Thesen zu Lateinamerika: Ein Kontinent in der Krise

Liga für die Fünfte Internationale, Februar 2020, Infomail 1101, 19. April

Vorwort

Diese Resolution wurde im Januar 2020 vom Internationalen Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte Internationale diskutiert und Ende Februar fertiggestellt, also vor Beginn der globalen Ausbreitung des Coronavirus und vor dem Einbruch der Weltwirtschaft. So erscheinen beispielsweise die schon damals negativen Prognosen für die Ökonomien des Kontinents heute geradezu als „optimistisch“. Auch in Lateinamerika spitzen sich die ökonomischen und sozialen Krisenprozesse dramatisch zu und stellen die ArbeiterInnenbewegung und die Unterdrückten vor neue Herausforderungen.

Auch wenn neuere Entwicklungen in den Text daher nicht mehr einfließen konnten, so scheint uns seine Veröffentlichung umso mehr geboten, als die darin beschriebenen und analysierten Entwicklungsprozesse, Dynamiken und politischen Probleme in den nächsten Monaten mit besonderer Vehemenz zum Ausdruck kommen werden.

Die Redaktion, Berlin, 19. April 2020

Eine Kontinent in der Krise

Lateinamerika hat sich in den letzten Jahren zu den wichtigsten Krisengebieten der Weltpolitik hinzugesellt. Politische Instabilität sucht den gesamten Kontinent heim. Ein Land nach dem anderen ist in eine akute politische, soziale und wirtschaftliche Krise geraten: Puerto Rico, Haïti, Ecuador, Chile, Bolivien und Brasilien.

Einige davon betrafen den Sturz von Regierungen und Regimen, die als Teil der „Pink Tide“ („Rosa Flut“; Hinwendung zu linken Regierungen in lateinamerikanischen Demokratien, die vom neoliberalen Wirtschaftsmodell abweichen) betrachtet werden, d. h. linkspopulistischer oder neo-sozialistischer Regierungen in Brasilien, Ecuador und Bolivien. In anderen sind es rechte Regierungen, die unter Druck stehen, insbesondere in Argentinien, Chile und Ecuador, wo sie populistische oder sozialdemokratische Regierungen ersetzt hatten.

In Venezuela, der Geburtsstätte des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, hat eine tiefe Wirtschaftskrise, einschließlich einer Hyperinflation, die Ergebnisse der Reformen von Hugo Chávez zunichtegemacht. Nichtsdestotrotz hat sich das Regime, das er seinem Nachfolger Nicolás Maduro hinterlassen hat, bisher den vereinten Versuchen der alten Oligarchie und Trumps widersetzt, ihn zu entmachten und eine Konterrevolution im großen Stil zu entfesseln.

Konterrevolutionäre und vorrevolutionäre Situationen

Es entstehen sowohl konterrevolutionäre als auch vorrevolutionäre Situationen, die die Alternativen einer Ausbreitung rechter Regime wie in Brasilien oder Bolivien einerseits oder Massenrevolten mit dem Potenzial nicht nur für eine Wiederbelebung demokratischer und reformistischer Regierungen, sondern auch für eine soziale Revolution andererseits aufzeigen. Beispiele für Erstere sind deutlich genug: die „Verfassungscoups“ gegen Dilma Rousseff von der Partido dos Trabalhadores (Partei der Arbeiter, PT) und die anschließende Wahl von Jair Bolsonaro in Brasilien. Gleichermaßen sehen wir Anfang 2019 den Versuch, Präsident Nicolás Maduro in Venezuela zu stürzen, und einen Putsch der Rechten in Bolivien gegen Evo Morales am 10. November.

Die alternative Entwicklung zeigt sich in den Massenmobilisierungen in Ecuador und Chile sowie bei der Wahlniederlage des neoliberalen Reformers Mauricio Macri in Argentinien nach nur einer Amtszeit und der Rückkehr der PeronistInnen unter Alberto Ángel Fernández mit der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner als Vizepräsidentin. Bereits zuvor, im Dezember 2018, wurde Andrés Manuel López Obrador (AMLO) von MORENA (Movimiento Regeneración Nacional; Bewegung der Nationalen Erneuerung, ehemals PRD), ein Linkspopulist/Sozialdemokrat, zum Präsidenten von Mexiko gewählt.

Diese beiden Siege zeugen von einer Gegenbewegung zur Ebbe der „Pink Tide“. Dies beweist, dass die fortschrittlichen Kräfte, insbesondere die Arbeitslosen, die Jugendlichen in unsicheren Arbeitsverhältnissen sowie die StudentInnen, die ArbeiterInnenklasse und die indigenen Bewegungen noch lange nicht am Ende sind und zu den Massenkämpfen der frühen 2000er Jahre zurückkehren können, die zu den radikalen und reformistischen bolivarischen Regimes geführt haben.

Lateinamerika blickt auf eine lange und beeindruckende Geschichte von Massenbewegungen der ArbeiterInnen und Unterdrückten, Frauen, Jugendlichen und indigenen Völker zurück. Dazu gehören extrem militante Formen von Kämpfen: mächtige Generalstreiks, Besetzungen von Straßen und Stadtzentren, Volksaufstände. Zu dieser Tradition gehört auch das Aufkommen von Koordinationsformen, die, wenn sie gestärkt und allgemein angewandt werden, zum Embryo der ArbeiterInnen- und Volksrätemacht werden könnten.

Leider wurden diese Bewegungen jedoch durch eine große Führungskrise gehemmt, die es auch konterrevolutionären Kräften ermöglicht hat voranzuschreiten. Dies ist zum Teil auf das Versagen von Regierungen zurückzuführen, die mit der „Pink Tide“ verbunden waren: Morales, Maduro, Kirchner, Dilma usw., die Massenillusionen in einen reformistischen Populismus erzeugt hatten, der zerbröckelte, als die hohen Rohstoff- und Kohlenwasserstoffpreise als Nachwirkung der Großen Rezession einbrachen.

Die neuen sozialen Bewegungen sind zwar massenbasiert, wurden aber im Allgemeinen von kleinbürgerlichen Kräften angeführt. Als sich also die Machtfrage, die Frage nach Ablösung der AmtsinhaberInnen und ihrer neoliberalen Sparpolitik stellte, kehrten diese Bewegungen zu einer Politik der Klassenzusammenarbeit mit den angeblich „demokratischen“ oder „antineoliberalen“ Teilen der herrschenden Klasse oder sogar „alternativen“ imperialistischen Mächten zurück.

Wirtschaftliche Wurzeln der aktuellen Krise

Wenn Lateinamerika trotz offensichtlicher nationaler Unterschiede ein Pulverfass ist, gibt es drei gemeinsame Ursachen, die politische Krisen auslösen.

Die erste davon ist die wachsende Krise des globalen Kapitalismus, die diesmal in den schwächeren Ökonomien der halbkolonialen Staaten begonnen hat, noch bevor sie die imperialistischen Zentren voll erfasst. In den Jahren 2007/2008 brach die Krise zuerst in den Kernländern des „westlichen“ Imperialismus, vor allem in den USA, aus. Diesmal hat sie zuerst die halbkoloniale Welt und insbesondere Lateinamerika getroffen. Die expansive Phase der ersten fünf Jahre des neuen Jahrtausends, insbesondere in China, führte zu einem Boom auf den Rohstoffmärkten, der in Lateinamerika nach den verlorenen Jahrzehnten des „Washingtoner Konsenses“ zu einer substanziellen Erholungsphase führte.

