niedrigsten Angestelltenschichten konzentriert sind. In manchen Ländern gab es einen Anstieg der Frauenbeschäftigung hauptsächlich im Teilzeitbereich, der mit den häuslichen Verpflichtungen in Übereinstimmung gebracht werden kann, aber die Frauen auch auf niedere Löhne und schlechte Bedingungen (wie zum Beispiel große Arbeitsplatzunsicherheit) beschränkt. In anderen Ländern ist der Anstieg der Teilzeitarbeiten nicht so signifikant (z.B. in Frankreich), und es gibt ein höheres Niveau an staatlicher Kinderfürsorge, das es Frauen mit kleinen Kindern zu arbeiten erlaubt.

6. Die Familie der ArbeiterInnenklasse ist im Wesentlichen der Bereich, in dem die Ware Arbeitskraft reproduziert wird; und zwar sowohl durch die tagtägliche Wiederherstellung der Arbeitskraft jeder Arbeiterin/jedes Arbeiters – als auch durch die Aufzucht künftiger ArbeiterInnengenerationen. Die notwendige Arbeit zur Produktion der Arbeitskraft wird im Haus, d.h. außerhalb der vergesellschafteten Produktion, verrichtet. Diese Hausarbeit wird hauptsächlich von Frauen verrichtet, für die diese keine direkte Bezahlung bekommen. Die ArbeiterInnenklasse als Ganzes erhält einen Lohn, der die Reproduktion der Arbeitskraft beinhaltet. Wo eine Frau selbst nicht lohnabhängig beschäftigt ist, wird angenommen, dass der Lohn ihres Mannes für die ganze Familie verwendet wird. Dies führt zu einer extremen ökonomischen Abhängigkeit der nicht entlohnten Frauen von ihren Männern. Die Arbeitsteilung zwischen der Hausarbeit und der restlichen vergesellschafteten Arbeit für das Kapital in den Fabriken etc. und das unterschiedliche Gewicht der Monogamieforderung für Männer und Frauen sind die Wurzeln der ungleichen Stellung der Frau.

Der Charakter der Hausarbeit ist im allgemeinen wiederholend, arbeitsintensiv und wird von der Frau in Isolation von anderen, die in einer ähnlichen Situation sind, verrichtet. Das führt dazu, dass sie vom sozialen Charakter der Arbeit im Kapitalismus abgetrennt sind. Dieser ist aber grundlegend für die Entwicklung der ArbeiterInnenklasse zu einer kollektiven bewussten Klasse, die fähig ist, soziale Veränderungen durchzuführen. Dies ist auch der Fall bei Frauen, Kindern und wenigen Männern, die mit Heimarbeit beschäftigt sind. Diese Arbeiten sind normalerweise aufreibend, werden oft zusätzlich zur Hausarbeit gemacht und beinhalten eine übermäßige Ausbeutung der HeimarbeiterInnen. Der Kapitalismus hat sich als unfähig erwiesen, die im Haushalt verrichtete Arbeit systematisch zu sozialisieren. Obwohl viele Elemente der Arbeit, die früher im Haushalt verrichtet wurden, die die Erzeugung von Kleidung oder die Zubereitung von Essen, im Kapitalismus in profitable Industrien umgewandelt wurden, wurde anderen Elementen der Hausarbeit, wie der Sorge um Kinder, Kranke und andere abhängige Familienmitglieder, in vergesellschafteter Form nie genügend Rechnung getragen. Es ist dieser Bereich der Hausarbeit, den der Kapitalismus nicht vollständig sozialisieren kann. Das Potential, sie zu vergesellschaften, existiert ganz offensichtlich. Während des 2. Weltkrieges war die KapitalistInnenklasse in Britannien und den USA durch ihren Staat bereit und fähig, für Kindergärten, Gemeinschaftskantinen, Wäschereien usw. zu bezahlen, damit die Arbeiterinnen voll in den Betrieben eingesetzt werden konnten, während die Männer in der Armee waren. Solche Perioden sind im Kapitalismus jedoch Ausnahmen. Würden solche Maßnahmen zur Norm, wäre der Abfluss vom gesamten Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft größer, als sie ertragen könnte. Die Leistungen, die zu liefern sie manchmal gezwungen ist, wie medizinische und soziale Versorgung, sind in Gefahr, sobald eine Krise die Bourgeoisie zwingt, den „sozialen Lohn“ der ArbeiterInnenklasse zu kürzen.

Ein anderer Grund, warum der Kapitalismus die Hausarbeit nicht vollständig vergesellschaften kann und will, besteht darin, dass dies unabhängig davon, ob er es sich leisten kann oder nicht, die Familie komplett untergraben würde. Die Familie ist keine bloße Dekoration für den Kapitalismus. Sie ist eine gesellschaftliche Struktur, innerhalb der die Unterdrückung der Frauen und Jugendlichen verewigt wird und aufgrund der die Diskriminierung der Lesben und Schwulen stattfindet. Sie ist fundamental für die Existenz des Kapitalismus selbst.

7. Seit dem 2. Weltkrieg hat der Anteil der Frauen, die außerhalb des Heimes arbeiten, in den imperialistischen Ländern drastisch zugenommen. Der wachsende Anteil der Frauen, die in die Produktion gezogen werden, hat die Tendenz, einige Aspekte der Frauenunterdrückung auszuhöhlen, indem den Frauen, die (lohn)arbeiten, etwas wirtschaftliche Unterstützung und sozialer Kontakt mit dem Rest der Klasse gegeben wird. Jedoch hat diese Tendenz die fundamentalen Merkmale der Frauenunterdrückung, die auf der fortgesetzten Existenz der Familie als Bereich der privaten Arbeit für die Reproduktion der Arbeitskraft beruht, nicht geändert. Da die Frauen noch immer für das Aufziehen der Kinder verantwortlich sind und noch immer die meisten Hausarbeiten erledigen, blieb das auch ihre oberste Verantwortung. Es gibt keine Alternative. Der Staat hat gewisse Dienstleistungen bereitgestellt, wie Schulen, Kindergärten, Spitäler usw., um den Frauen manche ihrer Aufgaben abzunehmen, die sie früher im Haushalt zu erfüllen hatten. Aber keine dieser Einrichtungen hat die Notwendigkeit einer zentralen Person ersetzt, die sich um das Wohlbefinden der anderen kümmert. Die Tatsache, dass Frauen diese Rolle weiterhin spielen müssen, bedeutet, dass ihre Fähigkeit, im Arbeitspotential gleichwertig teilnehmen zu können, eingeschränkt ist.

Frauen müssen sich nicht nur für die Geburt frei nehmen, sondern auch, um auf kleine Kinder während der Schulferien aufzupassen, um sich um kranke Familienmitglieder zu kümmern usw. Die Tatsache, dass so viele Frauen mit Abhängigen arbeiten, zeigt, dass sich die Verantwortung der Frau im Haushalt nicht verringert, sondern dass vielmehr die Abhängigkeit der ArbeiterInnenfamilie vom Einkommen zweier Erwachsener anwächst, während sie früher zumindestens periodenlang mit einem Einkommen auskam. Frauen mit Kindern müssen arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen. Die Arbeit, die sie verrichten, ist im allgemeinen an die Verpflichtungen im Haushalt angepasst – die Schichten, die Frauen arbeiten, nachts, abends oder während der Schulzeit – erlauben es den Frauen, ihre beiden Rollen so gut wie möglich zu vereinen, aber auf Kosten der Freizeit für sich selbst und für die Familie. Wenn ein Kind krank oder ein Verwandter abhängiger wird (wie ältere und Invaliden), so ist es zumeist die Frau, die ihre Arbeit aufgeben muss.

8. Die Familie spielt noch eine andere wichtige Rolle für den Kapitalismus: Sie ist die Institution, durch welche die Ideologie des Kapitalismus in die ArbeiterInnenklasse getragen wird. Sie ist jene gesellschaftliche Struktur, in der am Modell patriarchalischer Autorität und weiblicher Unterdrückung Disziplin, Gehorsam, Kritiklosigkeit, Autoritätshörigkeit und Unterordnung gegenüber gesellschaftlicher Herrschaft den Kindern von klein auf eingeprägt und anerzogen werden und im Alltagsleben der Ehepartner tagtäglich die Erneuerung und Bestätigung dieses Untertanenverhältnisses passiert. Die Familie unterdrückt Widerständigkeit und vermittelt Konformität mit der bürgerlichen Moral. In der patriarchalischen Familie findet die erste Identifikation mit den jeweiligen Geschlechtsrollen statt. Die Misshandlung von Frauen und Kindern in der Familie und deren Tolerierung durch die bürgerliche Gesellschaft ist auch ein Mittel, ihnen reaktionäre Moral, unterdrückerische Sexualität und Geschlechtsrollen in der Familie aufzuzwingen. Die Unterdrückung von Sexualität ist ein integraler Teil der frühen Charakterentwicklung und spielt daher eine Schlüsselrolle bei der Verankerung der bürgerlichen Ideologie und Passivität in den Köpfen der Beherrschten. Sexuelle Unterdrückung passiert in der Einübung geschlechtspezifischen Sozialverhaltens, der Leugnung der kindlichen Sexualität, der Diskriminierung der weiblichen Sexualität und der Unterdrückung der Homosexualität. Obwohl der ideale Familienkern nicht die überwiegende Familieneinheit ist, wird von Kirche, Staat, Massenmedien und Schulen als Modell gepriesen, das angestrebt werden soll. Die Rolle der Familie als Überträger der Ideologie wird dadurch effektiver gemacht, dass sie der „Hafen“, im speziellen der ArbeiterInnenklasse , eine Quelle des Komforts, der geistigen und materiellen Hilfe, eine Verteidigung gegen die Verwüstungen der kapitalistischen Gesellschaft ist oder zu sein scheint.

Wir weisen den Gedanken zurück, dass Frauen in der Familie objektiv ihre eigene Unterdrückung schaffen oder bewusst im Einverständnis mit ihr sind. Ihre isolierte Situation im Haushalt trennt die Frauen der ArbeiterInnenklasse und macht sie anfällig für rückständige Ideen, die täglich in Presse, Radio und Fernsehen verkündet werden. Deshalb äußern Hausfrauen, deren Horizont durch die unmittelbaren Bedürfnisse der Familie begrenzt ist, oft reaktionäre Ideen und spielen eine zentrale Rolle bei der Übermittlung dieser rückständigen und unterdrückerischen Ideen gegenüber ihren Kindern. Diese werden von den Müttern gemäß den sexistischen Regeln, die von der kapitalistischen Gesellschaft festgelegt werden, aufgezogen. Dies ist jedoch ein Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Position und nicht eines bewussten Einverständnisses, sondern eher eine Rückständigkeit, geboren aus ihrer Unterdrückung.

Aber dies darf nicht über das wahre Machtverhältnis in der Familie hinwegtäuschen. Es ist die väterliche Autorität, gestützt durch Schule, Kirche und herrschende Kulturnormen, die die Erziehung der künftigen Generation hauptsächlich bestimmt, auch wenn die Mutter den Großteil der praktischen Erziehungsarbeit leistet. Ein weiterer Aspekt, der zur politischen Rückständigkeit von Frauen beiträgt und von dem die Nur- Hausfrauen am stärksten betroffen sind, ist, dass ihre Männer (auch die politisch aktiven) mehrheitlich ihre Teilnahme an politischen Organisationen und dem politischen Kampf behindern, wenn nicht überhaupt zu verhindern suchen. Die politische Rückständigkeit von Hausfrauen ist aber genauso wie der männliche Chauvinismus ohne Massenbewegung für eine sozialistische Revolution, oder die Revolution selbst, deren Einfluss direkt in die Familie hineinreichen würde und die sich mit Frauen und Kindern im Kampf gegen patriarchalische Verhältnisse auf eine Seite stellen würde, für die Mehrheit unvermeidlich.

9. Die Auferlegung der Monogamie für die Frauen, die mit der Entwicklung des Privateigentums und der Klassengesellschaft kam, bedeutete, dass die Frauen sexuell, ebenso wie sozial, unterdrückt werden. Die Monogamie, die auch von den Frauen der ArbeiterInnenklasse verlangt wird, ist notwendig, um eine stabile Familieneinheit zur Reproduktion der Arbeitskraft aufrechtzuerhalten. Das monogame Modell der bürgerlichen Familie, das für die herrschende Klasse zur Weitergabe des Reichtums notwendig ist, wurde so der ArbeiterInnenklasse auferlegt, allerdings mit einer unterschiedlichen sozialen Funktion. Die sexuelle Unterdrückung ist in erster Linie eine Folge (nicht eine Ursache!) der Unterordnung der Frauen in der Klassengesellschaft. Das gleiche trifft für unser Verständnis des Aufbaus der Geschlechtsrollen zu. Obwohl die Prozesse, durch die Geschlechtsrollen geschaffen werden, eine tiefe psychologische Auswirkung auf die Leute haben und oft durch eine Vielfalt subtiler psychologischer Mittel ausgeführt werden, können sie nicht durch rein psychologische oder therapeutische Methoden überwunden werden. Es ist utopisch zu glauben, dass eine sozial-psychologisch befreiende Praxis innerhalb der Partei oder anderer ArbeiterInnenorganisationen die tiefen Widersprüche, die vom Aufbau der Geschlechtsrollen in der kapitalistischen Gesellschaft herrühren, lösen kann.

Diese Geschlechtsrollen dienen zuallererst einem gesellschaftlichen Zweck. Sie sind notwendige Mittel, um die Familie im Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Wenn dies nicht verstanden wird, werden wir in einen Kampf zur Schaffung der perfekten Persönlichkeit, frei von den Zwängen einer künstlich geschaffenen Geschlechtsrolle auf rein individueller Grundlage, verfallen. Dies ist utopisch und spalterisch. Obwohl es notwendig ist, einige der Zwänge unserer Geschlechtsrollen zu überwinden, um uns zu besseren KämpferInnen gegenüber dem Kapitalismus zu machen (Fähigkeiten, die im allgemeinen eher aus der kollektiven Solidarität herrühren, als von den Anstrengungen individuellen Wollens oder psychologischer Behandlung), werden unsere Persönlichkeiten die Wunden der Gesellschaft, in der wir leben, behalten. Wir müssen diese Gesellschaft verändern, bevor wir hoffen können, unsere Persönlichkeiten vollständig umzuformen, und die materielle Basis der Geschlechtsrollen, die der Kapitalismus uns auferlegt hat, zerstören.

Sexuelle Unterdrückung und Charakterbildung sind aber zugleich auch Mittel, um die Klassengesellschaft insgesamt zu erhalten. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Erzeugung von Unterordnungsbereitschaft und Autoritätshörigkeit. Sexuelle Unterdrückung spielt auch durch die Verwandlung klassenkämpferischer Aggressionen in Frustration und sogar Neurosen eine rückschrittliche Rolle. Dies findet in verschiedenen Formen von, vom Standpunkt des Klassenkampfes aus, irrationalem Verhalten und einer Passivität gegenüber reformistischen FührerInnen seinen Ausdruck. Wenn auch solche psychologische Faktoren eine gewisse Rolle spielen, so darf doch das ‚falsche Bewusstsein‘ der ArbeiterInnenklasse nicht auf Psychologie reduziert werden. Die atomisierenden Effekte des Kapitalismus und die demoralisierenden Wirkungen der ReformistInnenen sind für uns die entscheidenden politischen Ansatzpunkte.

Deshalb weisen wir die Behauptung vieler FeministInnen zurück, dass die wichtigsten Bereiche im Kampf für die Befreiung die Themen rund um die Sexualität sind. Diese Anschauung führt zu einer Hervorhebung persönlicher Politik, zu einem Glauben an individuelle Lösungen der Unterdrückung und zu utopischen Konzepten für die Befreiung. Überdies ist es eine Anschauung, die die medizinische Wissenschaft, im speziellen die Psychoanalyse, als gleichwertiges, wenn nicht sogar als dem Klassenkampf überlegenes Mittel zur Beendigung der Unterdrückung darstellt.

MarxistInnen ignorieren nicht die wertvollen Beiträge zum menschlichen Verstehen, die die Fortschritte auf dem Gebiet der Psychologie gebracht haben. Persönliche Probleme können durch verschiedene Formen der psychologischen Behandlung vermindert werden. Jedoch bestehen wir darauf, dass psychologische Einsichten die fundamentalen sozialen Widersprüche, die tatsächlich zu persönlichem und sexuellem Unglücklichsein führen, nicht lösen können. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Wiedersprüche und zu ihrer Lösung liegt im Studium der Klassengeschichte. Fallstudien von Individuen müssen in ihrem historischen Zusammenhang verstanden werden und haben einen ergänzenden Wert bei der Ausrottung der sexuellen Unterdrückung.

Das gleiche gilt für massen- und politisch-psychologische Analysen. Die Grenzen der psychoanalytischen Herangehensweise wurden durch die theoretische Entwicklung von Wilhelm Reich aufgezeigt. Indem er die Wichtigkeit der Sexualpolitik als ein Element der Unterdrückung der Massen durch den Kapitalismus identifizierte, eröffnete Reich den Weg zu verschiedenen Einblicken in die Art und Weise, in der der Kapitalismus die menschliche Persönlichkeit formt – oder besser – entstellt. Jedoch führte ihn sein Unvermögen, die Beziehung zwischen gesellschaftlichem Leben, Klassenkampf und Sexualität zu verstehen, zu fatalen Irrtümern. Er erhob die Sexualpolitik über den ökonomischen und politischen Klassenkampf und begann, den Schlüssel zur Befreiung in rein sexuellen Ausdrücken zu definieren (daher seine spätere Besessenheit vom Orgon als Energiequelle). In Wirklichkeit – ebenso wie die sexuelle Unterdrückung eine Konsequenz der Klassengesellschaft und der Frauenunterdrückung innerhalb dieser Gesellschaft ist – wird die vollständige sexuelle Befreiung als Konsequenz der sozialistischen Revolution, und nicht vor ihr, kommen.

Jede Klassengesellschaft hat Ideologien entwickelt, die Ausbeutung und Unterdrückung rechtfertigen. Eine in Bezug auf die Sexualität reaktionäre Ideologie war in gewissem Maße immer ein Merkmal von Gesellschaften, in denen Frauen unterdrückt waren. Die vorherrschenden moralischen Werte einer bestimmten Gesellschaft sind, ebenso wie ihre Ideen als Ganzes, die moralischen Werte der herrschenden Klasse (oder eher die, die dieser Klasse dienen). Die Klassengesellschaft hat sich weiterentwickelt, und so auch die Mittel zur Fort- und Durchsetzung einer Moral, die zutiefst unterdrückend für Frauen ist. In der Familie selbst wird diese Moral durch die Männer gegenüber den Frauen durchgesetzt und durch die Eltern gegenüber den Kindern. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene sind die Kirche und immer mehr die Massenmedien mächtige Propagandamaschinen für die reaktionäre Moral. Sie schreiben die schädlichen moralischen Gesetze der Sexualität vor, die bestimmen, was „normal“ und was „abnormal“ ist, und sie brandmarken, oft mit brutalen Auswirkungen, jene, die nicht mit diesen Gesetzen konform gehen (insbesondere Lesben und Schwule).

In der kapitalistischen Gesellschaft ist die bürgerliche Moral, trotz der gelegentlichen liberalen Perioden, ein Mittel, die Frauen zu unterdrücken. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die freie und volle Befriedigung des sexuellen Appetites vereitelt oder entstellt. Während alle Menschen sexuelles Elend erleiden als Ergebnis der bürgerlichen Moral, sind Frauen besonders betroffen. Die Beschränkungen, die den sexuellen Aktivitäten der Frauen auferlegt sind, sind viel weitreichender als die der Männer. Um die Familie heilig zu sprechen, versagt der Kapitalismus den Frauen die volle Kontrolle über ihre eigene Fruchtbarkeit und attackiert die „Ehebrecherinnen“ oder die alleinstehenden Mütter viel systematischer, als er dies bei den männlichen Äquivalenten tut. Das Hure-Weiberheld-Syndrom existiert noch immer in breiten Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft.

Normalerweise werden daher Frauen entmutigt, mehrere sexuelle Beziehungen zu haben. Ihr Recht auf sexuelles Vergnügen (das ihnen manchmal als Ganzes versagt ist) wird nur mit einem einzigen Partner und innerhalb einer Ehe als rechtmäßig definiert. Stereotypisierte Rollen sind so gestaltet, dass sie das Potential der Frauen für gleichwertiges und genussreiches Sexualleben ganz deutlich unterdrücken.

Frauen sind entweder tugendhaft oder unmoralisch, während es Männern erlaubt ist ,sexuell abenteuerlich zu sein (und ihnen das auch Respekt einbringt), und trotzdem noch als „gute Familienväter“ angesehen werden. Die Körper der Frauen werden zu Objekten und behandelt wie Dinge, die die Männer genießen, entweder umsonst wie in der Ehe oder zu einem Preis wie in der Prostitution. Frauenkörper werden verwendet, um Produkte, die nichts mit diesen Körpern zu tun haben, an Männer zu verkaufen.

Mit einer solchen gefühllosen Einstellung ist es wenig verwunderlich, dass Frauenmisshandlungen so weit verbreitet sind. Frauen, die das stereotypisierte Image zurückweisen und versuchen, ihre Sexualität durch Lesbianismus, Bisexualität oder durch mehrere Partner frei auszudrücken, werden beschimpft und misshandelt, als gesellschaftliche Außenseiter behandelt und die legalen Rechte an ihren Kindern werden ihnen abgesprochen. Frauen ohne männlichen Partner werden bemitleidet und als minderwertig angesehen. Und die überwältigende Mehrheit der Frauen ist gezwungen, mit den Normen des Familienlebens konform zu gehen, trotz all der daraus resultierenden Frustration und dem Unglücklichsein, das mit diesen Normen verbunden ist.

Und die Frauen, die sich ihr Leben als Prostituierte verdienen, werden von der Gesellschaft stigmatisiert, als Aussätzige behandelt und in vielen Ländern sogar als Kriminelle, während ihre männlichen Kunden von aller Schuld freigesprochen werden. Was für ein klares Zeugnis für die stinkende Heuchelei der kapitalistischen Moral!

Trotz gewaltiger Unterschiede in Kultur und Tradition erleiden die Frauen auf dem ganzen Erdball sexuelle Unterdrückung. Die Epoche der Weltwirtschaft hat jeglichen Schutz, den Frauen in primitiven Gesellschaften genossen haben mögen, niedergerissen. In Brasilien z.B. werden die Frauen von primitiven IndianerInnenstämmen am Amazonas buchstäblich gestohlen und als Prostituierte gebraucht, um die Bedürfnisse der Männer einer Zivilisation, die in jeden Winkel des Regenwaldes expandiert, zu befriedigen. In entwickelteren Halbkolonien mag die sexuelle Unterwerfung der Frauen subtiler erscheinen, aber sie ist nichtsdestotrotz brutal, weitreichend und erniedrigend. Wie in den imperialistischen Ländern gibt es Beispiele institutionalisierter sexueller Unterdrückung im Überfluss. Zusätzlich jedoch wurde in bestimmten halbkolonialen Ländern (Thailand und Teile Ostafrikas z.B.) die Prostitution in eine Massenindustrie verwandelt, in der Tausende von Frauen überausgebeutet, unter schrecklichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen und höchst schutzlos den (oft tödlichen) sexuell übertragbaren Krankheiten ausgesetzt werden.

10. Durch die Fortsetzung des sexuellen Elends aller und durch die Objektifizierung der Frauenkörper hat die Klassengesellschaft die Frauen immer gegenüber der extremen Aggression von Seiten der Männer ungeschützt gelassen – nämlich der systematischen Misshandlung, Vergewaltigung und der Bedrohung durch eine solche Misshandlung. Anders als die Radikalfeministinnen betrachten wir die männliche Gewalt nicht als das eigentliche Wesen der Frauenunterdrückung oder, in ihrer Sprache, als Ausdruck ‚männlicher Macht‘ über Frauen. Akte von sexuellem Missbrauch und physischer Gewalt sind nicht eine einfache Ausdehnung der ’normalen‘ unterdrückerischen Verhältnisse zwischen Männern und Frauen. Die hohen Raten von sexuellem Misshandlungen von Frauen widerspiegeln aber den besonderen Einfluss der sexistischen, die Frauen entwürdigenden Ideologie. Die relative Toleranz von Seiten des Staates und der bürgerlichen Ideologie (einschließlich der Kirche) gegenüber solch physischen, sexuellen oder psychischen Misshandlungen von Frauen in der Familie, bei der Arbeit oder im gesellschaftlichen Leben, bringt den institutionalisierten Sexismus der Klassengesellschaft zum Ausdruck. In der ArbeiterInnenklasse widerspiegelt solche Misshandlung die Demoralisierung und Spaltung, die die ArbeiterInnen gegeneinanderstellt, und die allgemeine Brutalität, die für die Klassengesellschaft charakteristisch ist. Die Existenz von unterdrückerischen und sexistischen Einschränkungen und deren schädliche Auswirkungen auf die Menschen rufen Vergewaltigungen und systematische Brutalität hervor. Die Existenz sexueller Gewalt und physischer Misshandlungen sind wirklich ein Faktor der Einschüchterung der Frauen (was zur Folge hat, dass Frauen sich in der Nacht nicht auf die Straßen trauen usw.).

Sexistische Ideologie ist in der kapitalistischen Gesellschaft allgegenwärtig und nimmt weiter zu. Ihr Zweck ist es, die Unterordnung der Frauen in sozialen und sexuellen Anliegen zu legitimieren. Das Frauenbild in den Medien führt mit seiner Objektifizierung des Körpers oft zu dessen Degradierung. Die Frau wird zu einer Sexmaschine zu Diensten des Mannes und ohne unabhängigen eigenen Willen. Die Existenz solcher Darstellungen und das Ausmaß sexistischer Ideologie in den Medien führte dazu, dass einige Frauen die Pornographie als Kerninhalt der Frauenunterdrückung sehen. „Porno ist die Theorie, Vergewaltigung die Praxis“, ist eine populäre Maxime unter vielen FeministInnen, radikalen ebenso wie sozialistischen. Tatsächlich ist es aus vielen Gründen falsch, die Pornographie als Feind Nummer eins zu bezeichnen.

Erstens, weil es alle Darstellungen von Frauen mit denen gleichstellt, die Frauen degradieren. Es setzt Pornographie mit gewalttätiger Pornographie gleich. Das ist eine gänzlich subjektive Herangehensweise, die theoretisch die Möglichkeit einer nicht unterdrückerischen, erotischen Darstellung ausschließt. Es versagt den Frauen den möglichen Genuss erotischer Darstellung ihrer eigenen Wünsche und Fantasien. Kurz gesagt ist es eine feministische Form der Prüderie. Daher sind wir nicht für einen Aufruf zum gesetzlichen Bann der Pornographie, egal ob sie als unterdrückerisch definiert ist oder nicht.

Das zweite Problem der Anti-Porno-Kampagnen ist, dass der einzige Weg, ihre Ziele zu verwirklichen, darin besteht, den Staat zu einem Bann der Pornographie aufzurufen. In der Praxis bedeutet das, die repressive Macht des Staates, seine Fähigkeit, sich in das Privatleben der Leute auf unterdrückerische Weise einzumischen, zu stärken. Der Staat als einer der Hüter des reaktionären Moralkodex wird seine Macht, die Pornos zu verbannen, ausnahmslos gegen Publikationen von Lesben und Schwulen verwenden. Der Staat wird Richter darüber sein, was „obszön“ ist und was nicht.

Das dritte Problem bei der Erklärung, der Angriff auf die Pornographie sei in der Kampfstrategie gegen den Sexismus zentral, ist, dass sexistische Darstellungen ein Symptom und nicht die Ursache der Frauenunterdrückung sind. Kampagnen gegen Pornos liegen daher falsch, wenn sie sie als „Theorie“, d.h. als Ursache der Vergewaltigung und der Unterdrückung im allgemeinen hinstellen. Diese Fehler der Einschätzung der Pornographie haben katastrophale politische Konsequenzen. Insbesondere haben sie Sektionen der feministischen Bewegungen in Großbritannien und den USA in Allianzen mit der reaktionären moralischen Mehrheit und der Mary Whitehouse Brigade gebracht.

Als RevolutionärInnen sind wir jedoch nicht neutral in den Kämpfen gegen sexistische Darstellungen in der ArbeiterInnenbewegung und in den Medien. Wir sind entschlossene KämpferInnen gegen sexistische Darstellungen und unterstützen alle Kampagnen, die Publikation von Pinups in der Presse der ArbeiterInnenbewegung zu beenden, die Bemühungen von Frauen, beleidigende Poster oder Inserate von den Wänden am Arbeitsplatz zu nehmen, Kampagnen gegen sexuelle Belästigungen der Frauen am Arbeitsplatz und für konkrete Maßnahmen zum Schutz von Frauen gegen die Gefahr von Vergewaltigungen, wie bessere Beleuchtung und Transportmöglichkeiten, kostenlose Selbstverteidigungskurse usw. In den Medien fordern wir das Recht, auf Artikel oder Bilder, die Frauen degradieren, zu antworten. Wir rufen alle DruckereiarbeiterInnen auf, bei der Verwirklichung dieser Forderungen zu helfen: durch eine Weigerung, solche Artikel und Bilder zu drucken, solange der Gewerkschaft, ihrer Frauensektion oder einer entsprechenden Kampagne/Organisation dieses Recht auf Stellungnahme nicht gewährt wird. Diese Methoden, die Methoden der direkten Aktion, führten tatsächlich zu erfolgreichen Diskussionen mit männlichen Arbeitern über den Charakter des Sexismus und warum er spalterisch ist, ebenso wie zu einer tatsächlichen Verminderung der Propaganda für die Unterordnung oder Degradierung der Frauen.

11. Ein anderes Schlachtfeld gegen sexistische Ideologie ist der religiöse Bereich. In allen Klassengesellschaften spielen religiöse Ideen, die die oft in den Staat eingebundenen organisierten Kirchen fortbestehen lassen, eine wichtige Rolle beim Sanktionieren und Durchsetzen der Ideologie der Frauenunterdrückung. Im Westen haben Christentum und Judaismus, deren beider Basis Ideologien sind, die sich in vorkapitalistischen und höchst patriarchalischen Gesellschaften verfestigten, Jahrhunderte lang die Doktrin der Unterordnung der Frauen gepredigt. Dies hat praktische Folgen für Millionen von Frauen.

Die Verfügungen der katholischen Kirche über Verhütung und Abtreibung sind ein klares Beispiel. In den imperialistischen Ländern bringen diese Verordnungen Elend und Not in Verbindung mit ungewollten Schwangerschaften und Kindern. In den Semi-Kolonien sind die Folgen mit dem größeren Grad an Armut ermischt, der dort existiert. In Lateinamerika, einem Kontinent, der von der Ideologie des Katholizismus beherrscht wird, führen die reaktionären Doktrinen der Kirche, trotz der Theologie der Befreiung, zum buchstäblichen Massenmord an Frauen. Die Verweigerung der kostenlosen Abtreibung auf Verlangen löscht die Abtreibung nicht ein für allemal aus. Es öffnet lediglich den SchlächterInnen der Seitengassen Tür und Tor. In Brasilien allein sterben pro Jahr 400.000 Frauen durch die Hände dieser MörderInnen. Der Zweck solcher Gesetze ist, dass Frauen ihre eigene Fruchtbarkeit nicht kontrollieren können. Da Sex außerdem bloß zum Zwecke der Reproduktion da sei, wird den Frauen durch die Kirche gelehrt, dass sexuelle Aktivität außerhalb der Ehe, ja überhaupt sexuelle Aktivität zum Vergnügen, verboten ist.

Die ausgearbeitete Mythologie des Christentums und des Judaismus bestärkt die reaktionären Lehren über Frauen. Die Eva-Legende, die Geschichte von Lots ungehorsamer Frau im Alten Testament, der Kult der Jungfrau Maria, alle stellen Frauen als willige Dienerinnen für die häuslichen Bedürfnisse der Männer dar, die bestraft wurden, wie Lots Frau, wenn sie den Befehlen des Patriarchen nicht gehorchten. Die Grundlinie dieser religiösen Ideologien ist die Heiligsprechung der Familie und ihrer Struktur rund um einen dominanten Mann. Der Charakter der Familie hat sich in den verschiedenen Klassengesellschaften verändert, und die Religion hat diese Veränderungen durch unterschwellige Abänderungen der Doktrin reflektiert.

Aber der reaktionäre Inhalt der religiösen Lehren über Frauen und die Familie haben sich über Jahrhunderte nicht qualitativ verändert. Sie sind der deutlichste Ausdruck der Tendenz der toten Vergangenheit, schwer auf der lebendigen Gegenwart zu lasten. Das ist sogar dort der Fall, wo eine religiöse Ideologie Befreiungsschmuck aufnimmt. Zuletzt kam dies in der katholischen Kirche durch die Entwicklung der Theologie der Befreiung, vor allem in Lateinamerika, vor. Obwohl sie die Gewalt gegen die imperialistische Unterdrückung rechtfertigt, bleibt diese Theologie verbunden mit all den reaktionären Lehren der Kirche über alle wichtigen sozialen Fragen, die Frauen betreffen. Letzten Endes sind alle Religionen, ungeachtet aller Nuancen, vom Standpunkt des menschlichen Fortschrittes im allgemeinen und von dem der Befreiung der Frauen im besonderen aus, reaktionär, weil sie die Eigenaktivität und Eigenverantwortung an eine außerhalb der Menschen liegende Macht delegieren, die Machtlosigkeit des Menschen bestärken und damit die Möglichkeit der Selbstbestimmung der Menschheit beschränken.

Auch die Religionen des Ostens bilden dazu keine Ausnahme. Sie sind nicht qualitativ anders als jene des Westens. Hinduismus, Buddhismus und Islam mögen sich in vielem von Christentum und Judaismus unterscheiden, aber, wie alle Religionen, die alle von Menschen erfunden wurden, um existierende Ordnungen zu rechtfertigen, legen ihre Lehren für Frauen eine untergeordnete Rolle in der Gesellschaft und in der Familie fest. Heute ist der Islam die Vorhut der Konterrevolution gegen die Frauen in Nordafrika und im Nahen Osten. Die Behandlung der Frauen als Eigentum in Afghanistan, wo es noch den Brautpreis gibt, und die Ausrottung des westlichen Einflusses auf die Frauen in der islamischen Republik Iran durch die erzwungene Wiedereinführung des Schleiers und von Gesetzen, die Ehebruch bestrafen, weisen deutlich auf die Bedrohung hin, die der Islam für die Frauen darstellt. Keine Masse antiimperialistischer Rhetorik, keine der Phrasen über den Respekt des Islams für die Frauen kann die Tatsache aus der Welt schaffen , dass sein praktischer Einfluss auf das Leben von Frauen destruktiv ist.

MarxistInnen haben die eindeutige Pflicht, organisierte Religionen zu bekämpfen, während sie zugleich das Recht des einzelnen auf Freiheit des religiösen Glaubens und der religiösen Verehrung respektieren. Wir können Religion nicht einfach nur als private Angelegenheit betrachten. Wir kämpfen mit kämpferischer, materialistischer Propaganda gegen den Einfluss religiöser Ideologie und gegen den Versuch der Kirche, das Privatleben der Leute zu kontrollieren, indem wir für religionsfreie Sexualerziehung, freie Abtreibung und Verhütung für Frauen etc. eintreten. Weiters kämpfen wir für die grundlegende, bürgerlich-demokratische Forderung, Kirche und Staat zu trennen.

12. Die Erfahrung der Frauenunterdrückung ist verschieden in den verschiedenen Klassen. Für Frauen der herrschenden Klasse und für einige Frauen in gehobenen Berufen, stehen heute manche Bereiche des Lebens und der Arbeit, die ihnen früher versagt blieben, wie Managerposten, Zugang zu qualifizierten Ausbildungen usw., offener als in früheren Zeiten. Sie sind auch befähigt, sich gewisse „Freiheiten“ zu erkaufen, indem sie Arbeiterinnen anstellen, die ihre Hausarbeiten machen und ihre Kinder aufziehen. Den Frauen der Superreichen steht es frei, zu Müßiggängerinnen zu werden wie ihre aristokratischen Vorfahren.

Dies heißt jedoch nicht, dass sie als den Männern ihrer Klasse gleichwertig behandelt werden. Ihnen werden noch immer Rechte im Gesetz bezüglich Erbe und Besitz vorenthalten, und ihre Rolle bleibt im wesentlichen die einer untertänigen Frau oder Tochter, dem männlichen Oberhaupt der Familie verpflichtet. In diesem Sinn sind die Frauen der herrschenden Klasse nicht von der Unterdrückung ihres Geschlechtes ausgenommen. Jedoch bleiben sie Teil der nicht-produktiven, herrschenden Klasse und spielen durch ihre Arbeit in Kirchen, Wohlfahrtsgesellschaften oder als Mitglieder der herrschenden oder königlichen Familien (an denen sich die ArbeiterInnenklasse ein Beispiel nehmen sollte), oft eine wichtige Rolle für den Fortbestand der Unterordnung der Frauen.

Den Frauen der gehobenen Schichten des modernen KleinbürgerInnentums hat der verbesserte Zugang zu Bildung, Karriere und Eigentum wesentliche Verbesserungen ihres Lebens erlaubt. Die Verfügbarkeit über bessere Verhütung und sicherere Abreibung gibt ihnen ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit, die sie befähigt, eine Karriere mit sexuellem und privatem Leben zu verbinden, was in früheren Generationen als sich gegenseitig ausschließend angesehen wurde. Zusätzlich können jene Frauen, deren Einkommen es erlaubt, Dienstleistungen anderer Frauen zu kaufen und so ihre Aufgaben in Haushalt und Kinderfürsorge von anderen erledigen zu lassen, jetzt vergesellschaftete Arbeit mit einem Familienleben verbinden. Aber ihre scheinbare Gleichheit hat sie nicht von ihrer Unterdrückung voll emanzipiert. Frauen sind in den gehobenen Berufen noch immer stark unterrepräsentiert, ihre Aufstiegschancen werden durch die Vorurteile der männlichen Bosse erschwert, und ihre Karrieren können gewöhnlich nicht so flexibel gestaltet werden, um sich auch nur kurze Perioden frei zu nehmen, um Kinder zu haben und gleichzeitig Gehalt und Position zu behalten.

Im Haushalt sind diese ‚Mittelschicht‘-Frauen noch immer der Dominanz ihrer Männer und u.U. auch sexueller und physischer Misshandlung unterworfen. Wie bei ihren wirklich bürgerlichen Schwestern, kann jedoch die Erfahrung der Unterdrückung in einem größeren Ausmaß, als dies für die meisten Arbeiterfrauen möglich ist, ausgeglichen werden, da sie sich von vielen Schindereien und sogar gewalttätigen Situationen freikaufen können.

Gänzlich anders ist die Situation der Frauen des traditionellen KleinbürgerInnentums (wie bei Handwerksbetrieben, Bauern und kleinen Familienunternehmen). Selbst innerhalb dieser Schichten gibt es große Unterschiede, aber für viele von ihnen fällt die gesellschaftliche Ausbeutung mit der Geschlechterunterdrückung im persönlichen Verhältnis zwischen Mann und Frau zusammen. Diese Frauen werden so als Beschäftigte im Familienbetrieb direkt ausgebeutet, sie leisten die Reproduktionsarbeit an Mann und Kindern, wobei sich im KleinbürgerInnentum die traditionelle autoritäre Kleinfamilienstruktur am unangetastetsten erhalten hat; eine Situation der mehrfachen Ausbeutung und Unterdrückung, die in einer Reihe von Fällen durch einen im Vergleich zum Durchschnitt der ArbeiterInnenklasse höheren Lohn etwas gemildert wird.

