Pakistan: Von ArbeiterInnenprotesten zu ArbeiterInnenrevolten

Shehzad Arshad, Infomail 1104, 22. Mai 2020

Am Dienstag, dem 19. Mai, fanden in ganz Pakistan unter der Schirmherrschaft des Workers‘ Solidarity Committee (WSC; ArbeiterInnensolidaritätskomitee) Proteste statt. Unter den TeilnehmerInnen waren politische AktivistInnen, StudentInnen und Frauen. In vielen Städten schlossen sich ArbeiterInnen, die aus verschiedenen Fabriken entlassen worden waren, den Protesten an oder verknüpften ihre eigenen Aktionen damit. Insgesamt wurden trotz der von der Regierung auferlegten politischen Restriktionen in etwa 30 Städten Kundgebungen und Demonstrationen abgehalten.

Die Hauptforderungen des WSC sind:

  1. Keine Entlassungen oder Gehaltskürzungen! Unwesentliche Arbeiten sollten gestoppt, aber die ArbeiterInnen weitere volle Bezahlung und die Zusicherung der Aufrechterhaltung ihres Arbeitsplatzes am Ende der Krise erhalten!
  2. Brot und Medikamente für alle! Während dieser Abriegelung sollten jeder Familie Lebensmittel und grundlegende Medikamente im Wert von 30.000 Rupien (ca. 170 Euro) pro Monat zur Verfügung gestellt werden!
  3. Automatische Mietentlastung! Keine Arbeit, keine Miete!
  4. Keine Abzüge bei Rentenzahlungen!

Die Ziele des WSC bestehen darin, die Stimme der ArbeiterInnen gegen die Angriffe der herrschenden Klasse zu erheben, diese zu organisieren und eine Massenbewegung für den Schutz der Gesundheit und des Lebens der Lohnabhängigen aufzubauen.

Zu dieser Front gehören die Awami Workers‘ Party, der pakistanische Gewerkschaftsbund (PTUF), die National Trade Union Federation (NTUF; Nationaler Gewerkschaftsbund), Mazdoor Mahaz (PMM), die Women’s Democratic Front (WDF; Demokratische Frauenfront), Mehnat Kash Thereek (MKT), die Revolutionary Socialist Movement (RSM; Revolutionäre Sozialistische Bewegung), Workers‘ Democracy (WD; ArbeiterInnendemokratie), Mazdoor Ikhath (MI), die National Students Federation (NSF; Nationaler Studierendenverband) sowie weitere Organisationen. Obwohl sie erst um den 1. Mai dieses Jahres gegründet wurde, zeigt die Zahl der Proteste und Mobilisierungen trotz der politischen Restriktionen, die in der letzten Woche auferlegt wurden, das Potenzial dieser Initiative.

Aktionen

Die massiven Auswirkungen der Pandemiekrise und die wachsende Zahl von ArbeiterInnenkämpfen waren der Grund für die Gründung des WSC. Viele Aktivistinnen und Aktivisten waren der Meinung, dass Kämpfe nicht nur möglich seien, sondern dass sie miteinander verbunden und vereint werden müssten. So reagierte eine Reihe linker Organisationen und Gewerkschaften positiv auf den Aufruf zu einer Einheitsfront, und ihnen schlossen sich StudentInnen- und Frauenorganisationen an.

Anfangs dachten wir, dass Online-Videokonferenzen und Demonstrationen in einigen wenigen Städten ein guter Anfang wären, aber in den letzten Tagen vor dem Aktionstag änderte sich die Situation. In vielen Städten bereiteten sich linke Organisationen und Gewerkschaften auf Proteste vor und setzten sich mit uns in Verbindung. Dies deutet auf eine sich verändernde objektive Situation hin, was bedeutete, dass der Aufruf zu einer gemeinsamen Aktion auf fruchtbaren Boden fiel.