Auf der Grundlage dieser günstigen konjunkturellen Entwicklung waren die bedeutenden Sozialreformen von Hugo Chávez, Luiz Inácio Lula da Silva (Lula), Evo Morales und Rafael Correa möglich, ohne das Eigentum von ausländischem oder inländischem Großkapital ernsthaft anzutasten. Doch mit der Großen Rezession und der anschließenden Stagnationsperiode, die sich bis weit in die 2010er Jahre hinein erstreckte, ging dieser Boom auf den Warenmärkten schließlich zu Ende und alle Bedingungen des vorangegangenen Jahrzehnts, die für die ReformistInnen so günstig gewesen waren, verwandelten sich ins Gegenteil.

Nach Angaben des IWF lagen die durchschnittlichen Wachstumszahlen auf dem Kontinent etwa zwei Jahrzehnte lang unter dem Durchschnitt der „Schwellen- und Entwicklungsländer“. Dies spiegelte seine abnehmende wirtschaftliche Bedeutung und Dynamik im Vergleich zu den ostasiatischen Ländern wider. Außerdem war dies ein Produkt der fortdauernden halbkolonialen Struktur der Volkswirtschaften, einschließlich der Abhängigkeit vom Export von Rohstoffen und Agrarprodukten.

In den Jahren 2014–2016 nahmen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf dem Kontinent zu, wenn auch mit großen Unterschieden zwischen den Ländern. Einige der wichtigsten Volkswirtschaften, wie Brasilien, Argentinien und Mexiko, befanden sich in den letzten 5 Jahren in Stagnation oder Rezession. Die Wachstumsprognosen sind dürftig. Laut der Schweizer „Neuen Züricher Zeitung“ erwarteten die meisten Rating-Agenturen, dass die argentinische Wirtschaft weiter schrumpfen würde: um 2,4 Prozent im Jahr 2019 und laut JP Morgan um 1,6 Prozent im Jahr 2020. Die argentinischen Exporte gingen 2018 um 40 Prozent zurück. Die Schätzungen des BIP-Wachstums für Brasilien liegen für 2019 und 2020 bei etwa 1 Prozent, und dies sind die „optimistischsten“ Beispiele. Die Zahlen für Mexiko liegen zwischen 0,5 Prozent für 2019 und 1,3 Prozent für 2020.

Für das Jahr 2020 haben der IWF und andere Wirtschaftsinstitutionen die Wirtschaftsprognose wiederholt gesenkt, jetzt auf 0,6 Prozent für den gesamten Kontinent (im Vergleich zu 3,0 Prozent für die Weltwirtschaft). Es kann gut sein, dass selbst diese Prognose in den kommenden Monaten angesichts der wirtschaftlichen Instabilität und der aufgelaufenen Probleme aller Länder gesenkt werden muss. Darüber hinaus haben die internationalen Finanzinstitutionen begonnen, Haushaltskürzungen und Sparmaßnahmen zu fordern.

Die „besten“ Prognosen gelten für eine Reihe von Ländern der Karibik und, was noch wichtiger ist, für Peru, Kolumbien und Chile (rund 3 Prozent) als Ergebnis einer anhaltenden, wenn auch rückläufigen Nachfrage nach Rohstoffen, insbesondere nach Lithiumionen-Batterien in Elektrofahrzeugen. Stark betroffen von der rückläufigen Nachfrage und den sinkenden Preisen für Rohstoffe und Agrarprodukte, hat ein Land nach dem anderen wachsende Staatsverschuldung sowie Forderungen nach Einsparungen seitens des IWF und anderer imperialistischer KreditgeberInnen zu verzeichnen. Argentinien, erneut besonders hart getroffen, steht kurz vor dem Staatsbankrott.

Soziale und politische Krise

Ein drittes wichtiges Element ist, dass die soziale und politische Krise zu einem massiven Aufflammen des Klassenkampfes geführt hat, gewöhnlich in Form einer Abwehr weiterer Angriffe auf die Lebensbedingungen der Massen durch bürgerliche Regierungen. Eine Reihe dieser Abwehrkämpfe hat sich bereits in allgemeine politische Konfrontationen verwandelt wie in Haïti und Chile, die die Notwendigkeit revolutionärer Umwälzungen deutlich machen. Während eine Reihe dieser Bewegungen als plötzliche Eruptionen erscheinen mag, hat der wirtschaftliche Niedergang des Kontinents zwei wichtige, miteinander verbundene und längerfristige Faktoren geschaffen.

Erstens haben sich die Lebensbedingungen der Massen auf dem ganzen Kontinent verschlechtert. Von 2014–2019 schrumpfte das Pro-Kopf-Einkommen um 4 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die offizielle Arbeitslosenzahl an und erreichte 2018 8 Prozent und 2019 8,2 Prozent. Insgesamt sind 25,2 Millionen Menschen „offiziell“ als arbeitslos registriert, die Millionen von Kurzzeit- und GelegenheitsarbeiterInnen nicht eingerechnet. Nach Angaben des Staatlichen Instituts für Statistik wird die argentinische Wirtschaft 2019 um 3,1 Prozent geschrumpft sein, die Inflation liegt bei rund 55 Prozent, die Armut bei rund 40 Prozent, die Arbeitslosigkeit bei 10,4 Prozent und die Währungsabwertung bei fast 40 Prozent.

In Chile wurde, nach Angaben der Regierung, für das Jahr 2019 ein Wirtschaftswachstum zwischen 2 und 2,2 Prozent erwartet, was unter der ursprünglichen Prognose von 2,6 Prozent liegt. Nach Angaben der Weltbank lag der Gini-Koeffizient Chiles im Jahr 2017 bei 0,466. Dieser Indikator, der die Ungleichheit misst, liegt zwischen 0 und 1, je höher die Zahl, desto höher die festgestellte Ungleichheit. Zum Vergleich: In Deutschland lag der Gini-Index im Jahr 2015 bei 0,317.

Zweitens hat die wirtschaftliche Entwicklung die bürgerlichen konstitutionellen Herrschaftsformen untergraben. Dies zeigt sich einerseits in zunehmender Korruption und Vetternwirtschaft, andererseits in Angriffen auf demokratische Rechte und schärfere Formen der Repression. In den extremsten Fällen hat dies zu Staatsstreichen oder Putschversuchen geführt. Es spiegelt sich auch in der steigenden politischen Bedeutung der Streitkräfte und wachsenden Tendenz zu Autoritarismus und Bonapartismus wider, einschließlich des Aufstiegs und des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen mit einer kleinbürgerlichen Massenbasis, einige sogar mit halbfaschistischem oder faschistischem Charakter.

Die Enttäuschung über die „fortschrittlichen“ Regierungen des vergangenen Jahrzehnts und der Verrat der Welle des Klassenkampfes durch die „linken“ Führungen ist die Grundlage für eine Radikalisierung der extremen Rechten in den verzweifelteren Teilen der Mittelschichten, die sich in Form von Rassismus gegen Schwarze und Indigene, Homophobie, Antifeminismus, Antikommunismus, Antiintellektualismus äußert und sich zu einem regelrechten Faschismus entwickeln könnte. Diese Gefahr wird immer größer werden, wenn die Linke sich als unfähig erweist, den gegenwärtigen Massenbewegungen eine alternative, sozialistische Perspektive für die Lösung der Krise in ganz Lateinamerika zu geben.