Von Frauen der ArbeiterInnenklasse, und das schließt viele Frauen ein, die sich selbst vielleicht als Teile der ‚Mittelschichten‘ sehen, da ihre Arbeit nicht manuell ist (z.B. Angestellte, Lehrerinnen, Krankenschwestern usw.), wird ihre Unterdrückung anders erfahren. Die Mehrheit muss die Arbeit in Fabrik oder Büro mit der hauptsächlichen Verantwortung für Haushalt und Kinder verbinden. Diese Doppelschicht kann eine sehr harte Arbeit sein, vor allem für die Frauen, die eine Nachtschicht arbeiten und dann den Großteil des Tages daheim Hausarbeiten erledigen und Essen zubereiten.

Die Folgen davon sind ungenügender Schlaf und fehlende Zeit zur Entspannung. Den Frauen der ArbeiterInnenklasse stehen selten geeignete Arrangements für ihre Kinder, die an ihren Bedarf als Arbeiterinnen angepasst sind (wie die Kindermädchen und privaten Kindergärten der bürgerlichen und der in gehobenen Berufen arbeitenden Frauen) zur Verfügung, und ihr niederer Lohn und die mangelnde Arbeitsplatzsicherheit haben zur Folge, dass sie weiterhin wirtschaftlich von ihren Männern abhängig sind.

Offensichtlich erlaubt die Tatsache, dass sie ihren eigenen Lohn verdienen, einer wachsenden Zahl von Frauen eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit, selten jedoch genügend, um einer Frau die Möglichkeit zu geben, ihren Mann zu verlassen, wenn sie es will, und ihre Kinder ohne große finanzielle oder Wohnungsprobleme zu behalten. Das ist umso mehr der Fall bei Frauen, die von staatlichen Zuschüssen abhängig sind, da diese in allen wesentlichen imperialistischen Ländern von der Annahme ausgehen, dass die Familieneinheit aus einem männlichen Haushaltsvorstand mit abhängiger Frau und Kindern besteht. Daher können diese Unterstützungen oft nur von ihren Männern beansprucht werden. Alleinstehende Mütter haben zum Teil große Schwierigkeiten mit Zuschüssen und Unterkunft. So nähern sich die Lebensbedingungen der besserbezahlten und qualifizierten Arbeiterinnen jenen des KleinbürgerInnentums an, und zwar sowohl was Familienstruktur, Ideologie und Rollenvorstellungen, als auch was den Lebensstandard betrifft. Auf der anderen Seite sind im Lumpenproletariat, bei den Langzeitarbeitslosen und den am meisten ausgebeuteten und unterdrücktesten Schichten der ArbeiterInnenklasse Prostitution, Familienzerrüttung, Gewalt und Kriminalisierung die tagtäglichen Merkmale der Frauenunterdrückung.

Die Bäuerinnen, die in der imperialisierten Welt nach Millionen zählen, erleiden eine extreme Unterdrückung. Die Idee, dass eine lateinamerikanische Bäuerin mit den Frauen der herrschenden Klassen der Welt ein grundlegendes gemeinsames Interesse hätte, ist lächerlich. Die von den Bäuerinnen, besonders von den armen, erlittene Unterdrückung ist vielfältig. Im Verlauf ihrer Arbeit wird eine Bäuerin verpflichtet sein, sich um die Pflanzungen, Tiere, die Betreuung des Haushaltes und die Verwaltung des Budgets zu kümmern und die Produkte des Landes, das sie bearbeitet, auf den Markt zu bringen, sie zu verkaufen und die Güter einzuhandeln, die sie und ihre Familie brauchen, um davon zu leben. Man füge zu dieser endlosen Reihe an Hausarbeiten die Funktionen des Kindergebärens und -erziehens, die sie ausfüllt, hinzu, und wir können klar das Ausmaß der Unterdrückung, die von den Bäuerinnen erlitten wird, sehen. die Bäuerin, noch mehr als die BäuerInnenschaft im allgemeinen, ist tatsächlich das Lasttier der Geschichte.

Die Frauen der ArbeiterInnenklasse sind auch der Brutalität der Gewalt und der sexuellen Misshandlung ausgesetzt, sowohl zu Hause, als auch durch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Während sexuelle und physische Misshandlungen in keiner Weise auf sie beschränkt sind, sind sie doch weniger in der Lage, sich durch Ausziehen aus der gemeinsamen Wohnung, Kündigung der Arbeit, Verwendung eines Autos (was ihnen einen gewissen Schutz gegen Angriffe auf der Straße geben würde usw.) o.ä. aus ihrer Situation zu befreien.

Selbstverständlich verwechseln wir nicht (und entschuldigen schon gar nicht!) die gelegentliche Gewalt, die in der Familie durch die Spannungen im Alltagsleben der kapitalistischen Gesellschaft auflodert, mit der systematischen Brutalität mancher Männer gegen manche Frauen. Aber die Brutalität im Hause, wie schrecklich sie auch immer für die betroffenen Individuen sein mag, muss im Zusammenhang erfasst werden. Sie ist nicht ein Ausdruck oder ein Mittel zur Verewigung der „Männermacht“. Sie ist ein Produkt der Frustrationen, die das Alltagsleben im Kapitalismus erbärmlich und nicht lohnend machen. Sie kann nicht mit dem systematischen Gebrauch von Gewalt, insbesonders durch viele Diktaturen in der halbkolonialen Welt, verglichen werden, die sich gegen Frauen und Männer richtet und dazu bestimmt ist, die Macht der halbkolonialen Bourgeoisie und ihrer imperialistischen ZahlmeisterInnen zu bewahren. In diesen Ländern sind es die Diktatoren – und nicht die Ehemänner -, die wirklich systematisch Gewalt gegen Frauen ausüben. Wir überbetonen also nicht die Frage der Gewalt gegen Frauen in den imperialistischen Ländern, wie die Feministinnen mit ihrer Theorie, dass männliche Macht existiert und durchgesetzt wird durch systematische männliche Gewalt.

Es gibt nämlich nichts grundlegend männliches an der Gewalt. So ein Ansatz würde der durch und durch reaktionären Ideologie in die Hände spielen, dass Frauen unvermeidlich schwache und passive Objekte seien. Klassenkämpferinnen auf der ganzen Welt, von Nicaragua während der Revolution gegen Somoza bis zu Großbritannien während des Bergarbeiterstreikes 1984/85, haben gezeigt, dass sie fähig sind, gegen die wirklichen UnterdrückerInnen, nämlich die KapitalistInnen und ihren Staat, körperlich anzukämpfen.

13. Auch die Beziehung zwischen Mann und Frau ist im Proletariat anders als in den anderen Klassen. Die Familie bleibt oft der letzte Hafen für die ArbeiterInnenklasse, da der Kapitalismus unfähig ist, die für Individuen und insbesondere für Abhängige notwendige gesellschaftliche Unterstützung bereit zu stellen. Sie ist auch der Bereich, in dem die Frauen und Männer der Klasse die meiste Geselligkeit, Unterstützung und Liebe finden. Sie wird daher von den Arbeitern und Arbeiterinnen verteidigt. Im Gegensatz zu den Frauen des BürgerInnentums und der ‚Mittelschichten‘, sind es nicht ihre Ehemänner und die Männer der ArbeiterInnenklasse im allgemeinen, die die grundlegende Ursache ihrer Probleme sind. Für die Frauen der herrschenden Klasse ist es ihre eigene Klasse, die Ungleichheit und Unterordnung hervorbringt. Die Männer sind das Hindernis, das ihnen wirkliche Gleichheit versagt.

Doch für Frauen der ArbeiterInnenklasse sind es nicht die Männer ihrer Klasse, die ihre „Feinde“ sind. Es ist das kapitalistische System, und damit auch die Männer und Frauen der herrschenden Klasse, die sowohl die Ausbeutung als auch die Unterdrückung der Frauen der ArbeiterInnenklasse schaffen. Das zeigt sich im gemeinsamen Kampf von Männern und Frauen, wie z.B. dort, wo Frauen in der Gemeinde aktiv eine Unterstützung für den Kampf ihrer Männer aufbauen (die Bergarbeiter der Zinnminen in Bolivien und die der Kohlengruben in England sind hervorragende Beispiele für diese Einheit). Für Männer und Frauen sind es die Bosse, die die wirklichen Feinde sind.

Doch ist es wahr, dass die Arbeiter allgemein besseren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen haben als die Arbeiterinnen. Sie ziehen auch ihren Nutzen aus der Tatsache, dass die Frauen den Großteil der öden Hausarbeit, oft noch zusätzlich zur entlohnten Arbeit, machen. Die Struktur der Familie, die männliche Dominanz in ihr und die überaus sexistische Ideologie, die mithilft, die Situation zu verewigen, führt dazu, dass sich Männer so verhalten, dass sie Frauen direkt unterdrücken. Sie versagen den Frauen die Kontrolle über ihr gemeinsames Familienleben, sie bestimmen, wie viel ihrer Löhne für den „Haushalt“ verwendet wird. In manchen Fällen misshandeln sie ihre und andere Frauen brutal physisch und sexuell.

Diese Spaltung innerhalb der Klasse schwächt ihre kollektive Kraft. Dies hat zu Ereignissen geführt, wo sich männliche Arbeiter organisiert haben, um Frauen vom Zugang zu gewissen Arbeiten, insbesondere zu handwerklichen Fach- und anderen qualifizierten Arbeiten abzuhalten, und wo Männer Streiks der Frauen für gleichen Lohn brachen. Diese Arbeiter sind überzeugt, dass die Arbeiterinnen eine Gefahr für ihren eigenen Lohn und ihre Arbeitsbedingungen sind. Genau deshalb können sie zum reaktionären Hindernis für die Frauen werden. Es gibt daher keinen Zweifel, dass Männer wirkliche materielle Vorteile als Ergebnis der Unterdrückung der Frauen genießen. Diese Vorteile sind jedoch entweder nur Randerscheinungen (der Status als Haushaltsvorstand), vorübergehend (Zugang zu bestimmten Jobs während bestimmter Perioden) oder in einem historischen Maßstab gering (nicht so viel Hausarbeit leisten zu müssen).

Sicherlich muss die Ideologie der männlichen Vorherrschaft, die ‚Macho- Identität‘, die in der Arbeiterklasse weit verbreitet ist und durch die materiellen Privilegien, die die männlichen Arbeiter erhalten und bei Gelegenheit verteidigen, aufrechterhalten wird, durch die revolutionäre Partei und die proletarische Massenfrauenbewegung beständig bekämpft werden.

Männer beuten jedoch Frauen nicht ökonomisch aus. Sie eignen sich nicht die Früchte der Hausarbeit der Frauen an und kontrollieren sie nicht. Und gegenüber den relativen Privilegien, die männliche Arbeiter zu Hause oder bei der Arbeit genießen, sind die Nachteile, denen sie sich als Ergebnis der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen gegenübersehen, ungeheuer. Die Spaltungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse, die als Ergebnis der Unterdrückung der Frauen aufbrachen, schwächen die Klasse als Ganzes und machen sie verwundbar gegenüber den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Angriffen der UnternehmerInnen. Die Möglichkeit des Sturzes des Systems, das sowohl alle ArbeiterInnen ausbeutet und zugleich die Frauen gesellschaftlich unterdrückt, wird durch diese Spaltungen verzögert.

In diesem Sinne sind die männlichen Vorteile nicht entscheidend. Sie bedeuten nicht, dass die Männer einen historischen Anteil an der Unterdrückung der Frauen hätten, ebenso wenig wie die Vorteile, die einige ArbeiterInnen gegenüber anderen genießen, ihnen einen historischen Anteil am Kapitalismus geben würden. Im Gegenteil, die männlichen Arbeiter haben ein historisches Interesse am Sturz des Kapitalismus und daran, dabei die Grundlage für die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen zu zerstören. Sie sind daher die wirklichen strategischen Verbündeten der Frauen der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Tatsächlich ist die ArbeiterInnenklasse geschwächt durch diese Spaltung und daher auch die Fähigkeit, gemeinsam für den Sturz dieses Systems zu kämpfen, das die Ausbeutung und die Unterdrückung verursacht.

Die Errungenschaften, die die Männer der ArbeiterInnenklasse durch die endgültige Befreiung der Frauen aus der Familie erhalten werden – die kollektive Sorge um das Wohlergehen, die Freiheit in den Beziehungen, die sexuelle Befreiung und die ökonomischen Errungenschaften des Sozialismus- all dies bedeutet, dass die Männer der ArbeiterInnenklasse letzten Endes keinen entscheidenden Nutzen ziehen, sondern infolge der Unterdrückung der Frauen leiden. Die von ihnen erfahrenen Vorteile gegenüber Frauen führen leider dazu, dass einzelne Männer und auch Männer kollektiv in den Gewerkschaften und reformistischen Parteien glauben, dass ihrer Situation am besten gedient ist, indem sie weiterhin an der Unterdrückung der Frauen mitwirken.

Imperialismus und Frauenunterdrückung

14. Von Anbeginn an war der Kapitalismus expansionistisch. Er schuf eine kapitalistische Weltwirtschaft auf eine kombinierte und ungleiche Weise. Der Kolonialismus und dann der Imperialismus (vom späten 19.Jahrhundert an) teilten die Welt zwischen den Großmächten auf, um natürliche Ressourcen und Arbeitskraft zu plündern und die beherrschten Gebiete – die Kolonien und Halbkolonien – zum Nutzen des Monopolkapitals auszubeuten. Durch seine Expansion und Beherrschung der Welt zerstörte das imperialistische Kapital zugleich die vorhandenen Wirtschaftsformen und die sozialen Beziehungen der vorkapitalistischen Produktionsweisen der imperialisierten Welt. Es zerschlug die Subsistenzwirtschaft, ruinierte die einheimische Textilindustrie, zerstörte die Systeme von Verpflichtungen und Unterstützung in den BäuerInnendörfern und untergrub die feudale und religiöse Autorität. Aber dort, wo der Kapitalismus „die Chinesische Mauer niederreißt“, reißt er auch die soziale Struktur der alten Gesellschaften einschließlich der Familienstrukturen in Stücke – nicht, um den Fortschritt zu fördern, sondern um die koloniale Versklavung der Völker, die er eroberte, zu erleichtern.

Für die Frauen – wie für die arbeitenden Massen insgesamt – schufen diese Entwicklungen die materiellen Bedingungen für die Befreiung von den oftmals brutal patriarchalischen Familienstrukturen, die vor der Ankunft des imperialistischen Kapitals vorgeherrscht hatten, sie vertieften und verschärften jedoch gleichzeitig die Unterdrückung und Ausbeutung, die die Frauen erlitten. Die Einführung der kapitalistischen Industrie, die Durchdringung der ländlichen Gebiete durch den Kapitalismus, die Lockerung der feudalen Bande führten zur Schaffung der ArbeiterInnenklasse, der einzigen Klasse, die fähig ist, Ausbeutung, Unterdrückung und Klassengesellschaft zusammen zu beenden. In der imperialistischen Epoche wurde für die Masse der bäuerlichen und proletarischen Frauen der Kolonien und Halbkolonien der Weg frei. Die Unterordnung unter das männliche Familienoberhaupt, Aberglaube, Unwissenheit und Versklavung – die Normen des Familienlebens während vieler Jahrhunderte – können ein für allemal abgeschafft werden.

Jedoch gerade weil wir in der Epoche des Imperialismus leben, ist das Potential für einen derartigen Fortschritt blockiert und tatsächlich durch den reaktionären Würgegriff des Imperialismus in einigen Ländern, Gebieten und Sektoren insgesamt verhindert worden. Die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung hat die materiellen Voraussetzungen, aber auch die Hindernisse für die Befreiung der Frauen geschaffen. Nur Revolutionen, die von der ArbeiterInnenklasse geführt und auf die Zerstörung des Kapitalismus insgesamt gerichtet sind, können diese Voraussetzung verwenden und diese Hindernisse zerstören.

15. Die Rolle der Frauen in Produktion und Reproduktion wird von der imperialistischen Ausbeutung beeinflusst. Proletarisierung kann für Millionen Frauen eine endlose Hölle der Wanderarbeit ,der besitzlosen Landarbeit oder der Arbeitslosigkeit und ein Leben im Slum bedeuten. Für die Frauen in entwickelteren Halbkolonien wie Südkorea kann sie Überausbeutung in der Jugend bedeuten, gefolgt von bitterem Elend, sobald ihre Arbeitsfähigkeit als Ergebnis der Jahre, geprägt von langer Arbeitszeit und erbärmlicher Bezahlung (oft schon ab dem Alter von 10 Jahren), versiegt ist. Und für Millionen anderer Frauen führt dieser Prozess unausweichlich zur Prostitution (eine gewaltige Industrie in Ländern wie Thailand) oder dazu, als Dienerin/Hausfrau (de facto als Sklavin) der Männer im Westen exportiert zu werden. (Die „verkäuflichen Bräute“ auf den Philippinen und der Export junger Frauen aus Sri Lanka sind beides ekelerregende Beispiele für diesen Frauenhandel.)

Bäuerinnen verbleiben mit der doppelten Belastung, den Haushalt zu führen und das Land zu bearbeiten. Wo das Land weggenommen wurde oder wo die Klassendifferenzierung auf dem Land die Ärmsten ohne Land lässt, kann den Frauen nichts übrigbleiben, als sich für die Familie durchs Leben zu schlagen – ohne Unterstützung außer der Hoffnung, dass ein wenig Lohn vom Ehemann, der in der Stadt arbeitet, nach Hause geschickt wird. Eheschließungen und traditionelle Familienstrukturen werden zerstört oder in einer Form wiedergeschaffen, die die von den Frauen erlittene Unterdrückung intensiviert. Und proletarische Frauen, die vom Land entkommen sind, finden ihre Einkommen oft von der Notwendigkeit aufgezehrt, die landlose Familie, die sie zurückgelassen haben, zu unterstützen. Sehr oft werden die Frauen jedoch in die produktive Arbeit zu niedrigeren Löhnen als die Männer einbezogen und bleiben oft auf Saisonarbeit beschränkt. All dies steigert das Risiko, dass Prostitution oder Unterwerfung unter die gegenwärtige Sklaverei die einzigen Alternativen zum Verhungern werden.

Für jene Frauen, die auf dem Land geblieben sind, insbesondere in Afrika, führte die Einführung moderner Landwirtschaft, insbesondere der „cash-crops“ (exportorientierte landwirtschaftliche Produkte), dazu, dass die Frauen die Kontrolle über das (matrilinear vererbte) Land und über die Nahrungsmittelproduktion verloren haben, obwohl sie noch immer die meiste Arbeit leisten. Der Zwang, unter diesen Bedingungen weiterhin zu arbeiten, ist die Notwendigkeit, die Subsistenzmittel für junge und alte Angehörige zu produzieren. Frühere Formen der Frauenunterdrückung – Mitgift, Brautpreis, Frauenbeschneidung, Polygamie – wurden vom Imperialismus nicht beseitigt, wenn auch deren soziale Grundlage untergraben sein mag. Millionen Frauen, speziell in Afrika und in einigen islamischen Ländern, erleiden Klitorisbeschneidung und Infibulation (Verschließen des Sexualorgans durch Klammern,..). Zehntausende in Südasien tragen die Last der Arbeit im Haushalt der Familie des Ehemannes.

Die teilweise Zerstörung der traditionellen Strukturen und der Verpflichtungen der Familie kann die Frauen noch schutzloser machen, was zum Beispiel zu solchen Schrecklichkeiten wie der Zunahme an Brautverbrennungen in Indien führt. Und von den Vorteilen, die der Kapitalismus bringt – wie im Erziehungs- und Gesundheitswesen, profitiert in Wirklichkeit nur eine kleine Handvoll der Menschen in der imperialisierten Welt. Die weibliche Alphabetenrate liegt noch immer unter der der Männer. Und trotz medizinischer Fortschritte besitzt die Masse der Frauen in den Halbkolonien keine Kontrolle über ihre eigene Fruchtbarkeit, und in Afrika und Asien stirbt jedes Jahr eine halbe Million Frauen bei der Geburt ihres Kindes.

Unter diesen Bedingungen der Unterdrückung ist es nicht überraschend, dass die Frauen zu Tausenden an den Kämpfen gegen den Imperialismus in den Kolonien und Halbkolonien teilgenommen haben. In Vietnam, Nicaragua, den Philippinen, Angola und Mozambique haben die Frauen in heldenhaften Kämpfen gegen schwerbewaffnete imperialistische – oder vom Imperialismus gestützte – Regimes zu den Waffen gegriffen. Die Interessen der bäuerlichen und proletarischen Frauen wurden immer wieder verraten – entweder von den kleinbürgerlich-nationalistischen Führungen, die, einmal an der Macht, zu einer neuen Übereinkunft mit dem Imperialismus gebracht wurden, oder von den stalinistischen FührerInnen, deren bürokratische Herrschaft viele der schlimmsten Züge des kapitalistischen Familienlebens reproduziert.

In einigen Fällen, wie im Iran, bedeutet die traditionell untergeordnete Rolle, die die Frauen spielten, dass sie nach der Revolution gegen den Schah einer fürchterlichen Konterrevolution seitens der Mullahs unterworfen wurden. In anderen Fällen haben Frauen tatsächliche Errungenschaften gemacht, besonders was die Alphabetisierung, Gesundheitsfürsorge und manchmal sogar demokratische Rechte anbelangt. Ohne den Sturz des Kapitalismus oder der stalinistischen HerrscherInnen der degenerierten ArbeiterInnenstaaten, die aus den antiimperialistischen Kämpfen entstanden sind, werden sich jedoch alle Errungenschaften der Frauen als vorübergehend, eingeschränkt, nach kurzer Zeit wieder rückgängig gemacht erweisen oder durch die andauernde imperialistische Ausbeutung, die Forderungen des Weltwährungsfonds oder die Bedürfnisse der parasitären Bürokratie, die der Planwirtschaft vorsteht, wieder bedeutungslos werden.

Die Bereitwilligkeit der PDPA in Afghanistan, das Alphabetisierungsprogramm für Frauen als Teil ihres Kuhhandels mit den reaktionären islamischen Rebellen zu opfern, ist nur das letzte Beispiel für den Verrat an der Sache der Frauenbefreiung, zu dem der Stalinismus fähig ist. Der kleinbürgerliche Nationalismus hat – und wird – sie auf genau dieselbe Weise verraten. Nur das Programm der Permanenten Revolution, in dem das Erlangen sinnvoller demokratischer Rechte und eine progressiven Lösung der Agrarfrage untrennbar mit dem Erreichen der ArbeiterInnenmacht und des Sozialismus verbunden sind, kann den Frauen die Perspektive auf eine erfolgreiche Beendigung ihres Kampfes gegen die Unterdrückung bringen.

16. Ein Merkmal der frühen kolonialen Periode warn die massenhaften erzwungenen Vertreibungen und Versklavungen von WestafrikanerInnen durch europäische HändlerInnen und amerikanische PlantagenbesitzerInnen. Familien und Gemeinschaften wurden buchstäblich auseinandergerissen. Sowohl die Arbeitskraft als auch die Reproduktionsfähigkeit wurden von den SklavInnenhalterInnen streng kontrolliert und ausgebeutet. Sklavinnen wurde jegliche Wahl ihrer sexuellen und persönlichen Beziehungen verweigert, und sie wurden – als Eigentum ihrer Besitzer – systematisch von ihnen vergewaltigt und misshandelt. Sie waren beinahe gänzlich verantwortlich für das Aufziehen ihrer Kinder, doch hatten sie keine Kontrolle über deren Zukunft. Es ist daher nicht überraschend, dass schwarze Frauen an der Vorderfront des Kampfes gegen die Sklaverei in den USA standen.

Die Sklaverei hat ihre Spuren in den betroffenen Gesellschaften hinterlassen. Im besonderen hat sie zum Wachstum des Rassismus beigetragen und so die Last der Unterdrückung, die schwarze Frauen der ArbeiterInnenklasse in Nord- und Südamerika und Europa erleiden, verdreifacht.

Das vertraglich abgesicherte Arbeitssystem hat nicht so extreme Formen der Unterordnung und Unterdrückung geschaffen, doch zwang auch dieses den Frauen zusätzliche Belastungen auf, da ihnen ohne jegliche Unterstützung die Verantwortung für die Familie bleibt, wenn der Imperialismus die männlichen Arbeitskräfte benötigt.

Die verheerende Auswirkung des Imperialismus auf die Volkswirtschaften und Halbkolonien hat eine weltweite Wanderarbeit geschaffen. Die Frauen in dieser Gruppe leiden unter spezifischen Formen der Diskriminierung und unter einer schrecklichen Last der Unterdrückung in den ‚Gastländern‘. Institutionalisierter Rassismus und allgemeine Formen des Rassismus in Form des Nationalchauvinismus hindern die meisten dieser Frauen an der Nutzung dieser Errungenschaften, die die Frauen in den imperialistischen Kernländern im Rahmen der bürgerlichen Demokratie gewonnen haben. In den meisten Fällen zwingt der Rassismus diese Frauen, sich in die ImmigrantInnenkreise zurückzuziehen. Wo aus kulturellen oder religiösen Gründen patriarchale Ideologie diese Kreise dominiert, können Frauen zusätzlichen Hindernissen gegenüberstehen, die sie daran hindern, ihre vollen demokratischen Rechte einzufordern, an der ArbeiterInnenbewegung teilzunehmen und gegen ihre eigene Unterdrückung zu kämpfen. Sie werden daher unfähig, die Themen der Frauenunterdrückung innerhalb der ArbeiterInnenklasse als Ganzes aufzugreifen. Eine untergeordnete Position der Immigrantinnen verursachen auch die Einwanderungskontrollen, da in diesen die verheirateten Frauen als anhängig von den Männern gesehen werden. Das Gewicht dieser Unterdrückung und Unterordnung macht es auch doppelt schwer für diese Frauen, die Unterdrückung in ihren eigenen Kreisen und Familien zu bekämpfen.

Eine andere Folge der Einwanderungskontrollen in den imperialistischen Ländern ist, dass sie tausende Frauen von ihren Partnern trennt und daher weder das Ursprungsland noch das Land, wo der Mann beschäftigt ist, die Verantwortung für deren Wohlfahrt übernimmt.

Das Gewicht ihrer Unterdrückung zusammen mit dem Rassismus innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und das Versagen der existierenden Frauenbewegungen, konsequent für die Interessen schwarzer Frauen zu kämpfen, schaffen die Bedingung für wachsende Unterstützung für die Strategien, die von SeparatistInnen und schwarzen NationalistInnen vorgeschlagen werden.

Dennoch haben schwarze Frauen immer wieder die Führung in Kämpfen für gewerkschaftliche Organisierung, Sozialleistungen und gegen Rassismus übernommen. Dies zeigt das Potential schwarzer und anderer immigrierter Frauen, für eine Klassenlösung ihrer eigenen, spezifischen Unterdrückung zu kämpfen.

Stalinismus und Frauenunterdrückung

17. In der Sowjetunion bleiben die Frauen weiterhin unterdrückt, auch wenn sie ein ArbeiterInnenstaat, der auf nachkapitalistischen Eigentumsverhältnissen beruht, ist. Der zentrale Wesenszug der Frauenunterdrückung – die Existenz einer gesonderten Sphäre der Hausarbeit innerhalb der Familie, für die die Frauen weitgehend verantwortlich sind – gilt in diesem degenerierten ArbeiterInnenstaat weiterhin genauso wie in den imperialistischen Kernländern. Dies ist nicht das Ergebnis irgendeiner „natürlichen“ Grundlage für die Frauenunterdrückung, die von der Klassengesellschaft verschieden wäre. Sondern es reflektiert eher die Art und Weise, wie die Sowjetunion von der gesunden nachrevolutionären Periode hin zu ihrer gegenwärtigen stagnierenden Verfassung entartete.

Die bolschewistische Revolution des Oktobers 1917 verfügte als Schlüsselstelle ihres Programms die Verpflichtung zur vollständigen Befreiung der Frauen. Unmittelbar nach der Machtergreifung wurden gesetzliche Veränderungen durchgeführt, die weiter gingen als in jeder bürgerlichen „Demokratie“ jemals zuvor oder seither – bei der Abschaffung der Ungleichheiten der Frauen auf der Ebene der politischen, gesetzlichen oder bürgerlichen Rechte. Ab Dezember 1917 wurde die zivile Registration der Eheschließung und eine einfache, freie Scheidung gewährt; die Abtreibung wurde 1920 legalisiert und in den sowjetischen Spitälern frei zugänglich gemacht. Zusätzlich versuchten die Bolschewiki, die grundlegenden Charakterzüge der Frauenunterdrückung im Haushalt zu entfernen. Für die Vergesellschaftung der Kindererziehung, gemeinsame Essensausgaben, Wäschereien etc. und die Ermutigung zu Wohnkommunen wurden Pläne erstellt.

Zusätzlich dazu wurde eine große und aktive Frauenabteilung (der „Zhenotdel“) aufgebaut, die Millionen von Arbeiterinnen und Bäuerinnen in die Diskussionen, Entscheidungen und in die praktische Arbeit, das Programm der Befreiung auszuführen, einbezog. Diese Pläne wurden jedoch niemals in ernsthaftem Umfang verwirklicht, da die Verwüstungen des Bürgerkrieges und der Hungersnot das junge Regime unter einen ungeheuren wirtschaftlichen Druck brachten. Gemeinschaftskantinen wurden im Bürgerkrieg eingerichtet, aber nicht mittels irgendwelcher großer Pläne zur Vergesellschaftung und Verbesserung des Lebens, sondern eher, um die spärliche Nahrungsmittelversorgung effizienter zu gestalten. Nach dem Krieg wurde die Periode der „Neuen Ökonomischen Politik“ eingeführt, als deren Auswirkung eine Massenarbeitslosigkeit, unter der die Frauen am meisten litten, entstand.

Um die Mitte der 1930er Jahre hatte das Regime alle Überreste des bolschewistischen Programms für die Vergesellschaftung der Hausarbeit aufgegeben. Mit dem Wachstum der Bürokratie inmitten des Mangels – verstärkt durch die ersten Fünfjahrespläne – wurden die schlecht ausgerüsteten und schlecht mit Personal besetzten Einrichtungen für Kinderaufsicht, Verpflegung und Waschen weiter einschränkt und die Betonung wieder einmal auf die privaten Haushaltsmethoden gelegt.

Für die bürokratische Schicht wurden auch Hausdiener und -dienerinnen üblich. Eine intensive, heuchlerische Kampagne für den Aufbau der „neuen Familie“ versuchte die Rückkehr zu häuslicher Sklaverei als programmatisches Ziel zu legitimieren. Ansprüche, dass die „sozialistische Familie“ auf Liebe allein aufbaue, wurden mit der Einführung von Beschränkungen für Liebe und Scheidung in den Dreck gezogen.

Wie es Trotzki aufzeigte, lief tatsächlich die ganze Logik des Stalinismus darauf hinaus, die Häufigkeit von „Geldheiraten“ als Mittel, Zugang zu Privilegien oder spärlichen Ressourcen zu bekommen, zu erhöhen. Das Versagen des Stalinismus, den Bedürfnissen der Frauenmassen nach Verhütung und Abtreibung zu entsprechen, führte zu einer wachsenden Zahl der „Engelmacherinnen“ und zu einem Anstieg der Todesfälle durch mangelnde Hygiene bei Abtreibungen. Die Antwort darauf war, die Abtreibung 1936 überhaupt zu illegalisieren, anstatt geeignete Einrichtungen bereitzustellen. Erst nach 1955, inmitten einer Epidemie von Abtreibungsopfern, wurde das Gesetz reformiert.

Der Mangelcharakter der Sowjetwirtschaft brachte mit sich, dass viele der Haushaltsgeräte, die in vielen imperialistischen Ländern die für Hausarbeit und Essenszubereitung nötige Zeit reduziert haben, für sowjetische Frauen nicht verfügbar sind. Dies, zusammen mit häufigen Engpässen an Nahrungsmitteln, kann die Erfahrung der Doppelbelastung für sowjetische Frauen noch drückender machen als für viele Frauen in den imperialistischen Ländern. Die Auswirkung dieses Verrats der bolschewistischen Revolution diskreditierte den Sozialismus in den Augen der ArbeiterInnenklasse der Welt – und insbesondere jener Arbeiterinnen, die sehen, dass diese „kommunistische“ Gesellschaft für sie dasselbe bedeutet wie die Unterdrückung innerhalb des kapitalistischen Systems.

Die jüngsten „Reformen“ unter Gorbatschow, die weit davon entfernt sind, ein erneuter Versuch zu sein, die Hausarbeit zu vergesellschaften und die Frauen von häuslicher Plackerei zu befreien, wurden teilweise auf der Grundlage befürwortet, dass die Rolle der Familie als gesellschaftliche Einheit noch zu stärken wäre; und auf die sowjetischen Frauen wird zunehmend Druck ausgeübt, dass sie ihre Arbeit aufgeben sollten. Die Bürokratie hat argumentiert, dass es die „Entweiblichung“ der Frauen durch ihre extensive Rolle bei der Fabrikarbeit etc. wäre, die zumindest teilweise für viele der „Krankheiten“ des Gesellschaftssystems verantwortlich sei. Diese reaktionäre Ideologie bildet den Hintergrund für Berichte über die erschütternden Bedingungen, denen sich Arbeiterinnen gegenübersehen, wobei damit vorgegeben wird, im Interesse der Frauen zu handeln, wenn sie zum Zuhausebleiben ermuntert werden.

18. Auch wenn die herrschenden Bürokratien der degenerierten Arbeiterstaaten der Welt ein lebendiges Interesse gezeigt haben und zeigen, die tatsächliche Emanzipation der Frau zu verhindern, und ihren reaktionären Charakter gerade im Schutz der Familie und der Aufrechterhaltung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beweisen, sind die gewaltigen Fortschritte in diesen Gesellschaften (verglichen mit der vorrevolutionären Periode und der heutigen imperialistischen Welt) nicht zu leugnen. In China und Kuba wurden Frauen zum Beispiel gesetzliche Rechte gewährt und eine verbesserte Gesundheitsfürsorge und bessere Sozialleistungen bereitgestellt. Extreme Formen barbarischer Unterdrückung, wie der Handel mit Frauen und Mädchen in China, wurden durch den Staat illegalisiert.

Nichtsdestotrotz bleiben die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. eine Domäne der Männer. Gerade dies zeigt, dass die Einbeziehung der Frau in die öffentliche Produktion zwar die Grundvoraussetzung zu ihrer Befreiung ist, dies allein aber nicht ausreicht. Angesichts der von der Bürokratie verursachten Misswirtschaft geraten die Errungenschaften der Frauen auch wieder in Gefahr, da sie nicht wirklich politisch abgesichert sind.

In den degenerierten ArbeiterInnenstaaten blieb die Rolle der Frauen weiterhin die, dem Staat und der Gesellschaft durch Hausarbeit, kombiniert mit anderer Arbeit, falls für das Regime notwendig, zu dienen. Die Rolle der Kirche in Polen zum Beispiel wurde niemals von den stalinistischen Bürokratien wirksam angegriffen und ist weiterhin vorherrschend bei der ideologischen und sexuellen Unterdrückung der Frauen.

Frauenbefreiung und Sozialismus

19. Damit die Frauen die vollständige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichheit mit den Männern erreichen, muss die gesellschaftliche und wirtschaftliche Basis ihrer Unterdrückung zerstört werden. Die Existenz der Familie als eine privatisierte Sphäre der Arbeit muss beendet werden. Dies kann nur durch die völlige Vergesellschaftung von Kindererziehung und Hausarbeit erreicht werden. Deshalb lehnen wir die Idealisierung der ‚proletarischen Familie‘ durch den Stalinismus ab, der in Wirklichkeit eine Kopie der bürgerlichen Familie ist, in der die privatisierte Hausarbeit – in diesem Fall im Interesse der Bürokratie – erhalten bleibt. Die Aufgaben, das für Reproduktion notwendige Essen, Unterkunft und Annehmlichkeiten bereitzustellen, müssen von der Gesellschaft kollektiv übernommen werden, um so die individuelle Verantwortung jeder einzelnen Familie, damit zurechtzukommen, zu beenden. Nur wenn die Frauen von dieser häuslichen Sklaverei erlöst sind, können sie voll und gleichwertig neben den Männern in die vergesellschaftete Produktion einbezogen werden.

Diese Vergesellschaftung jedoch wird nur dann einen tatsächlich sozialistischen Charakter tragen, wenn sie von der Zerstörung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung (und der entsprechenden Rollenbilder) auch in der sozialisierten Produktion begleitet wird. Historisches Subjekt für diese spezielle Umwälzung, die gezielte Aufhebung der bürgerlichen Familie und die Überwindung der geschlechtsspezifischen Zwänge, sind nicht nur die Frauen, obwohl sie der vorwärtstreibendste Teil der Arbeiterklasse in dieser Angelegenheit sein werden.

Sicher werden Frauen als undifferenzierte Masse in diesem Kampf nicht einheitlich agieren, um die männliche Dominanz und die bürgerliche Familie zu zerstören. Das Gegenteil zu glauben würde bedeuten, der spontaneistischen Idee zu verfallen, dass die Tatsache der Unterdrückung automatisch eine einheitliche Form des Widerstandes unter den Unterdrückten schaffe. Wie in jedem anderen Kampf wird hier die Avantgarde eine entscheidende Rolle spielen. Die revolutionäre Partei selbst, und im wesentlichen die weiblichen Mitglieder der Partei, werden an der Vorderfront dieses Kampfes sein. Kommunistische Frauen werden die fortschrittlichsten Schichten der ArbeiterInnenklasse, einschließlich derjenigen KlassenkämpferInnen, die nicht Parteimitglieder sind, und insbesondere Frauen organisieren, um den Sexismus zu bekämpfen, für Gleichheit zu kämpfen und die ganze Masse der ArbeiterInnen zu mobilisieren, um ihre Rolle als historisches Subjekt der sozialistischen Umwandlung und der Frauenemanzipation zu spielen.

Diese Aufgaben sind nicht vom Sturz des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln zu trennen. Dann, und nur dann erst, wird es möglich sein, auf der Grundlage einer Planwirtschaft systematisch alle Aspekte der Frauenunterdrückung – gesetzliche, wirtschaftlich, gesellschaftliche und politische – auszumerzen. Um diesen Prozess einzuleiten, ist die Übernahme der Staatsmacht durch die ArbeiterInnenklasse, bewaffnet und organisiert in ArbeiterInnenräten und ArbeiterInnenmilizen, und die Unterdrückung des Widerstandes der AusbeuterInnen notwendig.