Der WSC-Protest war für einen Tag geplant, an dem auch die Beschäftigten in Karatschi, Lahore und Scheikhupura für die Zahlung von Löhnen und Zulagen protestierten. Auch Mitglieder des WSC schlossen sich diesen Protesten an. Unmittelbar nach der Abriegelung protestierten viele Beschäftigte gegen Entlassungen, die Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern sowie die Kürzung von Gehältern und Zulagen.

In Karatschi hatten bereits in mehreren Fabriken, nämlich Roof, Lucky und International Textiles, Proteste stattgefunden. Bis zu einem gewissen Grad haben die Erfolge der Arbeiterinnen und Arbeiter in diesen Fabriken, in denen die Unternehmen gezwungen waren, ihren Forderungen nachzugeben oder zumindest Zugeständnisse zu machen, bei den Beschäftigten Begeisterung ausgelöst. Es hat gezeigt, dass EigentümerInnen und Geschäftsführungen herausgefordert und besiegt werden können.

Ebenfalls in Karatschi wurden unter der Schirmherrschaft des WSC zwei Demonstrationen organisiert. Die erste davon fand in Ghani Chowrangi (Stadtteil in Karatschi) statt, wo der Vorsitzende der Mazdoor Kisan Party (MKP; ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenpartei), Qamar Abbas, sagte: „Die ArbeiterInnen werden ständig entlassen, und bisher sind etwa 700 von Ghani Glass entlassen worden. Uns liegen Berichte über die Entlassung von etwa 500 ArbeiterInnen von Artistic Millionaire Korangi, 800 bis 1000 von Al-Karam, 700 von Gul Ahmed, etwa 200 von Rajabi Textiles und allen Beschäftigten von Siddique Sons vor.“

Die zweite Demonstration fand in Habib Chowrangit, einem anderen Stadtteil von Karatschi, statt, angeführt von der NTUF. Die Demonstration wurde von einer großen Zahl örtlicher FabrikarbeiterInnen und GewerkschaftsführerInnen angeführt, von denen viele auch während der Abriegelung an verschiedenen Protesten teilgenommen hatten. Mitglieder der NTUF waren auch ständig am Kampf der Denim-FabrikarbeiterInnen in Karatschi beteiligt. Sie hatten drei Tage lang protestiert, als Polizei und Werkschutz am 19. Mai das Feuer auf sie eröffneten.

Abdullah Basit, der Führer der NTUF, schreibt über die verletzten ArbeiterInnen: „Die Industriezone Korangi ist die größte Pakistans. Seit gestern finden in der Denim Clothing Company (Bekleidungsfabrik) Korangi Demonstrationen statt. Gestern hatte die Unternehmensleitung versprochen, Prämien zu gewähren, aber sobald die Arbeiterinnen und Arbeiter heute Morgen das Tor der Fabrik erreichten, schloss die Unternehmensleitung die Tür und sagte, dass der/die EigentümerIn das Unternehmen geschlossen habe. Die ArbeiterInnen saßen friedlich am Haupttor, als die Verwaltung mit Hilfe der Polizei das Feuer eröffnete und die ArbeiterInnen mit Hilfe politischer Parteien einschüchterte, aber die ArbeiterInnen blieben vereint.“

Tariq Mahmood, der Verwaltungsleiter des Unternehmens, kniete vor den ArbeiterInnen nieder und kündigte an, dass am 21. Mai eine Prämie ausgezahlt wird. Die Denim Clothing Company arbeitet für internationale Marken, und das Unternehmen befolgt nicht einmal die grundlegenden Anforderungen der Einhaltung der sozialen Distanzierung und Hygiene und verstößt in schwerwiegender Weise gegen das Arbeitsrecht. Entgegen der kürzlich verabschiedeten Verordnung der Regierung von Sindh (eine der Provinzen Pakistans) wurden während der Abriegelung 15.000 Beschäftigte ohne Lohn entlassen. Aber ihr Kampf hat sich als fruchtbar erwiesen, und alle großen Unternehmen in der Industriezone Korangi haben jetzt angekündigt, dass sie Prämien zahlen werden.