Dass die Wirtschaftskrise durch den Nachfragerückgang der imperialistischen Länder, insbesondere Chinas, und die Verschuldung der Staaten gegenüber den Finanziers Nordamerikas und Europas verursacht wurde, unterstreicht den halbkolonialen, abhängigen Charakter des Kontinents. Sie offenbart nur allzu deutlich den illusorischen Charakter der Hoffnungen, dass der Aufstieg Chinas es ihm ermöglichen würde, seiner Knechtschaft durch den wirtschaftlichen und militärischen Goliath des Nordens zu entkommen.

Der Kampf zwischen den imperialistischen Mächten – alten und neuen

Ein wichtiger Faktor in der gegenwärtigen Krise ist, dass der Kontinent zu einer Arena für den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Mächten geworden ist; mit den USA und China als HauptgegnerInnen, aber auch mit den europäischen Mächten, die ebenfalls eine Rolle spielen.

Amerika versucht, seine nach dem Sieg im Kalten Krieg errungene Hegemonie zurückzugewinnen, die in den 1990er Jahren unangreifbar schien, dann aber in den 2000er Jahren verloren ging. Trump wirft seinem republikanischen Vorgänger George W. Bush wie auch Barack Obama vor, Lateinamerika „verloren“ zu haben. So hat er die Amtsenthebung linkspopulistischer Regierungen in Bolivien und Ecuador unterstützt und die Wirtschaftsblockade verschärft, mit der er das bolivarische Regime in Venezuela zu stürzen hofft. Zugleich hat er die Entspannung mit Kuba aufgegeben. Wir konnten diese Politik auch bei der Absetzung der PT-geführten Regierung in Brasilien beobachten.

Unabhängig davon, ob diese Staatsstreiche „konstitutionell“ waren, d. h. von den Parteien der Elite und der Justiz angeführt wurden, oder ob sie vom Militär, von einheimischen AbsolventInnen der berüchtigten „School of the Americas“ (SOA) der US-Armee (heute als „Institut für Sicherheitskooperation der westlichen Hemisphäre“, WHINSEC, bezeichnet) durchgeführt wurden, wurden sie mit populistischer Demagogie kombiniert, die die weit verbreitete Unzufriedenheit, die auf wirtschaftlichem Niedergang, Korruption oder Vetternwirtschaft beruht, ausnutzt und mobilisiert.

Es liegt auf der Hand, dass die USA bestrebt sind, sich wieder als die dominierende imperialistische Macht in Lateinamerika zu behaupten, aber sie müssen dies gegen neue mächtige RivalInnen tun. Venezuela und Kuba sind weitgehend von der chinesischen und russischen Unterstützung abhängig geworden. Selbst wenn China andere Staaten in seine Arme schließen sollte, würde es sie nur zu Halbkolonien Pekings machen und eine/n MachthaberIn gegen eine/n andere/n austauschen.

Auch die Europäische Union will mit dem EU-Mercosur-Pakt ein Stück vom Kuchen abhaben. Dies bedeutet in der Tat einen wichtigen Erfolg für die europäischen imperialistischen Mächte, indem eine große Freihandelszone zwischen den beiden Kontinenten geschaffen wird. Auch wenn einige der lateinamerikanischen Regime den wachsenden Konflikt zwischen den imperialistischen Mächten als potenziell vorteilhaft für sich empfunden haben mögen, erwies er sich eindeutig als destabilisierender Faktor, nachdem Amerika sich aufraffte, um die ausschließliche Kontrolle über seinen „Hinterhof“ zurückzufordern. In der Tat wird die gegenwärtige Rivalität die politische Instabilität verstärken, insbesondere wenn andere „linke“ Regierungen an die Macht kommen.

Der IWF fordert bereits harte Haushaltsmaßnahmen von der neuen peronistischen Regierung in Argentinien, in der Hoffnung, sie zu demütigenden Zugeständnissen zu zwingen, wie es die Troika gegenüber Syriza in Griechenland getan hat. Die neue Regierung hat bereits ihre Bereitschaft gezeigt, diesen Weg einzuschlagen, und ihre „linke“ Rhetorik dient lediglich als Deckmantel, um die Massen zu befrieden. Der Kampf um die Kontrolle über die massiven Lithiumreserven in Bolivien trug zweifellos zur Verdrängung von Morales bei, damit das US-Kapital sie ausbeuten konnte und nicht China oder die EU, wie Morales es plante. Nichtsdestotrotz scheint der US-Imperialismus zwar wieder einmal der Hauptverantwortliche für die halbkoloniale Unterwerfung Lateinamerikas zu sein, aber es besteht kein Zweifel daran, dass er heute ein Hegemon im Niedergang ist, der wirtschaftlich und politisch viel weniger stark ist als bei seinen früheren Interventionen. Gleichzeitig können seine imperialistischen RivalInnen, die EU, China und Russland, nicht als Formen eines „fortschrittlicheren“ Imperialismus angesehen werden. Wie man in Venezuela sehen kann, agiert China als einer der Hauptverantwortlichen für neoliberale „Reformen“ und autoritäre Politik, um seine Investitionen zu garantieren.

Die indigene Bevölkerung

Die Daten der Volkszählung von 2010 ergaben 45 Millionen Indigene in Lateinamerika, die fast 8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, jedoch mit großen Unterschieden: in Bolivien 41 Prozent, Guatemala 60 Prozent, Peru 26 Prozent und Mexiko 15 Prozent. Während viele von ihnen immer noch in kulturell eigenständigen ländlichen Gemeinden leben, wohnt heute fast die Hälfte in städtischen Gebieten, wenn auch in den ärmsten Wohnvierteln, mit schlechter Sanitär-, Wasser- und Stromversorgung und ist anfälliger für Natur-/Klimakatastrophen. Seit der Kolonialzeit wurden die indigenen Völker in den lateinamerikanischen Ländern systemisch unterdrückt und leiden unter anhaltender Diskriminierung aufgrund der Beanspruchung der rassischen Überlegenheit der weißen Kolonialherren und ihrer Nachkommen sowie unter Ausschluss aus der politischen Sphäre, oft durch spanische Sprach- und Schreibtests.

Seit den 1980er und 1990er Jahren ist jedoch eine Zunahme von Organisationen zu verzeichnen, die ihre Sprachen, Quechua, Aymara und Guaraní und viele andere, ihre sozialen Strukturen, Kunst und Musik wieder geltend machen und eine erzwungene Assimilierung an die „westliche“ Kultur ablehnen. Seit dem Aufkommen der ZapatistInnen in Chiapas, den Gas- und Wasserkriegen, die von weitgehend indigenen Bevölkerungsteilen in Bolivien, den indigenen Völkern des Amazonas oder den Mapuche in Chile geführt wurden, sind sie zu wichtigen AkteurInnen gegen den Neoliberalismus, die kapitalistische Globalisierung und die Zerstörung der natürlichen Umwelt geworden.

Doch die Parteien, die sie vertreten haben, sind den Fragen nach Klassen und politischer Führung nicht ausgewichen und hätten dies auch nicht tun können. In Ecuador demobilisierte die Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE), die an der Seite der Gewerkschaften die Führung im Kampf gegen die Sparmaßnahmen von Lenín Moreno übernommen hatte, die Bewegung und nahm Verhandlungen mit der Regierung auf, anstatt sie von der Macht zu verdrängen und eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung auf der Grundlage der Massenorganisationen des Kampfes einzusetzen.