Die Unterordnung der Frauen und der zentrale Platz der Familie im Alltagsleben waren die Wesenszüge aller früheren Klassengesellschaften. Die wirkliche Befreiung der Frauen und Kinder von ihrer Unterdrückung, ebenso wie die Änderung der Lebensweise aller im Sozialismus, wird einen langen und schwierigen Kampf gegen die Ideen und Normen der Vergangenheit erfordern. Die Umwandlung der Persönlichkeit, der Psyche, was für die Leute notwendig sein wird, um kollektiv und kooperativ zu leben, wird Generationen brauchen, bis sie vollkommen erreicht sein wird. Die tiefen psychischen Wunden, die das Aufwachsen und Arbeiten in einer Gesellschaft bedeuten, die auf Profit, Gier und Kampf gründet, werden nicht über Nacht verschwinden. Ein bewusster Kampf für eine Veränderung wird viele Jahre hindurch erforderlich sein. Aber mit der materiellen Basis für Kollektivität, ermöglicht durch die Schaffung eines ArbeiterInnenstaates, Planung nach Bedürfnis und nicht nach Profit, die Zerstörung der Einzelhaft des Privathaushaltes, wird der „Kampf“ für eine neue Psyche, für ein neues, menschliches Wesen und wirklich befreite sexuelle Beziehungen möglich sein.

1848 erhoben Marx und Engels die Forderung nach Abschaffung der bürgerlichen Familie. In Russland nach dem Oktober 1917 wurde jedoch klar, dass die durch den Kapitalismus aufgebauten Familienbeziehungen nicht mit einem Schlag abgeschafft werden konnten. Der ArbeiterInnenstaat schuf die wirtschaftliche Grundlage, auf der die Hausarbeit vergesellschaftet werden konnte (auch wenn der Stalinismus die Verwirklichung der Errungenschaft – wie in so vielen anderen Fällen – vereitelt hat).

Durch die Vergesellschaftung vieler Aspekte der Hausarbeit schafft der ArbeiterInnenstaat die bürgerliche Familie nicht ab, aber stellt die Mittel bereit, durch die sich die Frauen vom familiären Gefängnis und von der privatisierten Arbeit lösen können.

In dem Ausmaß, als dieser Prozess der Vergesellschaftung (durch gemeinsame Kinderbetreuung, Wasch- und Essenseinrichtungen) erfolgreich ist, wird die Grundlage der „alten“, vom Kapitalismus geerbten Familie ausgelöscht. In diesem Sinn wird die „alte“ Familie, wie der Staat selbst, mit dem Fortschritt in Richtung Kommunismus absterben. Ebenso wenig jedoch, wie wir uns dazu verleiten lassen, das Wesen der Geschlechterbeziehungen im Kommunismus auf eine utopische Weise vorauszusagen, werden wir uns dazu verleiten lassen, ein Bild dessen zu malen, wie die „Familie“ im Kommunismus aussehen wird.

Die bürgerliche Familie wird verschwinden. Was sie ersetzen wird, ist etwas, das die Menschen der Zukunft entscheiden werden, frei von materiellen und ideologischen Fesseln, die die Familienbeziehungen im Kapitalismus charakterisieren (und quälen). So werden die Bedingungen für eine wirkliche sexuelle Befreiung, bei der die Menschen frei ihre Sexualität bestimmen, geschaffen werden.

20. Die Rolle der Frauen beim Sturz des Kapitalismus und beim Aufbau des Sozialismus ist wesentlich. Als Teil der ArbeiterInnenklasse müssen die Frauen in den Kampf um die Macht einbezogen sein. Frauen in der ganzen Welt haben ihre Fähigkeit zum Kampf entschlossen gezeigt. Tatsächlich ist es oft der Fall, dass Arbeiterinnen, angesichts der schweren Probleme, die Familie zu führen und zu arbeiten, eine explosive Kraft im Klassenkampf darstellen (zum Beispiel in Russland im Februar 1917). Mehr noch, da Frauen oft unorganisiert oder erst frisch organisiert sind, können sie eine Zeitlang eine explosive Kampfbereitschaft mit der Freiheit von bürokratischer Herrschaft und Regeln, die die „normale“ Gewerkschaftsroutine charakterisieren, verbinden. Gerade aufgrund der mit der Hausarbeit und Kindererziehung verbundenen Belastungen und Aufgaben spielen eigenständige Organe der Frauen, wie (Haus- )Frauenkomitees zur Preiskontrolle und Nahrungsmittelverteilung, in vor- und revolutionären Perioden als Teile einer proletarischen Frauenbewegung eine entscheidende Rolle für die Errichtung von Organen der ArbeiterInnenmacht. Ein Versagen dabei, die Arbeiterinnen wirklich für den Kampf zu gewinnen, kann sie zur Beute der Argumente der herrschenden Klasse werden lassen und sie als eine rückständige Kraft innerhalb der ArbeiterInnenklasse wirken lassen. Als diejenigen, die am direktesten in die Kinderbetreuung, die Versorgung mit Alltagsbedürfnissen und die grundlegendsten „Haushaltsverrichtungen“ involviert sind, werden die Erfahrung und der Beitrag der Frauen lebensnotwendig bei der Planung einer gesellschaftlichen Vorsorge für diese Aufgaben sein.

Die Arbeiterinnen sind zentral im Kampf für die Emanzipation sowohl der ArbeiterInnenklasse als auch der Frauen – sie sind die am meisten unterdrückte Sektion ihres Geschlechtes. Unter den Frauen haben sie das radikalste Interesse am Sturz ihrer Unterdrückung im Kapitalismus. Die Erlangung gleicher Rechte und Möglichkeiten oder utopische Schemata für individuelle sexuelle und psychische Befreiung werden nicht die grundlegenden Bedürfnisse der proletarischen Frauen befriedigen. Und innerhalb der ArbeiterInnenklasse haben sie keine aristokratischen Privilegien (und einen vergleichsweise geringeren Status an beruflicher Qualifikation) und keine hohen Löhne, die sie mit dem Kapitalismus versöhnen könnten.

Jedoch nur allzu oft werden die am besten organisierten Arbeiterinnen von reformistischen GewerkschaftsführerInnen, die ihrerseits Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen haben, in die Irre geführt. Dies und zusätzlich noch die traditionelle Rückständigkeit vieler Frauen aufgrund ihrer Isolation daheim, als Beute der Ideen der Massenmedien und der Kirche, zeigen auf, dass intensive Unterdrückung und Ausbeutung für sich allein nicht ausreichend sind, um Frauen an die Führung des Befreiungskampfes zu bringen. Dies gilt auch in den Halbkolonien, wo die Unterdrückung der Arbeiterinnen und Bäuerinnen sogar noch schärfer ist als in den imperialistischen Ländern.

Die ArbeiterInnenklasse ist die erste ausgebeutete Klasse, die imstande ist, jegliche Ausbeutung zu beenden. Nicht einfach deswegen, weil sie die am meisten ausgebeutete und unterdrückte Klasse ist, sondern weil der Kapitalismus selbst sie im Zentrum der gesellschaftlichen Produktion organisierte und sie damit befähigte, sich ihrer selbst als Klasse bewusst zu werden, sich gegen die KapitalistInnen zu organisieren, sie zu stürzen und die Produktion zu reorganisieren. Die Frauen bilden einen Teil der ArbeiterInnenklasse mit genau diesem Potential. Obwohl der Kapitalismus niemals imstande war, alle proletarischen Frauen in die Produktion einzubeziehen, stellen die Frauen einen zentralen Bestandteil der menschlichen Arbeitskraft dar, und es sind gerade die in Lohnarbeit stehenden Frauen, die – teilweise von den verdummenden Auswirkungen der häuslichen Isolation erlöst – als Avantgarde aller proletarischen Frauen handeln kann.

Feminismus

21. Der Begriff „Feminismus“ beschreibt die Ideen und die Praxis sowohl der modernen Frauenbefreiungsbewegung (der 1960er und 1970er Jahre) als auch der liberalen Frauenrechtlerinnen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Grundlegend für die Anhängerinnen dieser Bewegungen ist die Idee, dass der Kampf um die Rechte der Frauen vom Kampf gegen andere Ungleichheiten, gegen Ausbeutung und Unterdrückung unterschieden werden kann. Das heißt, dass es eine getrennte Frauenfrage gibt, die alle Frauen ohne Ansehen ihrer Klasse gleich betrifft und die von allen Frauen gelöst werden kann, indem sie gemeinsam, ohne Ansehen ihrer Klasse, handeln. Diese Auffassung einer besonderen Frauenfrage, getrennt vom Klassenkampf, ist der vereinigende Wesenszug aller Spielarten des Feminismus.

MarxistInnen glauben jedoch, dass die Ursprünge, die Fortdauer und die genauen Formen der Frauenunterdrückung untrennbar mit der Klassengesellschaft verbunden sind. Da Klassengesellschaft und Frauenunterdrückung wechselseitig voneinander abhängen, kann es keine gesonderte „Frauenfrage“ und daher auch keine verschiedene Ebene des Kampfes geben.

Das Wesen des Feminismus, wenn er auch aufgrund von konkurrierenden Theorien und seiner Praxis von Spaltungen zerrissen sein mag, besteht darin, dass diejenigen Themen, die sich auf Frauen beziehen, auf eine gesonderte Ebene gehoben werden. Das bedeutet nicht, dass alle Feministinnen die Themen, die Klassenausbeutung und imperialistische Unterdrückung betreffen, zurückweisen, aber ihre Theorien – und noch wesentlicher, ihr Befreiungsprogramm – verbinden nicht die verschiedenen Kämpfe in einer zusammenhängenden Weise. Der Feminismus ist daher unfähig, eine revolutionäre Herausforderung gegenüber der Frauenunterdrückung zu bilden. Bei dem Versuch, eine Strategie für die Gleichheit oder Befreiung der Frauen ohne eine Strategie für die ArbeiterInnenmacht zu liefern, verbleibt der Feminismus eine utopische Ideologie.

22. Die bürgerlich-demokratischen Revolutionen riefen bei Teilen der liberalen Bourgeoisie und der Intellektuellen Erwartungen auf eine wirkliche Gleichheit hervor. Dies wurde auf die Rechte der Frauen erweitert und bildete den Antrieb für die bürgerliche Frauenbewegung. Das erste beeindruckende Beispiel lieferten die ersten Frauenrechtlerinnen unter Olympe de Gouges, die auf dem Höhepunkt der französischen Revolution die völlige juridische und politische Gleichstellung aller Frauen forderte und deswegen von der JakobinerInnendiktatur aufs Schafott geschickt wurde.

In den 1930er und 1940er Jahren des vorigen Jahrhunderts verband sich diese unterdrückte Tradition einer radikal-demokratischen Frauenbewegung mit dem utopischen Sozialismus der entstehenden ArbeiterInnenbewegung, wie im Falle von Flora Tristan mit ihren saint-simonistischen Mitkämpferinnen. Die bürgerliche Frauenbewegung erreichte in den 1980er und 1990er Jahren v.a. in Britannien, den USA, Australien und Neuseeland Masseneinfluss, um das Wahlrecht durchzusetzen. Trotz der von den Suffragetten bewiesenen Hartnäckigkeit und Militanz, die eine starke Repression des bürgerlichen Staates hervorrief, und trotz Schrittweiser Verbesserungen und Wahlrechtsreformen um die Jahrhundertwende, versagte die bürgerliche Frauenbewegung aufgrund ihrer bürgerlich-demokratischen Beschränkungen. Obwohl ein historisch progressiver Forderungskatalog, gab es einen Widerspruch zwischen den Klasseninteressen dieser Frauen und ihren Aspirationen nach Geschlechtergleichheit, die im Kapitalismus nicht vollständig ereicht werden konnte. Für einfache Forderungen nach gleichen Rechten – Frauenwahlrecht, Zugang zu Bildung und Beruf, Besitz- und Scheidungsrechte – wurde oft militant gefochten, aber solange sie von bürgerlichen Frauen vorgebracht wurden, konnten sie niemals über ein Reformprogramm hinausgehen.

Ein derartiges Programm griff unvermeidlich darin zu kurz, die wirklichen Wurzeln der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen, nämlich die kapitalistische Gesellschaft selbst, zu erfassen. Insofern war es in keiner Weise ein Programm für die Emanzipation der Frauen. Ihr beschworenes Ziel erweiterter Rechte für alle Frauen würde das kapitalistische System, aus dem sie ihre Klassenprivilegien gewannen, destabilisieren, auch wenn diese Vorteile geringer waren als die ihrer männlichen Gegenspieler. Dieser Widerspruch führte dazu, dass die bürgerliche Frauenbewegung sich an zentralen Punkten spaltete.

So wurden zum Beispiel bei Ausbruch des ersten Weltkrieges einige wenige Frauen, wie Sylvia Pankhurst, für die Seite der ArbeiterInnenklasse gewonnen, während andere, einschließlich Emmilene und Christabel Pankhurst, zeigten, dass ihre Klasseninteressen überwogen und sie zur Unterstützung ihres „Vaterlandes“ brachten, indem sie ihre feministischen Forderungen zugunsten der Fortdauer des imperialistischen Krieges fallen ließen. Sie waren bereit, das Wahlrecht für die Masse der Frauen im Austausch für Almosen seitens der KapitalistInnen zu opfern, die den kleinbürgerlichen und bürgerlichen Frauen politische Rechte auf der Grundlage von Besitz- und Eigentumsgrößen gewährten.

Die Gefahr des bürgerlichen Feminismus für die ArbeiterInnenklasse bestand in seinem Versuch, alle Frauen in seine Reihen beim Kampf um gleiche Rechte einzugliedern. Bei Wahlrechtsgesellschaften bedeutete diese oft, dass Arbeiterinnen als Unterstützerinnen für die Wahlrechtskampagnen für Frauen mit Eigentum benutzt wurden. Diese Verbindung von Arbeiterinnen mit der bürgerlichen Frauenbewegung ist eine Form der Klassenkollaboration, die die Unabhängigkeit der Arbeiterinnen, die für ihre eigenen Rechte kämpften, untergräbt. Sozialistische Frauenbewegungen standen immer in scharfer Opposition zu den Versuchen bürgerlicher Frauen, ihre proletarischen „Schwestern“ für deren eigene Ziele zu gebrauchen.

Zusätzlich zu den Gefahren der Klassenkollaboration wurden Forderungen der bürgerlichen Feministinnen in einigen Fällen dazu benutzt, um die ArbeiterInnenklasse anzugreifen. Insbesondere in den USA wurde die Forderung nach gleichem Wahlrecht für weiße Frauen von den führenden Feministinnen auf der Basis begründet, dass schwarze Männer kein Stimmrecht haben sollten, wenn die weißen Töchter der Bourgeoisie auch über keines verfügten. Ihr Rassismus und die Unterstützung, die viele Führerinnen der Fortdauer der Sklaverei gegeben hatten, machten sie zu klaren Feinden der ArbeiterInnenklasse.

Mehr noch, in historisch entscheidenden Situationen spaltete sich die bürgerliche Frauenbewegung oder ging insgesamt, wie im Fall der deutschen Frauenbewegung, zur Vaterlandsverteidigung über. Schlimmer noch, der bürgerlichen Frauenbewegung war von Anfang an der Charakterzug eigen, dass sie selbst eine feministische Form der Klassenkollaboration darstellte, was führende Frauenrechtlerinnen dazu brachte, zwar das Wahlrecht für Frauen der besitzenden Klassen, aber nicht das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle zu fordern. Dem bourgeoisen Paternalismus einzelner UnternehmerInnen wurde ein feministisches Programm von Sozialreform und Bevormundung der Frauen der ‚armen und ungebildeten‘ Klassen entgegengesetzt. Mit der Erreichung des Frauenwahlrechtes und sonstiger rechtlicher Angleichung der Stellung der Frau in den imperialistischen Ländern verschwand die bürgerliche Frauenbewegung von der politischen Szenerie, wobei der rechteste Flügel in Deutschland im Nationalsozialismus aufging.

23. Die zweite Hauptphase des Feminismus tauchte in den späten 1960er Jahren auf und bildete die Frauenbefreiungsbewegungen in den USA und in Westeuropa, die bis in die 1970er Jahre andauerten. Die Bewegungen traten als Ergebnis der dramatischen Veränderungen der materiellen Bedingungen der Frauen, die seit dem zweiten Weltkrieg stattgefunden hatten, auf. Die Ausweitung der Ausbildung und steigende Berufsmöglichkeiten für Frauen in dem langen Nachkriegsboom brachten eine große Anzahl von Frauen zu höherer Bildung und Angestellten- oder BeamtInnenberufen. Verbesserte Verhütungsmethoden und Abtreibungsmöglichkeiten neben dieser Ausweitung der Berufschancen führten zu gestiegenen Erwartungen vieler dieser Frauen nach gleichen Rechten. Die klare Diskriminierung von Frauen in Ausbildung und Beruf und die soziale Isolation, auf die sie trafen, wenn sie den Beruf aufgaben, um sich um die junge Familie zu kümmern, waren ein Ansporn, um ihre Unterdrückung zu bekämpfen.

Die Kampfbereitschaft der ArbeiterInnenklasse, besonders im Mai ’68, und die Radikalisierung der StudentInnen und Jugendlichen während der Bürgerrechtskampagnen und der Anti-Kriegs-Bewegung in den USA, die Vietnam-Solidaritätskampagnen in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa wirkten als Ansporn für die Mobilisierungen der Frauen. Arbeiterinnen griffen ihre eigenen Forderungen für gleichen Lohn und verbesserte Arbeitsbedingungen, gewerkschaftliche Rechte etc. auf, und die Frauen in den radikalen Bewegungen und innerhalb der Organisationen der alten und neuen Linken rebellierten zuerst gegen den Sexismus ihrer männlichen „Genossen“ und griffen später ihre eigenen Forderungen nach Gleichheit und Befreiung auf. Die Frauenbefreiungsbewegung, die in dieser Periode wuchs, war, ungleich der ersten Phase des Feminismus, in politischer Hinsicht ihrem Charakter nach kleinbürgerlich. Dies resultiert aus seiner Massenbasis unter den Frauen der Intelligenz, der oberen Sektionen des Proletariats und der StudentInnen.

Gebrochen widerspiegelte die Zusammensetzung der Bewegungen die politische Tradition und die aktuelle Stärke der ArbeiterInnenbewegung des jeweiligen Landes ebenso, wie die Intensität der Klassenkämpfe Richtung und Inhalte ihrer Entwicklung beeinflusste. In den USA, wo die Frauenbefreiungsbewegung zuerst heranwuchs, gab es ein starkes bürgerliches Element um die „National Organisation of Women“ (NOW), die in Zusammensetzung, Zielen und Methoden den frühen bürgerlichen Feministinnen ähnlich war. In den Teilen Europas, wo es stärker organisierte ArbeiterInnenbewegungen gab, identifizierten sich wichtige Teile der Frauenbefreiungsbewegung mit der Bewegung der ArbeiterInnenklasse.

Den größten Einfluss auf die frühe Frauenbefreiungsbewegung hatten radikale Feministinnen in den USA, wie die „Red Stockings“ (Rotstrümpfe) in New York. Diese Gruppen – in den USA und in Westeuropa – waren radikal und militant und machten auf die Medien und die ArbeiterInnenbewegung, die für eine so lange Zeit die Frage der Frauenunterdrückung ignoriert hatten, einen bedeutenden Eindruck. Zusammen mit dem Druck organisierter Arbeiterinnen für gleichen Lohn, Kinderbetreuung etc. kann es keinen Zweifel geben, dass die frühe Frauenbefreiungsbewegung einen wichtigen Beitrag dazu leistete, die Frage der Frauenbefreiung aufs Tapet zu bringen. Gerade angesichts des vorherrschenden Sexismus in der ArbeiterInnenbewegung bedeutete die Organisierung und Mobilisierung der Frauen einen begrenzten Fortschritt. Jedoch so, wie sie auf einer falschen Ideologie, dem Feminismus, basierten, waren sie unfähig, grundsätzliche Veränderungen in der Gesellschaft zu erzielen.

Da die Fähigkeit der UnternehmerInnen, den Frauen begrenzte Reformen zuzugestehen, von den Wirtschaftsgewinnen abhing, zwang das Ende des Nachkriegsbooms und der Beginn der Rezession die fortschrittlichsten Teile der Frauenbewegung zu der Erkenntnis, dass sie nicht einfach Vorurteile bekämpfen müssten, sondern das gesamte Wesen der kapitalistischen Gesellschaft. Versuche, eine Theorie und ein Programm zu entwickeln, um mit derartig grundlegenden Fragen fertig zu werden, führten zu größeren Brüchen und Spaltungen innerhalb der Bewegung.

Der Feminismus in dem 1980er Jahren hat seine Ursprünge in diesen frühen Spaltungen, vor allem von radikalem und sozialistischem Feminismus, aber zunehmend tauchte auch eine Tendenz des liberalen Feminismus auf.

24. Der Radikalfeminismus tauchte als eine eigene und einflussreiche Kraft auf, als die Frauenbefreiungsbewegung selbst an die Grenzen ihres eigenen Programms und ihrer Organisation stieß. Er fußte auf den Versuchen einer theoretischen Definition der Frauen als eine eigene unterdrückte und ausgebeutete Kaste oder Klasse, die sich getrennt in Opposition zu ihrem Klassenfeind – den Männern – organisieren sollte. Dies ist eine bewusst antimarxistische Herangehensweise, die männliche Arbeiter als Feinde und bürgerliche Frauen als Verbündete im Kampf für die Frauenbefreiung identifiziert. Es gibt verschiedene theoretische Stränge des Radikalfeminismus, sie sind jedoch durch ein Konzept des Patriarchats als das zugrundeliegende System der Unterdrückung, noch grundlegender als die Klassenbeziehungen, vereint.

Die Männermacht steht im Ursprung der Frauenunterdrückung, und sie wird gegen die Frauen durch den Staat, die Familie und durch individuelle Beziehungen zwischen Männern und Frauen ausgeübt. Die Gewalt der Männer gegen Frauen ist die Methode, mittels der die Männer die Frauen unterdrückt halten und daher eine zentrale Angelegenheit, was die Gruppen dazu gebracht hat, sich auf Kampagnen gegen Vergewaltigung und Gewalttätigkeit auszurichten. In den 1980er Jahren wurde diese Konzentration auf individuelle Männergewalt durch eine Ausdehnung auf militärische Ziele aufgehoben. Atomwaffen werden als die extremsten Beispiele der Männermacht angesehen; radikale Feministinnen haben Friedenslager errichtet usw.

Der Radikalfeminismus ist im wesentlichen eine kleinbürgerliche Ideologie, die zu bestimmten Fragen zutiefst reaktionäre Positionen einnimmt. Zuerst behauptet er, dass die Männer Feinde seien, und argumentiert daher gegen jegliche ArbeiterInneneinheit gegenüber den UnternehmerInnen. Dies führt zum Ausschluss der Männer von allen Veranstaltungen der Frauenbefreiungsbewegung und bei einigen Gruppen zum Ausschluss der heterosexuellen Frauen, die der Zusammenarbeit mit dem Feind bezichtigt werden. In einigen Gruppen führte dies zur Weigerung, z.B. männliche Kinder in ihren Kindergärten zuzulassen.

Zweitens führte ihre Konzentration auf Männermacht, Gewalt und Sexualität sie dazu, sich auf die Seite rechter pressure-groups bei Kampagnen gegen Pornographie, Sexshops etc. zu schlagen. Sie wurden Teil einer repressiven Lobby, die den Staat ermutigt, Filme und Bücher zu verbieten und Leute, mit deren Sexualität sie nicht übereinstimmen, zu schikanieren. Es erübrigt sich zu sagen, dass lesbische und schwule Publikationen sich als eines der Hauptziele der Antipornographie- Gesetzgebung in Großbritannien und in den USA erweisen sollten. Drittens argumentieren sie, dass den Frauen für die Hausarbeit Löhne bezahlt werden sollten, da sie die Familie als den Platz ansehen, wo die Männer die Frauenarbeit ausbeuten. Dies ist eine rückständige Losung, die nicht zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen durch ihre Einbeziehung in die gesellschaftliche Produktion führt, sondern zu einer Bekräftigung des Zuhauses als besonderem Bereich der Frauen.

25. Der sozialistische Feminismus tauchte als spezifische Strömung innerhalb der westlichen Frauenbewegung während der 1970er Jahre als Antwort auf den Radikalfeminismus auf. Er war in den USA eine kleine Tendenz, wobei er die Schwäche der organisierten ArbeiterInnenbewegung widerspiegelte, jedoch einflussreicher in Britannien, Italien, Holland und Frankreich. Viele Frauen in der Frauenbefreiungsbewegung waren vom Aufschwung der Aktivität unter den Arbeiterinnen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren beeinflusst und hatten daran teilgenommen. Dies traf besonders auf Großbritannien zu. Frauen insbesondere aus linken Gruppen traten der Frauenbefreiungsbewegung entweder als Individuen oder als organisierte Tendenzen bei.

Sie fanden sich der radikalen Opposition gegen jegliche Orientierung auf die ‚männlich beherrschte‘ ArbeiterInnenbewegung gegenüber und waren unfähig, die radikalfeministischen Anschuldigungen, dass der Marxismus die Unterdrückung der Frauen nicht erklären könne und dass die existierenden linken Organisationen von Sozialdemokratie und Stalinismus bis zum Zentrismus bezüglich der Frauenfrage eine erschütternde Vergangenheit aufwiesen, zu beantworten. Tatsächlich war es nicht überraschend, dass die Geschichte der Linken so schlimm war. Die revolutionär-kommunistische Position zur Frauenfrage und zur Arbeit unter den Frauen war von den marxistischen KlassikerInnen und der gesunden Komintern bis 1923 erst in entscheidenden Ansätzen entwickelt worden. Aber der Aufstieg des Stalinismus und die Vorherrschaft des Stalinismus und der Sozialdemokratie seit Mitte der 1920er Jahre über die ArbeiterInnenbewegung garantierten, dass diese Position begraben wurde.

Nach dem Krieg waren die Gruppen, die sich als trotzkistisch bezeichneten, nicht erfolgreich gewesen, das theoretische Verständnis und ein Programm für die Frauenfrage wiederzuerstellen, ganz zu schweigen davon, es für die Nachkriegsperiode zu verfeinern und zu entwickeln. Die Tradition des „Internationalen Komitees der Vierten Internationale“ – und in Großbritannien die Cliffsche Tradition – hatten anfänglich eine rein ökonomistische Antwort auf das durch den Aufstieg der Frauenbefreiungsbewegung für RevolutionärInnen gestellte Problem. Sie spielten die Frauenfrage alle zusammen herunter, indem sie die Angelegenheit der Frauen in ausschließlich gewerkschaftlichen Begriffen darstellten. Die Frauenbefreiungsbewegung, nachdem sie als kleinbürgerlich charakterisiert worden war (eine korrekte Klasseneinschätzung, aber schwerlich das letzte Wort zum Thema, insbesondere nachdem alle anderen kleinbürgerlichen Bewegungen, besonders die nationalistischen, von den gleichen Gruppen in den Himmel gehoben wurden), wurde einfach abgetan. Der sozialistische Feminismus tauchte in diesem Klima auf. Das Ergebnis war, dass bestimmte Teile der zentristische Linken, insbesondere das „Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale“, das eine andere neue Avantgarde im Werden witterte, bewusst ihre Politik an die sozialistisch-feministische Bewegung anzupassen begannen.

Die sozialistischen Feministinnen haben eine Reihe von theoretischen Positionen entwickelt, die ein marxistisches Verständnis von Geschichte und Klasse mit dem, was sie als ein feministisches Verständnis der Frauenunterdrückung ansehen, zu verbinden versucht. Diese Theorien scheiterten aus einer Vielzahl von Gründen. Zuerst einmal stimmen sie alle darin überein, dass Marx‘ politische Ökonomie „geschlechtsblind“ sei und das wirtschaftliche Verhältnis der Frauen zu Produktion und Reproduktion nicht erklären könne. Die Tatsache, dass Marx dieses Verhältnis in seinen Schriften niemals explizit erforschte, bedeutet nicht, dass seine Kategorien und Methoden in dieser Angelegenheit nutzlos wären.

Marx‘ historischer Materialismus gibt uns die Werkzeuge, wie er es auch für Engels getan hatte, um die Frauenunterdrückung im Zusammenhang des Klassenkampfes zu verstehen, indem er die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer Frauen hinsichtlich ihrer Beziehung zur Produktionsweise unterdrückt sind, erklärt.

Sozialistisch-feministische Theorien haben versucht, auf Marx andere Kategorien, wie die von „Reproduktionsweisen“, die relativ autonom von der Produktionsweise seien, aufzupfropfen. Diese Theorien, die sich stark in ihrer Verfeinerung und ihrem Verständnis von Marx unterscheiden, führen alle zum Schluss, dass es irgendetwas Besonderes an der Dynamik der Frauenunterdrückung gäbe; eine Dynamik, die tiefer liege als die fundamentalen Klassengegensätze, die Marx darstellte. Und gerade diese Schlussfolgerung ist falsch. Sie führt die sozialistischen Feministinnen dazu, ihre Praxis, die die „Frauenfrage“ auf eine besondere Sphäre absondert, theoretisch zu rechtfertigen.

Zweitens, und damit verwandt, teilen die meisten sozialistischen Feministinnen mit dem Radikalfeminismus den Begriff des Patriarchats-Strukturen und Ideen, die unabhängig von der einzelnen Klassengesellschaft die männliche Vorherrschaft reproduzieren – als irgendetwas von den Beziehungen der herrschenden Klasse und ihrem Staat Getrenntes. Im Zentrum davon steht die Idee, dass die Familie die gesellschaftliche Einheit sei, in der die Frauen direkt von ihren Vätern, Ehemännern oder anderen männlichen Verwandten unterdrückt würden, mit der Implikation, dass diese über die Frauen eine Klassenüberlegenheit genießen würden. Dies ist grundsätzlich falsch. Wie der Radikalfeminismus endet es damit, die Männer, gleich welcher Klasse, als Feinde anzugreifen. Wir argumentieren, dass die Familie ein für den Kapitalismus notwendiges Verhältnis ist und dass es nur die KapitalistInnen sind, die von der Aufrechterhaltung der Familien substantiellen Nutzen ziehen. Aus diesem Grund weisen wir die Idee zurück, dass das „Patriarchat“ als ein gesellschaftliches Verhältnis innerhalb jeder Familie existiere und der tiefste Grund der Frauenunterdrückung sei. Wir weisen jedoch den Begriff des Patriarchats nicht gänzlich zurück.

Die Familienstruktur mit einem männlichen Oberhaupt, das Frauen und Kinder beherrscht, ist patriarchalisch und verleiht den Männern innerhalb der Familie und der Gesellschaft Prestige. In früheren Klassengesellschaften gründete sich die Familienstruktur auf ein tatsächliches wirtschaftliches Verhältnis, wo die männlichen Familienoberhäupter das Arbeitsprodukt der Frauen und Kinder kontrollierten. Für die Massen der Leibeigenen, der Bauern/Bäuerinnen ergab diese Kontrolle für die Männer keine besonders großen Vorteile, da jegliches Mehrprodukt von den herrschenden Adeligen und GrundbesitzerInnen angeeignet wurde. Aber innerhalb der Familie verlieh es den Männern die Macht, die Arbeit der Frauen und Kinder zu regeln – und damit die gesellschaftliche Vorherrschaft.

Viele sozialistisch-feministische Theorien schaffen es nicht, die ArbeiterInnenfamilie im Kapitalismus zu verstehen, da sie nicht die Umwandlung der Rolle dieser Familie gesehen haben. Ihr Begriff des Patriarchats innerhalb der Familie ist unhistorisch, da sie dieses als konstante Struktur der Unterdrückung neben der historischen Entwicklung der Klassengesellschaften betrachten und die sich verändernde soziale Funktion von Familie und männlicher Vorherrschaft in der ArbeiterInnenklasse ignorieren.

Der sozialistische Feminismus stellt damit keinen qualitativen Bruch mit den Irrtümern des Radikalfeminismus dar und behält das utopische und letztlich reformistische Programm bei. Da der sozialistische Feminismus die radikalfeministische Vorstellung einer besonderen Dynamik, die der Frage der Frauenunterdrückung anhaftet, teilt, wird auch das Gebiet, worauf er seine Forderungen und Kämpfe konzentriert, ebenso geteilt. Er war zu Fragen in Verbindung mit Männergewalt, Sexualität und Fruchtbarkeit am aktivsten. Innerhalb der ArbeiterInnenbewegung haben die sozialistischen Feministinnen Themen des Sexismus aufgeworfen, Aktionsprogramme für Frauen in den Gewerkschaften und am Arbeitsplatz entwickelt und Kampagnen, dass die Männer mehr Verantwortung für die Hausarbeit und Kinderbetreuung übernehmen sollten, geführt.

Obwohl all dies Fragen sind, die auch RevolutionärInnen ernsthaft aufgreifen müssen, umgehen die sozialistischen Feministinnen doch das grundlegende Problem, dem sich Frauen gegenübersehen: den Kapitalismus. Sie weisen ebenso die Idee zurück, dass die Arbeiterinnen in der Avantgarde eines Kampfes für Frauenbefreiung sein müssten, indem sie es vorziehen, ihr Bündnis mit den Radikalfeministinnen und kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Verbündeten in einer klassenübergreifenden Frauenbewegung zu bewahren. Die sozialistischen Feministinnen haben argumentiert, dass männliche Arbeiter kein natürlicher Verbündeter der Arbeiterinnen wären, dass sie – obwohl sie die Frauen unterdrücken – der größere Teil einer Klasse seien, die das Potential zur Schaffung der ökonomischen Vorbedingungen für die Frauenbefreiung, d.h. für den Sozialismus, besitze. Sie argumentieren daher, dass die Arbeiter zeitweilige Verbündete bei einigen Kämpfen seien, dass sie aber letztlich zu einer Kraft würden, gegen die sich die Frauen organisieren müssten.

Das „Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale“, an vorderster Front im Kampf, eher den Feminismus in die sozialistische Bewegung zu bringen als eine revolutionäre Politik in die Frauenbewegung, argumentierte in den 1970er Jahren, dass die Frauen ein natürlicher Verbündeter der ArbeiterInnenklasse wären. Damit meinten sie ALLE Frauen. Dies ist ein unkorrekter und irreführender Begriff, der von dem Problem klar widersprüchlicher Klasseninteressen zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauen ablenkt. Es sind die Arbeiter, nicht feindliche, bürgerliche „Schwestern“, die die ’natürlichen‘ Verbündeten der Arbeiterinnen sind, und zwar in dem Sinn, dass sie ein objektives Interesse teilen und dies subjektiv wahrnehmen können im Verlauf des Kampfes.

26. Ebenso wie die bürgerliche Revolution und der Beginn des Industriekapitalismus die Frauen in der westlichen Welt zu Kampagnen für die weibliche Emanzipation trieb, so trieb die Auswirkung des Imperialismus in Asien, Afrika und Lateinamerika und das Wachstum der nationalistischen Bewegungen in diesen Kontinenten die Frauen in eine Schlacht gegen Reaktion, Obskurantismus und gesellschaftliche Unterdrückung.

Modernisierung – Industrialisierung und die Entwicklung von Infrastruktur und Landwirtschaft – wurde ein zentraler Angelpunkt der Programme verschiedener bürgerlich-nationalistischer Bewegungen und vieler nationaler Bourgeoisien in den Halbkolonien. Die Ausweitung von Erziehung, bürgerlich-demokratischen Rechten und als Teil davon mehr Rechte für Frauen waren ein notwendiger Teil des bürgerlich- nationalistischen Programms für Modernisierung. Wenn die neuen herrschenden Klassen ihre eigene nächste Generation erziehen sollten, benötigten sie gebildete Frauen und Familien, die auf der westlichen Monogamie basierten. Es war auch der Fall, dass religiöse und kulturelle Traditionen den Fortschritt auf dem Land zurückhalten konnten und die Freisetzung weiblicher Arbeitskraft dort, wo die entwickelten Industrien sie benötigten, verhinderten.

Fortschrittliche Frauenorganisationen in so verschiedenen Ländern wie Ägypten, Korea und Südafrika wuchsen als Teil der modernen nationalistischen Bewegungen. Einige nationalistische Regierungen, wie die von Atatürk in der Türkei oder Sun Yat Sen in China, standen an der Spitze eines Zuges gegen besonders empörende Unterwerfung der Frauen, die ein Wesenszug im Leben z.B. des Osmanischen Reiches gewesen war. Frühe feministische Bewegungen in den Kolonien und Halbkolonien fanden daher vergleichsweise mehr Unterstützung von Teilen der nationalistischen Bourgeoisie, als ihre Schwestern im Westen von den herrschenden imperialistischen Klassen gefunden hatten.

Aber diese Unterstützung hatte festgelegte Grenzen. Zuerst einmal gab es Zeiten und Orte, wo der Nationalismus Hand in Hand mit einer tiefen Reaktion bezüglich der Frauenfrage einherging. (Der Islamische Fundamentalismus im Iran und anderen Teilen der Nahen/Mittleren Ostens ist das jüngste Beispiel, aber die NationalistInnen in den 1920er Jahren waren gleichfalls fähig, die Frauenrechte anzugreifen, so wie sie jede Errungenschaft, die von den Massen im antiimperialistischen Kampf gemacht wurde, angriffen.) Zweitens genügte für die neuen herrschenden Klassen der Halbkolonien eine begrenzte Emanzipation und die Einrichtung der Monogamie nach westlichem Stil für ihre Zwecke. Eine freie und unabhängige Frauenschaft würde eine Drohung für die etablierte Ordnung, der sie jetzt vorstanden, und für die Institution der Familie gewesen sein. In diesen Fällen starben die feministischen Bewegungen entweder nach Erlangung der Unabhängigkeit ab oder behaupteten eine kümmerliche Existenz, bis eine neue Generation von Frauen fähig war, die ungelösten Fragen aufzugreifen.

Der bürgerliche Feminismus in den Kolonien und Halbkolonien hat den westlichen Feminismus größtenteils darin widergespiegelt, dass er den Bedürfnissen der großen Massen der Frauen der ArbeiterInnenklasse, der städtischen Armen oder der Bauernschaft wenig Aufmerksamkeit schenkte. Wo ihnen Aufmerksamkeit zuteil wurde, wurden ihre unabhängigen Interessen in das allgemeine bürgerliche Reformprogramm eingebunden. Die Komintern in den frühen 1920er Jahren unternahm einen entschlossenen Versuch, durch den Aufbau der kommunistischen Fraueninternationale die ArbeiterInnenklasse und die kommunistische Führung mit den fortschrittlichen Frauenorganisationen des Ostens zusammenzubringen und Arbeiterinnen und Bäuerinnen unabhängig von der Bourgeoisie zu mobilisieren. Mit der Degeneration der Komintern ab Mitte der 1920er Jahre jedoch hörten diese Anstrengungen auf, und viele der Errungenschaften gingen verloren.

Nichtsdestotrotz führten die spezifischen Interessen der Arbeiterinnen und Bäuerinnen und ihre Erkenntnis, dass die imperialistische Herrschaft ihnen immer größere Lasten aufbürdete, zur Teilnahme einer wesentlichen Anzahl dieser Frauen in antiimperialistischen Bewegungen, die sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten – einschließlich des bewaffneten Kampfes, so z.B. in China, Vietnam und Zimbabwe. Gleichzeitig griffen diese Frauen ihre traditionell untergeordneten Rollen an oder versuchten, ihre Unabhängigkeit zu bewahren oder auszuweiten, sobald das Kapital die bäuerliche Familie entwurzelte und immer schwerere Lasten auf ihre Schultern legte. Die Ausbreitung von sozialistischen und antiimperialistischen Ideen innerhalb dieser antiimperialistischen Bewegungen ermutigte die Forderung nach Gleichheit und nach der Organisation der Frauen, aber die Hegemonie des Stalinismus und das Programm des kleinbürgerlichen Nationalismus haben dazu geführt, dass diese Bewegungen entweder den neuen herrschenden Bürokratien oder den neuen bürgerlichen Regierungen wie in Zimbabwe verbunden bleiben.