In Lahore, in der Nähe des Ortes, an dem das WSC protestiert hat, begannen am Morgen 5.000 Beschäftigte der Fabrik US Apparel gegen die Nichtzahlung von Gehältern und Prämien zu protestieren. Die Beschäftigten haben deutlich gemacht, dass sie ihren Protest fortsetzen werden, wenn ihre UnternehmerInnen nicht zahlen. Tausende Beschäftigte aus verschiedenen Fabriken im Industriegebiet wurden bereits entlassen, und viele von ihnen werden nicht bezahlt. In Lahore beteiligten sich auch entlassene Beschäftigte von BSl und DSl an den Protesten. Diese Kämpfe haben die Möglichkeiten für eine breitere Organisierung der ArbeiterInnenklasse in dem Gebiet verbessert.

In Sheikhupura, wo die Hauptforderung des ArbeiterInnenprotestes das Ende der Rentenkürzungen lautete, in einiger Entfernung an der Straße Sheikhupura–Faisalabad, veranstalteten die ArbeiterInnen von Sapphire Textile einen Protest. Sie sagten, dass die ChefInnen seit drei Monaten ihre Löhne und Gehälter nicht gezahlt hätten. Sollten die EigentümerInnen sich weiterhin weigern, die Gehälter zu zahlen, drohen sie damit, die Straße Scheikhupura–Faisalabad zu blockieren.

Veränderung der Lage

Diese ganze Situation zeigt, dass sich unter der Oberfläche ein bedeutender Wandel vollzieht, die ArbeiterInnenklasse ist in Bewegung! Diese Streiks nehmen zu – und das stärkt das Vertrauen der ArbeiterInnen, was wiederum diese Botschaft auf andere Klassengeschwister in der Region überträgt. Das heißt, wenn wir die Angriffe der UnternehmerInnen abwehren wollen, müssen wir kämpfen. Es ist klar, dass Appelle und Verhandlungen in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation Pakistans nicht viel bewirken werden.

Wir brauchen einen alle umfassenden Kampf mit Massendemonstrationen, -streiks und Besetzungen. Wir müssen die Proteste, die sonst lokal oder auf einzelne Betriebe beschränkt bleiben würden, vereinen und koordinieren. Nur so können wir die Verarmung, den Hunger und die Gesundheitsrisiken stoppen, denen Millionen von ArbeiterInnen, BäuerInnen und sogar Teile der „Mittelschicht“ ausgesetzt sind.

Sicherlich ergeben sich neue Möglichkeiten, aber wir müssen uns der Schwäche der gewerkschaftlichen und linken Organisationen in Pakistan bewusst sein. Vor diesem Hintergrund müssen wir eine Strategie entwickeln, wie wir in dieser Situation arbeiten können. Um die Kämpfe zu organisieren, wird es von wesentlicher Bedeutung sein, Betriebskomitees und Aktionskomitees in den Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse zu bilden.

Gleichzeitig müssen wir die Lohnabhängigen auffordern, den Gewerkschaften beizutreten, sie zu Kampforganen zu machen und sich zu organisieren, um ihre Zersplitterung durch Fusionen auf demokratischer Grundlage zu überwinden und Industriegewerkschaften in allen Wirtschaftszweigen zu schaffen.

Während es für SozialistInnen jetzt unerlässlich ist, sich den Industriegebieten zuzuwenden und mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, müssen wir auch die Grenzen des rein gewerkschaftlichen Kampfes verstehen und eine revolutionäre Strategie formulieren, um die ArbeiterInnenklasse für den Sozialismus zu gewinnen. Das ist eine schwierige und mühsame Aufgabe, aber es kann keinen besseren Zeitpunkt geben, sie zu beginnen, als dann, wenn die Krise des Kapitalismus die ArbeiterInnen zum Kampf drängt.