In Bolivien hat die Bewegung für Sozialismus (MAS) die indigenen Organisationen, deren Massenkämpfe zwischen 2000 und 2003 zwei Präsidenten der neoliberalen Oligarchie aus dem Amt vertrieben haben, übernommen, bürokratisiert und gespalten. Dies zeigt, dass ein Bündnis zwischen der landlosen und kommunalen Mehrheit der indigenen Bevölkerung und den ArbeiterInnen von entscheidender Bedeutung ist, um einen solchen Führungsverrat und die mögliche rassistische Konterrevolution, die jetzt in Bolivien im Gange ist und die politischen und kulturellen Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte zunichtemacht, zu vermeiden.

Überblick über die Entwicklungen

Im Laufe des letzten Jahres haben wir massenhafte Mobilisierungen von ArbeiterInnen, StudentInnen, Jugendlichen, Frauen, Bauern/Bäuerinnen und indigenen Bewegungen erlebt. Erstens gab es anhaltenden Widerstand sowohl gegen die Wahl rechter Regierungen wie in Kolumbien und Ecuador als auch gegen die Staatsstreiche in Brasilien und Bolivien, obwohl diese Kämpfe durch die auf Wahlen fixierte und versöhnliche Politik der CONAIE und der ecuadorianischen ArbeiterInneneinheitsfront (FUT) sowie durch die Führungen von MAS und PT begrenzt und behindert wurden. Hinzu kamen spontane Massenmobilisierungen gegen langjährige neoliberale Regime, die sogar vorrevolutionäre Dimensionen angenommen haben wie in Chile. In anderen Ländern, zum Beispiel in Argentinien, trugen die beeindruckenden Mobilisierungen der Frauenbewegung zur Unbeliebtheit Macris und zur Wahl einer neuen peronistischen Regierung bei.

Der stärkste Druck des US-Imperialismus und seiner AgentInnen innerhalb der kapitalistischen Oligarchien und der Militärhierarchien richtete sich gegen die radikalen bolivarischen Regime in Venezuela und Bolivien, die einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ proklamierten.

Venezuela

In Venezuela führte der von den USA geförderte Putschversuch gegen das bolivarische Regime von Präsident Nicolás Maduro, der ihn durch Juan Guaidó ersetzen sollte, der an der Spitze einer Oppositionskoalition rechtsgerichteter politischer Kräfte steht, zu massiven Zusammenstößen mit vielen Toten, Verhaftungen und sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen. Nachdem der Putsch zumindest vorläufig gescheitert war, wurde eine Vereinbarung zwischen der Regierung und Teilen der rechten Opposition getroffen. Dies wird jedoch nur eine vorübergehende Pause sein, da sowohl die USA als auch die Rechten entschlossen sind, das bolivarische Regime zu stürzen. Die Sanktionen und die Wirtschaftsblockade, die von den USA unter Barack Obama 2015 verhängt und unter Donald Trump verschärft wurden, haben die wirtschaftlichen Nöte der VenezolanerInnen noch verschärft, darunter die Hyperinflation und den weit verbreiteten Hunger, der über drei Millionen Menschen zur Abwanderung in die Nachbarländer veranlasst hat.

Die Vereinigten Staaten haben zudem mit Hilfe von Institutionen wie der Bank von England Milliarden Dollar von Venezuelas Auslandsvermögen beschlagnahmt, darunter einen Großteil der 6,6 Milliarden US-Dollar an ausländischen Goldreserven. Das reale BIP fiel 2019 um etwa 37,4 Prozent. Auch wenn die Drohungen mit einer direkten US-Militärintervention oder einem rechten Staatsstreich vorerst zurückgegangen sind, muss der internationale Widerstand der ArbeiterInnenklasse gegen diese imperialistischen Sanktionen, so schwach sie auch sein mögen, intensiviert werden, ganz gleich, welche Kritik an Maduro geübt werden muss.

Am 24. Oktober 2019 kam es in den Städten Caracas und Maracaibo zu Zusammenstößen zwischen regierungsnahen und -kritischen Märschen. Die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), die Partei Maduros, demonstrierte gegen den Internationalen Währungsfonds, gegen Imperialismus, gegen ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Völker und für Souveränität und Unabhängigkeit. Niemand sollte jedoch die Augen davor verschließen, dass die Wirtschaftspolitik des bolivarischen Regimes eine wichtige Mitschuld an den harten Bedingungen der Massen trägt und immer mehr Opfer und Härten für die Armen fordert. Die meisten ÖkonomInnen schätzen, dass die Hyperinflation im Jahr 2018 130.000 Prozent erreichte, nachdem sie 2017 durchschnittlich 863 Prozent betragen hatte.

Aus einem Bericht der Vereinten Nationen vom März 2019 geht hervor, dass 60 Prozent der venezolanischen Bevölkerung in extremer Armut leben. 3,7 Millionen Menschen leiden an Unter- und 22 Prozent der Kinder an chronischer Mangelernährung. Das Gesundheitssystem, das unter Chávez echte Verbesserungen verzeichnete, ist durch die Rückkehr vermeidbarer Krankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie, Masern und Malaria aufgrund des mangelnden Zugangs zu Medikamenten enorm geschwächt. Zweiundzwanzigtausend ÄrztInnen, ein Drittel ihrer Gesamtzahl  im Land, haben es verlassen. Die „Financial Times“ berichtet, dass die Abwanderung von MigrantInnen aus Venezuela bis Ende 2020 6,5 Millionen erreichen wird. Gleichzeitig schont die Regierungspolitik das Schicksal der venezolanischen Bourgeoisie und zielt darauf ab, wirtschaftliche Unterstützung vom chinesischen und russischen Imperialismus anzuziehen.

Sie deckt auch die Korruption innerhalb des Regimes selbst. Nicht zuletzt hat Maduro Repressalien gegen jene ArbeiterInnen und ihre FührerInnen eingesetzt, die sich gegen die harten Bedingungen wehren. Nur die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Massen befürchtet, die Lage würde sich für sie verschlechtern, wenn die Rechten die Macht gewinnen würden, und die Einbindung des Militärs und der Polizei in ein System von Privilegien und Korruption haben es Maduro ermöglicht zu überleben. Doch Venezuela ist nicht mehr der Leuchtturm der Hoffnung für die Volksbewegungen auf dem ganzen Kontinent und darüber hinaus, sondern wurde zu einer schrecklichen Warnung der Rechten und der US-Medien vor dem, was mit denen geschieht, die versuchen, eine Revolution zu starten oder den Sozialismus einzuführen.

Bolivien

In Bolivien wurde Evo Morales für eine vierte Amtszeit zum Präsidenten gewählt. Die bolivianische Rechte versammelte ihre faschistische Jugendbewegung unter dem Führer des Komitees von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, sowie einige unzufriedene Kräfte aus den sozialen Bewegungen und beschuldigte Morales des Wahlbetrugs und behauptete, sein Sieg sei unrechtmäßig gewesen, was in Wirklichkeit darauf abzielte, ihn zu stürzen. Die Polizei schloss sich den Übergriffen rechter DemonstrantInnen gegen gewählte MAS-FührerInnen an, anstatt sie zu unterbinden. Morales versuchte wiederholt, die Rechte zu besänftigen, indem er ihr anbot, die Wahlergebnisse von der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) untersuchen zu lassen und sie sogar noch einmal zu wiederholen. Doch kein Zugeständnis konnte die Rechte beschwichtigen. Unterdessen ließ er seine MassenunterstützerInnen in El Alto und Cochabamba führerlos zurück. Der entscheidende Moment kam, als der von ihm ernannte Armeechef, General Williams Kaliman, ihn zum Rücktritt aufforderte. Unter der Bedrohung durch rechte Mobs traten er und Vizepräsident Álvaro García Linera zurück und flohen aus dem Land. Die MinisterInnen der MAS demissionierten ebenfalls, wodurch der Weg frei wurde für die weiße Rassistin und katholische Frömmlerin Jeanine Áñez Chávez, die sich zur amtierenden Präsidentin erklärte.