Heute existieren Frauenorganisationen mit kulturellem, politischem und/ oder sozialem Charakter in jedem Land der Erde. Frauen spielen eine entscheidende Rolle im Leben und in der Führung der ArbeiterInnenklasse in den Barrios, Slums und auf den Arbeitsplätzen der imperialisierten Welt. Der westliche Feminismus wird oft mit Argwohn betrachtet. Seine Beschäftigung mit der Lebensweise scheint Lichtjahre entfernt vom täglichen Existenzkampf, dem sich die Mehrheit der Frauen der Welt gegenübersieht. Aber dies bedeutet nicht, dass der Feminismus nicht vorhanden oder nicht einflussreich wäre. Arbeiterinnen und Bäuerinnen nehmen nicht nur den Kampf gegen Armut und Ausbeutung auf, sondern auch die Schlacht gegen den Machismus, die Witwenverbrennung, die Aneignung von Land, das Frauen gehörte, gegen sexuelle Brutalität. Wo der Feminismus mit seiner Theorie eines gesonderten oder parallelen Kampfes gegen das Patriarchat und mit seiner Strategie einer Frauenbewegung mehrerer Klassen die Antwort auf diese Probleme scheinbar bereithält, wird er so lange weiterhin wachsen, bis eine kommunistische Führung eine Alternative zu ihm bereitstellt.

Feminismus in den 1980er Jahren

27. Gegen Ende der 1970er Jahre und in den ganzen 1980ern bewegte sich der Feminismus zunehmend auf Defensivkämpfe zu. Im Gefolge der Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung in Westeuropa und in den USA wandten sie sich von pseudorevolutionären Strategien – ob nun sozialistische oder radikalfeministische – ab und reformistischen zu. Unter den Radikalfeministinnen wurden die Antipornographie-Kampagnen zentral und auf langwierige und ausgefeilte Kämpfe vor Gericht ausgerichtet. Unter den sozialistischen Feministinnen gab es einen größeren Schwenk in Richtung sozialdemokratische Parteien und in den USA sogar in gewissem Umfang zu der offen bürgerlichen Demokratischen Partei.

Frauenabteilungen wurden zum integralen Bestandteil der verschiedenen lokalen und nationalen Regierungsapparate der Sozialdemokratie. Kader aus der Frauenbefreiungsbewegung wurden zu gut bekannten, führenden Aktivistinnen innerhalb der reformistischen Parteien. Die radikalen Forderungen nach ‚Befreiung‘ wurden zum Schweigen gebracht, als die Aktivistinnen der Frauenbewegung ihre Universitätsdiplome dazu hernahmen, um in ‚Frauenstudien‘, Abteilungen, ‚Gleichheitsämtern‘ der Regierung und in feministischen Verlagen zu arbeiten. Das Wachstum derartiger politischer Areale zeigte, dass der Staat gezwungen worden war, die Angelegenheiten der Frauenrechte in größerem Umfang als jemals zuvor aufzugreifen. In allen imperialistischen Ländern begannen staatliche Agenturen, Erziehungsabteilungen und die meisten der großen bürgerlichen Parteien offen die Thematik verbesserter Möglichkeiten für Frauen anzusprechen.

Diese Entwicklung ist zweifelsohne zum Teil der Tätigkeit der Frauen aus der Frauenbefreiungsbewegung und aus anderen Organisationen, wie den Gewerkschaften, als Lobby zuzuschreiben, aber es wäre falsch, das gesamte Verdienst der feministischen Bewegung zuzusprechen. In der Realität reflektieren diese Entwicklungen die tatsächlich sich verändernde Rolle der Frauen in der Gesellschaft, mit einer steigenden Anzahl von arbeitenden Frauen und mit besserer Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit, was den Frauen gestattet, eine zentralere Rolle auf allen Ebenen der Gesellschaft zu spielen, obwohl sie ihre familiäre Rolle weiterhin beibehalten. Die Ausweitung staatlicher Versorgung in Gesundheitswesen, Sozialhilfe etc. bezog die Frauen in die Arbeit ein und gab ihnen auch größere Möglichkeiten der Teilnahme an Ausbildung, Politik und anderen gesellschaftlichen Aktivitäten.

Obwohl die Frauenbewegung zweifelsohne die Art und Weise, auf die die Frauen in die staatliche Verwaltung und ins politische Leben einbezogen wurden, beeinflusste, gab es die Tendenz dazu auch dort, wo es nur eine kleine oder unorganisierte feministische Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren gegeben hatte. In Schweden z.B. gab es eine kleine Frauenbefreiungsbewegung, obwohl reformistische Frauengruppen seit der ersten Welle des Feminismus existierten. Dennoch ist es Schweden, wo die Frauen die größte Einbeziehung ins öffentliche Leben der kapitalistischen Länder aufweisen – 28% der Parlamentsmitglieder sind Frauen, verglichen mit 3,5% in Großbritannien, 5,9% in Frankreich und 7,9% in Italien (im Jahre 1983), alles Länder, die viel größere Frauenbefreiungsbewegungen besaßen.

Die Ausweitung der Einbindung der Frauen in den Staat und in andere Schauplätze hat viele Feministinnen (insbesondere aus dem sozialistisch- feministischen Lager) in die Politik gezogen; weg von ihrem bewusstseinserweiternden, alternativen Lebensstil der 1970er Jahre. Dies schloss eine bedeutende Zunahme an bürokratischen Posten für Frauen in den Gewerkschaften, die viele sozialistischen Feministinnen angezogen hatten, ein. Gleichfalls wurden die Frauen in die staatliche Verwaltung auf lokaler Ebene einbezogen. Hier stellten sich die chronischen Beschränkungen der Feministinnen und ihrer utopischen Strategien am klarsten dar: Keine der Frauenabteilungen, der Gleichberechtigungsprogramme oder der Frauenstudienkurse hat die Position der Arbeiterinnen bedeutend verändert. Fürsorgeagenturen wie Frauenhäuser und Antivergewaltigungszentren haben für einige Frauen eine zeitweilige Erholung von den Auswüchsen der Brutalität gewährt, aber die in diese Bereiche gepumpten Ressourcen werden das zugrundeliegende Problem nie lösen.

Sobald Feministinnen in die staatliche Verwaltung einbezogen werden, können sie bestenfalls mithelfen, die schlimmsten Fälle der Frauenunterdrückung zu lindern, aber in dem Maß, in dem die Krise des Kapitalismus sich verstärkt, sind sogar diese kleinen Errungenschaften bedroht. Schlimmstenfalls – und meistens – werden Feministinnen in Regierungsposten Verteidigerinnen der bürgerlichen Politik, wenn auch mit einer ‚frauenfreundlichen‘ Fassade. Eine ‚feministische‘ Einkommenspolitik (Nehmt von den männlichen Arbeitern, um die weiblichen zu bezahlen!), „Zuerst Männer raus!“-Lösungen gegen Arbeitslosigkeit – dies zeigt das Grundproblem des Feminismus insgesamt auf: Ein Programm, das – da es darin versagt, die Frage des Kapitalismus anzusprechen – dabei scheitert, eine Strategie der Einheit der ArbeiterInnenklasse angesichts der UnternehmerInnenoffensive aufzustellen, endet damit, eine liberale Tarnung für eine bürgerliche Politik zu sein.

Die gegenwärtige Periode der kapitalistischen Krise macht die Aufgabe des Aufbaus einer revolutionären Partei, die imstande ist, die ArbeiterInnenklasse, Männer und Frauen, an die Macht zu führen, zu einer dringlichen Notwendigkeit. Die Frauen von den falschen Ideen des Feminismus wegzubringen, ist ein wesentlicher Teil des Aufbaus dieser Partei.

ArbeiterInnenbewegung und revolutionäre Partei

28. Es gibt eine Tradition der Organisation der Frauen, die nicht zur feministischen Bewegung gehört. Arbeiterinnen haben sich im Verlauf vieler Kämpfe während der letzten 100 Jahre organisiert, und die sozialistische Bewegung spielte eine zentrale Rolle bei den wichtigsten dieser Bewegung, die unabhängig von den bürgerlichen Frauenbewegungen und allgemein in Opposition zu ihnen arbeiteten.

Vor dem ersten Weltkrieg organisierte die zweite Internationale und ihre inoffiziell führende Partei, die SPD, Arbeiterinnen in einer ausdrücklich sozialistischen Frauenbewegung. Diese wurde von linken Mitgliedern der SPD einschließlich Klara Zetkins geführt, die eine zentrale Rolle sowohl in der deutschen Frauenbewegung wie in der internationalen sozialistischen Frauenorganisation spielte. Ursprünglich war es den Frauen aufgrund der repressiven Gesetze Ende des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts nicht gestattet, Mitglieder der SPD zu sein. Dies brachte Zetkin dazu, ein Netzwerk von Frauen durch halblegale Parallelstrukturen zu denen der SPD zu organisieren.

Obwohl eine derartige erzwungene Trennung es den Frauen schwer machte, eine volle und aktive Rolle in der Partei zu spielen, gestattete diese es ihnen, für ihre eigenen Forderungen zu kämpfen und sich selbst auf eine Weise zu organisieren, die es neuen Frauen erleichterte, in die Politik einbezogen zu werden. Sobald die Gesetze in Deutschland gelockert worden waren und Frauen Mitglieder politischer Parteien sein konnten, gab es keinen Grund mehr für eine Frauenorganisation, die bloß als Ersatz für die Parteimitgliedschaft sozialistischer Frauen diente. Dennoch kämpfte Zetkin erfolgreich dafür, die Frauenbewegung zu erhalten und auszuweiten, da sie und andere ParteiführerInnen, Männer und Frauen, mit der Zeit die Notwendigkeit spezieller Formen von Agitation und Propaganda, die an Frauen gerichtet sind, erkannt hatten.

Dies bedeutete nicht, dass Zetkin eine politisch und organisatorisch von der Partei getrennte sozialistische Frauenbewegung gegründet hätte. Vielmehr kämpfte sie für eine besondere, von Parteimitgliedern geführte Organisation, die die Frauen aus Rückständigkeit, Passivität und niedrigem kulturellen Niveau, was ihnen durch die andauernde Unterdrückung aufgezwungen wurde und durch die kapitalistische Ausbeutung erhalten blieb, herausziehen sollte.

Zetkin lernte im Kampf auch, dass nicht nur Frauen ‚rückständig‘ waren. Da die Frauenbewegung und ihre wichtigsten Führerinnen auf der linken, revolutionären Seite der SPD standen, als die Partei in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg immer mehr von Partei- und GewerkschaftsbürokratInnen dominiert wurde, versuchte die immer reformistischer werdende Führung, die Frauenbewegung ihrer Kontrolle zu unterwerfen, gleichzeitig ihren Radikalismus zu verwässern, indem sie sie in eine soziale Massenorganisation für die Ehefrauen der männlichen Parteimitglieder verwandelte, und ihren politischen Charakter und ihre Orientierung auf die Kämpfe von Arbeiterinnen zu unterwandern. Zetkin und andere Frauen, die sich um die Zeitung ‚Die Gleichheit‘ gruppierten, setzten ihren revolutionären Kampf gegen den rechten Flügel der ArbeiterInnenbewegung und dessen Gleichgültigkeit gegenüber der vollständigen Emanzipation der Frauen fort.

Das hieß nicht, dass Zetkin für eine von den männlichen Parteimitgliedern getrennte sozialistische Frauenorganisation war. Sie argumentierte immer dafür, dass die Frauen vollständige Mitglieder der sozialistischen – und später der kommunistischen – Parteien sein sollten.

Aber die spezielle Unterdrückung und Ausbeutung, der die Frauen unterworfen waren und die oft politische Rückständigkeit und Analphabetismus bewirkten sowie die Diskriminierung und Geringschätzung, die sie auch innerhalb der SPD gegenüber ihren Forderungen erfuhren, machten eigene Arbeitsmethoden, eine eigene Presse, getrennte Treffen usw. erforderlich. Bei wichtigen Fragen, wie z.B. dem Wahlrecht in Österreich und Deutschland, waren die rechten sozialdemokratischen Parteiführungen bereit, die Forderungen der Frauen zugunsten eines Kompromisses mit den Herrschenden zu opfern. Darin drückte sich der wachsende bürokratische Reformismus ebenso aus wie historisch bedingte Mängel in der Analyse der Frauenunterdrückung und des revolutionären Frauenprogramms. Obwohl auch Zetkin von diesen Mängeln nicht frei war, war es doch sie, die gegen die Aufgabe der Forderung nach dem Frauenwahlrecht kämpfte.

Die Tradition der deutschen sozialistischen Frauenbewegung – immer in scharfer Opposition zu den bürgerlichen Feministinnen – ist eine wertvolle Lehre für uns. Versuche des Aufbaus solcher Bewegungen in anderen Ländern waren weniger erfolgreich, aber auch wichtig – so zum Beispiel die gemeinsamen Versuche von bolschewistischen und menschewistischen Frauen, wie z.B. Alexandra Kollontai, eine Bewegung der Arbeiterinnen in Russland in der Periode 1905-07 aufzubauen. Diese Versuche wurden vom internationalen Frauenbüro ermutigt. Dieses wurde von linken Sozialdemokratinnen wie Zetkin geführt und spielte bei Ausbruch des ersten Weltkrieges eine wichtige Rolle in der Sammlung einer internationalen Opposition gegenüber dem chauvinistischen Verrat der zweiten Internationale.

29. Nach dem Verrat an der ArbeiterInnenklasse durch die zweite Internationale 1914 begann der Kampf um die Gründung dessen, was die Kommunistische Internationale werden sollte. Die Verteidigung einer revolutionären Position hinsichtlich der Frauen war nicht weniger wichtig als die vielen anderen von den Bolschewiki und linken SozialdemokratInnen aufgegriffenen Themen. Die Revolution 1917 in Russland schloss breite Mobilisierungen von Arbeiterinnen ein: So begann die Februarrevolution überhaupt erst mit Streiks und Massendemonstrationen der Arbeiterinnen in Petrograd am internationalen Frauentag.

Die Bolschewiki hatten in dieser Periode unter den Frauen Arbeit geleistet, aber erst zwischen Februar und Oktober versuchten sie wirklich, eine Massenbewegung der Arbeiterinnen aufzubauen. Nach z.T. heftigen innerparteilichen Diskussionen gründeten sie ein bolschewistisches Frauenbüro, um diese Arbeit anzuleiten. Nach der Revolution wurde es in den „Zhenotdel“ (Frauenabteilung) umgewandelt. Die Frauenbewegung, die die Bolschewiki aufbauten, war kommunistisch geführt, richtete aber ihre Bemühungen darauf, Frauen außerhalb der Partei zu gemeinsamen Aktivitäten mit ihnen einzubeziehen. Das schloss spezielle Konferenzen für Arbeiterinnen, spezielle Vertretungen von Fabrikarbeiterinnen und Bäuerinnen bei lokalen Komitees und staatlichen Organisationen ein.

Diese Bewegung war nicht ‚gesondert‘ in dem Sinne, autonom zu sein (sie wurde von bolschewistischen Frauen geführt), obwohl sie es den Arbeiterinnen ermöglichte, an Konferenzen teilzunehmen, Resolutionen zu verabschieden etc., die an die Sowjetregierung geschickt wurden. Ebenso wenig war es ein Versuch, die Frauen auf ein anderes Kampfgebiet zu führen. Sie hatte zwei Hauptziele, über die sich Kollontai, Lenin und andere führende Bolschewiki klar waren. Sie sollte zuerst einmal die Frauen an die Partei heranziehen und an die Aufgaben des Aufbaus des Sozialismus durch ihre eigenen direkte Beteiligung an der Arbeit bei den Sowjets und im Staat gewöhnen.

Spezielle Formen der Arbeit, Organisation und Propaganda waren notwendig, um dies zu erreichen, da die Frauen rückständig, in der Familie isoliert waren und sich oft mit anderen Frauen vereinigen mussten, um die sexistische Reaktion der Männer um sie herum, denen es lieber gewesen wäre, wenn ihre Frauen und Töchter die Politik ihnen überlassen hätten, zu überwinden. Zweitens war die Frauenbewegung notwendig, um die Interessen der Frauen auszudrücken, um sicherzustellen, dass sie von der Sowjetführung aufgegriffen würden. Keiner dieser Gründe führte zur Notwendigkeit einer gesonderten Organisation, da sie immer durchgängig in die Partei, die Gewerkschaften und in die Sowjets integriert waren. Wie Lenin argumentierte: „Dies ist kein bürgerlicher ‚Feminismus‘, es ist eine praktische revolutionäre Zweckmäßigkeit.“

Der Übergang zur NEP 1921, den Lenin als notwendigen Rückschritt des jungen ArbeiterInnenstaates erkannte, bedeutete für die Frauen einen ersten schweren Rückschlag. Sie verloren als erste ihre Arbeit, und die Vergesellschaftung der Hausarbeit wurde aufgeschoben. Dies war einerseits das Resultat der objektiven ökonomischen Rückständigkeit Russlands, andererseits erleichterten Mängel in der Programmatik und v.a. in der Massenagitation der Bolschewiki in Bezug auf die Frauenemanzipation (z.B. Unterschätzung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, fehlende Kritik der sexuellen Unterdrückung u.ä.) das Zurückdrängen der Frauen in den Haushalt.

Der dritte Kongress der Kommunistischen Internationale 1921 nahm Thesen zu „Methoden und Formen der Arbeit unter Frauen der kommunistischen Partei“ an. Sie betonten die zentralen Positionen, wie die nationalen Sektionen Abteilungen für Arbeit unter Frauen organisieren und aufbauen sollten. Dies schloss alle zentralen Taktiken ein, die die Bolschewiki und die deutsche sozialistische Frauenbewegung benützt hatten. Sie forderten dringend Sektionen für spezielle Arbeit unter den Frauen in den Gewerkschaften, am Arbeitsplatz, in den Gemeinden etc. Dies hätte, falls es durchgeführt worden wäre, zu einer Art von kommunistischer Massenfrauenbewegung, die sich in der Sowjetunion entwickelt hatte, geführt. Die Thesen bieten eine korrekte Perspektive für die Arbeit in einer Periode, in der es kommunistische Massenparteien gibt, die in der Lage waren, die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, Männer und Frauen, für ihre Fahne durch Massenarbeit zu gewinnen.

Trotzki hielt ebenso diese revolutionäre Perspektive für die Arbeit unter Frauen lebendig. Er bemerkte den Prozess des Thermidor in der Familie in der UdSSR, stellte sich ihm entgegen und sprach sich für die Verteidigung jener Rechte auf Abtreibung, einfache Ehescheidung etc., die durch die Revolution gewonnen und von Stalin verraten worden waren, aus. Der Kampf der Linksopposition und Trotzkis gegen die bürokratische Konterrevolution ging auch auf dem Gebiet des Familienlebens, der Sexualmoral und der Rechte der Frau vor sich. Diese Themen wurden jedoch nicht ausreichend in das Gesamtprogramm integriert, auch wenn Trotzki als einer der ersten auf die reaktionären Auswirkungen der Sowjetbürokratie hingewiesen hatte. Ebenso war die IV. Internationale zu schwach und isoliert, um diesbezüglich eine tatsächliche programmatische Weiterentwicklung leisten zu können, obwohl ihr Gründungsdokument, das Übergangsprogramm, in deutlichem Kontrast zu den Programmen der StalinistInnen und SozialdemokratInnen die Losung „Öffnet die Türen den Arbeiterinnen!“ aufstellte.

Die Degeneration der Vierten Internationale in den Zentrismus nach dem Krieg machte es unvermeidlich, dass die von Trotzki behauptete revolutionäre Position zur Frauenfrage neben seinem revolutionären Programm bezüglich dem Stalinismus und der Sozialdemokratie aufgegeben wurde. Obwohl ein Gelegenheitsdokument zur Frauenfrage geschrieben wurde, wurde durch die Vierte Internationale dem Arsenal des Marxismus zu dieser Frage nichts hinzugefügt.

Einen weiteren wichtigen und nicht zu unterschätzenden Beitrag lieferte die Sexpol-Bewegung unter W. Reich in den frühen 1930er Jahren in Deutschland. Reich versuchte mit der Methode der Psychoanalyse im Rahmen der revolutionären Arbeiterbewegung eine sexualrevolutionäre Bewegung aufzubauen, die sich v.a. auf Jugendliche und Frauen stützen sollte. Sie hatte zunächst einige Erfolge, wurde aber bald von der stalinistischen KPD-Führung eingestellt. Während Reich zurecht das sexuelle Elend als wichtigen Bereich für kommunistische Massenpropaganda aufgriff und interessante Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Unterdrückung von Sexualität und der Anfälligkeit für reaktionäre Ideologien aufzeigte, blieb sein Ansatz doch beschränkt.

Reich überschätzte den Beitrag, den die sexuelle Repression bei der Entwicklung falschen Bewusstseins innerhalb der ArbeierInnenklasse leistet, und unterschätzte das Ausmaß, in dem falsches Bewusstsein vom Charakter der Lohnarbeitsform selbst herrührt. Er übersah die entscheidende Wichtigkeit der Einheitsfronttaktik gegen den Reformismus und überbetonte sexuelle Aufklärung. Weiters vertrat er die Position einer normativen heterosexuellen Genitalität, durch die alle Abweichungen von dieser Norm als abartige Formen des Orgasmus und pathologische Formen der Sexualität bezeichnet würden.

30. Es ist die Tradition sowohl der deutschen und russischen revolutionären Arbeiterinnenbewegung als auch der Verteidigung der revolutionären Position zur Frauenfrage von Trotzki und der frühen Vierten Internationale, worauf wir schauen und was wir zu entwickeln versuchen. Nicht weil wir ihre Positionen und Aktionen sklavisch kopieren, sondern weil sie eine unschätzbare Erfahrung der Führung der Arbeiterinnen im Kampf für die Emanzipation der Frauen darstellen. Es ist ebenso notwendig, die marxistischen Positionen, die in jenen Perioden gegen die Kapitulation der Sozialdemokratie und des Stalinismus vor den bürgerlichen Positionen zu den Frauen entwickelt wurden, erneut zu bekräftigen.

Wir kämpfen für den Aufbau einer Massenbewegung der Arbeiterinnen, basierend auf den Arbeitsplätzen, den Gewerkschaften und den ArbeiterInnenvierteln. Wie die Bewegungen in Deutschland und Russland würde eine solche Bewegung nicht von den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse getrennt sein, sondern in ihnen wurzeln. Ihre Kampfstrategie darf nicht auf wirtschaftliche Angelegenheiten beschränkt sein – oder bloß auf sektorale Interessen der „arbeitenden Frauen“. Ihr Programm muss eines des Kampfes gegen alle Aspekte der Frauenunterdrückung im Kapitalismus sein – gegen alle Angriffe auf die Rechte auf Abtreibung und Verhütung, gegen die von Frauen erlittene körperliche Gewalt, gegen alle Auswirkungen des Kapitalismus in der Krise, wie niedrige Löhne, Berufsunsicherheit, steigende Mieten und Preise, Einsparungen im Gesundheitswesen etc. Eine Arbeiterinnenbewegung würde all diesen Kämpfen eine Führung verleihen.

Innerhalb einer solchen Bewegung würden revolutionäre Kommunistinnen für ihr Programm und um die Führung gegen die Reformistinnen, Feministinnen und Zentristinnen kämpfen. RevolutionärInnen würden darum kämpfen, die Frauen zur Mitgliedschaft in der Partei zu gewinnen, damit sie mit den allgemeinen Kämpfen der ArbeiterInnenklasse zusammenkämen.

Denen, die sagen, dass die Bewegung der Arbeiterinnen die ArbeiterInnenklasse spalten und eher zu Separatismus und bürgerlichem Feminismus führen würde als zum revolutionären Kampf, antworten wir: Erstens ist die Klasse schon entlang der Geschlechterlinien durch den Sexismus, der die Klasse durchdringt, und durch die Tatsache der Frauenunterdrückung gespalten. Diese führt zu Privilegien, die viele männliche Arbeiter aktiv verteidigen (etwa durch den Ausschluss von Frauen aus bestimmten Fachgewerkschaften). Damit die Frauen unter diesen Bedingungen vollständig und gleichberechtigt an der ArbeiterInnenbewegung teilnehmen können, werden sie darum kämpfen müssen, dass ihre Stimmen gehört werden, damit ihre Teilnahme ernstgenommen wird, damit die Klasse insgesamt die Forderungen der Frauen aufgreift.

Zweitens ist eine Frauenbewegung der Arbeiterinnen notwendig, um Frauen zu erreichen, die in der Familie und außerhalb der gesellschaftlichen Produktion gefangen und daher Beute für rückständige Ideen sind und einen möglichen UnterstützerInnenkreis für die Reaktion darstellen. Drittens mögen wir als revolutionäre KommunistInnen argumentieren, dass die Bewegungen der Arbeiterinnen spontan im Verlauf der Kämpfe auftauchen.

In einem Land nach dem anderen fanden sich Frauen der ArbeiteInnenklasse hineingestoßen in politische Aktivitäten und kämpfen um die Führung in den Gemeinden, demokratischen Bewegungen und Gewerkschaften; all dies mit der Tendenz, ihre eigenen Organisationen zu bilden. Sie gründeten Sektionen und Ausschüsse in den Gewerkschaften und schufen Kampagnen für gleiche Bezahlung und Abtreibungsmöglichkeiten. Sie haben Frauenorganisationen zur Unterstützung der männlichen Arbeiter im Kampf, beispielsweise zur Unterstützung der BergarbeiterInnen in Bolivien und England, gebildet; Organisationen, die die Klasseneinheit und Solidarität fördern. Gleichzeitig reflektierte die Schaffung dieser Unterstützerinnengruppen die Erkenntnis, dass Frauen etwas Verschiedenes anzubieten hätten, und stärkten ihre eigene Fähigkeit zur Teilnahme am Kampf sogar dann, wenn sie auf sexistische Feindschaft trafen.

Der Aufbau einer von kommunistischen Frauenkadern geführten wahrhaft revolutionären Frauenbewegung ist notwendig, die sowohl dem Sexismus und der Feindschaft, denen man in Teilen der organisierten ArbeiterInnenbewegung begegnet, als auch dem Sexismus, den Vorurteilen und Hindernissen, denen Frauen der ArbeiterInnenklasse zuhause gegenüberstehen, den Kampf ansagt. Die Partei und insbesondere ihre weiblichen Mitglieder werden rund um diese Frage bewusste Kämpfe innerhalb der ArbeiterInnenklasse und in ihren eigenen Reihen, insofern Formen des Sexismus innerhalb der Partei auftreten, führen müssen.

Wenn KommunistInnen nicht mit einem klaren Programm zum Aufbau von Arbeiterinnenbewegungen intervenieren, dann wird die Führung dieser Organisationen den Reformistinnen und Feministinnen und der Vorherrschaft fremder Klassenkräfte zufallen.

Wir stellen hier die Frage der Einheitsfront. Gegenüber den ArbeiterInnenorganisationen und gleichermaßen den Feministinnen argumentieren wir, dass die Arbeiterinnen unter Unterdrückung leiden, verstärkten Angriffen in Perioden kapitalistischer Krisen gegenüberstehen und zurückschlagen müssen. Sie sollten kein Vertrauen in die existierenden reformistischen FührerInnen, weder in den Gewerkschaften noch in den stalinistischen oder sozialdemokratischen Parteien, noch in die kleinbürgerlich-nationalistischen Bewegungen und Parteien haben. Aber wir erkennen an, dass in der gegenwärtigen Periode, in der RevolutionärInnen einen sehr kleinen Teil der Klasse darstellen, es sektiererisch und kindisch sein würde, unseren Aufruf auf den Aufbau einer Frauenabteilung der Partei oder einer „kommunistischen Frauenbewegung“ zu beschränken. Die große Mehrheit der Arbeiterinnen blickt auf die reformistischen FührerInnen und Parteien, um ihre Kämpfe aufzugreifen. Wir argumentieren für Forderungen – gerichtet an diese FührerInnen, um sie zur Rechenschaft ziehen zu können – und für die Selbstorganisation der Arbeiterinnen, um Verrätereien der Führung zu vermeiden.

Doch die Einheitsfront ist niemals ein Ziel an sich. Sie existiert, nicht nur, um den Kampf zu vereinen, sondern auch, um konkurrierende Führungen – reformistische, zentristische und revolutionäre – in der Praxis auszutesten. Sie ist also eine Taktik, mittels der RevolutionärInnen die Führung der Massen von allen anderen Führungen übernehmen können. Dies kann nicht in einen evolutionären Prozess verwandelt werden. Wie in allen anderen Einheitsfronten werden auch hier die ReformistInnen und ZentristInnen oft versuchen, die proletarische Frauenbewegung zu spalten und dabei auch erfolgreich sein. KommunistInnen scheuen nicht davor zurück, die Verantwortung für die Führung einer ausdrücklich kommunistischen Frauenbewegung zu übernehmen, die sowohl gegen die reformistischen als auch gegen die bürgerlichen Frauenbewegungen kämpft. Nach einer erfolgreichen Revolution ist es eindeutig die Aufgabe von KommunistInnen, eine wahrhafte Massenfrauenbewegung auf der Grundlage eines kommunistischen Aktionsprogramms auszuweiten oder aufzubauen. Im Fall, dass andere Parteien der ArbeiterInnen und BäuerInnen sich um die Diktatur des Proletariats sammeln, könnte eine kommunistische Massenfrauenbewegung ihren Einheitsfrontcharakter aufrechterhalten.

Doch in jedem Fall ist es notwendig, eine Bewegung aufzubauen, die von kommunistischen Frauen geführt wird. Ihre Aufgabe ist es, spezielle Formen der Agitation und der Arbeit unter Frauen mit dem Ziel zu organisieren, in der Partei organisierte und unorganisierte Frauen in einen aktiven Kampf für ihre eigene Emanzipation hineinzuziehen. Diese würde organisatorische Maßnahmen wie demokratische, selbstbestimmte Konferenzen und lokale Komitees, die komplementär zur Teilnahme in den Organisationen der ArbeiterInnenklasse (Partei, Gewerkschaft und Sowjets) und nicht ihr entgegengestellt sind, mit einschließen. Wir entschuldigen uns nicht für den Versuch, die Führung der ArbeiterInnenmassen für den Kommunismus zu gewinnen oder zu halten. Unser strategisches Ziel bleibt durchwegs die kommunistische Massenfrauenbewegung. Während der Kampfes dafür und in allen Einheitsfronten, die dafür taktisch notwendig sein mögen, hat die kommunistische Organisation die Pflicht, ihre weiblichen Mitglieder als kommunistische Fraktion unter voller Parteidisziplin zu organisieren.

Der Kern der Bewegung der Arbeiterinnen und Kommunistinnen muss in den Frauen, die sich am Arbeitsplatz organisieren, liegen. Dies schließt ihre Organisierung ein, um sicherzustellen, dass die Gewerkschaften die Angelegenheiten der Frauen aufgreifen. Der Aufbau von Frauengruppen in den Gewerkschaften ist notwendig, um ihre besondere Unterdrückung zu diskutieren und ihr Selbstvertrauen im Kampf zu stärken, um mehr Frauen in die Gewerkschaften zu bringen und das Klassenbewusstsein zu entwickeln. Im Zuge einer Organisierung gegen die Bürokratie, die sich weigert, die Forderungen der Frauen Ernst zu nehmen, wird es Teil des Kampfes zum Aufbau einer Basisopposition und alternativen Führung sein. Aber eine Arbeiterinnenbewegung wird auch die Frauen einbeziehen, die auf den Plantagen, in den Barrios und Vorstädten organisiert sind, und sie wird sich aufs Land erstrecken zu den Massen der Bäuerinnen, die unter zermürbender Armut und Unterdrückung leiden.

Der Aufbau einer solchen Bewegung ist nicht eine beliebige Option für RevolutionärInnen, sondern ein wesentlicher Teil des Kampfes, um die ArbeiterInnenklasse und ihre Verbündeten beim Sturz des Kapitalismus und beim Aufbau des Sozialismus zu vereinen.

In den imperialisierten Ländern kann es notwendig sein, die Taktik der Antiimperialistischen Einheitsfront mit bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften zur Durchsetzung fortschrittlicher Maßnahmen anzuwenden.

31. Obwohl wir wissen, dass der Kampf um die Befreiung der Frauen nicht vom Kampf um den Sozialismus zu trennen ist, ignorieren wir die Frage der demokratischen Rechte und die Kämpfe der Feministinnen zu diesen Themen nicht. Wir unterstützen den Kampf für demokratische Reformen, die den Frauen gleichen Zugang zum Gesetz, zum Eigentum, in die Politik etc. gewähren würden. Die Erfahrung des Feminismus war es, dass derartige Rechte schwer zu erlangen und sogar unter sogenannten liberal- demokratischen Regimes schwer zu bewahren sind. Wie bei allen demokratischen Forderungen kann nur die ArbeiterInnenklasse an der Macht solche Rechte garantieren. Wir unterstützen den Kampf um das gleiche Wahlrecht für alle, nicht für ein Wahlrecht auf Besitzgrundlage oder für ein Wahlrecht, das auf Rassen- oder Religionszugehörigkeit beruht. Wir würden die ArbeiterInnen dazu aufrufen, in Unterstützung solcher Forderungen sich zu organisieren und industrielle Kampfmaßnahmen zu ergreifen, indem wir ihre Erlangung mit der Frage der ArbeiterInnenmacht verbinden.

Wir versuchen kleinbürgerliche Feministinnen in einen gemeinsamen Kampf mit der ArbeiterInnenklasse zu demokratischen oder anderen Forderungen hineinzuziehen. Wir weisen aber die Schaffung einer Volksfront von bürgerlichen und ArbeiterInnenparteien im Namen der Erlangung solcher demokratischer Reformen zurück. Solche klassenübergreifenden Allianzen binden die ArbeiterInnen in Wirklichkeit an ein bürgerliches Programm und verleugnen die Unabhängigkeit der ArbeiterInnenparteien. Die Frauenbefreiungsbewegung der 1960er und 1970er Jahre basierte hauptsächlich auf kleinbürgerlichen Kräften, auf Angestellten und Staatsbediensteten. In ihrer Politik argumentierte die Frauenbefreiungsbewegung, dass eine Allianz mit bürgerlichen Frauen wünschenswert sei, doch verweigerten diese gewöhnlich die Annäherung und blieben in ihren eigenen Organisationen. RevolutionärInnen müssen mit den Frauen der ArbeiterInnenklasse – und mit Studentinnen und Intellektuellen, die der Frauenbefreiungsbewegung beigetreten und in ihr aktiv sind, in dauernder Auseinandersetzung bleiben. Eine gemeinsame Aktivität um Themen wie Abtreibung kann den Kampfplatz bieten, um solche Frauen vom Feminismus wegzubringen und für revolutionäre Politik zu gewinnen. Der Aufbau einer revolutionären Tendenz innerhalb einer kleinbürgerlichen, feministischen Massenbewegung könnte eine wichtige Taktik für eine revolutionäre Partei sein, aber dies impliziert in keiner Weise eine Konzession gegenüber politischer Autonomie oder Separatismus, da kommunistische Frauen gegen solche Praktiken sind und alle Möglichkeiten ausnützen würden, um Verbindungen zu den organisierten ArbeiterInnen, ob männlich oder weiblich, herzustellen. Wir verteidigen aber das Recht einer proletarischen Frauenbewegung auf unabhängige organisatorische Strukturen (z.B. Frauenabteilungen in Gewerkschaften) und kulturelle Ausdrucksformen (z.B. Frauenfeste).

32. Für MarxistInnen ist eine zusammenhängende Strategie für die Machtergreifung durch die ArbeiterInnenklasse – ein Programm – nicht zu trennen von organisierten MilitantInnen, die für dieses Programm kämpfen und es taktisch anwenden – von einer Partei. Die Frage der Frauenbefreiung ist selbst ein integraler Teil dieses Programms und Kommunistinnen ein integraler Bestandteil dieser Partei – sowohl in ihrer Führung wie in ihren Basiskadern. Eine solche Partei muss den Sexismus in ihren eigenen Reihen bekämpfen, unter den militanten ArbeiterInnen und in der ArbeiterInnenklasse insgesamt. Um dies zu leisten, muss sie spezielle Maßnahmen ergreifen, um die Frauen innerhalb der Partei – und in der Klasse – zu stärken und zu unterstützen. Das Recht auf gesonderte Treffen der Frauen, die Versorgung mit Kindergarteneinrichtungen, um auch Müttern die Teilnahme an politischen Veranstaltungen zu ermöglichen, etc. sind zentral für diesen Zweck. KommunistInnen propagieren das Prinzip, dass, solange die Hausarbeit und das Aufziehen von Kindern nicht vollständig vergesellschaftet sind, Männer politisch und moralisch verpflichtet sind, sich an diesen Tätigkeiten entsprechend zu beteiligen.

Obwohl diese Rechte auf gesonderte Treffen etc. garantiert sein müssen, weisen wir die Ansicht absolut zurück, dass die demokratisch-zentralistische Partei der vollen Teilnahme der Frauen gegenüber abweisend wäre, dass die Frauen gesondert und ausschließlich „ihren Kampf“ organisieren müssten, da sie allein die subjektive Erfahrung ihrer Unterdrückung hätten. Obwohl letztere eine zentrale Komponente bei der Ausarbeitung der Strategie und Taktik ist, wurde die Unterdrückung der Frauen und ihr Verhältnis zur Klassengesellschaft nicht durch subjektive Erfahrung allein entdeckt (ebenso wenig wie die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse). Sie wurde, wird und wird auch weiterhin durch eine wissenschaftliche Arbeit, für die die Partei als ganzes das notwendige Instrument ist, analysiert werden.

Die Arbeiterinnen werden zentral beim Aufbau einer revolutionären Partei sein, ebenso wie sie es für den Aufbau des Sozialismus nach der Schaffung eines ArbeiterInnenstaates sein werden. Ohne die Führung einer revolutionären Partei werden die spontanen Kämpfe der Frauen nicht imstande sein, die Lehren vergangener Kämpfe zu ziehen und eine tatsächliche Bedrohung für die reformistischen FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung oder für die feministischen Führerinnen der Frauenbewegung zu werden. Alle Siege nach solchen spontanen Kämpfe riskieren es, nur teilweise und zeitweilig zu sein. Die Bewegungen werden im Ansprechen der grundlegenden Themen der Unterdrückung der Frauen und der Klasse versagen, wenn sie nicht im Verlauf des Kampfes für die revolutionäre Partei mit ihrem Programm für die Frauenbefreiung und den Sozialismus gewonnen werden. Es ist daher die Aufgabe des Aufbaus einer solchen Partei und einer kommunistisch geführten, die Massen umfassenden, Frauenbewegung der ArbeiterInnenklasse, wozu sich die Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale bekennt.




Gehaltskürzung für VW-Betriebsrat – Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit

Frederik Haber, Infomail 980, 1. Januar 2018

Vorsorglich hat VW die Gehälter der Betriebsratsmitglieder gekürzt, da den ManagerInnen, die diese Bezüge veranlassen, möglicherweise Strafen drohen und man sich unbedingt rechtskonform verhalten wolle. Betriebsratsboss Osterloh hat sein bisheriges Einkommen von rund 290.000 Euro (ohne Prämien) noch mal betriebsöffentlich verteidigt. Unter anderem hätte er Managerfähigkeiten und er arbeite auch regelmäßig 70 Stunden (Die Zeit online, 22. Dezember). Kurz vor Weihnachten triefte es vor Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit.