Für Mai sind Wahlen angesetzt, aber alle echten PutschgegnerInnen werden auf große Hindernisse stoßen. Polizei und Militär haben die Jagdsaison für eröffnet auf diejenigen erklärt, die sich zur Wehr setzen. 30 von ihnen sind seit dem Putsch getötet worden. Symbolisch hat die Regierung die von Morales gegründete, antiimperialistische Juan-José-Torres-Kommandoschule geschlossen, ein vergeblicher Versuch, die Kultur des Militärs zu verändern. Stattdessen hat sie die Militärschule „Helden von Ñancahauzú“ eröffnet, die nach den MörderInnen von Che Guevara benannt wurde. Williams Kaliman wurde nur wenige Tage, nachdem er Morales verraten hatte, abgesetzt.

Es liegt auf der Hand, dass diese Ereignisse eine gewaltsamere Version jener sind, die zum Sturz der PT-Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien geführt haben. Während die konservative und rechte Opposition, angeführt von Carlos Mesa, Präsident von 2003 bis 2005, mehr Privatisierungen, mehr Öffnung für den Neoliberalismus und die Abschaffung der von der regierenden MAS eingeleiteten Sozialreformen fordert, konnten die Rechten auch deshalb ehemalige AnhängerInnen von Morales, darunter den wichtigsten Gewerkschaftsbund COB, für eine Einwilligung zum Putsch gewinnen, weil dieser in den vergangenen Jahren begonnen hatte, die Wirtschaft und ihre Bodenschätze für ausländische InvestorInnen zu öffnen und sich selbst gegen Teile der Massen wandte. Genau wie die bolivarische Regierung in Venezuela griff Morales wichtige Teile seiner sozialen Basis an und wandte sich einer autoritäreren und bonapartistischen Herrschaftsform zu. Anders als in Venezuela gelang es der Rechten, sich nicht nur als falscher Ausdruck von „Demokratie“ zu präsentieren, sondern auch das Oberkommando und die Polizei für einen wirksamen Staatsstreich zu gewinnen.

Chile

Chile erlebt eine große Revolte, die damit begann, dass StudentInnen gegen die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel kämpften. Als die Regierung beschloss, einen Rückzieher zu machen und den Erlass zur Neuanpassung der Tarife aufzuheben, war es zu spät. Die Bewegung hatte sich bereits ausgebreitet und verknüpfte verschiedene Sektoren der Unterdrückten, die soziale und wirtschaftliche Forderungen nach einem Bruch mit dem Erbe des Neoliberalismus erhoben. Die Regierung reagierte darauf mit der Verhängung einer Ausgangssperre auf der Grundlage der Gesetze, die während der Herrschaft des Diktators Pinochet erlassen wurden. Die Massen haben jedoch auf den Straßen ihren Mut und ihre Entschlossenheit bewiesen, indem sie der Bedrohung durch gepanzerte Fahrzeuge, Schlagstöcke, Tränengasbomben und dem allgemein harten Durchgreifen der Polizei trotzten und den Abgang von Präsident Sebastián Piñera forderten.

Bei Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften wurden seit Oktober 31 DemonstrantInnen getötet, Tausende verletzt und mehr als 6.000 verhaftet. Doch dies konnte den Geist der Bewegung nicht brechen, die zu Generalstreiks aufrief, embryonale Formen von ArbeiterInnen- und Volksräten und Selbstverteidigungsgruppen schuf. Die Führung der Bewegung, die Kommunistische Partei Chiles, die Frente Amplio (Breite Front) und die Gewerkschaftsbürokratie versuchten jedoch, den Kampf auf politische und soziale Reformen zu beschränken, anstatt für einen unbegrenzten Generalstreik zum Sturz der Regierung und zur Errichtung einer ArbeiterInnenregierung auf Grundlage von Räten und Massenbewaffnung zu plädieren.

Die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung findet jedoch große Unterstützung, denn die aufständische Jugend will alle Reste der von Pinochet hinterlassenen autoritären Verfassung beseitigen. Die kritischen Fragen sind, ob diese wirklich souverän sein wird, ob die Wahlen transparent sein werden und ob es auf ihrer Tagesordnung steht, die MörderInnen des Volkes, alte und neue, vor Gericht zu bringen. Wird sie alle neoliberalen Institutionen hinwegfegen? Wird sie den Bedürfnissen der indigenen Bevölkerung gerecht werden und die eklatante Ungleichheit angehen, die das Land auf einem Kontinent der Ungleichheit prägt? Um dies zu erreichen, müssen die Jugend, die ArbeiterInnen, die Mapuche-Bewegung eine Mehrheit in der Versammlung erringen und sie verteidigen, wann immer sie radikale oder gar revolutionäre Maßnahmen ergreift.

Brasilien

Trotz ihrer offensichtlichen Apathie wird die Situation der ArbeiterInnen in Brasilien immer ernster: hohe Arbeitslosigkeit, Verlust der politischen Rechte, Umweltverbrechen, die die Bevölkerung beeinträchtigen, eine rückläufige Wirtschaft und nun der Abbau der öffentlichen und sozialen Sicherheit. Linke Organisationen wie der Hauptgewerkschaftsbund CUT und die ArbeiterInnenpartei PT kommen ihrer Pflicht zur Mobilisierung und Organisierung der ArbeiterInnenklasse nicht nach. Stattdessen knüpfen sie ihre Hoffnungen an die Spaltungen unter den PolitikerInnen der herrschenden Klasse, die durch einige Maßnahmen der Bolsonaro-Regierung entstanden sind. Wir können hoffen, dass die Welle der Rebellionen, die über Lateinamerika hinwegfegt, der brasilianischen ArbeiterInnenklasse und ihren Organisationen als Ansporn dient, diese Lähmung zu überwinden und entweder die Führung zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen, indem sie die Straßen des Landes zurückerobert, oder indem die AktivistInnen der Basis selbst Aktionen koordinieren.

Argentinien

In Argentinien wurde Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen von Alberto Fernández und seiner Vizekandidatin, der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, geschlagen. Die PeronistInnen feiern nun ihren Sieg und haben das Ende von Macris Austeritätspolitik versprochen. Nach mehreren Generalstreiks, die die Straßen des Landes eroberten und die argentinische Hauptstadt erzittern ließen, spiegelt das Ausmaß der Zustimmung zu Fernández und Kirchner eine Verschiebung nach links wider. Doch die neue peronistische Regierung sieht sich einem Land in schwerer Wirtschaftskrise, mit einer nachgebenden Währung und einem zunehmenden Kapitalabfluss gegenüber.

Inzwischen hat die Krise bereits zu einer Verarmung von Millionen Menschen geführt und es ist klar, dass die neue Regierung kein Programm hat, das diese Probleme lösen könnte. Sie versucht, zwischen dem Imperialismus und seinen Institutionen wie dem IWF, der argentinischen Bourgeoisie und dem Druck der Massen zu manövrieren. In dieser Situation sind soziale Erschütterungen absehbar. Die Zustimmung von 2,18 Prozent für Nicolás Del Caño von der Front der Linken und der Arbeiterinnen (FIT Unidad) zeigt, dass es ein echtes Potenzial für die Entwicklung einer alternativen ArbeiterInnenführung gibt, vorausgesetzt, sie kann die Massen und Gewerkschaften vom Peronismus wegbrechen.