Bezahlte und Gekaufte

Betriebsratsmitglieder werden bezahlt. Nicht aus den Gewerkschaftsgeldern, wie manche meinen, sondern von den Unternehmen, in denen sie arbeiten. Das regelt das Betriebsverfassungsgesetz, das die Aufgaben und Rechte der Betriebsräte festlegt. Es sagt auch, dass Mitglieder von Betriebsräten weder bevorzugt noch benachteiligt werden dürfen.

Viele Betriebsratsmitglieder werden benachteiligt. Vor allem in Kleinbetrieben wird gemobbt. Besonders engagierte KollegInnen bekommen schlechtere Arbeitsaufgaben, unangenehmere Schichten, keine Beförderung oder Weiterbildung.

Betriebsratsmitglieder werden auch gekauft. Vor allem Vorsitzende, vor allem in großen Konzernen und dort dann richtig. Spektakuläre Spitze dürfte sein, dass Osterloh von VW – durch Boni – bis zu 750.000 Euro in einem Jahr erhalten hat (Die Zeit, Mai 2017). Er erweist sich als der würdige Nachfolger von Klaus Volkert, der nicht nur ähnlich viel Geld kassierte, sondern auch Urlaubsflüge und eine Edel-Prostituierte vom VW-Vorstand bezahlt bekam. Der damalige Personalvorstand war Herr Hartz – ein- und derselbe, nach welchem die Sozialabbaugesetze der Agenda 2010 benannt sind.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt (Spiegel online, 15.11.17). Sie ermittelt nicht gegen Osterloh, sondern gegen VW. Das ist richtig insofern, dass es die Managementspitze ist, die besticht. Es sind die Vorstände, die die Millionen locker machen – Millionen, die zuvor aus allen Ecken des Konzerns und aus den Zulieferbetrieben herausgepresst wurden.

Offensichtlich halten sie diese Summen für gut angelegt. Mit Osterloh stimmte der Betriebsrat jedem Sparprogramm der Konzernführung zu, allerdings darauf bedacht, dass die Milliarden vor allem von den LeiharbeiterInnen, Fremdfirmen und Zuliefern kommen und die eigene Stammbelegschaft soweit als möglich geschont wird. Zuletzt verweigerte er den seit einem Jahr unter schwierigsten Bedingungen kämpfenden LeiharbeiterInnen bei VW in Changchun (VR China) die Unterstützung (siehe http://www.clb.org.hk/content/one-year-struggle-continues-volkswagen-workers-changchun und zur Hinhaltetaktik des Betriebsrates http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2017/10/vw_gbr_d.pdf)

Auch wenn die Korruption vom Kapital kommt, bezahlt haben diese Millionen also nicht wirklich die Vorstände, sondern die ArbeiterInnen bei VW, egal ob Stammbelegschaft oder LeiharbeiterInnen. Ein guter Grund, Osterloh davon zu jagen – aus dem Betriebsrat und aus der IG Metall. Der Mann ist gekauft und er hat die Belegschaften verkauft.

Das müssen übrigens GewerkschafterInnen bei VW und anderswo selbst tun. Denn was die Staatsanwaltschaft und die JournalistInnen, die sich über Osterlohs Gehalt empören, stört, ist weder die Zustimmung Osterlohs zu den Angriffen des Kapitals noch dessen Käuflichkeit. Sie stört, dass diese Gelder bei den Gewinnen fehlen. Wenn es also den VW-ManagerInnen gelingt zu belegen, dass sie Osterloh günstig im Sinne des Kapitals gekauft haben, dürften sie – wie seinerzeit Peter Hartz – mit Freispruch oder Bewährung davonkommen.

Wie sich Osterloh verteidigt

Aufschlussreich ist übrigens die Höhe der Gehälter derer, mit denen sich Osterloh in seiner Rechtfertigung vergleicht: „Ein Abteilungsleiter bei VW verdient zwischen 8.800 und 16.400 Euro im Monat, also zwischen gut 100.000 und mehr als 200.000 Euro im Jahr, der Jahresbonus kann dieses Gehalt verdoppeln. Ein Bereichsleiter kommt in guten Jahren inklusive Boni auf 750.000 Euro oder mehr und zählt intern zum Topmanagement“, berichtet Claas Tatje auf ZEIT online.

Das stört ihn ebenso wenig wie Kristina Gnirke von SPIEGEL online, die sich dafür über die 3,3 Mio Euro mokiert, die der derzeitige Personalvorstand (bei VW stets einE ehemaligeR GewerkschafterIn) im letzten Jahr erhielt. Tatje findet auch, dass die Aufsichtsratstantiemen im dreistelligen Bereich zu hoch sind – für die BetriebsratsvertreterInnen, nicht für die KapitalvertreterInnen. Die Empörung dieser bürgerlichen MoralistInnen ist durch und durch verlogen.

Genauso verlogen sind die Verteidigungsreden des VW-Vorstandes und von Osterloh. Wenn er mit seinen „Managerfähigkeiten“ angibt, zeigt das nur, dass er Betriebsratstätigkeit überhaupt nicht mehr als Interessenvertretung ansieht, sondern als eine Managementaufgabe wie jede andere. Wenn er mit einer 70-Stundenwoche prahlt, dann zeigt er, wie weit seine Lebensrealität von der einer/s Gewerkschafter/in/s entfernt ist, die/der in einem unorganisierten, bislang betriebsrats- und gewerkschaftsfreien Betrieb in ihrer/seiner „Freizeit“ eine Interessenvertretung aufzubauen versucht und dafür keinen Cent kriegt. Ostlohn hingegen ist im wahrsten Sinn des Wortes Co-Manager, der daraus auch sein Anrecht auf ein Managergehalt herleitet. Mit so jemand können keine Tarifverträge erkämpft und verteidigt werden. Er kann selbst die gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe des Betriebsrats, „darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden“, schwerlich erfüllen. (BetrVG §80 Abs1)

GewerkschafterInnen und AntikapitalistInnen sollten den „Skandal“ und seine Aufdeckung zum Anlass nehmen, deutlich zu machen, wie viele Gelder sofort für die ArbeiterInnen und für die Forschung für ein effizientes und umweltfreundliches Verkehrssystem frei würden, wenn die ganzen ManagerInnen und MöchtegerngeschäftsführerInnen davongejagt oder in die Produktion eingegliedert werden, die sich jetzt parasitär an der Wertschöpfung durch die ArbeiterInnen mästen.

Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle ist nicht nur der Weg aus Dieselkrise und globaler Erwärmung, sondern auch aus Korruption und Parasitismus. Führungsfunktionen werden gewählt, sind jederzeit abwählbar und erhalten das gleiche Gehalt wie alle anderen.

Und es ist ein Schritt auf dem Weg, das kapitalistische System zu überwinden mitsamt der Ausbeutung der Arbeitenden durch das Kapital und der Klassenkollaboration ihrer VertreterInnen. Dass der Neuanfang im VW-Betriebsrat, den Osterloh als Volkerts Nachfolger machen wollte, nachdem dieser in den Knast gewandert war, so kläglich gescheitert ist, ist nicht nur eine Charakterfrage. Es ist auch eine Systemfrage.




Kleinbürgerliche Linke als verkleidete Diener des Imperialismus

Europäischen Linkspartei, CWI und der Libanon-Krieg

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 36, Dezember 2006

Der barbarische Angriffskrieg Israels gegen das palästinensische und libanesische Volk war eines der einschneidenden internationalen Klassenkampfereignisse des letzten Jahres. Wie alle Kriege und zugespitzten Klassenkämpfe stellte er einen zentralen Test für jede Organisation der Arbeiterbewegung dar. Jeder Kampf lichtet unbarmherzig den Nebel der unverbindlichen Allgemeinplätze und verlangt nach einer klaren Positionierung. In einem Krieg der Reichen gegen die Armen, der Mächtigen gegen die Schwachen, der Unterdrücker gegen die Unterdrückten drängt sich unausweichlich die Frage auf: Auf welcher Seite stehst du?

Für marxistische RevolutionärInnen liegt die Antwort auf diese Frage auf der Hand. Wir stehen auf Seiten der Unterdrückten, d.h. der palästinensischen und libanesischen ArbeiterInnen, Jugendlichen und Bauern. Deswegen trat die Liga für die Fünfte Internationale in diesem Krieg für die militärische Niederlage Israels und seiner Armee und für den Sieg des palästinensischen und libanesischen Widerstandes ein.

Israel repräsentiert den mächtigsten und brutalsten Gendarmen des Imperialismus im Nahen Osten, wie der Angriff auf das palästinensische Wohngebiet in Gaza Anfang November 2006 wieder eindeutig demonstriert hat. Israel ist eine tagtägliche Bedrohung für die PalästinenserInnen, die der Zionismus aus ihrer Heimat vertrieb, in Flüchtlingslager pferchte und hungern lässt und bei jedem Zeichen des Widerstandes mit seiner Killermaschinerie zuschlägt.

Israel ist eine Gefahr für den Libanon, von dem es noch immer Teile besetzt hält. Israel ist mit seinen von bürgerlichen Militärexperten geschätzten 200 Atomraketen eine Gefahr für jedes Land im Nahen Osten (1)! Israel ist auch eine Gefahr für die eigene, jüdische Bevölkerung. Die herrschende Klasse führt nicht nur einen permanenten Unterdrückungskrieg gegen das palästinensische Volk, sondern plündert auch große Teile der jüdisch-israelischen Arbeiterklasse durch einen neoliberalen Feldzug aus.

Jeder Schlag gegen diesen mächtigen, hochgerüsteten Staat ist ein Schlag gegen den wichtigsten Statthalter der kapitalistischen Großmächte und gegen die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und verbessert somit die Kampfbedingungen sowohl für die arabischen Massen als auch einen gewaltigen Impuls für die weltweite Antikriegsbewegung dar.

Das gleiche gilt für die anderen Konflikte im Nahen Osten, wo der Imperialismus seine Finger direkt im Spiel hat. Der Kampf der Aufständischen im Irak oder in Afghanistan gegen die Besatzer ist ein gerechter, nationaler Befreiungskrieg. Ohne die islamistischen oder nationalistischen Führungen politisch zu unterstützen, solidarisieren wir uns mit dem Widerstandskampf, hinter dem große Teile der ArbeiterInnen und Bauern stehen.

Deswegen verteidigen wir marxistische RevolutionärInnen – trotz unserer scharfen politischen Opposition zu ihnen – Hamas, Fatah, Hisbollah, den syrischen oder den iranischen Staat gegen alle Angriffe und Vernichtungsschläge durch die imperialistischen Großmächte und deren Handlanger wie Israel.

Aber wir unterstützen keineswegs ihre politischen Programme, ihre Herrschaft oder ihre Ideologien und Strategien, die zwischen kleinbürgerlich Utopien und das Suchen nach einem Arrangement mit dem Imperialismus bzw. Israel schwanken. Letztlich sind diese Organisationen ein reaktionäres islamistisches oder bürgerlich-nationalistisches Hindernis für die nationale und soziale Befreiung der arabischen ArbeiterInnen und Bauern.

Exkurs: Kampf gegen den Zionismus und für die Befreiung der jüdisch-israelischen Arbeiterklasse

Gleichzeitig kämpfen wir dafür, die jüdisch-israelische Arbeiterklasse für den gemeinsamen Kampf mit den arabischen Klassenbrüdern und -schwestern zu gewinnen. Dabei stehen marxistische RevolutionärInnen vor enormen Herausforderungen. Um diese Frage näher zu behandeln, müssen wir zuerst den Charakter des Klassenkampfes in Israel einschätzen. Tatsächlich gibt es wohl kaum ein besseres Beispiel für die Irrungen des Ökonomismus – also den Glauben, dass sich das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse spontan aus Klassenkämpfen zu ökonomischen Fragen in eine politische, revolutionäre Richtung entwickeln könne. Tatsache ist, dass die israelische Arbeiterklasse massiv gegen ökonomische Angriffe kämpft und gleichzeitig den Angriffskrieg gegen den Libanon sowie die Apartheidmauer mehrheitlich billigt.

Wie kann man das erklären? Natürlich liegt die letztendliche Ursache im Fehlen einer revolutionären Arbeiterpartei. Aber das darf nicht den Blick für die enormen Hindernisse verwehren, die einer Revolutionierung der jüdisch-israelischen Arbeiterklasse im Weg stehen – die politische und materielle Integrationskraft des Zionismus. Diese materiellen Hindernisse sind die historischen Fundamente des Staates Israel selbst: die Vertreibung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes.

Eine Aufhebung dieser würde durch das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge das Ende des zionistischen Charakters Israels und das Ende vieler Privilegien bedeuten. Man darf nicht den extrem privilegierten Status der israelischen Arbeiterklasse – trotz aller sozialen Angriffe – im Vergleich zu den arabischen Klassenbrüder und -schwestern vergessen. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob ein Land – und damit die nationale Arbeiterklasse – mit einem allgemeinen „Wohlstand“ wie in Israel oder in Europa existiert oder im Nahen Osten. In Europa wäre dieser Lebensstandard „normal“ – den allgemeinen, historischen Bedingungen des Kontinents (oder besser gesagt seiner westlichen Hälfte) entsprechend. Im Nahen Osten, wo alle anderen Staaten weitaus ärmer sind, erscheint Israel seiner Bevölkerung als zivilisierte Insel der Seligen in einem Meer von Barbaren.

Die nationale Frage – die nationale Unterdrückung der PalästinenserInnen – ist die Bleikugel am Fuße der jüdischen Arbeiterklasse. Ohne eine Sprengung dieser ist die Befreiung der jüdischen Arbeiterklasse von der Ausbeutung und Klassenunterdrückung nicht möglich. Solange sich die jüdische Arbeiterklasse nicht politisch von den Ideen des zionistischen Völkergefängnisses gelöst hat, solange wird sie auch im Kerker des israelischen Kapitalismus schmachten.

Diese politische Lösung der jüdischen Arbeiterklasse vom Zionismus ist aller Wahrscheinlichkeit nach nur dann möglich, wenn im Bewusstsein der jüdischen ArbeiterInnen die Gefahren des Zionismus und Kapitalismus seine materiellen Vorteile überwiegen. Mit anderen Worten, wenn die nationale Befreiungsbewegung und der Klassenkampf allgemein der arabischen ArbeiterInnen und Bauern so kraftvoll und mächtig wird, dass Israel als zionistischer Staat der Untergang droht, oder das Land von einem tiefen ökonomischen Zusammenbruch erschüttert wird.

Diese strategischen Erwägungen machen eine konkrete Parteinahme für die Verteidigung der jüdischen Arbeiterklasse gegen die Angriffe der neoliberalen Bourgeoisie keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: dies ist essentiell für marxistische Revolutionäre, um die Vorraussetzungen für eine Verankerung zu schaffen. Ebenso notwendig ist die beharrliche Propaganda in den Reihen des palästinensischen Widerstandes und der arabischen Massen allgemein, dass zur Abschüttelung der nationalen Unterdrückung die Unterstützung der jüdischen Arbeiterklasse für den Zionismus beendet werden muss.

Eine endgültige Überwindung der nationalen Unterdrückung und der kapitalistisch verursachten Armut ist nur durch eine permanente Revolution in der gesamten Region, der Zerschlagung des Staates Israels und deren Ersetzung durch einen gemeinsamen arabisch-jüdischen Arbeiterstaat und eine sozialistische Föderation im gesamten Nahen Osten möglich. Die marxistische Strategie der permanenten Revolution bedeutet im Nahen Osten, dass die nationale Befreiung der arabischen Völker nicht in einem Land isoliert vor sich gehen kann, sondern nur durch die Ausbreitung der Revolution und dem erfolgreichen Kampf gegen Imperialismus und Zionismus. Sie bedeutet weiter, dass die nationale Befreiung nicht erreicht werden kann, solange die Macht der herrschenden Klassen – also der imperialistischen Großmächte und der nationalen Bourgeoisien – ungebrochen bleibt. Mit anderen Worten: es gibt keine nationale Befreiung ohne Sturz der Kapitalismus und der Errichtung der sozialistischen Diktatur des Proletariats.

Natürlich verfügen heute weder die arabischen noch die jüdischen ArbeiterInnen über ein sozialistisch-internationalistisches Bewusstsein. Aber ein solches Bewusstsein entwickelt sich auch nicht von selbst oder durch bloße Aufklärung, sondern nur, wenn die Massen einschneidende Erfahrungen in großen gesellschaftlichen Umbrüchen und Kämpfen machen und eine revolutionäre Partei diese Erfahrungen mit sozialistischen Schlussfolgerungen verbindet und durch beharrliche Propaganda und Agitation in die Klasse hineinträgt.

Aber der Kampf für die permanente Revolution und den Sozialismus ist dem gegenwärtigen Kampf für die nationale Befreiung, für die Vertreibung der israelischen Armee aus dem Gaza, der Westbank und dem Libanon und die Schwächung dieses Monsters nicht entgegengesetzt, sondern damit eng verbunden. Der Kampf für den Sozialismus ist die notwendige Fortsetzung des Kampfes für die nationale Befreiung.

Es gibt keinen Sozialismus, wenn man nicht schon jetzt mit dem Kampf um die unmittelbaren Tagesbedürfnisse beginnt und zu diesen Tagesbedürfnissen gehören nicht nur Brot, Wasser und Elektrizität, sondern auch die Abschüttelung der Besatzung.

Und umgekehrt: Der Kampf für die sozialistische Revolution ist keine ideale Zugabe des Kampfes für die unmittelbaren Bedürfnisse der Massen. Vielmehr bedeutet jeder Tag fortdauernder Herrschaft der kapitalistischen Klasse Fortdauer des Elends der Massen. Denn die imperialistische Weltordnung erstickt zunehmend an den ihr innewohnenden Widersprüchen und treibt die herrschenden Klasse zum permanenten Krieg – nach Außen unter dem Schlagwort des „Krieg gegen den Terror“; nach Innen gegen die eigene Arbeiterklasse unter den Schlagwörtern der Sparprogramme und der neoliberalen „Reformen“. „Sozialismus oder Barbarei“ ist keine Phrase, sondern die konkrete Alternative der Menschheit. Der Aufbau einer Kampfpartei zwecks Vorbereitung und Organisierung der Revolution für den Sozialismus entspricht daher nicht einfach dem Wunsch der Revolutionäre, sondern ist historische Notwendigkeit.

Der Standpunkt der marxistischen Theoretiker zum Krieg

MarxistInnen gehen vom Grundsatz des preußischen Militärtheoretikers Clausewitz aus: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln (2)“. Unsere Haltung gegenüber dem Ziel eines Kampfes wird also nicht davon beeinflußt, ob es nun mit friedlichen oder mit militärischen Mitteln verfolgt wird. Reaktionäre Ziele sind reaktionär unabhängig davon, ob sie mit politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Mitteln durchgesetzt werden. Das gleiche gilt umgekehrt für fortschrittliche Klasseninteressen.

Kriege sind im Kapitalismus – v.a. in seinem letzten Stadium des Niedergangs, der Epoche des Imperialismus – unvermeidlich. Solange Klassen und somit Klassengegensätze existieren, wird es auch Kriege geben. Im Zeitalter des Imperialismus – in dem wir uns nun schon seit mehr als 100 Jahren befinden – verschärft sich die Konkurrenz zwischen den Konzernen und zwischen den kapitalistischen Staaten immer mehr und daher nimmt auch die Auspressung und Unterwerfung sowohl der Arbeiterklasse als auch der unterdrückten Völker zu. Es kommt daher unausweichlich immer wieder zu Krisen und Kriegen. Der marxistische Theoretiker und Führer der russischen Oktoberrevolution 1917 Wladimir Illich Lenin hielt dazu fest:

„….das sind Ergebnisse des modernen Monopolkapitalismus im Weltmaßstab. Und diese Ergebnisse zeigen, daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind (3).“

„Im Kapitalismus, und besonders in seinem imperialistischen Stadium, sind Kriege unvermeidlich (4).“

MarxistInnen waren daher niemals grundsätzlich gegen Kriege, sondern haben zwischen Kriegen unterschieden, die den Interessen der unterdrückten Klassen dienen und jenen, die nur den herrschenden Klassen dienen. Deswegen war der Sklavenaufstand von Spartakus gegen die Römer fortschrittlich, ebenso wie die Bauernaufstände eines Thomas Münzer oder der Hussiten. Aus dem gleichen Grund unterstützen Marx und Engels 1861-65 die amerikanischen Nordstaaten gegen die Sklavenhalter im Süden oder die Aufstände der Polen gegen die russische Zarenherrschaft 1830, 1846 und 1863. Lenin schrieb dazu:

„Es hat in der Geschichte manche Kriege gegeben, die trotz aller Gräuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, fortschrittlich waren, d.h. der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, besonders schädliche und reaktionäre Einrichtungen (z.B. den Absolutismus oder die Leibeigenschaft) und die barbarischsten Despotien Europas (die türkische und die russische) zu untergraben (5).“

Dies trifft auch auf Kriege unterdrückter Nationen zu, die sich gegen die imperialistische Großmächte und ihre Handlanger zur Wehr setzen. Lenin dazu: „Nationale Kriege der Kolonien und Halbkolonien sind in der Epoche des Imperialismus nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich. In den Kolonien und Halbkolonien (China, Türkei, Persien) leben annähernd 1.000 Millionen Menschen, d.h. über die Hälfte der gesamten Bevölkerung der Erde. Nationale Befreiungsbewegungen sind hier entweder schon sehr stark, oder sie wachsen und reifen heran. Jeder Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln. Die Fortsetzung der Politik der nationalen Befreiung in den Kolonien werden zwangsläufig nationale Kriege der Kolonien gegen den Imperialismus sein (6).“

Lenin spricht sich ebenso eindeutig für eine klare Parteinahme eines jeden Sozialisten aus:

„Die Sozialisten verstanden unter einem ‚Verteidigungs’krieg stets einen in diesem Sinne ‚gerechten‘ Krieg (wie sich Wilhelm Liebknecht einmal ausdrückte). Nur in diesem Sinne erkannten und erkennen jetzt noch die Sozialisten die Berechtigung, den fortschrittlichen und gerechten Charakter der ‚Vaterlandsverteidigung‘ oder des ‚Verteidigungs’krieges an. Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Rußland usw. den Krieg erklärten, so wären das gerechte Kriege, Verteidigungskriege, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber – über die ‚Groß’mächte – sympathisieren (7).“

Daher machte die Kommunistische Internationale 1920 die aktive Unterstützung des nationalen Befreiungskampfs zur Pflicht eines jeden Revolutionärs in den imperialistischen Staaten:

„Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet, die Kniffe ‚ihrer‘ Imperialisten in den Kolonien zu entlarven, jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur in Worten, sondern durch Taten zu unterstützen, die Verjagung der einheimischen Imperialisten aus diesen Kolonien zu fordern, in den Herzen der Arbeiter ihres Landes ein wirklich brüderliches Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerung der Kolonien und der unterdrückten Nationen zu erziehen und in den Truppen ihres Landes eine systematische Agitation gegen jegliche Unterdrückung der kolonialen Völker zu führen (8).

Leo Trotzki, der neben Lenin wichtigste Führer der Oktoberrevolution und spätere Begründer der IV. Internationale, unterstrich diesen Grundsatz des revolutionären Antiimperialismus:

„Der Kampf gegen Krieg und seinen sozialen Ursprung, den Kapitalismus, setzt direkte, aktive und unzweideutige Unterstützung für die unterdrückten kolonialen Völker in ihren Kämpfen und Kriegen gegen den Imperialismus voraus. Eine ’neutrale‘ Position ist gleichbedeutend mit einer Unterstützung des Imperialismus (9).“

Ebenso legte er unmissverständlich dar, dass marxistische RevolutionärInnen ihre Haltung im Krieg nicht von oberflächlichen Erscheinungen auf der Ebene des politischen Überbaus abhängig machen dürfen, sondern auf den objektiven Klassencharakter der beteiligten Kriegsparteien stützen müssen:

„In Brasilien regiert nun ein halbfaschistisches Regime, dem jeder Revolutionär nur mit Hass begegnen kann. Nehmen wir an, daß England morgen in einen militärischen Konflikt mit Brasilien eintritt. Ich frage, auf wessen Seite des Konflikts wird die Arbeiterklasse sein? (…) In diesem Fall werde ich auf Seiten des „faschistischen“ Brasiliens gegen das „demokratische“ Großbritannien stehen. Warum? Weil der Konflikt zwischen ihnen nicht eine Frage der Demokratie oder des Faschismus ist. Sollte England siegreich sein, wird es einen anderen Faschisten in Rio de Janeiro einsetzen und Brasilien doppelte Ketten anlegen. Sollte Brasilien als Sieger hervorgehen, wird es ihm einen starken Impuls für nationales und demokratisches Bewußtsein im Land geben und den Sturz der Diktatur Vargas einleiten. Die Niederlage Englands wäre auch ein Schlag für den britischen Imperialismus und gäbe der revolutionären Bewegung des britischen Proletariats einen Anstoß. In Wirklichkeit muß man schon sehr engstirnig sein, um die Widersprüche und Konflikte der Welt auf den Kampf zwischen Faschismus und Demokratie zu reduzieren. Unter all den Masken muß man zwischen Ausbeutern, Sklavenbesitzern und Räubern unterschieden können (10)!“

Die Kommunistische Internationale entwickelte auf ihrem IV. Weltkongreß 1922 die Taktik der antiimperialistischen Einheitsfront, die seitdem ein zentraler Eckpunkt der revolutionären Programmatik ist. Die antiimperialistische Einheitsfronttaktik beinhaltet das Eintreten für gemeinsame praktische Aktionen mit reformistischen, kleinbürgerlichen und in bestimmten Fällen sogar bürgerlichen Kräften gegen den Imperialismus. Gleichzeitig schließt dies jegliche politische Unterstützung für solche Kräfte aus und erfordert die vollständige Propagandafreiheit für RevolutionärInnen.

Diese marxistische Tradition wendet die Liga für die Fünfte Internationale (LFI) heute auf den reaktionären Angriffskrieg Israels gegen Palästina und Libanon an, wie wir das auch schon bei den vergangenen Kriegen gegen Afghanistan (2001) und den Irak (1991 und 2003) getan haben. Verschiedene Organisationen, die sich in Worten ebenfalls auf den Marxismus berufen, haben jedoch sowohl in der Praxis als auch ihren Erklärungen den Marxismus in eine allgemeine Phrase verwandelt, ihn seines antiimperialistischen Gehalts entleert und gegen den Pazifismus eingetauscht.

Europäische Linkspartei/Linkspartei.PDS/KPÖ: Versteckte Sympathie für Israel unter dem Deckmantel des Pazifismus

Eine besondere Rolle in der pazifistischen Prostituierung spielte hierbei die Europäische Linkspartei (ELP). Die ELP ist der internationale Dachverband diverser ehemaliger stalinistischer Parteien, die nach dem Zusammenbruch ihrer diktatorisch herrschenden Bruderparteien in Osteuropa 1989 einen rasanten Wandel in Richtung Sozialdemokratisierung durchgemacht haben. Ihre wichtigsten Komponenten sind die italienische Rifundazione Communista von Fausto Bertinotti, der auch Vorsitzender der ELP ist, die französische PCF, die Linkspartei.PDS in Deutschland. Auch die österreichische KPÖ gehört dazu. Die Parteien der ELP spielen aufgrund ihres Apparates und ihrer Geldmittel auch eine führende Rolle im Europäischen Sozialforum.

Doch faktisch mit dem ersten Schuß im Krieg zwischen Israel und dem Libanon erwies sich die ELP als eine durch und durch feige, pazifistische und pro-imperialistische Kraft. Ihre Haltung im Krieg entsprach ihrer allgemeinen politischen Position. Die ELP steht für die reformistische Unterordnung eines Teils der Arbeiterbürokratie – also der Kaste von Funktionären in Partei und Gewerkschaften – unter die herrschende Klasse. Ihr Ziel ist es daher, einen politischen Spagat zu schaffen.

Einerseits will sie ihre Basis und ihren Wählerzuspruch nach Möglichkeit durch linke Programme, Stellungnahmen und – wenn der Druck von unten allzu groß wird – auch Aktionen halten. Andererseits jedoch ist diese „linke“ Taktik dem strategischen Ziel der Vermehrung ihrer Posten und Privilegien innerhalb des kapitalistischen Systems untergeordnet und darf daher diesem nicht im Wege stehen.

Im Falle des Libanon-Krieges bedeutete dies, daß die ELP sich standhaft weigerte, Partei zwischen dem Aggressorstaat Israel und dem libanesischen Widerstand zu beziehen. Vielmehr betonten sie immer wieder ihre Unterstützung für den Zionismus, also das Existenzrecht des rassistischen Apartheidstaats Israels und machen diese Unterstützung für den Zionismus zur Bedingung für eine Teilnahme an den Antikriegsdemonstrationen, so sie überhaupt an solchen teilnahmen (11). Einzelne Elemente in ihren Reihen wie z.B. der antinationale Flügel in der KPÖ unterstützten sogar unverhohlen den israelischen Angriffskrieg (12)!

Da ist es nur logisch, dass die ELP-Bürokraten offen die militärische Vormachtstellung des zionistischen Staates im Nahen Osten begrüßen. So sagte Gregor Gysi von der Linkspartei.PDS in einer Rede vor dem Bundestag:

„Nun gibt es den Vorwurf, dass derjenige, der gegen Waffenlieferungen an Israel ist, das Existenzrecht dieses Staates gefährde. Ich halte das für Unsinn. Seit Jahrzehnten ist Israel den arabischen Nachbarländern militärisch überlegen. Zum Frieden hat das nicht geführt. Die umgekehrte Situation hätte allerdings verheerendere Folgen gehabt. Wären die Nachbarländer Israel militärisch überlegen gewesen, hätten sie versucht, dieses Land zu vernichten. Trotzdem, sage ich, ist die weitere Aufrüstung Israels ein Fehler. Wenn Waffenlieferungen an die Hisbollah verhindert und an Israel eingestellt würden, änderte sich nichts an der militärischen Überlegenheit Israels – sie nähme nur nicht mehr zu. Das ist doch das Mindeste, was man erwarten darf (13).“

Könnte es ein besseres Beispiel für die Anbiederung an den Imperialismus geben?!

In ihrem schamlosen Kampf gegen MarxistInnen und AntiimperialistInnen gehen die ELP-Bürokraten aber noch weiter. Immer wieder verleumden sie die Befürworter der klassisch marxistischen Position, wonach es eine Lösung des Konflikts nur durch einen gemeinsamen, sozialistischen arabisch-jüdischen Staat in Palästina geben kann, als „Antisemiten.“ So entblödete sich der langjährige Vorsitzende der österreichischen KPÖ, Walter Baier, nicht, einen Artikel über den angeblichen Antisemitismus der Linken zu veröffentlichen. Darin denunziert er den Verfasser dieser Zeilen folgendermaßen:

„Ein anderer Wortführer der ‚anti-imperialistischen‘ Szene in Wien, Michael Pröbsting, nimmt sich nun auch kein Blatt mehr vor den Mund und fordert in einer Rede die endgültige Lösung des Problems: ‚Frieden kann es nur dann geben, wenn ein für alle Mal (!) Schluss gemacht wird mit dieser staatlichen Unterdrückungsmaschinerie namens Israel.‘ Was mit den Menschen, die diese „Maschine“ bilden, zu geschehen habe, soll gemäß der ‚anti-zionistischen‘ Logik offenbar Hamas und Hisbollah überlassen werden. Meine also niemand, man könne nicht wissen, wo der Diskurs hinzielt. Begreiflich ob derartiger Tiraden ist die Befriedigung darüber am rechten Rand (14).“

Es spricht für sich, dass dieser Artikel auch in der bürgerlichen österreichischen Zeitung „Die Presse“ veröffentlicht wurde. Die „Theorien“ des Walter Baier werden also auch von bürgerlicher Seite eingesetzt, um gegen den linken Antiimperialismus zu hetzen. Der Klassenstandpunkt des Walter Baier wird dadurch von selbst beantwortet.

Lösung mit Hilfe der imperialistischen Großmächte?

Folgerichtig lehnten diese Funktionäre während des Krieges die internationale Solidarität mit dem Widerstand gegen den israelischen Staatsterrorismus ab und verbreiteten stattdessen unterwürfige Hilferufe an die Regierungen des EU-Imperialismus. So forderte die Europäische Linkspartei:

„Europa sollte vor allem auf folgende politische Schritte hinarbeiten: (…)

– die Einrichtung einer von der UNO kontrollierten Pufferzone zwischen Israel und Libanon, den Einsatz einer internationalen Friedenstruppe mit UNO-Mandat… (15)“

Ebenso sind die imperialistischen Großmächte – und nicht die internationale Arbeiterklasse und die unterdrückten Völker – der Adressat für die ELP-Reformisten, um der fortgesetzten israelischen Aggression gegen des palästinensischen Volkes im Gaza ein Ende zu bereiten:

„Es ist Aufgabe der österreichischen Regierung, auf die EU und die UNO einzuwirken, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu ergreifen, um den völkerrechtswidrigen israelischen Angriff sofort zu beenden und dafür zu sorgen, dass die zerstörte Infrastruktur raschest wiederhergestellt und den Menschen unbürokratisch das Überleben gesichert wird (16).“

Aber die Orientierung auf die imperialistischen Großmächte – als deren Hülle die UNO dient – blieb keineswegs nur auf Forderungen in Stellungnahmen beschränkt. Als die Großmächte dann tatsächlich einen von der EU-Imperialismus geführten Militäreinsatz im südlichen Libanon im Rahmen der UNO-Resolution 1701 beschlossen, jubelten die ELP-Reformisten. So begrüßte Wolfgang Gehrcke in einer Pressemitteilung der Linkspartei.PDS den Beschluss der imperialistischen Besatzung des Libanons mit den Worten: „Die Resolution des Weltsicherheitsrates könnte ein erster Schritt zur Beendigung des Libanonkrieges sein (17).“ Noch expliziter unterstützte Gregor Gysi den imperialistischen Militäreinsatz:

„In diesem Zusammenhang macht es Sinn, UN-Truppen zu entsenden, um einen weiteren militärischen Konflikt zu verhindern (18).“

Mehr noch: In Italien hilft die ELP sogar als Regierungspartei tatkräftig bei der Verwirklichung eines der größten Militäreinsätze der imperialistischen EU mit. Bekanntlich ist die Rifundazione Communista von Fausto Bertinotti Teil der neoliberalen Regierung unter dem ehemaligen EU-Kommissionpräsident Prodi. Der italienische Imperialismus stellt mit voraussichtlich 2.450 Soldaten die meisten Soldaten des UNO-Kontingents und ist somit die Speerspitze beim Militäreinsatz. Die Regierung Prodi-Bertinotti verteidigt ebenso die imperialistische Weltordnung – Seite an Seite mit Washington, Berlin und London in Afghanistan.

Somit werden die ganze Heuchelei und der Verrat der reformistischen ELP offenkundig. Wer den antiimperialistischen Widerstand gegen die Großmächte unterstützt … ist ein „Antisemit.“ Wer hingegen den imperialistischen Militäreinsatz im Libanon unterstützt und mitbeschließt, ist hingegen … ein Pazifist! Die ELP-Bürokraten sind nur dann Pazifisten – also für Gewaltlosigkeit – wenn es gegen die Gewalt des anti-imperialistischen Widerstandes geht. Dann lehnen sie Gewalt voller Empörung ab und appellieren an die quasi-religiösen Werte des Friedens (19).

Dass dieser „Frieden“ heute, unter den Bedingungen des real existierenden Krieges der herrschenden Klasse, nichts anderes als die Ideologie der unterwürfigen Wehrlosigkeit des Unterdrückten ist, die Ideologie der Sklaven im Interesse der Sklavenhalter, all das verschweigen natürlich diese Friedenstauben. Wenn jedoch die imperialistische Staatsmaschinerie in Gang gesetzt wird, wenn die Großmächte ihre schwerbewaffneten Truppen in den Libanon entsenden und zur Besatzungsmacht zum Schutze des Apartheidstaates Israel werden, dann ist es vorbei mit der Beweihräucherung der Gewaltlosigkeit, dann entpuppen sich die Friedenstauben als literarische Helfer des EU-Imperialismus und seines Besatzungsregimes im südlichen Libanon! Fürwahr: die ELP lieferte seit dem 12. Juli einen überzeugenden Beleg für Lenins Einschätzung, daß der kleinbürgerliche Pazifismus der nützliche Idiot des Imperialismus ist.

CWI/SAV/SLP: Sozialistischer Zionismus führt zu Pazifismus und zum Abseitsstehen

Während für die LFI und alle ernsthaften Antiimperialisten der Libanon-Krieg im Sommer 2006 im Zentrum der politischen Arbeit stand, spielte dieser für das CWI bloß eine Nebenrolle. Zwar veröffentlichten sie verschiedene wortreiche Artikel und Resolutionen, in denen sie sich gegen den Krieg aussprachen. Doch in der Praxis verstand das CWI nicht die zentrale weltpolitische Bedeutung den Kampf gegen den israelischen Angriffskrieg. In Österreich hatte dies sogar zur Konsequenz, dass die dortige CWI-Sektion (Sozialistische Linkspartei – SLP) sich faktisch an keiner einzigen Protestaktion gegen den Krieg beteiligte.

Für uns ist Marxismus die Einheit von Theorie und Praxis. Wir verbinden revolutionäre Standpunkte mit praktischen Aktionen. Trotzki verurteilte das Verhalten von Gruppen wie dem CWI als zentristisch – als zwischen revolutionären Erklärungen und reformistischer Alltagspolitik hin und her schwankend:

„Die Übereinstimmung von Worten und Taten ist ein charakteristisches Merkmal einer ernst zu nehmenden revolutionären Organisation. Für eine ernsthafte revolutionäre Organisation sind die Resolutionen, die sie auf ihren Versammlungen annimmt, nicht bloß Formalitäten, sondern das schriftlich festgehaltene Ergebnis in der Aktion erworbener Erfahrungen und ein Führer ihrer Aktionen in der Zukunft. Für die Zentristen haben ‚revolutionäre‘ Thesen, die sie bei feierlichen Gelegenheiten annehmen, die Bedeutung, als betrügerische Dekoration, als Deckmantel für unvereinbare Differenzen in ihren eigenen Reihen, als Vorwand für ihre nicht-revolutionären Taten in der vorhergegangenen Periode sowie auch in der kommenden Periode zu dienen (20).“

Unterstützung für den libanesischen Widerstand?

Warum nahm ein so zentrales weltpolitisches Ereignis wie der Libanon-Krieg einen so relativ geringen Stellenwert in der politischen Arbeit der CWI-GenossInnen ein? Tatsächlich liegen dem ein grundlegend falsches Verständnis und eine damit korrespondierende falsche Herangehensweise zugrunde. Dies wird bereits selbst bei einem flüchtigen Blick auf die Artikel und Resolutionen des CWI zu diesem Thema offensichtlich.