Uruguay

In Uruguay fand die erste Runde der Präsidentschaftswahlen am 27. Oktober und die zweite am 24. November statt. Im ersten Wahlgang erhielt Daniel Martínez von der mitte-linksgerichteten Breiten Front (Frente Amplio) die meisten Stimmen, aber im zweiten Wahlgang gewann der rechtsgerichtete Kandidat Luis Alberto Lacalle Pou die Mehrheit. Nun kontrollieren die Rechten sowohl das Parlament als auch das Präsidialamt. Dies ebnet den Weg für größere Angriffe wie die Verfassungsreform des Kongresses, die darauf abzielt, die Gefängnisstrafen für schwere Straftaten zu erhöhen, einschließlich der Einführung „lebenslanger Haft“, der Einrichtung einer Polizei mit Militärpersonal, der Genehmigung von nächtlichen Arrests mit richterlicher Genehmigung und der wirksamen Vollstreckung von Urteilen. Viele UruguayerInnen verstehen sehr gut, dass dies den Weg in eine Diktatur bedeutet. Es ist der Versuch der Rechten, im Dienste des US-Imperialismus ganz Lateinamerika zu beherrschen. Genau aus diesem Grund wurden die Straßen von Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, Anfang dieses Jahres von riesigen Massen von DemonstrantInnen besetzt. Jetzt, mit dem neuen Präsidenten, stehen entscheidende Kämpfe bevor.

Haïti, Honduras, Kolumbien

Haïti befindet sich in einer großen Krise, die durch Treibstoffmangel und institutionalisierte Korruption verursacht wird. Bei spontanen Protesten kam es zu Straßenblockaden mit Steinen und brennenden Reifen. Neben der Metropolregion wurden auch aus der Stadt Arcahaie in der Artiboniteregion, aus Mirebalais in der Zentralregion, vom nördlichen Kap Haïtis und von verschiedenen Punkten im Süden des Landes totale Blockaden gemeldet. Das Land ist wie Chile mit einer sozialen Krise und einem eskalierenden Klassenkampf konfrontiert, der die Frage einer sozialistischen Revolution aufwirft.

In Honduras gingen Tausende auf die Straßen der Hauptstadt und forderten den Rücktritt von Präsident Juan Orlando Hernández wegen Anschuldigungen, die ihn mit Drogenhandel in Verbindung bringen. Die Protesttage waren geprägt von Straßensperren, Barrikaden auf den Hauptstraßen und Studentenprotesten. Hernández kam 2014 an die Macht und genießt seither die Unterstützung der Streitkräfte, der nationalen Polizei und des Obersten Gerichtshofs.

In Kolumbien gingen Tausende von StudentInnen auf die Straße und besetzten am 10. Oktober die Straßen von Bogotá. Die Bevölkerung ist angewidert von der Sparpolitik, die das Volk erstickt, und von der imperialistischen Plünderung, die von ihren Regierungen begünstigt und ermöglicht wird, wie es in Brasilien geschieht. Diese Art von Politik führt zur Zerstörung des Bildungssystems, der öffentlichen Verwaltung und der demokratischen Freiheiten. Wir können sagen, dass Kolumbien ein weiterer Druckkochtopf ist, der dabei ist zu explodieren.

Krise der „demokratischen Herrschaft“

Die Wirtschaftskrise und der Kampf zwischen den imperialistischen Mächten, insbesondere der Versuch der USA, den Kontinent wieder zu ihrem Hinterhof zu machen, hat zu einer Untergrabung „konstitutioneller“ oder relativ stabiler Formen parlamentarisch-demokratischer Herrschaft geführt. Dies steht in klarem Gegensatz zur Etablierung des Neoliberalismus in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, als die wirtschaftliche Agenda der Globalisierung zusammen mit der Errichtung relativ stabiler Formen demokratischer Herrschaft durchgesetzt wurde.

Dies hat jedoch in den letzten Jahrzehnten ein Ende gefunden. Linkspopulistische Regime wie das venezolanische oder bolivianische oder das von ReformistInnen wie der PT geführte in Brasilien kamen auf der Grundlage von Massenmobilisierungen und demokratischen Wahlen an die Macht, haben aber trotz bedeutender, wenn auch begrenzter Reformen wachsende Teile ihrer AnhängerInnen enttäuscht. Sie wurden zudem in bürgerliche Regierungsformen im Namen des Kapitalismus integriert, auch wenn große Teile der Bourgeoisien und des US-Imperialismus sowie seiner Verbündeten sie stets beseitigen wollten. Ihre Kompromisse mit dem Kapital, die schließlich ihre „Reform“-Projekte untergruben, haben tatsächlich den Weg für das Erstarken der Rechten und erfolgreiche Umstürze geebnet, so wie die PeronistInnen unter den Kirchners Macri weichen mussten. Die Angriffe der bolivarischen Regierungen auf ihre eigene soziale Basis boten den Rechten außerdem die Möglichkeit, sich als VerteidigerInnen der Demokratie zu präsentieren.

Die Putsche gegen Dilma/Lula und Morales, die Staatsstreichversuche in Venezuela, die Unnachgiebigkeit der kolumbianischen Rechten, all dies zeigt, dass eine wachsende Zahl lateinamerikanischer KapitalistInnenklassen bereit und willens ist, antidemokratische und verfassungsfeindliche Mittel bis hin zu Armeeaufständen und dem Einschalten rechter oder sogar faschistischer Banden und Mord einzusetzen.

Die Bourgeoisie und auch der US-Imperialismus haben erkannt, dass sie sich angesichts der gegenwärtigen Krise nicht auf „respektable“ offen bürgerliche Parteien und den Parlamentarismus verlassen können, um ihre Programme über einen längeren Zeitraum durchzusetzen. In Brasilien muss der Putsch, der Dilma Rousseff stürzte, noch vollendet werden, und die Regierung Bolsonaro könnte sich durchaus als nur vorübergehender Schritt erweisen, der zu einem Militärputsch führen könnte, unterstützt durch organisierte rassistische und sogar faschistische Mobilisierungen. Dies ist auch eine Folge davon, dass viele der „traditionellen“ bürgerlichen Parteien selbst nur über einen geringen Rückhalt unter den Massen verfügen.

Für die herrschenden Klassen in Lateinamerika gibt es in der gegenwärtigen Situation zwei Hauptformen der Regierung/Herrschaft, die einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise bieten könnten. Entweder greifen sie auf Formen des Bonapartismus oder auf die Volksfront zurück, d. h. eine Regierung, die sowohl Parteien/Organisationen der ArbeiterInnenklasse als auch solche der Bourgeoisie/Kleinbourgeoisie vereint. Die wachsende Tendenz zu bonapartistischen Herrschaftsformen findet eindeutig Rückhalt im Militär und im Staatsapparat sowie beim Großkapital und imperialistischen Mächten und InvestorInnen, wie man an der Unterstützung für Bolsonaro durch verschiedene westliche Wirtschaftsverbände und Unternehmen sehen kann.