In einem Brief des österreichischen CWI (SLP) an die österreichische LFI-Sektion ArbeiterInnenstandpunkt – in welchem sie gegen unsere Kritik protestierten – behaupten sie: „Wir unterstützen im übrigen sehr wohl den libanesischen Widerstand; allerdings nehmen wir uns heraus, nach Klassenlinien und politisch zwischen reaktionären und fortschrittlichen Kräften im Widerstand zu unterscheiden.“

In Wirklichkeit verweigert das CWI in der Praxis ihre Unterstützung für den real stattfindenden antiimperialistischen Kampf gegen den wichtigsten Statthalter der imperialistischen Großmächte im Nahen Osten – dem zionistischen Staat Israel. Die Behauptung der SLP („Wir unterstützen im übrigen sehr wohl den libanesischen Widerstand; allerdings nehmen wir uns heraus, nach Klassenlinien und politisch zwischen reaktionären und fortschrittlichen Kräften im Widerstand zu unterscheiden.“) ist nichts anderes als ein politischer Trick. Denn gerade jene Kräfte, die den libanesischen Widerstand gegen den israelischen Angriffskrieg verkörpern – allen voran die Hauptkraft des Kampfes, Hisbollah – zählt die SLP zu den „reaktionären Kräften im Widerstand“, denen sie eben jegliche Unterstützung verweigert (21).

Als marxistische RevolutionärInnen halten wir eine klare politische Abgrenzung von nicht-revolutionären oder gar reaktionären Kräften – seien es kleinbürgerliche Islamisten oder die Sozialdemokratie – für absolut notwendig. Aber gleichzeitig würde es von völliger Blindheit zeugen, würden wir die Tatsache ignorieren, dass die Hisbollah an der Spitze des gerechtfertigten libanesischen Widerstandskampfes gegen die israelische Armee stand. Wie wir bereits an anderer Stelle schrieben:

„… im Klassenkampf ist es oft der Fall, daß RevolutionärInnen in einem Konflikt die Seite von Kräften einnehmen müssen, zu deren Führung und Politik wir völlig im völligen Gegensatz stehen. Das bedeutet nicht, daß wir deren Politik auf irgendeine Weise unterstützen oder idealisieren.

Wenn die Gewerkschaftsbürokratie einen Streik gegen neoliberalen Sozialabbau ausruft, dann werden wir diesen vorbehaltlos unterstützten, ohne deswegen dem reformistischen Programm der Sozialpartnerschaft, dem Mitverwalten des Kapitalismus, dem Fehlen von Demokratie innerhalb des ÖGB’s oder gar dem korrupten Privilegienrittertum der Gewerkschaftsbonzen irgendeine politische Unterstützung auszusprechen. Das gleiche gilt auch bei den Protesten von moslemischen Jugendlichen gegen Rassismus in den europäischen Staaten, die wir unterstützen ohne deswegen politische Zugeständnisse an den Islamismus zu machen.

Der Grund, warum wir verpflichtet sind, Position zu beziehen, ist die reale, objektive Situation und was sie in Bezug auf den weltweiten Konflikt zwischen den Klassen bedeutet. Der Krieg im Nahen Osten ist keine grundlegende Wahl zwischen der bürgerlichen Demokratie a la Israel und dem Islamismus der Hamas und Hisbollah, sondern zwischen dem Recht des rassistischen Siedlerstaates Israel und den hinter ihm stehenden Großmächten – allen voran den USA -, gegen jeden Opponenten Krieg zu führen und dem Recht der unterdrückten Völker, dieser imperialistischen Aggression Widerstand zu leisten (22).“

Selbst ein Mitglied des CWI, das sich während des Krieges in Beirut aufhielt, mußte eingestehen, daß Hisbollah den Widerstandskampf der libanesischen Massen verkörpert und anführt:

„Die Hisbollah-Organisation wird nicht nur als die Kraft gesehen, welche die Lücke der schwachen und gespaltenen Regierung und der nicht-existenten libanesischen Armee füllt und der militärischen Macht des israelischen Bombardements widersteht. Sie wird auch als die Kraft gesehen, die den Armen und vom Krieg Betroffenen Schutz und Hilfe bietet. Es gibt natürlich Unzufriedenheit, dass die iranischen und syrischen Regime ihre Unterstützung für die Hisbollah mit eigenen Interessen in der Region verknüpfen, aber ohne Zweifel ist Hisbollah eine Kraft, die Widerstand leistet angesichts einer Supermacht, die uns in die Steinzeit zurückbombt. (…) Hisbollah hat jetzt mehrheitliche Unterstützung im Libanon, jüngste Umfragen haben eine Zustimmung von 80% während des jetzigen Krieges ergeben (23).“

Aber diese empirische Anerkennung der Tatsachen hinderte das CWI nicht daran, eben jener Hisbollah die Unterstützung in ihrem Kampf gegen die israelische Armee zu versagen. Sie weigert sich, die von der Kommunistischen Internationale entwickelte antiimperialistische Einheitsfronttaktik anzuwenden. Diese anti-revolutionäre Verweigerung der internationalen Solidarität kombiniert das CWI mit einer umso lauter vorgetragenen Abgrenzung von eben diesen kleinbürgerlichen Kräften: „Der Kampf gegen den Einfluss fundamentalistischer Schein-‚Anti-Imperialisten‘ ist ein wichtiger Bestandteil (einer internationalistischen Politik a la SLP, d. A.) dabei (24).“ Der notwendige politische Kampf gegen den kleinbürgerlichen Islamismus verkommt so zu einer Ausrede für das politische Abseitsstehen in einem der wichtigsten weltpolitischen Ereignisse der Gegenwart.

In einer Aussendung schrieb die österreichische CWI-Sektion: „Die SLP und das ‚Komitee für eine ArbeiterInnen-Interantionale‘ (CWI) vertritt im Gegensatz zu vielen anderen Organisationen in der Anti-Kriegsbewegung einen Standpunkt, der nicht auf der Unterstützung der einen oder anderen reaktionären Organisation oder Regierung im Nahen Osten aufbaut, sondern den Aufbau einer von den gegenwärtigen Machtstrukturen unabhängigen und multi-ethnischen ArbeiterInnen-Bewegung zum Ziel hat (25).“

Israel und Hisbollah werden hier auf ein und dieselbe Stufe gestellt, indem diese beide unter „der einen oder anderen reaktionären Organisation oder Regierung im Nahen Osten“ subsumiert werden. Diese faktisch neutrale Haltung des CWI in diesem Krieg durchzieht all ihre Artikel und Resolutionen. Im Vordergrund steht das kleinbürgerliche Gejammer, dass doch beide Seiten nur bürgerliche Ziele hätten und außerdem Krieg immer etwas Furchtbares sei. Beispielhaft dafür ist folgendes Statement eines CWI-Mitglieds in Israel:

„Yasha, Mitglied von Ma’avak Sotzialisti (Schwesterpartei der SAV und Sektion des CWI in Israel), dessen Familie in Haifa lebt, sagte:

‚Die israelische Regierung schickt sich an, die alte Sichtweise auf die Armee wieder herzustellen, welche bereits zwei Mal arg gelitten hat: Einmal im Gazastreifen, wo ein Soldat gefangen genommen wurde und ein weiteres Mal, als zwei Soldaten in Gefangenschaft der libanesischen Hisbollah gerieten. Aus diesem Grund muss der israelische Ministerpräsident Olmert etwas tun, um das Ansehen der Truppe wieder herzustellen und dem gesamten Nahen Osten zu zeigen, wer die Macht inne hat, wer mit der stärksten Armee aufwarten kann.

Die Hisbollah versucht den LibanesInnen zu zeigen, dass sie den Schneid und die Kraft haben, Israel zu treffen und darüber politische Ziele zu erreichen.

Der momentane Konflikt ist daher auch ein Weg, über den deutlich gemacht werden soll, wer die höherwertigeren Ziele in Bezug auf Geltung und politisches Ansehen erreichen kann. Die Verliererin dabei wird die Arbeiterklasse beider Seiten sein (26).“

Geht es also nach dem CWI, dann wollen beide Seiten nur zeigen, wer der Stärkere ist und leidtragend dabei ist die Arbeiterklasse. Welch kleinbürgerliche, pazifistische Haltung – eine Schande für eine Gruppe, die sich als marxistisch und antiimperialistisch versteht! Tatsächlich ist der Kampf zwischen Israel und dem libanesischen Widerstand eine Schlacht im imperialistischen „Krieg gegen den Terror.“

Selbstverständlich bringt ein Krieg immer Opfer mit sich – dies wird auch in jedem von einer Roten Armee angeführten Bürgerkrieg oder bewaffneten Aufstand der Fall sein. Und das war natürlich auch diesmal im nationalen Befreiungskrieg im Libanon der Fall. Aber das entbindet MarxistInnen nicht der Aufgabe, Schwarz von Weiß zu unterscheiden, Angreifer von Verteidiger, zionistisch-imperialistischen Angriffskrieg vom gerechten libanesischen Widerstandskampf. Ebensowenig entbindet dies MarxistInnen der Aufgabe, nicht in Pazifistenmanier über die Tatsache zu jammern, daß es im Kapitalismus unausweichlich zu Kriegen kommt, sondern vielmehr eine Perspektive zu weisen, wie diese Kriege zum Vorteil der internationalen Arbeiterklasse und zum Nachteil der herrschenden Klasse geführt werden können. Doch genau davon findet man in allen Artikeln der SLP kein Wort. Kein Wunder, daß sie den Antikriegsprotesten den Rücken zukehrten: Wofür soll man sich in einem Krieg engagieren, wo doch sowieso alle nur für reaktionäre Ziele kämpfen?!

Die Aussage, dass die Arbeiterklasse im Krieg zwischen Israel und dem Libanon unabhängig vom Kriegsausgang Verlierer wäre, ist schlichtweg falsch. Die Niederlage Israels hat – wenn auch nur vorübergehend – den Imperialismus und seinen Staathalter geschwächt, sie hat den Massen, nicht nur im Libanon, gezeigt, dass Widerstand und bewaffneter Kampf erfolgreich sein können. Sie erschwert ein weiteres Roll-Back der Region.

Gerade weil das CWI nicht zwischen gerechterfertigtem nationalen Befreiungskampf und imperialistischer Aggression zu unterscheiden weiß, bleibt auch der vorgebliche Kampf gegen den „den Einfluss fundamentalistischer Schein-‚Anti-Imperialisten“ in Wirklichkeit abstrakt und leer.

Im gesamten Nahen Osten haben wir es damit zu tun, dass die Linke und in vielen Fällen die bürgerlichen Nationalisten die politische Vorherrschaft im Kampf gegen Besatzung und imperialistische Aggression verloren, dass sich reaktionäre, islamistische Kräfte in manchen Fällen an dessen Spitze stellen. Doch wichtig ist: Der Charakter der Führung ändert nichts am gerechtfertigten Charakter des Widerstandes (wie im übrigen auch die bürgerlich-nationalistischen Führungen nichts daran geändert hatten).

Eine politische Kraft, die sich weigert, einen solchen Kampf wegen seiner reaktionären Führung zu unterstützen, festigt in Wirklichkeit die Stellung ebendieser Führung, die vorgeblich bekämpft werden soll, weil diese damit zurecht KommunistInnen des Fernbleibens vom anti-imperialistischen Kampf bezichtigen können und werden.

Der „sozialistische“ Zionismus des CWI

Genauso wie das CWI neutral im Krieg zwischen dem zionistischen Staat und dem libanesischen Widerstand ist, passt die SLP ihr politisches Programm für Palästina an den Zionismus an. In ihrem Brief an den ArbeiterInnenstandpunkt weisen sie zwar unsere Kritik zurück:

„Ebenso sind wir keine ‚sozialistischen Zionisten‘, wenn wir für eine Zweistatten-Lösung auf Basis von ArbeiterInnenstaaten als Übergangslösung eintreten, um in Zukunft die israelische ArbeiterInnenklasse von der herrschenden Klasse loszubrechen.“

Doch in Wirklichkeit ist die Losung eines „sozialistischen Israel neben einem sozialistischen Palästina“ nichts anderes als ein hoffnungsloser Versuch, eine Versöhnung zwischen dem Kolonialismus und dem Sozialismus herbeizuführen. Der Staat Israel ist das Resultat des imperialistischen Kolonialismus. Der Staat Israel konnte nur entstehen durch die Vertreibung des palästinensischen Volks. Und er kann nur bestehen bleiben, solange dem palästinensischen Volk die Rückkehr in seine Heimat verweigert wird. Diese Vertreibung wird auch nicht dadurch aus der Welt geschafft, indem diesen Zustände ein sozialistischer Mantel umgehängt wird.

Aufgrund der historischen Entwicklung in der Region besteht ein extremes Wohlstandgefälle zwischen Israel und der Westbank und Gaza – also jenem Territorium, das das CWI für ein „sozialistisches Palästina“ vorsieht. Israels Brutto-Nationaleinkommen pro Kopf liegt mehr als 15 Mal über jenem der palästinensischen Bevölkerung in Westbank und Gaza (27). Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Über Jahrzehnte hinweg bis zum heutigen Tag genießt Israel die uneingeschränkte finanzielle, politische und militärische Unterstützung durch alle imperialistischen Großmächte. Daher die moderne Entwicklung des israelischen Kapitalismus. Die arabischen Staaten hingegen wurden von der imperialistischen Weltordnung – in Zusammenarbeit mit den heimischen arabischen herrschenden Klassen – in Rückständigkeit gehalten. Das imperialistische Kapital beutet die Rohstoffvorkommen der arabischen Länder aus, doch außer einer Handvoll Scheichs und lokaler Kapitalisten profitiert in den arabischen Ländern niemand davon.

Diese extreme ökonomische Ungleichheit ist eine zentrale materielle Basis für die Vorherrschaft Israels in der Region. Als MarxistInnen und AntiimperialistInnen wollen wir diese materielle Basis der Vorherrschaft aus der Welt schaffen, indem wir für einen gemeinsamen jüdisch-arabischen, sozialistischen Staat in Palästina eintreten, wo alle palästinensischen Flüchtlinge das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat haben. Wir verteidigen aber auch das Recht der jüdischen Bevölkerung Israels, in Palästina zu leben.

Aber dies kann nur dann ohne Konflikte und Ungerechtigkeiten vonstatten gehen, wenn zum einen das Recht der PalästinenserInnen auf Rückkehr in ihr Land bedingungslos und ohne Einschränkungen anerkannt wird. Das bedeutet, dass es keinen Staat in Palästina mehr geben darf, der den nationalen Charakter der kolonialistischen Siedler trägt. Es bedeutet auch, dass die Frage der nationalen Befreiung unmittelbar mit jener der ökonomischen Umwälzung verbunden ist, denn natürlich wird eine partnerschaftliche Austeilung der Ressourcen des Landes unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich sein. Mit anderen Worten, der Staat Israel, der als jüdisch-nationaler, zionistischer Staat existiert, muss beseitigt und durch eine bi-nationale Arbeiterrepublik ersetzt werden.

Die Perspektive des CWI hingegen impliziert de facto die Aufrechterhaltung der enormen ökonomischen und sozialen Privilegien der jüdischen Bevölkerung auf Kosten der PalästinenserInnen. Nichts anderes bedeutet die Losung der Aufrechterhaltung des (sozialistischen) Staates Israel in seinem heutigen Gebiet neben einem (sozialistischen) Staat Palästina in den verarmten Gebieten der Westbank und des Gaza in der Praxis. Die CWI-Politik ist in ihrem Kern eine Verteidigung der Resultate des Kolonialismus, ist ein „sozialistischer“ Zionismus.

Das CWI irrt sich, wenn sie ihre Zwei-Staaten-Losung für eine „Übergangslösung“ hält. Ihre Zwei-Staaten-Losung verkörpert vielmehr den „Übergang“ der SLP vom Sozialismus hin zum reformistischen Etappenkonzept, laut der es zuerst als Minimalprogramm für zwei Staaten gibt – ein reiches „sozialistisches“ Israel neben einem armen „sozialistischen Palästina“ – und als Maximalprogramm zu einem späteren, unbestimmten Zeitpunkt den wunderschönen Sozialismus ohne Staat und Grenzen.

Das Leninsche Recht auf Selbstbestimmung ist ein Recht für unterdrückte, aber nicht für herrschende Völker!

Das CWI entleert Lenins Strategie in der nationalen Frage ihres revolutionären Gehalts. Für Lenin und damit auch für uns marxistische RevolutionärInnen ist das Recht auf Selbstbestimmung eine revolutionäre Antwort im Kampf gegen eine die bestehende nationale Unterdrückung eines Volkes durch eine herrschende Nation. Sie ist unabdingbarer Bestandteil der Gesamtstrategie der sozialistischen Revolution.

Die nationale Unterdrückung ist eine zentrale Frage in der Epoche in der wir leben: der Epoche des Imperialismus. Eine Partei, die in dieser Frage keine korrekte Position einnimmt – insbesondere wenn sie in Deutschland oder in Österreich, zwei imperialistischen also herrschenden Staaten, arbeitet – ist zu einer falschen, nicht-revolutionären Politik verdammt. Für MarxistInnen „muß die Einteilung der Nationen in unterdrückende und unterdrückte den Zentralpunkt in den (…) Programmen bilden, da diese Einteilung das Wesen des Imperialismus ausmacht und von den Sozialpatrioten (…) verlogenerweise umgangen wird. Diese Einteilung ist nicht wesentlich vom Standpunkt des bürgerlichen Pazifismus oder der kleinbürgerlichen Utopie der friedlichen Konkurrenz der unabhängigen Nationen unter dem Kapitalismus, aber sie eben das Wesentliche vom Standpunkt des revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus. Aus dieser Einteilung folgt unsere konsequent demokratische, revolutionäre, der allgemeinen Aufgabe des sofortigen Kampfes für den Sozialismus entsprechende Auffassung vom ‚Selbstbestimmungsrecht der Nationen (28).’“

Das CWI versteht eben diese Kernfrage der revolutionären Strategie gegen den Imperialismus nicht. Bei der SLP verkommt die Leninsche Losung des Selbstbestimmungsrechts von einer revolutionären Kampflosung zu einer humanistischen Allerweltslosung, die ja gut gemeint für alle Völker dieser Welt gilt. Wer kann schon gegen das Selbstbestimmungsrecht für Alle sein?! Genau in diesem kleinbürgerlich-humanistischen Geiste ist die Propaganda des CWI zu Palästina verfasst. So fordert die SLP in einem Flugblatt unter der Überschrift „Selbstbestimmungsrecht für Alle“:

„Gleichzeitig muss die sozialistische Bewegung in Israel das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung verteidigen. Dies muss den sofortigen Abzug der isarelischen Truppen aus dem Libanon und den besetzten palästinensischen Gebieten umfassen. Auch braucht es eine Politik, dem Sicherheitsbedürfnis der Israelis (egal ob JüdInnen, AraberInnen etc.) Rechnung zu tragen. Die israelische Schwesterorganisation der SLP, Maavak Sozialisti, tritt daher für ein unabhängiges sozialistisches Palästina neben einem unabhängigen sozialistischen Israel als Teil einer freiwilligen Föderation des Nahen Osten ein. Daran zu arbeiten ist der einzige Ausweg aus dem Teufelskreis von Krieg, Vertreibung, rassistischen Vorurteilen und Terror (29).“

In der Praxis geht das CWI damit nicht über das Selbstbestimmungsrecht hinaus, wie es schon von der – in Lenins Worten – imperialistischen Räuberhöhle UNO in ihrer Resolution 242 aus dem Jahre 1967 formuliert wurde. Selbstbestimmungsrecht für die PalästinenserInnen heißt für die UNO und das CWI, dass die vertriebenen PalästinenserInnen nicht in ihre historische Heimat zurückkehren, sich jedoch dafür in den verarmten Gebieten der Westbank und Gaza zu einem eigenen Staat konstituieren dürfen.

Gerechtfertigt wird dies mit dem Verweis auf das „Sicherheitsbedürfnis der Israelis (egal ob JüdInnen, AraberInnen etc.)“ Eine äußerst seltsame Behauptung angesichts der Tatsache, daß es doch höchst fraglich ist, ob sich die arabischen Bewohner in Israel wirklich sicherer fühlen im zionistischen Staat Israel als in einem gemeinsamen bi-nationalen Staat. Und ist das „Sicherheitsbedürfnis der Israelis“ tatsächlich besser aufgehoben in einem rein jüdischen Staat, der auf der Vertreibung eines anderen Volkes beruht und der daher mit der Wut und dem Haß der arabischen Völker zu rechnen hat?!

In Wirklichkeit beruht die CWI-Position auf der zentristischen Logik, welche die Leninsche Losung des Selbstbestimmungsrechts ihres revolutionären Gehalts beraubt. Für das CWI ist das Selbstbestimmungsrecht eine Losung für alle Völker. Für Lenin und uns MarxistInnen hingegen ist sie eine Kampflosung für unterdrückte Völker, die von nationaler Unterjochung betroffen sind!

„Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. (…) Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung (30).“

Das CWI hingegen – wie auch viele andere Pazifisten – bevorzugt es, ohne Unterscheidung von unterdrückten und unterdrückenden Nationen vom „Selbstbestimmungsrecht für Alle“ zu sprechen. Das heißt, das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes wird auf eine Stufe mit dem Selbstbestimmungsrecht der jüdisch-israelischen Nation in Israel gestellt. Mit anderen Worten: die herrschende Nation hat das gleiche Selbstbestimmungsrecht wie die unterdrückte! (Vielleicht wegen des – von der imperialistisch-zionistischen Propaganda herbeigeredeten – angeblichen „Sicherheitsbedürfnis`“?!)

Das Recht auf Selbstbestimmung im marxistischen Sinne fußt auf der realen Unterdrückung heute und nicht auf angeblichen, theoretisch möglichen Unterdrückungsszenarien in einer unbestimmten Zukunft! Diese Gleichstellung einer herrschenden und einer unterdrückten Nation bedeutet in Wirklichkeit die Gleichbehandlung von Mächtigen und Schwachen, von Täter und Opfer und ist somit eine Verhöhnung des unterdrückten palästinensischen Volkes.

Warum lehnen wir das Selbstbestimmungsrecht der jüdisch-israelischen Nation in Israel ab? Sind wir etwa dagegen, dass die jüdischen Israelis in Palästina leben? Natürlich nicht. Aber wir sind gegen ihr „Recht“ auf Unterdrückung der PalästinenserInnen, wir sind gegen ihr „Recht“ auf nationale Privilegien und Vorherrschaft. Nichts anderes bedeutet jedoch das Selbstbestimmungsrecht der jüdisch-israelischen Nation in der Praxis. Laut Lenin schließt das Selbstbestimmungsrecht einer Nation das Recht auf einen eigenen Staat mit ein. Unter den Bedingungen der Vertreibung der PalästinenserInnen bilden die jüdischen Israelis heute die Mehrheit in jenen Gebieten, die den heutigen Staat Israel ausmachen. Das Recht auf einen eigenen Staat würde daher darauf hinauslaufen, dass die jüdischen Israelis einen eigenen Staat in den ökonomisch am weitesten entwickelten Gebieten haben und die vertriebenen PalästinenserInnen in den verarmten Gebieten der Westbank und dem Gaza ihren Bantustan-Staat errichten dürfen. Kurz: In der Praxis schließt das Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Israelis das Selbstbestimmungsrecht der PalästinenserInnen aus. Nur die revolutionäre Zerschlagung des Staates Israel kann den Weg zur Rückkehr aller PalästinenserInnen und einem gleichberechtigten Zusammenleben im Rahmen eines arabisch-jüdischen sozialistischen Staates in Palästina ebnen.

Das CWI kann sich jedoch nicht zu einer solchen revolutionären Perspektive durchringen, denn die beschränkten Parameter ihres sozialistischen Zionismus grenzen ihren politischen Horizont ein und lassen sie nicht über den Tellerrand des Reformismus hinausblicken. Daher ihre neutrale Haltung im Libanon-Krieg, daher ihr Abseitsstehen im praktischen Kampf gegen den imperialistischen Krieg, daher ihre Anpassung an den Zionismus. Doch Pazifismus und Abseitsstehen hat nichts mit Sozialismus zu tun!

Widerstand bedeutet: Arbeit für die Revolution!

Der israelische Aggressionskrieg und die fortgesetzte Offensive des US-Imperialismus sind heute eine der Hauptfragen der Weltpolitik und somit auch der Politik von internationalistisch denkenden MarxistInnen. In ihrer Haltung zu diesen brennenden Fragen zeigt sich, wer auf welcher Seite der Barrikade steht und wer eine fortschrittliche Rolle in der ArbeiterInnen- und Jugendbewegung spielt. Große Teile der Linken waren unfähig und unwillig, während des Kriegs eine internationalistische, antiimperialistische Haltung einzunehmen. Sie lehnen eine konsequente Ablehnung des Zionismus ab und solidarisieren sich nicht mit dem Kampf der Unterdrückten.

Krieg und Widerstand in Libanon und Palästina unterstreichen einmal mehr, daß sich die Widersprüche der imperialistischen Weltordnung massiv zuspitzen. Die herrschende Klasse greift immer offener zu Krieg, Terror und Unterdrückung, um ihren Drang nach Extra-Profiten und Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen. Die Menschheit steht vor der Alternative: Sozialismus oder Barbarei. Wir leben in einer welthistorisch vor-revolutionären Periode. Wir gehen einer Periode entgegen, in der Revolution und Konterrevolution auf der Tagesordnung stehen und in der es unsere Aufgabe sein wird, den Kampf gegen die bürgerliche Herrschaft zu organisieren und bis zum Aufstand und zur Machteroberung durch die Arbeiterklasse zu führen.

Vor dieser Herausforderung stehen die marxistischen RevolutionärInnen nicht nur weltweit, sondern auch hier in Deutschland und Österreich. Und diese Frage ist von höchster Dringlichkeit, denn nur durch eine sozialistische Weltrevolution können wir ein Absinken der Menschheit in eine endlose Abfolge von Krisen und Kriege verhindern. Ohne den rechtzeitigen Aufbau einer organisierten revolutionären Kraft werden wir nicht in der Lage sein, den mächtigen kapitalistischen Staatsapparat zu stürzen und die Revolution zum Sieg zu führen. Deswegen haben wir uns in der Liga für die 5. Internationale zusammengeschlossen, um eine revolutionäre Partei in Deutschland und Österreich und anderen Ländern als Teil der künftigen 5. Internationale aufzubauen.

Fußnoten:

(1) Laut Angaben des israelische Nuklearwissenschaftlers Mordechai Vanunu, der für die Bekanntgabe dieser Information in Rom entführt und in Israel ins Gefängnis geworfen wurde. Siehe: Eine besondere Beziehung. Wie Israel zur Bombe kam; in: Le Monde diplomatique, Nr 04/10. Jg – April 2004

(2) Carl von Clausewitz: Vom Kriege, S. 22

(3) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: LW 22, S. 194

(4) W. I. Lenin: Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR; in: LW Bd. 21, S. 152

(5) W. I. Lenin: Sozialismus und Krieg, in: LW 21, S. 299

(6) W. I. Lenin: Über die Junius-Broschüre, in: LW 22, S. 315

(7) Lenin: Sozialismus und Krieg, in: LW 21, S. 301

(8) Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale, II. Weltkongreß der Kommunistische Internationale, in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Thesen und Resolutionen, Band I, Köln 1984, S. 164

(9) Leo Trotzki: Resolution zum Anti-Kriegs-Kongress des Londoner Büros, Juli 1936, in: Leo Trotzki: Schriften zum imperialistischen Krieg, S. 105

(10) Leo Trotzki: Antiimperialistischer Kampf ist der Schlüssel zur Befreiung, 23. September 1938, in: Writings 1938-39, S. 34; unsere Übersetzung

(11) So erzwang die Linkspartei.PDS die explizite Anerkennung des Staates Israel in den Aufruf für die Demonstration am 12. August 2006.

(12) „Die Israel Defense Forces machen in diesen Tagen nur das, was sie immer tun, tun müssen und was ihr Name schon sagt: sie verteidigen Israel.“ Abgedruckt auf http://god.kpoe.at/news/article.php

(13) Gregor Gysi: Krieg ist eine Höchstform von Terror, 19.09.2006

(14) Walter Baier: Können Linke antisemitisch sein? Antiintellektualistische und antisemitische Ressentiments haben auch in der Linken eine lange Geschichte; 30. 8. 2006

(15) Europäische Linkspartei: Appell der Europäischen Linken an die Staatschefs in Europa, 1. August 2006

(16) Resolution der KPÖ-Parteikonferenz zum Nahen Osten vom 1. Juli 2006

(17) Wolfgang Gehrcke: UN-Resolution könnte erster Schritt zur Beendigung des Krieges sein; Pressemitteilung der Linkspartei-Fraktion vom 12.08.2006

(18) Gregor Gysi: Krieg ist eine Höchstform von Terror, 19.09.2006

(19) Siehe dazu auch den programmatischen Text von Walter Baier, dem ehemalige Parteivorsitzende der KPÖ, in dem er das KPÖ-Konzept der pluralistischen Beliebigkeit theoretisch zu begründen versucht und erklärt: „Frieden ist ein unverhandelbarer Grundwert des Kommunismus. (…) Ziel der KommunistInnen ist die Abrüstung aller Waffen und die Abschaffung des Krieges. Wir verfolgen unsere Ziele gewaltfrei. (…) KommunistInnen sind in dem Sinn PazifistInnen, als sie Befreiungskriege als unvermeidbare bewaffnete Konfrontationen anerkennen, gleichzeitig aber in jedem Krieg das Scheitern der Politik und ein Krisensymptom der Zeit erkennen.“ (Walter Baier: Sozialismus – Feminismus – Pazifismus – Freiheit. Vier Grundwerte eines neuen Kommunismus.) Zur marxistischen Kritik des Pazifismus siehe u.a. Roman Birke: Marxismus, Pazifismus und Reformismus; in: ArbeiterInnenstandpunkt, Zeitung Nr. 145 (September 2006)

(20) Leo Trotzki: Resolution zum Anti-Kriegs-Kongress des Londoner Büros, Juli 1936, in: Leo Trotzki: Schriften zum imperialistischen Krieg, S. 105f.

(21) Gerade mal in einem einzigen Satz in einer einzigen Resolution konnte sich das CWI zu der Formulierung durchringen: „Die Hisbollah hat das Recht, sich gegen die israelische Aggression zur Wehr zu setzen.“ (Kevin Simpson, CWI: Luftangriffe der israelischen Regierung auf den Libanon – regionaler Krieg droht; 18.07.2006) Bei dieser einmaligen großzügigen Gewährung des Rechts auf Selbstverteidigung blieb es dann auch und nirgendwo sprach sich das CWI für den Sieg des libanesischen Widerstandes und die Niederlage Israels aus.

(22) Die Position des ArbeiterInnenstandpunkt zum israelischen Terrorkrieg gegen das libanesische und palästinensische Volk – Fragen und Antworten, http://arbeiterinnenstandpunkt.net/

(23) SLP: Augenzeugenbericht einer/s SozialistIn aus dem Libanon: „Libanon: wieder vom Krieg verwüstet, slp.at, 14.8.2006

(24) Flugblatt der SLP gegen den Krieg im Libanon: Dieser Krieg gefährdet ALLE Menschen im Nahen Osten!

(25) slp-info vom 27. Juli 2006

(26) SLP: Naher Osten: Augenzeugenberichte aus Beirut und Haifa, 13.07.2006

(27) Angaben der World Bank im „World Development Report 2006, S. 292f.

(28) W. I. Lenin: Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1915, in: Lenin-Werke, Band 21, S., 416

(29) Flugblatt der SLP gegen den Krieg im Libanon: Dieser Krieg gefährdet ALLE Menschen im Nahen Osten!

(30) W. I. Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen – Thesen, 1916, in: Lenin-Werke, Band 22, S. 147




Gewerkschaftslinke wohin?

Manne Wiener, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

In den letzten Jahren hat sich in der BRD eine heterogene, zahlenmäßig durchaus beachtliche Gewerkschaftslinke herausgebildet. Die darin vereinten Strömungen gehen bis in die 1970er Jahre zurück und haben ihre Wurzeln in der Umgruppierung und Neuformierung der Linken in den späten 1960er und 1970er Jahren.

Allerdings handelt es sich dabei nicht nur um “Überlebende”, politische Fossile, Zombies der 68er-Bewegung, deren Marsch durch die Institutionen nicht in der Rot-Grünen-Koalition, sondern in Gewerkschaftsbüros oder im Betriebsrat endete. Wie die letzten Jahre zeigten, wurde diese Opposition gegen die beiden vorherrschenden politischen Strömungen des Apparates auch immer wieder in entscheidenden Situationen des Klassenkampfes sichtbar.

Kristallisationspunkte einer Opposition

1. Der Kampf gegen die Streichung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1996

Hier spielten die Beschäftigten der großen Automobilkonzerne eine Schlüsselrolle, indem sie gegenüber den ursprünglichen, zaghaften und halbherzigen Ansätzen der IG Metall Spitze vorpreschten und die Arbeit niederlegten. Neben der Wut und Entschlossenheit der Arbeiterschaft in diesen Betrieben war die Stärke gewerkschaftsoppositioneller Betriebsratsgruppierungen wie bei Daimler Mettingen oder im Bremer Mercedes Werk wichtig, um diese Kampfbereitschaft zur Aktion zu bündeln und zu führen.

Wie sich auch in den Streiks bei Opel aufgrund der unsicheren Auswirkungen der Fiat-Übernahme durch GM zeigte, spielen Oppositionsgruppen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung (in diesem Fall die Gruppe Oppositioneller Gewerkschafter).

2. Der Protest gegen die Änderung des DGB-Grundsatzprogramms

1997 hatte die Programmkommission vorgeschlagen, die “soziale Marktwirtschaft” als jene Gesellschaftsform festzuschreiben, innerhalb derer die Gewerkschaften ihre Ziele am besten verfolgen könnten. So viel Apologetik war dann auch den linken Apparatleuten zu viel, so dass diese Passus aus dem Programmentwurf gestrichen werden musste.

Auch wenn es sich dabei um einen eher symbolischen Streit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung handelte, so war es ein wichtiger Markierungspunkt, der Rechtsentwicklung der schweren Bataillone der Gewerkschaftsbürokratie in allen großen Einzelgewerkschaften einen gewissen Einhalt zu gebieten.

3. Die gebrochenen Versprechen der SPD an der Regierung und die Nibelungentreue der Gewerkschaftsbürokratie

Nach dem Regierungswechsel, in den viele Gewerkschaftsmitglieder die Hoffnung gelegt hatten, zumindest eine Atempause nach den Angriffen der Kohl-Regierung zu erhalten, fuhren SPD/Grüne mit einem Programm fort, dass sich wenig von jenem der konservativ-liberalen Koalition unterschied. Hinzu kam, dass die keynesianischen Elemente um Lafontaine und das Finanzministerium rasch aus der Regierung gesäubert wurden, wodurch auch die Gewerkschaftsbürokratie ihren wichtigsten Verbündeten im Kabinett verlor.

Das führte zwar zu einigen Murren und Drohgebärden von Seiten der “Traditionalisten” in den Gewerkschaftsapparaten, allen voran der IG Metall. In der Praxis wurde “unserer” Regierung jedoch die Mauer gemacht und alle entscheidenden Fragen wurden in das “Bündnis für Arbeit, Wettbewerbsfähigkeit und Ausbildung” verlagert. Darin bestand und besteht auch der zentrale Unterschied zwischen der Regierung Kohl und der Regierung Schröder. Die Gewerkschaftsbürokratie wird wieder angehört und verstärkt eingebunden. Dafür ist sie auch bereit, der Regierung und den Kapitalisten Zugeständnisse zu machen, die unter Kohl schwer vorstellbar gewesen wären.

Der Protest gegen das Bündnis für Arbeit und die Forderung nach dem Austritt der Gewerkschaften wurde zurecht zum zentralen Bezugspunkt hunderter Appelle und Beschlüsse von Oppositionellen. Die “Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken” (IVG) wurde auf Grundlage der Ablehnung des Bündnisses oder zumindest der Politik der Gewerkschaftsspitzen im Rahmen des Bündnisses ins Leben gerufen.

4. Der Kriegseinsatz gegen Jugoslawien

Wie so oft in der Geschichte des Imperialismus war der Krieg die Nagelprobe für die nationale Standfestigkeit der Arbeiterbürokratie. Und sie stand zu Deutschland. Der DGB-Vorsitzende Schulte erklärte seine Solidarität mit der Regierung und dem Angriff der NATO. Auch wenn etliche Spitzenbürokraten die Haltung Schultes nicht teilten, so hüllten sie sich in ganz und gar nicht nobles Schweigen. Alle SPD-Gewerkschafter und Betriebsräte im Parlament stimmten für den Krieg. In den Betrieben kam es gleichzeitig zu heftigen Konflikten zwischen serbischen und albanischen oder kroatischen Arbeitern und Arbeiterinnen, was von der Bürokratie als zusätzliches “Argument” genommen wurde, nichts gegen den Krieg zu unternehmen.

Der Krieg war auch eine wichtige Bewährungsprobe für die Gewerkschaftslinke, die zwar tausende Unterschriften gegen den Kriegseinsatz sammeln konnte, aber unfähig war, ein internationalistisches Programm zur Lösung des Konflikts zu entwickeln. Vielmehr herrschten Pazifismus und linker Sozialchauvinismus vor, was sich vor allem im Ruf nach Einschreiten der UNO an Stelle der NATO zeigte.

5. Die Tarifrunde 2000 und die Rentenreform

Die Tarifrunde 2000 war von der Unterordnung der Gewerkschaftsbürokraten unter die Vorgaben des Bündnis für Arbeit geprägt. Das übliche Tarifrundenritual wurde auf Sparflamme durchgezogen, um in allen großen Industrien und im öffentlichen Dienst zu mindestens zweijährigen Laufzeiten zu kommen, knapp an der oder unter der zu erwartenden Inflationsrate abzuschließen und auch sonst einige Zugeständnisse an die Kapitalen zu überreichen.

Dabei war, wie sich sowohl in der Metaller-Tarifrunde, in den Aktionen der hbv (Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen), vor allem aber in der Streikbereitschaft der ötv-Mitglieder (ötv = Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr) zeigte, der Wille zu einem entschiedenen Tarifkampf an der Basis vorhanden. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wussten sehr wohl, dass die Unternehmer nach der CDU-Krise politisch geschwächt waren. Sie waren außerdem von den vollmundigen Reden mancher Gewerkschaftsführer, dass das “Ende der Bescheidenheit” (Zwickel) nun gekommen sei, ermutigt.

Gekommen zu sein scheint die Bescheidenheit ohne Ende, wie sich im “Kampf gegen die Rentenreform” zeigte. Die Bürokratie aller großen Gewerkschaften trat zwar gegen die Riester-Reform auf und konnte einige Korrekturen anbringen. Insgesamt blieb es jedoch bei einer Absenkung des Rentenniveaus und beim Einstieg in die Privatisierung der Rentenversicherung – mit Zustimmung der Gewerkschaftsbürokratie.

In beiden Fällen gibt es wiederum wichtige Ansätze oppositionellen Vorgehens und der Mobilisierung. Dass die Bürokratie im Dezember 2000 überhaupt zu betrieblichen Aktionen und Demonstrationen aufrief, war weniger den Zumutungen der Regierung als dem Druck der Basis geschuldet. Hier zeigten sich sowohl das Potential einer Bewegung gegen die Bürokratie wie auch umgekehrt das Fehlen einer bundesweiten, vereinten Koordination und Kampagne der „Gewerkschaftlinken“.

6. Die Organisationsreform in den Gewerkschaften

Nachdem von Kapital und Kabinett jede Schweinerei als “Modernisierung” bezeichnet wird, gebraucht auch die Gewerkschaftsbürokratie diesen Etikettenschwindel. Unter diesem und ähnlichen Schlagwörtern sollen die Gewerkschaften in der BRD noch mehr zu “Serviceunternehmen” für die Mitglieder werden.

Die Gewerkschaftsbürokratie hat sich damit abgefunden, dass ihre relativ starke Stellung als Vermittler zwischen Kapital und Arbeit, wie sie in der Phase des langen Booms etabliert wurde, so nicht mehr zu halten ist. Daher wird jede kämpferische reformistische oder syndikalistische Regung, jeder Bezug darauf, wenigstens als “konsequenter” Gewerkschafter Gegenmacht gegen das Kapital im Rahmen des Kapitalismus zu sein, politisch attackiert und als “altes Denken” und “unzeitgemäß” madig gemacht.

Die Gewerkschaftsbürokratie bedient sich dabei verschiedener organisatorischer Modelle – der Fusion zu “Megagewerkschaften” a la ver.di oder der „Übernahme“ kleiner Verbände (wie der GHK durch die IG Metall). Gleichzeitig wird unter den Schlagworten “Betriebsnähe” zunehmend der Öffnung von Tarifverträgen zugestimmt. “Medienpolitik” (d.h. die Bekanntmachung von Positionen durch Gewerkschaftsvorsitzende ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung) wird dabei mit Formen plebiszitärer Demokratie kombiniert.

Weder die Gewerkschaftsaktivisten und -aktivistinnen werden gestärkt, noch werden mehr Mitglieder aktiviert. Die Bürokratie versucht vielmehr über Umfragen unter Nicht-Gewerkschaftern und passiven Mitgliedern, den “Willen” der Belegschaften zu ergründen, um so ihre Absichten und ihren Kurs gegenüber oppositionellen und kämpferischen Mitgliedern zu rechtfertigen. Dieser Kurs geht einher mit einer bewussten Beschneidung der Diskussion und des demokratischen Entscheidungsprozesses in der Organisation.

Die Gewerkschaftsbürokratie versucht sich bei alle diesen Unternehmungen auf die passiveren und politisch wenig bis nicht bewussten Schichten der Mitglieder bzw. der gesamten Arbeiterklasse gegen die Gewerkschaftsaktivisten in den Betrieben zu stützen.

Allerdings formiert sich dagegen auch Widerstand. Die Schwierigkeiten bei der Schaffung von ver.di sind ein Beleg dafür. Natürlich war und ist die Auflehnung dagegen auch von bornierten Motiven getragen, wenn z.B. Bürokraten fürchten, im Zuge von Fusionen ihre Pfründe zu verlieren. Alles in allem spiegeln diese Schwierigkeiten der Apparate auch wachsenden, wenn auch oft diffusen Unmut wider.

7. Die Anti-Globalisierungsbewegung

In den letzten Jahren ist es selbst der deutschen Gewerkschaftsbürokratie mehr und mehr zu Bewusstsein gekommen, dass sich ein rein nationalstaatlich ausgerichteter reformistischer Kurs Tod gelaufen hat. Viele sozialdemokratisch ausgerichtete Reformisten – seien sie nun SPD oder PDS-nahe – haben in Lafontaines Vorstellung eines europäischen Keynesianismus ein Zukunftsmodell gesehen, um den sozialstaatlichen Klassenkompromiss zumindest ansatzweise auf EU-Ebene wieder zu beleben.

Heute sind von dieser Perspektive eine servile Unterordnung unter die Europapolitik von Kapital und Regierung und die wage Hoffnung übrig geblieben, dereinst mit Mitbestimmungsrechten auf europäischer Ebene entschädigt zu werden. In der Praxis ist von einer internationalen Politik der Gewerkschaften wenig zu spüren. Gerade im nach eigenem Selbstverständnis ureigensten Betätigungsfeld – der Tarifpolitik – haben sich die deutschen Gewerkschaften als bornierte Standortpolitiker entpuppt und Vereinbarungen über die Mindesthöhe von Tarifabschlüssen mit den anderen EU-Gewerkschaften unterlaufen.

Gleichzeitig hat in der Gewerkschaftslinken eine Diskussion über die Entstehung “neuer” Formen der Gewerkschaftspolitik, z.B. den social movement unionism, der Verbindung von Gewerkschaftsarbeit und anderen Tätigkeitsfeldern, von ökonomischen und politischen Kampf bis hin zum Kampf gegen das kapitalistische System begonnen. Auch wenn die Diskussion oft zaghaft geführt wird und mehr an einen linken Debattierklub, denn eine Kampforganisation erinnert, auch wenn viel “Neues” die Neuauflage alter, historisch überholter Konzepte ist (Syndikalismus, Frühsozialismus), so ist diese Debatte notwendig und – verglichen mit den stalinistischen und links-sozialdemokratischen “Reformansätzen”, die die 80er Jahre dominierten – geradezu herzerfrischend.

Es handelt sich hierbei jedoch nicht einfach um eine Wiederholung der Diskussionen der späten 60er und frühen 70er Jahre. Auch wenn manche Wortführer und -führerinnen in der Debatte altgediente Linke sind, so ist diese Diskussion notwendig zur Klärung grundlegender Fragen und zum Vorantreiben der Gewerkschaftslinken und ihrer Verbindung mit einem neuen internationalen Anti-Kapitalismus. Der ermutigendste Aspekt dieser Diskussion besteht gerade darin, dass sie auch auf das Interesse jener Aktivisten stößt, die in den Kämpfen der letzten Jahre politisiert wurden.

Die Diskussion in der Gewerkschaftslinken sind inhaltlich mit den Diskussionen in der Anti-Globalisierungsbewegung, unter anti-kapitalistischen Aktivistinnen und Aktivisten außerhalb der Arbeiterbewegung ähnlich, ja vielfach identisch. Das liegt nicht nur daran, dass viele linke Gewerkschafter aus der politischen Linken kommen, organisiert sind oder waren.

Es liegt auch nicht nur daran, dass in den letzten Jahren mehr praktische Verbindung und Zusammenarbeit zwischen einer Schicht linker Gewerkschafter und von Nicht-Gewerkschafterinnen (Schüler, Studenten, Anti-Faschisten usw.) entwickelt wurde. Es liegt vor allem daran, dass eine spezifisch gewerkschaftliche anti-kapitalistische Theoriediskussion samt ihrer programmatischen und taktischen Konsequenzen ein ökonomistischer Mythos war, ist und immer bleiben wird.

Das zeigt sich auch darin, dass alle Strömungen der Gewerkschaftslinken entweder theoretische und programmatische Diskussionszusammenhänge entwickeln, in denen Gewerkschafter als Arbeiterintellektuellen im Verbund mit anderen Mitgliedern als “Organisation” fungieren, oder gezwungen sind, sich auf intellektuelle Mentoren (z.B. “linke” Professoren) zu stützen, die die politische Programmatik, ihren Standpunkt, ihre Taktik entwickeln.

Die dringend notwendige strategische Diskussion in der Gewerkschaftslinken und die Entwicklung einer revolutionären Programmatik kann eben nicht aus dem gewerkschaftlichen Kampf selbst abgeleitet werden – sie kann nur entwickelt werden, wenn sich die Bewegung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus verbindet.

Die politischen Strömungen in der Opposition

Daher ist es notwendig, einen Blick auf die politischen Hauptströmungen in der Opposition und ihre Basis zu werfen.

Linksreformismus

Eine prägende Erscheinung in der Oppositionsszene ist die Strömung, die sich um die Zeitschrift “Sozialismus” gruppiert. Sie entstand aus einer positiven Bezugnahme auf den Eurokommunismus und ist politisch als linksreformistisch zu charakterisieren. Auch wenn sie keine Partei darstellt oder aufbauen will, so fungiert die Zeitschrift Sozialismus als Sprachrohr einer zahlenmäßig beachtlichen Strömung in den Gewerkschaften, die sich vor allem auf den linken Apparat und seine Parteigänger stützt.

Nach dem Kollaps des Stalinismus Ende der 1980er Jahre hat sie außerdem vielfach die Rolle der DKP in der Gewerkschaftslinken übernommen. Sozialismus war eine maßgebliche Kraft, um die IVG ins Leben zu rufen. Sie dominierte mit ihren Aufrufen die Anti-Kriegs-Stimmung in den Gewerkschaften. Ihr Ziel ist jedoch keineswegs der Aufbau einer schlagkräftigen, handlungsfähigen Opposition, geschweige denn einer Basisbewegung in den Gewerkschaften, die gegen die Politik der Bürokratie und für ihre Beseitigung und Ersetzung kämpft.

Die Sozialismus-Gruppierung will die Opposition vor allem als Beratergremium, Diskussionsforum und Fußtruppe für ihre Anhänger im Gewerkschaftsapparat (was teilweise in ziemlich hohe Positionen reicht). Sie will politisch daher auch keinen Bruch mit der tradierten Gewerkschaftspolitik, sondern vielmehr die Wiederbelebung des Linksreformismus. Daher sind ihre weitest gehenden Parolen auch die nach Herstellung der “sozialen Gerechtigkeit” und “Umverteilung von oben nach unten”.

Das Vehikel der gesellschaftlichen Umgestaltung ist für “Sozialismus” die Herstellung der “gesellschaftlichen Hegemonie”, über die der bürgerliche Staat zur Umsetzung sozialer und politischer Reformen genutzt werden könnte. Von einer proletarischen Revolution, der Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und der Errichtung der Räterepublik wollen diese Reformisten natürlich nichts wissen.

Diese Strategie hat jedoch unmittelbar auch Auswirkungen für die Politik von “Sozialismus”. Wenn der Staat zur Reform in Besitz genommen werden soll, wenn die Sozialreform nicht Abfallproduktion, sondern Endzweck des Kampfes ist, so ist Herstellung der Hegemonie nicht Revolutionierung des Proletariats, sondern die Schaffung eines strategischen Blocks mit PDS, linken Grünen und linker SPD, Gewerkschaftsapparat, Kirchen, wohl wollenden Bourgeois.

Die Bündnispolitik von “Sozialismus” hat daher auch nichts mit der Politik der proletarischen Einheitsfront gegen das Kapital zu tun, sondern ist vielmehr eine Form der politischen Unterordnung unter die anvisierten Bündnispartner.

In der Gewerkschaftsopposition heißt das, dass die “Sozialismus”-Strömung bremsend wirken wird müssen, da die Entstehung einer organisierten Opposition, die, wenn nötig, auch ohne und gegen die Bürokratie mobilisieren kann, der politischen Zielrichtung von “Sozialismus” in jeder Hinsicht entgegenläuft. Ihr „hegemonialer Block” würde dadurch gefährdet, weil die Arbeiterklasse dann in der Aktion leichter über die Bündnispartner hinausgehen könnte und so dann ganzen Block sprengen würde. Die Positionen in den Gewerkschaften wären in Gefahr, weil die zahlreichen Apparatfreunde von “Sozialismus” so unter den direkten Druck oppositioneller Basisaktivisten und -aktivistinnen geraten würde und daher im Apparat nicht mehr nach Belieben prinzipienlos manövrieren könnten.

Neben “Sozialismus” gibt es noch eine Reihe anderer links-reformistischer Strömungen, die sich um Zeitungsprojekte gruppieren (isw) oder prominente oppositionelle Apparat-Leute wie den Bayrischen ÖTV-Vorsitzenden Wendl oder den IG Metall-Vorständer Schmitthenner hofieren. Die Oppositionsprominenz spielt vor allem eine Rolle: die Opposition in Zaum zu halten und an den linken Apparat zu binden. Wenn wir beispielsweise die Rolle von Wendl in der Tarifrunde betrachten, so hat er keineswegs alles getan, um einen Streik zu organisieren. Er verbreitete vielmehr – ähnlichen den rechten Bürokraten – noch vor der Urabstimmung defaitistische Stimmung in der Presse, wo er über Erfolgs- und Misserfolgsaussichten spekulierte, statt gegen den Kurs des Vorstandes aufzutreten. Genau an diesen Punkten müssen sich aber oppositionelle Funktionäre beweisen, hier heißt es in der gewerkschaftlichen Auseinandersetzung Farbe zu bekennen.

Was für die Zeitschrift “Sozialismus” gilt, gilt freilich für die gesamte reformistische Opposition. Sie stützt sich vor allem auf Teile des Apparates, der weiterhin von der gewerkschaftlichen Basis unabhängig bleiben soll. Politisch orientiert sie sich aktuell an der PDS und an linken Intellektuellen (wie z.B. den Verfassern der “Erfurter Erklärung”), die einen Brückenkopf zur linken SPD und zu den linken Grünen bilden sollen.

Links-Syndikalismus

Eine weitere Strömung bildet der linke Syndikalismus. Ähnlich den Reformisten ist auch er um eine Zeitschrift – Express – gruppiert. Express war ursprünglich die Gewerkschaftszeitung des “Sozialistischen Büros”, einer rechts-zentristischen Gruppierungen in den 70er Jahren, die stark “luxemburgistisch” (d.h. vor allem anti-leninistisch) geprägt war und einem “Selbstverwaltungs-Sozialismus” anhing, dessen Spuren sie in Jugoslawien zu entdecken wähnte.

Darüber hinaus haben sich zentrale Autoren von Express einen Namen als Organisatoren von TIE (Transnational Information Exchange) gemacht. TIE ist eine jährlich stattfindende Tagung, an der Aktivisten und Aktivistinnen aus der ganzen Welt teilnehmen, über neue Entwicklungen des Kapitalismus und in den Gewerkschaften diskutieren und ihre Erfahrungen austauschen.

Ohne Zweifel ist die Organisierung und Durchführung solcher Treffen verdienstvoll. Das Problem an TIE ist jedoch heute, dass es beim Austausch, der “Vernetzung” stecken bleibt. Es ist kein Forum, das zur Organisierung von Kampagnen, zum Vereinbarung gemeinsamer und koordinierte internationale Aktion und schon gar nicht zur Schaffung fester internationaler Verbindungen auf Basis eines Forderungsprogramms dient. Ein Teil des Problems ist sicher die rechtliche Form vom TIE als Nicht-Regierungsorganisation und die finanziellen Abhängigkeiten des Projekts. Viel wichtiger ist jedoch, dass eine solche vorwärtstreibende, initiative Rolle der zugrunde liegenden Konzeption der Strömung um Express widerspricht.

Wie alle Spontaneisten geht Express davon aus, dass die Arbeiter, sobald sie in Bewegung gekommen sind, ihre Koordinierung, ihre Organisierung usw. schon “selbständig” schaffen werden. Alles andere wäre eine autoritäre Unterjochung der Klasse unter durch eine “selbst ernannte” Avantgarde oder Stellvertreter.

Das äußert sich auch in der IVG, wo etliche Vertreter von Express gegen die Bildung bundesweiter Strukturen und die Initiierung und Durchführung gemeinsamer Aktionen und Kampagnen mit der bezeichnenden Gegenposition “Diskussionsklub – ja bitte!” auftraten.

Auch wenn die Sozialismus-Leute und die Vertreter von Express in der gewerkschaftsoppositionellen Diskussion oft als Antipoden auftreten, so teilen sie in der Praxis ihre Ablehnung jeder wirklichen Organisierung um politische Forderungen und gemeinsame Aktion. Es ist auch kein Wunder, dass die spät Geborenen des Frühsozialismus um Robert Kurz (Krisis-Gruppe) bei Express und anderen Syndikalisten politisch Stiche machen.

Während die reformistische Strömung oppositionelle Gewerkschafter an die bürgerliche Politik des linken Apparates, der PDS usw. bindet, so sehen die Syndikalisten in der Parteipolitik an sich das Problem. Daher verfängt auch die Kritik der Krisis-Gruppe, die dem Marxismus “Politizismus” vorwirft, unter vielen dieser Oppositionellen.

Ebenso dient die berechtigte Kritik an der Huldigung der entfremdeten Arbeit durch die reformistische Arbeiterbewegung – Arbeit ist der Gott unserer Zeit, hieß es bei den rechten Gewerkschaftern und SPD-Vertretern schon im 19 Jahrhundert – als Mittel, um unter dem Schlagwort “Kampf dem Arbeitsfetisch” allerlei utopische frühsozialistische Konzepte wieder aufzuwärmen. Die Arbeiterklasse solle sich demnach durch die Erringung immer größere selbstbestimmter Lebensräume, der Organisierung nicht-monetärer Sphären der Gesellschaft usw. ihrer eigenen Befreiung näher bringen. Ähnlich wie im sozialdemokratischen Reformismus ist auch hier die Bewegung alles, das Ziel nichts.

Der politische Kampf und die Organisierung von Parteien seien nicht notwendig, sondern eine Ablenkung von der “eigentlichen” ökonomischen Befreiung der Arbeitenden, die sich gemäß der “anti-politischen” Vorstellung auch ganz ohne Kampf um die Staatsmacht vollzieht. Die scheinbar radikale Kritik am Reformismus entpuppt sich als Gradualismus, der sich die Hände in den Niederungen reformistischer Politik im Parlament oder an der Regierung nicht schmutzig machen will.

Natürlich gilt auch hier die Binsenwahrheit des revolutionären Marxismus, dass die noch so wortradikal begründete Enthaltsamkeit von der Politik oder einer Sphäre des politischen Kampfes nur bedeutet, das Feld kampflos bürgerlichen Parteien zu überlassen.

Das drückt sich auch ganz praktisch aus, wenn es um die Kritik der Gewerkschaftsbürokratie, den Kampf gegen die Führung geht. Dass dem bürokratischen Apparat die Macht und Kontrolle über die Gewerkschaften entrissen werden müsse, dass dazu die politische Organisierung in den Gewerkschaften und die Führung einer Basisbewegung durch eine revolutionäre Partei notwendig sei, stößt bei Vertretern von Express und anderen Syndikalisten auf eine Mischung aus Ablehnung, Verachtung und Verbitterung.

Das sei doch “soooooo verkürzt”. Viele Funktionäre seien doch linker oder fortschrittlicher als die Basis, heißt es. Das mag schon vorkommen. Nach schweren Niederlagen der Klasse kann das sogar eine vorherrschende Bewusstseinslage sein. Es geht uns also überhaupt nicht um die unsinnige Argumentation, dass “die” Arbeiter immer linker sein müssten als …

Gerade als Leninisten gehen wir davon aus, dass die Klasse nicht nur in sich differenziert ist, sondern auch nicht in der Lage sein kann, spontan revolutionäres Klassenbewusstsein zu entwickeln. Das ist die Aufgabe von Kommunisten und Kommunistinnen, das ist die Aufgabe einer revolutionären Partei. Es ist daher ganz unsinnig, der Arbeiterklasse zum Vorwurf zu machen, dass sie nicht “von selbst” die Aufgaben löst, die nur durch eine Befruchtung der Arbeiterbewegung “von außen” gelöst werden können. Tatsächlich ist die Arbeiterklasse oft bereit und in der Lage spontan voranzuschreiten. Auch die Schaffung mancher Organisationen des new movement unionism zeugen von der “instinktiven” Tendenz des Proletariats, sich gegen die herrschende Klasse zu organisieren.

Aber der Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie wird notwendig, weil die Bürokratie als privilegierte Kaste die Arbeiterbewegung dominiert und ein besonderes Interesse als Mittler zwischen Lohnarbeit und Kapital verfolgt (ganz unabhängig davon ob ein einzelner Bürokrat das will oder nicht). Als Kaste verteidigt sie den Fortbestand der bürgerlichen Gesellschaft, verteidigt sie den Kapitalismus. Deshalb muss sie in allen entscheidenden Klassenkampfsituationen, immer wenn die Arbeiterklasse spontan eigenständig und revolutionär agiert, gegen die Interessen des Proletariats auftreten. Dass die Bürokratie dabei erfolgreich sein kann, hat seine Wurzeln in der Verankerung bürgerlichen Bewusstseins in den Arbeitern selbst, die auch in der Form der gewerkschaftlichen Organisierung zunächst ja nur ihr Interesse als Warenbesitzer (der Ware Arbeitskraft) organisieren.

Der Kampf um die Revolutionierung dieses Bewusstseins muss unausweichlich auch den organisierten Ausdruck dieses bürgerlichen Bewusstseins im Proletariat angreifen, und zwar auf allen Ebenen: politisch, ideologisch und organisatorisch. Indem der Syndikalismus das Problem nicht in den sozialen Wurzeln der Bürokratie, sondern in bestimmten falschen (hierarchischen,…) Organisations-“Gedanken” sieht, hofft er letztlich passiv auf die “sanfte Macht der Vernunft” neuer, bisher “ungeahnter” Organisierungs-“Gedanken”, die spontan den bisherigen “falschen” Weg überwinden werden, statt aktiv den Kampf gegen die bestehenden Machtverhältnisse in den Gewerkschaften aufzunehmen (siehe auch den Artikel “Syndikalismus oder Kommunismus?” in diesem RM).

Die Funktion für die Kapitalistenklasse kann die Bürokratie nur erfüllen, wenn sie eine Bindung an die organisierte Arbeiterklasse hat und z.B. die Gewerkschaften (oder Arbeiterparteien) kontrolliert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie vom Kampf gegen die Kapitalistenverbünde, den bürgerlichen Staat oder bürgerliche Parteien, da die Bürokratie als bürgerliche Agentur in der Arbeiterbewegung agiert. Doch der Unterschied in den Kampfmitteln macht den Kampf nicht minder unumgänglich.

Die syndikalistische Ideologie steht diesem Kampf entgegen, unabhängig von den ehrlichen Absichten vieler ihrer Anhänger. In der Tat sind Versatzstücke syndikalistischer Ideologie in der bundesdeutschen Gewerkschaftsopposition heute auch bei vielen Aktivisten und Aktivistinnen im Vormarsch, weil sie als fortschrittliche Alternative nicht nur zur sozialdemokratischen Bürokratie, zu SPD und PDS, sondern auch zu den linksreformistischen Apparatleuten und ihren bürokratischen Sandkastenspielchen im Vorhof der eigentlichen Bürokratie betrachtet werden.

Wie weiter?

Neben dem Linksreformismus und dem Syndikalismus gibt es noch eine Reihe weiterer Gruppierungen und Strömungen, die sich gerade in den letzten Jahren stärker den Gewerkschaften zuwandten, vor allem Gruppierungen des trotzkistischen Zentrismus.

Zum anderen ist es wichtig zu verstehen, dass Linksreformismus und Syndikalismus keine fest umrissen Lager, sondern mehr oder minder lose Gruppierungen darstellen. Der Einfluss dieser Ideologien und Programme reicht aber sehr viel weiter als nur zu den bewussten Vertretern.

Er reicht auch tief in die betriebliche und gewerkschaftliche Basis der Opposition, die auf etliche 10.000 Anhänger und Anhängerinnen veranschlagt werden kann. Wäre sie um Forderungen, Aktionen, Strukturen organisiert, könnte sie in Verbindung mit Anti-Kapitalisten außerhalb der Gewerkschaften eine wirkliche politische Kraft in der Arbeiterbewegung in Deutschland darstellen. Aber sie ist es nicht. Der Hauptgrund dafür ist hausgemacht. Er liegt zum einen an den vorherrschenden politischen Strömungen in der Gewerkschaftsopposition, die gegenwärtig deren Führung stellen (so sehr sie das auch abstreiten mögen) und die daher auch die politische Hauptverantwortung für deren Zurückbleiben hinter ihren Möglichkeiten trifft.

Doch es kommt ein weiteres Problem hinzu: viele, die links von diesen Strömungen positioniert sind, verfügen selbst über keine politische Strategie, ja wiederholen selbst etliche der Fehler des Linksreformismus und Syndikalismus.

Das betrifft vor allem das Verhältnis von Gewerkschaften und revolutionärer Partei. Wenn die Gewerkschaften zu einem Instrument des revolutionären Klassenkampfes werden sollen, müssen sie offenkundig revolutioniert werden, ihre Führung muss durch eine revolutionäre ersetzt werden, die Strukturen müssen demokratisiert, die Aktion der Gewerkschaften muss Teil des Kampfes gegen die kapitalistische Ordnung werden.

Natürlich sind wir uns der Tatsache bewusst, dass Revolutionäre erst in vor-revolutionären oder revolutionären Krisen die Mehrheit der Gewerkschaften erobern können. Sie können und müssen jedoch die Eroberung der Gewerkschaften und ihre Transformation zu revolutionären Instrumenten schon heute vorbereiten. Sie können und müssen auch in nicht-revolutionären Perioden Positionen in den Betrieben in der Gewerkschafter erringen, als organisierte Strömung wirken und in einzelnen Kämpfen die führende Rolle übernehmen.

Für diese Tätigkeit wie die Revolutionierung der Gewerkschaften selbst ist daher die Schaffung einer revolutionären Arbeiterpartei, einer politischen Organisation der Avantgarde der Klasse, eine unabdingbare Voraussetzung. Natürlich stellen wir diese Aufgabe der Arbeit in den Gewerkschaften und im Betrieb nicht entgegen – diese ist vielmehr selbst Mittel zum Aufbau der Partei.

Aber es bedeutet Folgendes: Die revolutionäre Organisation muss bewusst und organisiert in den Gewerkschaften und Betrieben intervenieren, sie muss eigene Organisationsstrukturen der kommunistischen Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen und ihrer Sympathisanten schaffen.

Dazu bedarf sie einer programmatischen Grundlage, eines Aktionsprogramms, das sich nicht auf den gewerkschaftlichen Horizont beschränkt, sondern revolutionären Charakter hat. Das heißt es muss den Kampf um aktuelle gewerkschaftliche und gewerkschaftspolitische Forderungen wie den Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie und für die Demokratisierung der Gewerkschaft zum Ausgangspunkt nehmen und mit der Frage der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse verbinden.

Diese Sichtweise unterscheidet uns von den verschiedenen zentristischen Strömungen, die den gewerkschaftlichen Kampf vom politischen trennen, die Partei- und Gewerkschaftsarbeit als zwei verschiedene Dinge auffassen. In Wirklichkeit ist für einen Kommunisten oder eine Kommunistin Gewerkschafts- oder Betriebsarbeit nur ein spezifischer Ort seiner oder ihrer Parteitätigkeit.

Unser Ziel kann es daher nicht sein, “konsequente Gewerkschafter” zu werden, wie revolutionäre Politik nie von einem gewerkschaftlichen Standpunkt ausgehen kann. Es gilt vielmehr die Probleme und Fragestellungen gewerkschaftlicher Politik vom Standpunkt des Gesamtinteresses der Klasse, also von dem eines Kommunisten zu betrachten. Das hat nichts mit der Vernachlässigung ökonomischer Forderungen oder anderer gewerkschaftlicher Fragen zu tun – es bedeutet aber, diese in einen größeren politischen Zusammenhang einzuordnen.

Diese Notwendigkeit drängt sich heute vielen Gewerkschaftern auch “spontan” auf als Resultat der Veränderungen der kapitalistischen Weltwirtschaft. Wer z.B. verstehen will, was “Globalisierung” bedeutet, warum profitable Standorte geschlossen werden usw., wird mit einem rein gewerkschaftlichen Herangehen an diese Fragen nicht auskommen. Schon gar nicht werden sich daraus schlüssige Strategien für die Verteidigung der Interessen der gesamten Arbeiterklasse ableiten lassen. In diesem Zusammenhang drängt sich ebenfalls fast automatisch die Notwendigkeit der Schaffung einer internationalen Verbindung zwischen den betrieblichen und gewerkschaftlichen Aktivisten auf. Doch wenn das für diese Ebene gilt, warum gilt es nicht auch für die Ebene der Politik? Drängt nicht die gesamte Entwicklung dazu, dass wir eine neue Masseninternationale schaffen müssen? Drängt sich nicht die Frage auf, wie kommen wir dahin und welche politische Grundlage braucht eine solche Internationale?

Vor diesen Fragestellungen scheuen die meisten Gewerkschaftsoppositionellen zurück. Aber sie werden deshalb nicht weniger brennend. Unsere Einschätzung ist klar: Wir brauchen eine neue Arbeiterinternationale. Wir haben in der gegenwärtigen Situation die Chance, dass dies eine Masseninternationale wird, die die linken Strömungen in den Gewerkschaften mit dem anti-kapitalistischen Flügel der Anti-Globalisierungsbewegung vereint. Wir sind der Auffassung, dass eine solche Internationale ein revolutionäres Programm zum Sturz des Kapitalismus international, zur Errichtung der Diktatur des Proletariats und zum Übergang zum Sozialismus, zur Errichtung der klassenlosen Gesellschaft braucht.

All diese Fragen sind nicht einfach Fragen der “Politik”, sondern auch Fragen, die sich all jenen Gewerkschaftsaktivisten und Aktivistinnen stellen, die nicht nur gegen die Symptome des kapitalistischen Systems sondern gegen das System selbst kämpfen wollen.

Eine wirkliche “Gewerkschaftsopposition” kann sich daher nicht wie die IVG heute auf einige “rein gewerkschaftliche” Kritikpunkte an mangelnder gewerkschaftlicher Demokratie oder ungenügender “gewerkschaftlicher Gegenmacht” beschränken. Genauso wenig reicht es aus, unverbunden mit solch immanenter Kritik in der Gewerkschaftsopposition dann auch noch Diskussionsforen über “Alternativen zum kapitalistischen System” zu organisieren.

Eine oppositionelle Basisbewegung in den Gewerkschaften muss eine systemüberwindende, anti-kapitalistische Orientierung mit einem aktiven, entschlossenen Eingreifen in konkrete Klassenkämpfe verbinden. In diesem Rahmen ist der Kampf gegen die Aktion und Bewusstseinsentwicklung des Proletariats hemmende bürokratische Gewerkschaftsführungen und –Strukturen unerlässlich.

Nur wenn die IVG einen entschiedenen Klärungsprozess in Bezug auf Aktionsorientierung, Orientierung auf den organisierten Kampf um die Gewerkschaftsführung und um die politische Zielrichtung auf ein revolutionäres Aktionsprogramm einleitet, kann aus ihr eine tatsächliche, antibürokratische Gewerkschaftsopposition werden.

Dies ist aber, wie schon gesagt, nicht denkbar, ohne dass sich nicht zugleich eine revolutionäre, kommunistische Partei in der BRD bildet, die in diesem Prozess die wesentlich vorantreibende Kraft spielen muss. Solange dies nicht der Fall ist, kann die IVG nur als (mehr oder weniger zeitlich begrenzte) Vorform für die Herausbildung einer Gewerkschaftsopposition gesehen werden, die besonders nach ihrer Mobilisierungsfähigkeit für konkrete Klassenkämpfe und der Auseinandersetzung mit der Gewerkschaftsführung darin beurteilt werden muss.

Um die IVG weiter zu entwickeln, schlagen wir daher folgende Schritt vor:

1. Wir treten in der Gewerkschaftslinken für selbständige Kampagne gegen die Angriffe der Regierung ein: aktuell speziell gegen die Rentenreform. Diese massive Umverteilung zugunsten des Finanzkapitals wird von der Gewerkschaftsführung letztlich über ihre Beteiligung am Bündnis für Arbeit gedeckt. Die Kampagne gegen die Rentenreform ist daher ein wesentliches Mittel zum Kampf für den Bruch der Gewerkschaften mit dem Bündnis für Arbeit und mit der Unterordnung unter die SPD-geführte Regierung insgesamt. Genauso wesentlich ist es, für eine selbständige Kampagne der Gewerkschaften gegen Rassismus und Faschismus einzutreten: Gegen die Volksfrontpolitik im Kampf gegen Faschismus und Rassismus, gegen die politische Unterordnung der Kampagne unter die Standortinteressen der Konzerne (Ansehen im Ausland) und der Repressionsinteressen des Staates (Verbotslosungen)! Für die Arbeitereinheitsfront zur Zerschlagung des Faschismus und im Kampf gegen den Rassismus!

2. Wir treten dafür ein, dass örtlich handlungsfähige Strukturen der Gewerkschaftslinken geschaffen werden, die allen Gewerkschaftsaktivisten offen sind und zur Umsetzung von Kampagnenschwerpunkten wie zur politischen Diskussion usw. dienen. Allen politischen Gruppierungen und Organisationen, die den Aufbau einer Vernetzung unterstützen, muss das uneingeschränkte Recht auf Propagierung ihrer Ansichten zugestanden werden. Arbeitslosen Gewerkschaftern muss das volle Recht auf Teilnahme und das gleiche Entscheidungsrecht von Beginn an zugestanden werden. Wir erachten das für notwendig, damit die Gewerkschaftslinke aufhört, bloß ein Bündnis oder Diskussionsverein von Linken in den Gewerkschaften zu sein, sondern zu einer wirklichen Basisbewegung mit Verankerung und stetigem Rückfluss zu betrieblichen Aktivisten wird. So kann am besten gewährleistet werden, dass eine breite und offene Diskussion über gegensätzliche Standpunkte und Programme stattfindet und zwar vor und in Beziehung der Basis.

3. Wir treten für die Demokratisierung der Gewerkschaften ein. Das ist ein unabdingbares Kampfmittel gegen die Bürokratie. Gleichzeitig agieren wir in dem klaren Bewusstsein, dass eine wirkliche Demokratisierung erst möglich sein wird nach Entmachtung der Bürokratie selbst. Ebenso ist ein entschlossener Kampf gegen alle Formen von Rassismus, Frauenunterdrückung und Benachteiligung von Nicht-“Normalbeschäftigten” (bzw. Arbeitslosen) in den bestehenden Strukturen der Gewerkschaften notwendig, wenn die bornierte, arbeiteraristokratische soziale Basis der Bürokratie ernsthaft erschüttert werden soll.

4. Wir treten vom Beginn an für den Aufbau einer internationalen Verbindung zwischen den Gewerkschaften respektive den Gewerkschaftsoppositionellen ein. Dazu sollen internationale Aktionskonferenzen von Vertretern aus verschiedenen Branchen einberufen und Kampagnen beschlossen werden (z.B. für eine internationale Automobilarbeiterkonferenz). Wir treten konkret dafür ein, dass der erste Mai 2001 zu einem internationalen Aktionstag der Gewerkschaften wie der gesamten anti-kapitalistischen Bewegung wird. In allen Ländern, wo der 1. Mai kein Feiertag, ist treten wir für Massenstreiks ein, um ihn zu einem Aktionstag zu machen. In der BRD und Österreich muss der 1. Mai wieder zum Kampftag der Arbeiterklasse werden!

5. Wir brauchen eine offene und uneingeschränkte Diskussion über die zukünftigen Strukturen und das politische Programm einer gewerkschaftlichen Opposition in der BRD wie international. Sie muss allen politischen Gruppierungen, die das Ziel der Schaffung einer gewerkschaftlichen und betrieblichen Basisbewegung gegen die Bürokratie verfolgen, offen stehen. Foren zur Auseinandersetzung müssen geschaffen oder erweitert werden und müssen allen Teilnehmern für Beiträge und Entwürfe geöffnet werden (z.B. das labournet).

In einem solchen Rahmen werden wir ein revolutionäres Aktionsprogramm für die Gewerkschaften vorlegen, für das wir in der Gewerkschaftslinken wie in den Gewerkschaften überhaupt eintreten.




Zu den politischen Ergebnissen des Gipfels: Außer Spesen nichts gewesen?

Martin Suchanek, Neue Internationale 221, Juli/August 2017

„Wir stimmen darin überein, dass wir nicht übereinstimmen.“ So könnte das Resultat des G20-Gipfels zusammengefasst werden.

Wenig überraschend hat Donald Trump seine Meinung zum Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 nicht geändert, die USA werden ihm nicht wieder beitreten. Die anderen G20 wollen sich daran halten – jedenfalls im Prinzip. Die Türkei fordert jedoch vor einer endgültigen Ratifizierung, ihren Status im Rahmen des Abkommens zu klären. Würde sie darin als Industrieland eingestuft werden, müsste sie nämlich weit größere Summen aufwenden denn als „Entwicklungsland“, das auf Gelder hoffen könnte.

Für die FAZ gilt schon als Erfolg, dass sich in der Abschlusserklärung des Gipfels ein Bekenntnis zum Freihandel wiederfindet. Immerhin hätten dem, wenn auch mit einigen „relativierenden“ Zusätzen, sogar die USA zugestimmt.

Vor allem aber wäre es gut gewesen, dass sich die 20 überhaupt getroffen haben.

„Die Staats- und Regierungschefs aus 19 Industrie- und Schwellenländern sowie die Vertreter der EU sind in schwieriger Weltlage zusammengekommen und haben die Großbaustellen der internationalen Politik betrachtet. Dass sie dabei nicht immer ein Herz und eine Seele waren, liegt in der Natur der Sache. Umso mehr sind die Fortschritte zu begrüßen.“ (Klaus-Dieter Frankenberger, G-20-Gipfel war kein Fehlschlag; FAZ, 9.Juli 17)

Worin bestanden die Fortschritte? Putin und Trump haben ihr „Gesprächsklima“ verbessert. Sie hatten nicht nur einen überraschenden Deal zur Bekämpfung der „Cyberkriminalität“ verkündet, der jedoch nicht einmal den Rückflug der Airforce One in die USA überstand. Wichtiger ist wohl, dass sie auch einen weiteren „Deal“ zur reaktionären Befriedung Syriens, einen sog. Waffenstillstand, ausgehandelt haben.

Es ist wohl mehr als nur Symbolik, dass dieses Männertreffen zeitgleich zur Präsentation des Programms der G20/EU-Afrika-Partnerschaft stattfand. Die beiden „starken Männer“ wollten Merkel offenbar zeigen, dass dieses Abkommen nicht allzu wichtig ist, und ihr vor allem nicht die Bühne überlassen, sich als „Retterin“ eines Kontinents darzustellen.

Die FAZ verweist außerdem zu Recht darauf hin, dass der Gipfel nicht nur keine großen, greifbaren Resultate brachte, sondern bilaterale Gespräche im Vordergrund standen.

Unübersehbare Brüche

Die Bundesregierung kann zwar für sich verbuchen, dass die große Mehrheit der G20 nicht ins „Trump-Lager“ überlief, dass sich Länder wie Saudi-Arabien oder die Türkei nicht offen gegen das Pariser Klimaschutzabkommen stellten, dass China und die EU weiter beanspruchen, eine führende Rolle in Sachen industriellen Umbaus einzunehmen.

Freilich wird die Klimafrage wie alle anderen großen Fragen von der zunehmenden Konkurrenz und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt bestimmt. Daher kommen die G20 zu wenig greifbaren Ergebnissen. Die Entwicklung der Weltwirtschaft und internationalen Politik deutet auf eine Verschärfung von Instabilität, Krisenhaftigkeit und damit auch ein immer offeneres Austragen der zunehmend explosiven Gegensätze hin – sei es nun auf der arabischen Halbinsel oder im Streit um Nordkorea.