In einer Reihe von Ländern präsentieren sich die Rechten als eine „populäre“ Kraft, genauer gesagt als eine populistische Kraft. Auf diese Weise versuchen sie, die Unterstützung des KleinbürgerInnentums und der „Mittelschichten“ und sogar einiger Teile der ArbeiterInnenklasse zu gewinnen. Sie verbinden den Ruf nach Recht und Ordnung mit einem „starken Staat“, der die Gesellschaft von den korrupten „Linken“, „Liberalen“, FeministInnen, … „ParasitInnen“ säubern wird, die den Erfolg „des Landes“ verhindern, wobei mit „Land“ die Bourgeoisie und das KleinbürgerInnentum gemeint sind. Sie zielen darauf ab, eine aggressive neoliberale Agenda mit engen Beziehungen zur Wirtschaft und zum Militär auf der einen Seite und eine ultrareaktionäre Politik gegen nationale und rassische Minderheiten, indigene Völker, Frauen und LGBTQ+-Menschen, Bauern/Bäuerinnen und Obdachlose, ArbeiterInnen sowie StudentInnen zu verbinden. Die evangelikalen Kirchen fungieren oft als Vermittlerinnen dieser reaktionären Ideologie und dienen der Organisation einer Massenbasis.

Zwar gibt es Gründe, einige dieser politischen Kräfte als „faschistisch“ zu bezeichnen, doch sollte man mit der Verwendung dieses Begriffs im Hinblick auf gegenwärtige rechte Regierungen wie der von Bolsonaro vorsichtig sein. Die faschistische Herrschaft basiert auf einer Größenordnung reaktionärer Massenmobilisierungen, die jede Art von Opposition, insbesondere aber die Organisationen der ArbeiterInnenklasse, atomisiert und reaktionäre, pogromartige Mobilisierungen zum Dauerzustand machen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Rechten auf eine solche Art von Herrschaft vorbereiten, beobachtet man zum Beispiel die Zahl der tödlichen Gräueltaten durch Polizei und Milizen in Brasilien und die Bildung einer protofaschistischen Partei, die von einem allmächtigen Führer gelenkt wird. Auf der anderen Seite nutzt die reformistische Linke im Allgemeinen die Bedrohung durch den Faschismus, um für Kompromisse mit dem „kleineren Übel“ der „demokratischen“ Teile der Bourgeoisie zu plädieren.

Diese Illusionen in bürgerliche Demokratie und Klassenversöhnung führten dazu, dass die PT und die CUT, als sie der Reform des Sozialversicherungssystems entgegensahen, eine weniger als kämpferische Haltung einnahmen, indem sie nicht zu einem unbefristeten Generalstreik aufriefen und stattdessen behaupteten: „Wenn wir Brasilien zu Wahlen bringen, werden wir sie stoppen.“ Es liegt auf der Hand, dass die Strategie der PT-Führung darin besteht, darauf zu warten, dass die Regierung ihre Unterstützung durch Korruptionsskandale und unpopuläre Sparmaßnahmen zunichtemacht, damit sie bei der nächsten Wahl in einer neuen Koalition mit bürgerlichen Parteien als gemäßigte Alternative zu Bolsonaro auftreten kann.

Den rechten Regimen wie jenem von Áñez oder Bolsonaro, die mit einer offen rassistischen und sexistischen Agenda an die Macht gekommen sind, ist es noch nicht gelungen, ihre reaktionären Programme vollständig umzusetzen. Um die Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse, der Bauern/Bäuerinnen, der rassisch Unterdrückten, der Frauen, der Armen und sexuell Unterdrückten zu zerstören, müssen sie deren Bewegungen zunächst zermürben und demoralisieren, ja atomisieren. Dies bedeutet, dass die gegenwärtige Form ihrer Herrschaft, die zwar bonapartistisch ist, aber einige parlamentarische und rechtsstaatliche Elemente beibehält, nur einen Übergangscharakter haben mag, um durch offenere diktatorische Formen mit größerem Verlass auf Militär und Imperialismus und offenere faschistische Bewegungen zur Einschüchterung des Widerstands ersetzt zu werden.

Solange diese Kräfte nicht stark genug sind, um die ArbeiterInnenklasse entscheidend zu besiegen, oder wenn offene bürgerliche Regierungen wie in Chile mit Massenbewegungen, Generalstreiks oder Volksaufständen konfrontiert sind, kann die herrschende Klasse gezwungen sein, auf andere Mittel zur Eindämmung der Massenbewegung zurückzugreifen: eine Regierung der „Volksfront“ oder der „Frente Amplio“, wie sie in Lateinamerika oft genannt wird. Historisch gesehen waren die Volksfronten in Spanien, Frankreich oder Chile die Mittel, um den Kapitalismus in revolutionären oder vorrevolutionären Krisen zu schützen.

In vielen Ländern Lateinamerikas nehmen die „linken“ Parteien selbst die Form einer Volksfront an, wie die linkspopulistischen Parteien bolivarischen Ursprungs (PSUV, MAS) oder, historisch gesehen, der Peronismus, und bestätigen damit die Analyse, die Trotzki in den 1930er Jahren über die APRA (Revolutionäre Amerikanische Volksallianz; Peru) und PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution; Mexiko) ausarbeitete. Die Frente Amplio in Chile weist heute ähnliche Merkmale auf, auch wenn sie eher ein Bündnis als eine Partei ist. In den meisten Ländern schlagen die Parteien der ArbeiterInnenklasse eine auf Wahlen ausgerichtete Strategie ein, die darauf abzielt, parlamentarische und sogar Regierungsbündnisse mit offen bürgerlichen Parteien zu bilden. Die meisten Gewerkschaften befürworten eine ähnliche Strategie, die letztlich zur Unterordnung unter eine reformistische oder populistische Agenda und damit die herrschende Klasse führt.

Die Programme des Reformismus und Linkspopulismus bieten keinerlei politische Lösung für die gegenwärtige Krise. Im Gegenteil, sie werden zu Niederlagen und Zugeständnissen an die RechtspopulistInnen führen wie die Zusammenarbeit der Frente Amplio mit Sebastián Piñera in Chile. In Bolivien zog sich die MAS aus der Mobilisierung gegen den Sturz von Morales zurück und überließ die radikaleren Teile der Bewegung in El Alto der Verfolgung durch die PutschistInnen. Das Ziel dieser Kräfte ist letztlich und ausdrücklich die Schaffung einer „bürgerlichen Reformregierung“, die den Neoliberalismus zum Stillstand bringt. Die Frente Amplio weist ganz ausdrücklich auf Salvador Allendes Unidad Popular (Volkseinheit) als „Modell“ für die Zukunft hin, obwohl dieses Beispiel in Wirklichkeit zeigt, dass eine Regierung, die einen Kompromiss mit den „demokratischen“ Teilen der herrschenden Klasse schließen will und deshalb den Kampf auf verfassungsmäßige Mittel und friedliche Reformen beschränkt, sich nicht nur als unfähig erweisen wird, ihre Versprechen einzulösen, sondern auch nicht in der Lage sein wird, zu verhindern, dass die Kräfte der Konterrevolution ihr Programm durchsetzen.

Taktiken und Strategie

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass RevolutionärInnen an der Seite der reformistischen Massenorganisationen, der Gewerkschaften und der Basis der populistischen Parteien kämpfen. Es ist notwendig, die Einheitsfronttaktik systematisch anzuwenden, um die Massen gegen die Bourgeoisie zu mobilisieren und die Massenbasis vom Linkspopulismus und Reformismus wegzubrechen. Wir müssen ihre FührerInnen auffordern, die ArbeiterInnenklasse unabhängig von allen bürgerlichen Parteien zu mobilisieren und, falls sie gewählt werden, Regierungen der ArbeiterInnenklasse zu bilden, die mit der Bourgeoisie brechen und die Massenorganisationen der ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Armen mobilisieren, um die Macht in die Hände ihrer Räte und Milizen zu legen.

Wie bereits gesagt, liegt in Argentinien der Schlüssel darin, dafür zu kämpfen, dass die Gewerkschaften mit dem Peronismus brechen und eine Massenpartei der ArbeiterInnenklasse gründen. Argentinien ist eines der wenigen Länder, in denen trotzkistische Organisationen bei nationalen Wahlen einen bedeutenden Einfluss errungen haben. Die Front-Unity der Linken und Arbeiter*innen – Einheit (FIT-U) ist ein Bündnis, das sich auf die beiden größten trotzkistischen Gruppen konzentriert, die Sozialistische ArbeiterInnenpartei (PTS) und die ArbeiterInnenpartei (PO). Obwohl FIT-U auf einer Plattform der Klassenunabhängigkeit stand, kann dies nicht einfach dadurch erreicht werden, indem man bei Wahlen kandidiert oder militante Gruppen von ArbeiterInnen unterstützt, so wichtig diese beiden Taktiken auch sind.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat der Peronismus, ein konservativer bürgerlicher Populismus, die wichtigsten Gewerkschaften fest im Griff, insbesondere den Allgemeinen Gewerkschaftsdachverband (CGT). Um diesen Einfluss zu durchbrechen, ist es notwendig, in allen Verbänden darauf hinzuwirken, dass die Gewerkschaften sich vom Populismus und auch vom Liberalismus lösen und eine unabhängige ArbeiterInnenpartei gründen. Kräfte wie die FIT-U könnten einen bedeutenden Einfluss haben, wenn sie dies tun würden, aber trotz ihrer Bekenntnisse zum Trotzkismus und Leninismus ignorieren sie die Beispiele von Lenin und Trotzki über die Taktik des Kampfes für ArbeiterInnenparteien in Ländern, in denen MassenarbeiterInnenparteien nie entstanden sind. In einer solchen Partei müssten RevolutionärInnen von Anfang an für ein revolutionäres antikapitalistisches Programm kämpfen.

In den meisten Ländern Lateinamerikas ist die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung immer wieder in den Vordergrund gerückt. Darin spiegeln sich einerseits die zunehmenden Angriffe auf die demokratischen Rechte, aber auch die populistischen und reformistischen Grenzen der Führungen der Bewegungen wider.

Eine verfassunggebende Versammlung, die von den FührerInnen der oppositionellen Bewegungen zusammen mit VertreterInnen des Staatsapparats oder des bestehenden Regimes einberufen wird, kann nur eine Täuschung sein, die darauf abzielt, die Massen während einer Periode des „Übergangs“ zu spalten und zu demobilisieren. Dies geht aus den Erfahrungen mit der bolivianischen CA (Verfassunggebende Versammlung Boliviens) in den Jahren 2006-2007 hervor. Die Massenbewegungen von ArbeiterInnen, armen Bauern/Bäuerinnen und indigenen Gruppen hatten diese seit 2000 gefordert. Ihr Ziel war die Errichtung einer Volksdemokratie auf der Grundlage der kommunalen Organisationen und Gewerkschaften. Damit sollten die Öl-, Gas- und Mineralreserven des Landes verstaatlicht und den GroßgrundbesitzerInnen die Landgüter abgenommen werden. Die Massen wurden jedoch von der MAS unter Evo Morales betrogen. Obwohl sie das Land als „plurinationale Republik“ bezeichnete, hielt die MAS Armee, Polizei, Parlament und Justiz intakt, wenn auch die Wiphala (Regenbogenfahne, Flagge der indigenen Völker Boliviens) auf ihren Uniformen prangte und von öffentlichen Gebäuden wehte. Der Putsch von 2019 hat gezeigt, dass, wenn die Massen diese bürgerliche Staatsmaschine nicht zerschlagen, jede neue Verfassung nur eine Fassade sein wird, hinter der sich die Konterrevolution versteckt, bis die Zeit reif ist zuzuschlagen.

In einer Reihe von Ländern könnte die Forderung nach Einberufung einer freien und souveränen verfassunggebenden Versammlung ein wichtiges Mittel sein, um den bürgerlich-demokratischen Bedürfnissen von Millionen von Menschen gerecht zu werden und ihnen die Illusionen zu nehmen. Aber es ist auch klar, dass selbst die demokratischste verfassunggebende Versammlung immer noch eine bürgerliche Institution, eher ein Terrain für den Kampf als ihre Auflösung wäre. Deshalb dürfen wir diese Forderung nicht fetischisieren, sondern müssen sie richtig nutzen. Obwohl sie in einer Reihe von Ländern wichtig ist, darf sie in keinem Land als Allheilmittel angesehen werden. Wo sie aufgeworfen wird und notwendig ist, müssen wir dies auf revolutionäre Weise tun, indem wir für Wahlen zu einer solchen Versammlung kämpfen, die von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der armen Bauern/Bäuerinnen sowie von Aktionsräten kontrolliert und von einer ArbeiterInnen- und Volksmiliz verteidigt wird.

Der einzige wirkliche Ausweg für die ArbeiterInnenklasse, die indigenen Völker und die Masse der Bevölkerung ist der Sturz proimperialistischer Regierungen und ihre Ablösung durch ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen. Die Streitkräfte, die Polizei und die Sicherheitsdienste in den Händen ihrer KommandeurInnen und ihrer US-UnterstützerInnen zu lassen, bedeutet, ein Damoklesschwert über eine solche Regierung zu hängen, wie die Ereignisse in Chile 1973 und in Bolivien 2019 nur zu deutlich gezeigt haben.

Das letztendliche Ziel müssen Regierungen sein, die auf der Grundlage der ArbeiterInnen- und Volksräte alle Kräfte der bürgerlichen Repression und der imperialistischen Einflussnahme zerschlagen und durch bewaffnete Milizen ersetzen, die aus den Selbstverteidigungsorganen der ArbeiterInnen und des Volkes hervorgehen und diejenigen SoldatInnen heranziehen, die sich auf die Seite der Bewegung der Massen stellen. Dies wäre ein großer Schritt zur Umkehrung der reaktionären Flut, die in den letzten Jahren scheinbar alles mit sich zog, und könnte zur Schaffung der Vereinigten Sozialistischen Republiken Lateinamerikas führen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir jedoch die akute Führungskrise der ArbeiterInnenklasse auf dem Kontinent überwinden. Die vorherrschenden Kräfte in den entstehenden und sich entwickelnden sozialen Kämpfen sind nach wie vor linkspopulistisch oder reformsozialistisch geprägt. Um zu verhindern, dass diese Führungen die Bewegungen erneut in die Irre führen, muss die ArbeiterInnenklasse ihre eigenen revolutionären Parteien aufbauen, damit sie den Volksmassen, den Bauern und Bäuerinnen, den Landlosen, der städtischen Kleinbourgeoisie, den indigenen Gemeinden und den verschiedenen sozialen Bewegungen tatsächlich eine Führung geben und sie hinter einem Aktionsprogramm mit Übergangsforderungen vereinigen kann, das zur sozialistischen Revolution und zur Umgestaltung des gesamten Kontinents führt.