Angesichts der mageren Ergebnisse lesen sich die offiziellen Erklärungen der Bundesregierung wie ein verzweifelter Versuch, eine Not zur Tugend zu machen, würden doch wenigstens die Unterschiede und Differenzen „offen“ benannt. Viel wichtiger ist jedoch, dass der Gipfel auch neue Momente der Weltlage deutlich zum Ausdruck brachte:

  1. Die USA können nicht mehr den Anspruch erheben, die politisch führende Nation der G20 und auch nur der „westlichen Welt“ zu sein, wie ihnen dies unter Obama auch noch von ihren KonkurrentInnen ohne weiteres zugebilligt wurde.
  2. Die Regierung Trump hat vor und auch während des Gipfels wiederholt und offen versucht, die politischen Ziele von EU und Deutschland zu unterlaufen. So traf sich Trump nicht nur mit den russischen, saudischen und türkischen Delegationen, sondern auch mit der polnischen, slowakischen und ungarischen Regierung vor dem G20-Gipfel.
  3. Macron hat umgekehrt die Anwartschaft auf eine stärkere globale Führungsrolle offen formuliert – teilweise auch stellvertretend für den deutschen Imperialismus, dessen Regierung die „überparteiliche“ Gastgeberrolle spielen musste.
  4. In jedem Fall zeigt sich daran: Der westliche Block unter US-Hegemonie ist brüchiger geworden, neue „Allianzen“ werden ins Spiel gebracht, die Mächte, die um die Aufteilung und Zurichtung der Erde ringen, stellen sich neu auf.
  5. Diese Formierung verläuft – wie im Verhältnis der USA zu Russland besonders deutlich wird – auf widersprüchliche Weise, die von gemeinsamen Abkommen (Syrien) bis hin zur Fortsetzung eines neuen Kalten Krieges (Ukraine, Aufrüstung) reicht.

Merkels Strategie gescheitert

Die deutsche Bundesregierung und v. a. Kanzlerin Merkel hatten sich erhofft, den G20-Gipfel zur eigenen politischen Inszenierung nutzen zu können. Inmitten einer zunehmend unsicheren Welt wollten sie sich und ihre engeren Verbündeten – vor allem Frankreich, Italien, die EU – als Pol der Stabilität präsentieren.

Die zunehmenden Gegensätze zwischen den Großmächten haben diese Inszenierung als das entlarvt, was sie ist – ein großer Schwindel. Hinter ihm stecken selbst nur die ökonomischen und geostrategischen Interessen des deutschen Imperialismus. Das zeigt sich einerseits im Ruf nach Freihandel, Klimapolitik, Hilfe für (InvestorInnen in) Afrika, andererseits darin, den militärisch schwachen und selbst von der Krise der EU gebeutelten Imperialismus als „Verhandlungsmacht“, als „Vermittler“ stärker zu positionieren.

Von einem Erfolg auf diesem Gebiet wagt jedoch nicht einmal die Bundesregierung zu sprechen.

Damit stellt sich freilich auch für die Masse der Bevölkerung die Frage: wozu überhaupt der ganze Aufwand? Wozu werden Leute wie Trump hofiert, die ohnedies nicht vorhaben, zu irgendeinem gemeinsamen Entschluss zu kommen? Hätte nicht eine Video-Konferenz ausgereicht, um „miteinander zu reden“? Und was kommt schon raus bei den zahlreichen geheimen Gesprächen hinter verschlossenen Türen außer noch mehr Zumutungen für die Masse der Weltbevölkerung?

Kurzum, für die Bundesregierung stellt sich ein Legitimationsproblem. Das wurde auch in den immer kritischer werdenden Berichten über die Polizeirepression deutlich. Vom „weltoffenen“ Hamburg, das die G20 den Menschen näherbringen sollte, blieben nur rote, blaue und sonstige Überwachungszonen. Während 20.000 PolizistInnen die Stadt in Beschlag nahmen, wurden die BewohnerInnen Hamburgs aufgefordert, sich von den G20 weiter zu entfernen und die Stadt zu verlassen.

Nach den Auseinandersetzungen im Schanzenviertel und der medialen Hetze gegen die „Linksradikalen“ und „GewalttäterInnen“ ist die Stimmung hier zwar etwas gekippt – die Frage, wozu der Gipfel überhaupt gut gewesen sein soll, bleibt jedoch.

Unmittelbar wird diese Frage die Grundlagen der Stabilität im Inneren nicht in Frage stellen. Dazu ist die wirtschaftliche Konjunktur noch zu gut. Vor den Bundestagswahlen wird es auch zu keinen größeren sozialen Angriffen kommen. Trotz des Scheiterns ihrer Gipfelstrategie erscheint Merkel noch immer als eine Verkörperung der Stabilität, als kleineres Übel gegenüber den Trumps, Putins, Mays oder Erdogans.

Aber die Phasen des Legitimitätsverlustes zeigen auch, dass die Inszenierung, ja die relative Stabilität der Bundesrepublik auf wackeligen Füßen stehen. Einerseits wird die EU und damit auch der deutsche Imperialismus in der globalen Konkurrenz zunehmend mehr unter Druck geraten. Andererseits wird er selbst zu drastischeren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Initiativen greifen müssen, um im Kampf um die Neuaufteilung der Welt verlorenes Terrain gutzumachen.

Dass beim Gipfel in Hamburg so wenig herauskam, verdeutlicht eins: Die G20 sind immer weniger ein Ort der Einigung auf gemeinsame Politik, auf gemeinsame Strategien der Großen. Vielmehr wird der Gipfel selbst fast ausschließlich zum Ort der Neuformierung und Austragung von regionalen oder globalen Konflikten, die tagtäglich bei der Formierung neuer Handelblöcke, politischer Bündnisse, im Nahen und Mittleren Osten, in der Ukraine, im südchinesischen Meer stattfinden.

So wichtig daher Massenproteste und Blockaden wie in Hamburg sind – geschlagen können die G20 nur werden, wenn es gelingt, eine globale Bewegung gegen Krieg, Militarismus, imperialistische Interventionen und in Solidarität mit ArbeiterInnen- und Befreiungskämpfen aufzubauen, die auch koordiniert in den Betrieben und auf der Straße agiert. Gewinnen können wir nur, wenn wir den G20 und der imperialistischen Ordnung eine Internationale des Widerstandes und Kampfes für eine andere, sozialistische Gesellschaft entgegensetzen.




Vor und nach dem Gipfel: Demokratie – not welcome

Martin Suchanek, Neue Internationale 221, Juli/August 2017

Hamburgs Scharfmacher und Innensenator Andy Grote fühlt sich wohl bestätigt. Der SPD-Politiker, ein spät geborener Noske, vertrat von Beginn an eine „harte Linie“ gegen die Proteste und maximale Härte gegen alle Widerstandsformen. So ließ er in der Bild-Zeitung am 20. Juni verlautbaren:

„Linke Chaoten wollen den Nahverkehr stören.“ Die radikale Linke würde „ihren ideologischen Kampf in der jetzigen Weltlage ausgerechnet gegen unseren Staat und unsere Polizei“ führen.

Wochen vor dem Gipfel waren die vollmundigen Ankündigungen der Bundesregierung und des Hamburger Senats, den Gipfel „bürgernahe“ auszurichten und die G20 näher an die Menschen zu rücken, ins Gegenteil umgeschlagen.

Die Stadt wurde von rund 20.000 PolizistInnen und weiteren Sicherheitskräften eingenommen und in Zonen mit unterschiedlichen Stufen der Überwachung und Einschränkung bürgerlicher Rechte eingeteilt. Den Kern bildete die „rote“ Zone um den Tagungsort und die Elb-Philharmonie. Dort wurde ein durchgängiges Versammlungsverbot verhängt und den AnwohnerInnen untersagt, BesucherInnen zu empfangen. Um dieses Gebiet wurde eine insgesamt 38 km2 große „blaue Zone“ errichtet, das sog. Transfergebiet. Mittels einer Allgemeinverfügung konnte dort jede Versammlung oder Aktion verboten werden, die Fahrten der Staats- und Regierungschefs vom Flughafen zu ihren Hotels oder zum Tagungsort behindern könnten.

Hinzu kam die massive Überwachung und Einschüchterung des sich formierenden Widerstandes. Schon in der Woche vor dem Gipfel wurden z. B. die Räumlichkeiten des „Roten Aufbaus“ durchsucht und Computer beschlagnahmt.

Vor allem aber sollte die Infrastruktur des Protestes – also die Camps – blockiert, ja verunmöglicht werden. Grote: „Kommt ein Camp, wäre die Situation für die Polizei ungleich schwerer kontrollierbar. Erfahrungen zeigen, dass sich militante Aktivisten in solchen Camps vernetzen und koordinieren. Dadurch steigt die Gefahr krimineller Aktionen deutlich.“

Gewollte Eskalation

Mehr als bei allen Gipfel-Protesten der letzten Jahre war die Strategie des Senates, der Polizeiführung und letztlich auch der Bundesregierung auf Eskalation ausgerichtet. Gerade für die Beteiligung von Jugendlichen, MigrantInnen wie überhaupt von vielen Lohnabhängigen ist es essentiell, günstige, selbstorganisierte Unterbringungsmöglichkeiten in Protestcamps zu haben. Diese dienen nicht nur der Diskussion und dem Austausch – sie sind schlichtweg die einzige finanziell erschwingliche Form der Unterbringung für Tausende, die ihren Protest gegen die Politik der G20 auf Demonstrationen und Blockaden zum Ausdruck bringen wollen.

Für Leute wie Grote ist das schon „kriminelle Energie“, die Blockade eines Fahrzeugs ein „Gewaltakt“, den es zu unterbinden gelte. Daher wurden die Proteste von dieser Seite aus auch von Anfang an stigmatisiert.

Nachdem die OrganisatorInnen der Protestcamps vor Gericht oder durch Aktionen erste Teilerfolge erringen konnten, sollte dieser begrenzte Spielraum im Vorfeld der Aktionen durch Repression, Einschüchterung, Vorkontrollen, nächtliche Räumungsdrohungen und reale Räumungen einzelner Camps wieder zunichte gemacht werden.

So musste die Polizei zwar im Camp im Hamburg-Altonaer Volkspark Großzelte erlauben, versuchte aber, die Menschen am Schlafen zu hindern, und unterband die Errichtung von Toiletten, Duschen und einer Küche, also essentieller Infrastruktur. Dabei gaben einzelne PolizistInnen auch offen zu, dass sie seit Ende Juni „von oben“ die politische Anweisung hätten, das Leben für die Protestierenden so schwer wie nur möglich zu machen.

Weitaus brutaler ging es in Entenwerder ab. Dort wurden zwar Schlafzelte errichtet, der Aufbau der Infrastruktur jedoch verhindert. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli griff die Polizei die Übernachtenden an und räumte das Camp. Auch wenn viele wieder zurückkehrten, so musste es schließlich aufgegeben werden, weil der Entzug jeder Infrastruktur die Durchführung unmöglich machte.

Zugleich gingen die Bullen brutal gegen Demonstrationen und Aktionen in der Stadt vor. Nachdem das einzige verbliebene größere Camp im Altonaer Volkspark am 5. Juli durch ein als Demonstration angemeldetes „Sleep In“ letztlich durchgesetzt werden konnte, setzte die Polizeiführung ihre Strategie nunmehr auf andere Weise durch.

Am 6. Juli griff die Polizei die Demonstration „Welcome to Hell“, die vor allem vom autonomen Spektrum organisiert worden war, nach wenigen hundert Metern gezielt an. In den senats- und polizeinahen Medien und auch im NDR, der fast schon wie die Pressestelle der Polizeiführung wirkte, wurden nachträglich Horrorgeschichten über die „gewaltbereiten Chaoten“ verbreitet, die Polizeiaktion als eine Art präventiver Selbstverteidigung hingestellt.

In Wirklichkeit war es umgekehrt. Die Demonstration war natürlich lautstark, militant, groß, aber keineswegs ausschließlich von autonomen Gruppierungen geprägt. Vor allem aber hatte es keine Angriffe, keine Übergriffe aus der Demonstration heraus gegeben. Vielmehr wurde die angebliche Vermummung Einzelner zum Vorwand genommen, den Marsch auf einer Länge von mehreren hundert Metern anzugreifen. Dies geschah am Beginn der Wegstrecke, wo eine Seite der Straße von einer Mauer abgegrenzt war, so dass es für die Demonstrierenden keine Fluchtmöglichkeit gab.

Die Polizei hat hier bewusst auf Panik, Einschüchterung gesetzt. Ihr Ziel war die Zerschlagung des „harten Kerns“ vermeintlich gewaltbereiter DemonstrantInnen, des sog. „schwarzen Blocks“, mit einem Streich.

Trotz unglaublicher Brutalität, die billigend schwere Verletzungen von DemonstrantInnen oder auch Unbeteiligten in Kauf nahm, gelang dies nicht.

An diesem Punkt drohte die Strategie der Polizeiführung und des Staates, mit harter Hand den Widerstand und die Proteste zu brechen, ins Gegenteil umzuschlagen. Auch große Teile der bürgerlichen Presse, linke, aber auch grüne und liberale Kräfte zeigten sich schockiert. Sie fühlten sich – nicht zu Unrecht – an die blutigen Tage von Genua erinnert. Damals hatte ein Faschist die Polizeikräfte dirigiert, in Hamburg wirkte ein Mini-Noske.

Wut und Kampf um die Schanz

Die Repression hatte aber auch den Effekt, dass sie die Wut der Demonstrierenden und aus den Camps Vertriebenen weiter steigerte. Ab der Nacht vom 6. Juli kam es in Stadtteilen wie Altona, vor allem aber im Schanzenviertel, zu emeutenhaften, krawallartigen Ausschreitungen. Scheiben von Banken und Geschäften wurden entglast. Im Schanzenviertel verlor die Polizei zeitweilig die Kontrolle.

Auch wenn diese Aktionen nachträglich „den“ Autonomen oder „gewaltbereiten“ Linksradikalen zugeschrieben wurden, so waren sie einerseits eine Aktion verzweifelter, von den Bullen seit Tagen niedergedrückter Menschen – also eine verständliche, wenn auch politisch ins Leere gehende Reaktion auf Repression. Andererseits mischten sich gerade im Schanzenviertel auch andere Elemente, teilweise deklassierte Jugendliche, teilweise sicher auch Agents Provocateurs unter die Randale. Nach neueren Meldungen sollen sich auch Rechte von HOGESA unter diese gemischt haben (siehe NEUES DEUTSCHLAND, 11.7.2017, S. 5: „,Cobras’ im Schanzenviertel“). Hier verband sich Wut mit politischer Unbestimmtheit, Leere und sicher auch PolizeiagentInnen.

Insgesamt zeigten diese Aktionen eine Mischung aus Frustration wie auch der inneren Widersprüchlichkeit autonomer Politik. Auch die OrganisatorInnen von „Welcome To Hell“ verurteilten die „sinnentleerte Gewalt“. Aber sie hatten keinen Plan, keine Methode, wie die Wut in politisch zweckmäßige, also organisierte, den Massen außerhalb der „Szene“ vermittelbare Formen gebündelt werden und sinnlose Gewalt verhindert werden könnte.

Dazu hätte es nämlich einer politischen Organisation bedurft sowie von demokratisch legitimierten, im Stadtteil verankerten Selbstverteidigungsstrukturen, die sich gegen Polizeiübergriffe zur Wehr setzen, aber auch den Angriff auf „eigene“ Läden oder Autos verhindern hätten können. Eine Auseinandersetzung um solche Fragen halten wir für die nächsten Wochen und Monate für essentiell, um politische Lehren für den zukünftigen Widerstand zu ziehen.

Aktuell steht für uns jedoch die Solidarisierung mit den Menschen, Gruppierungen, Initiativen im Vordergrund, die nach den Kämpfen im Schanzenviertel jetzt kriminalisiert werden sollen. Als Anti-ImperialistInnen haben wir große politische Differenzen mit den Gruppierungen aus dem Spektrum der Roten Flora – aber gegen die Räumungsdrohungen durch den Staat stehen wir solidarisch auf ihrer Seite. Dasselbe gilt für die GenossInnen aus dem B5 in Hamburg oder in der Berliner Rigaer Straße!

Die Polizei, Senat und Regierung präsentierten sich ihrerseits überrascht von der Eskalation, die sie selbst herbeigeführt hatten. Bewusst wurden die Aktionen in der Schanze auch übertrieben: „Zustände wie im syrischen Bürgerkrieg“ seien eingekehrt. Ganz offenkundig hatte der Staatsapparat ein Interesse daran, die Lage besonders drastisch darzustellen, ließ Feuer trotz vorhandener Löschfahrzeuge weiter ausbrennen usw.

Schließlich ging es darum, die öffentliche Meinung wieder zu drehen und nachträglich alle „BedenkträgerInnen“ und KritikerInnen an den übermäßigen Sicherheitsvorkehrungen als (un)freiwillige UnterstützerInnen der RandaliererInnen hinzustellen. Die bürgerliche Presse schwenkte auch rasch in diesen Chor ein – und zeigt wieder einmal, dass sie selbst bei demokratischen Anliegen wie der Durchsetzung von Demonstrationsrechten nur eine unzuverlässige Verbündete sein kann.

Blockaden und massive Übergriffe

Dabei waren die Blockadeaktionen am 7. Juli wahrscheinlich eine der Aktionen, die von der meisten Polizeirepression begleitet war. Ein Demonstrationszug (Finger) mit 1000 bis 2000 Menschen, der südlich der roten Zone startete, wurde schon nach 10 Minuten durch Einsatz von Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern zerstreut. Einer konnte immerhin die Anfahrt von Donald Trump verzögern. Drei Blockadezüge, die vom Camp ausgingen, wurden massiv angegriffen, Dutzende zum Teil schwer verletzt.

Insgesamt nahmen an den verschiedenen Blockaden, am Schulstreik und der Demonstration am Nachmittag (zweite Welle) weit über 10.000 teil.

Die Blockaden waren zwar recht entschlossen geführt, aber zersplittert in verschiedene Aktionsformen (Hafen, Block-G20, …), was ihre Schlagkraft schwächte.

Anders als noch in den Tagen zuvor wurde aber die Repression gegen Demonstrierende, von denen viele in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten, viel weniger öffentlich thematisiert.

Das setzte sich auch bei den weiteren Aktionen fort. Die Demonstration zur Elb-Philharmonie, die am 7. Juli stattfinden sollte, wurde von den OrganisatorInnen abgesagt, weil sie einen ähnlichen Angriff wie auf die „Welcome-to-Hell-Demonstration“ fürchteten. Das Konzert, das stattdessen organisiert wurde, wurde immer wieder von Polizeikräften provoziert, die mit Fahrzeugen vor die Bühne fuhren.

Schließlich erreichte die Repression mit weiteren Drohungen gegen Protestcamps und der massiven Kontrolle abreisender DemonstrantInnen ihren letzten – vorläufigen – Höhepunkt.

Mediale Gegenoffensive

Senat, Regierung, Polizeiführung zogen nun ihre mediale Gegenoffensive – nicht ohne wechselseitige Schuldzuweisungen – auf.

Waren der Hamburger Senat und die Polizeiführung noch am Beginn der Protestwoche wegen ihrer zu harten Haltung auch in der liberalen Presse kritisiert worden, so kippte nun die Berichterstattung, allen voran natürlich die der Boulevardpresse.

Jetzt fragten auch die „liberalen“ bürgerlichen Blätter und Online-Magazine, warum die Rote Flora noch immer existiere, warum es im Vorfeld nicht mehr Festnahmen und Sicherheitsverwahrungen gegeben habe. Politisch wird natürlich auch ein Sündenbock gesucht: Olaf Scholz, der Hamburger Bürgermeister, ist einer der ersten KandidatInnen dafür.

Seither überbieten sich deutsche PolitikerInnen aus der Großen Koalition und der politischen Rechten mit Forderungen nach noch mehr Überwachung und Polizeibefugnissen und Dämonisierung der Linken.

Aus der SPD heraus hieß es, dass die Straßenschlachten in der Schanze das Werk von „Terroristen“ wären, womit sie nicht die Polizei meinten. CDU-PolitikerInnen und Kanzleramtsminister Altmaier verglichen die Aktionen mit Anschlägen von Neonazis und des IS (!).

Politische Geschmacklosigkeit und blanker Zynismus waren schon immer ein Markenzeichen jener, die Krieg, Besetzung und Ausplünderung von Ländern rechtfertigen oder betreiben, die wie in Afghanistan oder im Irak zum Tod Hunderttausender, ja Millionen führen. Doch was scheinen für Altmaier und Konsorten schon diese Toten zu zählen im Vergleich zu verletzten deutschen Schlägerbullen?

Bei Hetze und Diffamierung soll es aber nicht bleiben.

Eine europaweite „Extremistendatei“ gegen links-extreme GewalttäterInnen wäre jetzt das Gebot der Stunde, das fordern Schulz und Gabriel für die SPD; Seehofer und de Maizière wollen das Vorhaben auch auf den Weg bringen. Außerdem wird auch eine Fortsetzung von Kontrollen an den Grenzen gefordert.

Wie die Aktionen in Hamburg gezeigt haben, ist die Koordination der Überwachungs- und Polizeiinstrumente in Europa ohnedies schon weit fortgeschritten. Dies soll nun noch weiter angeschoben werden. Vor allem aber soll es offen legalisiert und auch massenhaft zur Anwendung kommen, also auch alle jene betreffen, die mit möglichen „GewalttäterInnen“ zusammenarbeiten, gemeinsame Camps, Demonstrationen usw. organisieren. Kurzum, es droht eine flächendeckende Erfassung aller im weiteren Sinne des Wortes linken Kräfte.

Am Sonntag, dem 9. Juli, haben die Polizeikräfte bei der Kontrolle abreisender DemonstrantInnen am Hamburger Bahnhof und bei den Bussen nach Berlin offenkundig schon mit der „Datensammlung“ begonnen. Es geht dabei nicht um die Erfassung von Kriminellen, sondern um die Kriminalisierung von (potentiellem) Widerstand.

Außerdem soll die Polizei personell aufgestockt und waffentechnisch hochgerüstet werden. So fordern manche „SicherheitsexpertInnen“ die Zulassung von Tasern (Elektroschockpistolen) und Gummi-Geschossen.

Druck

Auch die Linkspartei geriet unter Druck, nachdem sich einige ihrer Führungsmitglieder nicht von den Autonomen distanziert hatten. Die Vorsitzende Kipping und der Abgeordnete Pflüger wiesen in ihren Stellungnahmen die politische Verantwortung für die Repression und Auseinandersetzungen zu Recht Regierung, Senat, Polizeiführung zu und riefen dazu auf, dass sich die Linke angesichts der Hetze nicht spalten lassen dürfe.

Das haben jetzt der Spitzenkandidat Bartsch und der Parteivorsitzende Riexinger besorgt. Letzterer erklärte, dass „die Linke mit Linksextremismus gar nichts zu tun hätte“ und die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssten. „Das hat mit linker Politik nichts zu tun, auch nicht mit linkem Widerstand, der auch Sitzblockaden mit einschließen kann.“ (http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bernd-riexinger-die-linke-hat-mit-linksextremismus-nichts-zu-tun/20041880.html).

Ob dieser Kniefall vor dem bürgerlichen Legalismus der Linkspartei Punkte für Rot-Rot-Grün bringt, darf bezweifelt werden. Entsolidarisierung ist es allemal, die die Untiefen des parlamentarischen Kretinismus zum Vorschein bringt.

Bis zur Sitzblockade – weiter hat der „Widerstand“ für die Linkspartei anscheinend nicht zu gehen. Welch Hohn angesichts des Polizeiangriffs auf friedliche Demonstrationen, auf Blockadeversuche und Protest-Camps.

Die Alternative zur unorganisierten und politisch nicht zielgerichteten, verfrühten Randale sind nicht der Pazifismus und Harmlosigkeit. Es ist vielmehr die organisierte Selbstverteidigung gegen Provokationen und Übergriffe. Es ist die bedingungslose Solidarität mit allen von der Polizeigewalt, Repression, Fahndungen Betroffenen. Wir lehnen jede Verfolgung sog. „GewalttäterInnen“ durch Staat und Polizei ab, den VertreterInnen eines Systems, das täglich Ausbeutung und Unterdrückung, Abschiebung, Verfolgung und Tod hervorbringt.

Zweitens brauchen wir in dieser Lage des Angriffs auf demokratische Rechte ein politisches Aktionsbündnis aller Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, v. a. der Gewerkschaften, der Linken, von MigrantInnen, Jugendorganisation usw. Gerade vor der Bundestagswahl sollte die Phase höheren politischen Interesses für eine Kampagne gegen die drohenden Gesetzesverschärfungen, Einschränkungen demokratischer Rechte, sog. „Terrorlisten“ sowie für Abschaffung aller Geheimdienste genutzt werden. Das wäre auch eine zentrale Aufgabe der Anti-G20-Bündnisse und auch der Linkspartei!

Vor allem aber sollte sich nach Hamburg niemand mehr etwas vormachen über den Staat, über das System, in dem wir leben. Die bürgerliche Demokratie ist letztlich eine Schönwetterveranstaltung. Wird sie der herrschenden Klasse unliebsam, so tritt sie sie mit Füßen. So wichtig daher die Verteidigung demokratischer Rechte auch ist – sie kann nie ein Ziel für sich selbst sein, sondern nur ein Mittel zur Ausweitung unseres Handlungsspielraums, unserer Organisiertheit, unserer Kampfmöglichkeiten gegen ein System, in dem die Repression von Hamburg leider kein Betriebsunfall ist.




Helmut Kohl – Der Tod des Glücksfalles

Frederik Haber, Infomail 951, 30. Juni 2017

Jahrelang war er kaum noch der Rede wert. Jetzt ist er tot und alle überschlagen sich in Ehrerbietung. Merkel, die ihn einst aus der Partei hinauskomplimentiert hatte, nennt ihn „einen Glücksfall für uns Deutsche“, Gabriel hält ihn für einen „großen Deutschen“ und „großen Europäer“.

Die CSU twittert „Helmut Kohl war ein großer Staatsmann, seine Verdienste um unser Land sind unschätzbar“. Der größte Vorsitzende diese Partei, Franz-Josef Strauss, hatte ihn 1976 noch als „total unfähig“ bezeichnet. International erhält er posthum Beifall und Respekt von Bush und Juncker, von Gorbatschow und Putin.

Das erstaunt. Nach seinem Abgang 1998 war er erledigt gewesen. Wurde ein alter Staatsmann für eine Talkrunde gesucht, traten Genscher oder Schmidt auf. In der CDU war er zur Unperson geworden.

In seiner aktiven Zeit galt Kohl vielleicht nicht als total unfähig, aber immer als dumm und tollpatschig. Er schien sowohl anderen Akteuren im Inneren, ob Strauss (CSU), Schmidt und Brandt (SPD), Genscher und Lambsdorff (FDP) oder auch den damaligen FührerInnen der Grünen oder einem Gysi geistig weit unterlegen, als auch seinen internationalen Gegenübern wie Thatcher, Mitterand oder Gorbatschow.

In der Schule schaffte er das Abi erst mit 20. Seine Doktorarbeit in Geschichte muss so erbärmlich und peinlich gewesen sein, dass sie nach den ersten Berichten darüber in den Medien aus der Uni-Bibliothek Heidelberg für die Öffentlichkeit entfernt wurde.

Was machte diesen Mann groß?

Die Rolle eines Individuums in der Weltgeschichte wird von zwei Seiten bestimmt: von den subjektiven Fähigkeiten der Person und zweitens von den Umständen, in denen sie wirken. Letztere sind am Ende entscheidend. Trotzki stellt dies wunderbar in der Geschichte der Februarrevolution 1917 dar:

„Auch der selbstherrlichste aller Despoten ähnelt recht wenig einer „freien“ Individualität, die willkürlich den Ereignissen ihren Stempel aufdrückt. Er ist stets nur der gekrönte Agent der privilegierten Klassen, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formen. Haben diese Klassen ihre Mission nicht erschöpft, dann steht auch die Monarchie fest und ist selbstsicher. Dann verfügt sie über einen zuverlässigen Machtapparat und über eine unbeschränkte Auswahl an Exekutoren, weil die fähigsten Menschen noch nicht in das Lager des Feindes übergegangen sind. Dann kann der Monarch persönlich oder vermittels seiner Günstlinge zum Träger großer und fortschrittlicher historischer Aufgaben werden.“ (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap06.htm)

Da es Trotzkis Absicht ist, zu erklären, warum der Zarismus auch mit einem anderen Herrscherpaar untergegangen wäre, ist für ihn dies nur der Auftakt, um damit fortzufahren, was passiert, „wenn die Sonne der alten Gesellschaft sich endgültig dem Untergange zuneigt“.

Was für MonarchInnen gilt, gilt auch für das Führungspersonal von anderen Ausbeutungs- und Unterdrückungsgesellschaften. Kohl war Kanzler in einer Zeit, in der für den deutschen Imperialismus der Sonne ein gutes Stück näher rückte und diese stärker für ihn zu leuchten begann. Das war nicht Kohls Verdienst. Aber in dieser Zeit der Veränderung konnte Kohl mit seinen Fähigkeiten punkten. Für sich und für den deutschen Imperialismus. Dass nach seiner tiefen Überzeugung alles, was gut für „Deutschland“, also eigentlich seine herrschende Klasse, auch gut für ihn war – und umgekehrt – hat ihm dabei nur geholfen. Was andere in frecher Demagogie behaupten, war bei ihm echter Glaube.

Beispielhaft zeigte dies der Zwischenfall von Halle 1991: Aus Enttäuschung über die sich bereits abzeichnende soziale Katastrophe im Osten und die falschen Versprechungen flogen Eier und Tomaten auf den Kanzler. Ein anderer hätte versucht das zu ignorieren oder seine Schläger geschickt. Nicht so Kohl. Er wollte selbst den WerferInnen für diese Ungehörigkeit eine verpassen und dafür gar die Sperrgitter durchbrechen. Die edle Einfalt dieses Mannes war nicht gespielt.

Seine Stärken

Oft wurde ihm der Vorwurf gemacht, Probleme „auszusitzen“. Man kann es auch Beharrlichkeit nennen. Nachdem er bei seinem ersten Versuch CDU-Chef zu werden, noch haushoch gegen Rainer Barzel verloren hatte, wartete er ab, bis dieser mit seinem Misstrauensvotum gegen Willy Brandt – trotz genügend gekaufter Überläufer – gescheitert war.

Bei seiner ersten Kandidatur 1976 reichte es nicht zum Kanzler, er musste warten bis Strauss 1980 die nächste Wahl verloren hatte, um dann 1982 mit dem Parlamentsputsch an den ersehnten Platz zu kommen.

Er saß auch die größten Massenbewegungen der Nachkriegsgeschichte aus, gegen die Atompolitik, gegen die NATO-Hochrüstung, die Streiks der MetallerInnen für die 35-Stundenwoche oder gegen seinen Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. „Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter“ meinte er einst. Diese stiernackige Beharrlichkeit wirkte in seinem Verhalten gegenüber den Massen besonders stumpfsinnig. Ihm war es nicht gegeben, sich an die Spitze von Bewegungen zu stellen, die Massen zu begeistern und damit zu kontrollieren. Das einzige Mal, dass er wirklich zum Helden der Massen wurde, war nachdem die halbe politische Revolution in der DDR gescheitert war und in die volle Konterrevolution umschlug. Als die Hoffnung auf eine bessere DDR umschlug in die pure Unterwerfung unter das Diktat der (west)-deutschen Bourgeoisie.

Wie so oft war auch der Jubel, den er da empfing, weniger Kohls Verdienst, sondern mehr das Versagen der Linken und die Verweigerung der SPD wie der Gewerkschaften für eine Alternative zu kämpfen. Lafontaines Kritik an der Einheit verhalf Kohl zum Sieg in den ersten gesamtdeutschen Wahlen, Scharpings Verweigerung jeglicher Offensive gegen Kohl bescherte diesem 1994 den letzten Wahlsieg, den DemoskopInnen ein halbes Jahr vor der Wahl für ausgeschlossen gehalten hatten.

Seine zweite Stärke war das, was man heute Vernetzung nennt. Damals sprach man sogar vom „System Kohl“. Ein Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten basierend auf Gefälligkeiten und Schuldigkeit. Begonnen hatte er damit als Referent für den Landesverband Rheinland-Pfalz der Chemischen Industrie. In dieser Position, seiner einzigen „Arbeit“ außerhalb der Partei und des Parlaments übrigens, setzte er sich für die Belange va des Branchenriesen BASF aus seiner Heimatstadt Ludwigshafen ein, der damals noch recht ungehindert den Rhein und Luft vergiftete, ja auch Massenerkrankungen von ArbeiterInnen waren damals gang und gäbe.

Diese Netzwerke – keine politischen Fraktionen, sondern ausgedehnte Klüngel, wurden von Anfang an mit Unternehmer“-Spenden“ geschmiert, die großen Korruptionsskandale Kohl, die Flickaffäre 1992 und der CDU-Parteispendenskandal, der das Ende seiner Amtszeit die seine Erbärmlichkeit – verbunden mit einer desaströsen Niederlage gegen die Schröder-SPD – waren nur die Spitzen des Eisbergs. Mit diesem System hielt sich seine Mehrheiten in der Partei und im Staatsapparat und konnte alle KonkurrentInnen erledigen.

Kohl Stärken war die des Partei-Apparatschiks: Kein Draht zu den Massen, aber Klasse im Strippenziehen. Peinlich im öffentlichen Auftreten, aber perfekt hinter den Kulissen. Politik nur als Formeln. Was waren das also für Zeiten, in denen ein mittelmäßiger Bürokrat zu historischer Bedeutung aufsteigen konnte?

Der Aufstieg des deutschen Imperialismus

Nach dem verlorenen Weltkrieg musste sich die deutsche Bourgeoisie erstmal wieder hinten anstellen. Ihre erste Aufgabe war, die ArbeiterInnenklasse in Schranken zu weisen und den Versuch einer politischen Revolution der ArbeiterInnenklasse zu verhindern. Mit Hilfe der SPD und des Stalinismus gelang dies. Dann musste die Basis für einen wirtschaftlichen Wideraufstieg gesichert werden. Gegen den Willen der französischen und britischen Bourgeoisie, die Deutschland gerne für immer zu einem Agrarland gemacht hätten, brachte der Deal mit den USA den Marschallplan zum wirtschaftlichen Neubeginn, später Wiederbewaffnung und im Gegenzug die absolute Treue zum „atlantischen Partner“. Auch den Grundstein für eine europäische Einigung wurde in 50ern unter Kanzler Adenauer gelegt.

Die SPD-Kanzler Brandt und Schmidt übernahmen es die aufbegehrende Jugend der 68 und die erstarkende ArbeiterInnenklasse erneut in das System zu integrieren sowie mit der Ostpolitik dem deutschen Imperialismus neue Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Beides wäre mit dem damaligen CDU/CSU-Personal nicht zu machen gewesen.

Aber die Begehrlichkeiten der ArbeiterInnenklasse wurden dem deutschen Kapital zu hoch vor dem Hintergrund fallender Profitraten und stagnativer Wirtschaftsentwicklung. Das US-amerikanische Kapital brauchte einen Reagan, das britische eine Thatcher. Letztere schrieb ihr Drehbuch alleine, Reagan bekam es von seinen BeraterInnen geschrieben. Kohl sprach von „geistig-moralischer Wende“, das Programm der neuen CDU/CSU/FDP-Regierung schrieb Otto Graf Lambsdorff von der FDP. Dieser schrieb in dem nach ihm benannten „Papier“ offen und klar, dass die Profitraten zu niedrig seien und dass die ArbeiterInnen dafür zu zahlen hätten. Die Angriffe, die schon unter Schmidt begonnen hatten, waren dem Kapital zu wenig und hatten 100 000 auf die Straße gebracht.

Auch Kohl tat sich schwer mit der (west)-deutschen ArbeiterInnenklasse, Massenstreiks der DruckerInnen, der MetallerInnen, in der Stahlindustrie und im Öffentlichen Dienst, ein eintägiger Generalstreik gegen die Stilllegung von Krupp Rheinhausen, der nie erklärt worden war, aber das ganze Ruhrgebiet lahmlegte – Kohl wurde damit nicht fertig. Auch die Gewerkschaftsbürokratie konnte nur solche Bewegungen ins Leere laufen lassen, an Abwürgen war damals nicht zu denken.

Dann kam die „Wende“ und die war keinesfalls Kohls Verdienst. Im Herbst 89 traute sich die Stasi und die Volkspolizei nicht mehr auf die DemonstrantInnen loszugehen, die durch Leipzig zogen und dabei die Internationale sangen. Das deutsche Kapital war höchst beunruhigt. Eigentlich hatte es gut und immer enger mit der DDR-Regierung kooperiert. Der Handel war gestiegen, man lieferte Anlagen nach Osten und bekam billige Produkte zurück, Franz-Josef Strauss hatte mit Honecker einen Milliardenkredit verdealt, der die SED-Bürokratie in starke Abhängigkeit gebracht hatte.

Im Dezember 89 legte Kohl noch einen Plan für eine Wiedervereinigung im Laufe von 10 Jahren vor. Aber die Geschichte ist manchmal schneller als die Pläne von Bürokraten. Die Ideen der RevolutionärInnen aus der DDR, diese zu demokratisieren, waren utopisch und spiegelten den kleinbürgerlichen Charakter ihre Führung wider. Die „marxistische“ Linke im Westen tauchte genauso erbärmlich ab, wie angesichts revolutionärer Bewegungen in Nordafrika oder im Nahen Osten. Das Fehlen von revolutionärer leninistischer, trotzkistischer Programmatik zeigte sich in Hinterherlaufen hinter den demokratischen Utopien oder stierem Klammern an die SED-Bürokratie. Die wenigen revolutionären Stimmen drangen nicht durch.

Nachdem auch die reformistischen Apparate von SPD und Gewerkschaften – in die die Massen große Hoffnungen gesetzt hatten – nichts anderes als kapitalistische Restauration, vielleicht mit bisschen Sozialstaat garniert, zu bieten hatten, gingen die Massen diesen Weg und wollten ihn schnell. Selbst SED-PDS unter Modrow und Gysi wollte auch nicht abseits stehen, richtete die Treuhand-Anstalt mit ein und begleitet die kapitalistische Wiedervereinigung „kritisch“.

Die demokratische Konterrevolution siegte und Kohl wurde zu ihrem Propheten. Er versprach „blühende Landschaften“ und ließ dem westdeutschen Kapital freie Hand in der Zerstörung potentieller Konkurrenten.

Aber insgesamt schuf dies die Basis für den deutschen Imperialismus, den britischen und französischen Kapitalismus, die beide ökonomisch längst überholt waren, aber  noch über deutlich mehr politischen und militärischen Einfluss verfügten als Deutschland, auf die zweite Stelle zu verweisen und im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte zur dominierenden Macht in Europa aufzusteigen. Dass Britannien und Frankreich dabei trotz hoher Bedenken mitmachten, lag möglicherweise daran, dass sie Kohls Naivität überzeugte oder die Idee, dass mit einer europäischen Union Deutschland besser zu kontrollieren wäre. Sollten sie das gedacht haben, haben sie sich geirrt. Auch wenn ihr Führungspersonal schlauer als Kohl war.

Wer wem?

So wurde mit dem Aufstieg des deutschen Imperialismus auch seine damalige Galionsfigur zum Helden. Im Grunde lässt erst die Dominanz, in den letzten knapp zwanzig Jahren unter Schröder und Merkel erreicht wurde, Kohl als denjenigen erscheinen, der dafür die Grundlagen geschaffen habe.

Es war umgekehrt. Nicht er war ein Glücksfall für Deutschland, Deutschland war ein Glücksfall für ihn. Nicht er hat Geschichte gemacht, die Geschichte hat ihn gemacht.