Arbeiter:innenmacht

Brasilien: Die COVID-19-Krise und die Herausforderungen für die ArbeiterInnenklasse

Liga Socialista, Brasilien, Infomail 1099, 11. April 2020

Die Wirtschaftskrise in Brasilien verschärfte sich bereits während der ersten Amtszeit von Präsidentin Rousseff, aber mit dem Putsch, der sie zu Fall brachte, wurde die Krise noch größer und nahm politische Dimensionen an. Seitdem hat sich die Lage des Landes immer weiter verschlechtert, mit großen Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse wie z. B. „Reformen“ der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Sicherheit.

Als sich die Angestellten im öffentlichen Dienst auf allen Ebenen (Bund, Provinzen, Gemeinden) für eine große Bewegung im ganzen Land organisierten, um die Reform der staatlichen Verwaltung zu stoppen, wurde das Land von der Coronavirus-Pandemie heimgesucht. Die Gewerkschaftsdachverbände setzten die für den 18. März geplante Aktion aus Angst vor einer großflächigen Übertragung des Virus sofort aus.

Um den Forderungen der KapitalistInnen nachzukommen, erließ die Regierung die provisorische Maßnahme 927, die u. a. die Aussetzung von Arbeitsverträgen für bis zu 4 Monate erlaubte. Dies stieß in den Medien und sogar im Kongress auf ein sehr negatives Echo und veranlasste die Regierung, den speziellen Artikel, der diesen Angriff garantierte, zurückzuziehen. Andere Offensiven gegen die ArbeiterInnen, die zur Rücknahme der Rechte der formell Beschäftigten im Land führten, wie z. B. die Gewährleistung der Präsenz der Gewerkschaften bei Vertragsverhandlungen, wurden jedoch aufrechterhalten. Diese Möglichkeit lässt den ArbeiterInnen der Gnade der Bosse ausgeliefert sein. Von ihnen wird erwartet, dass sie „Vereinbarungen“ unterzeichnen, die ihnen Rechte entziehen und sogar die Löhne senken können. Der Kongress sollte diese provisorische Maßnahme ohne weitere Prüfung ablehnen. Es ist uns bereits klar, dass das Coronavirus als Vorwand benutzt wird, um den ArbeiterInnen ihre Rechte zu nehmen.

Eine „Gripezinha“ (kleine Grippe)

Die Regierung Bolsonaro behandelt die Pandemie auf unlogische und kriminelle Weise, als handele es sich nur um eine weitere einfache Grippe, eine „Gripezinha“ in den Worten Bolsonaros. Obwohl sich mehrere Mitglieder seiner Regierung angesteckt haben, besteht er darauf, präventive Maßnahmen zu disqualifizieren. Dies wurde auf der Kundgebung, zu der er selbst am 15. März zur Unterstützung seiner Regierung gegen den Kongress und den Obersten Bundesgerichtshof (STF) aufgerufen hatte, sehr deutlich. Zu diesem Zeitpunkt stand er unter Quarantäne (Verdacht auf Ansteckung), und dennoch verließ er den Palast, um dort seine AnhängerInnen zu begrüßen und zu umarmen.

Die Pandemie hat sich im ganzen Land ausgebreitet. In den meisten Städten ist vieles zum Stillstand gekommen. Alle kommerziellen Aktivitäten mit Ausnahme von Märkten und Apotheken sind zum Erliegen gekommen. Turnhallen, Bibliotheken, öffentliche und private Schulen sind ebenfalls geschlossen. Die Empfehlung lautet, das Haus nicht zu verlassen. Aber ArbeiterInnen in Industrien, die noch betrieben werden und ihre Belegschaften weiterhin arbeiten lassen, laufen Gefahr, sich anzustecken. Der öffentliche Verkehr zeigt seine eigenen Mängel. Mit dem Rückgang des Personentransportes arbeiten die meisten Unternehmen weniger Stunden und mit einer kleineren Flotte im Falle der Busse. Das bedeutet, dass der öffentliche Verkehr zu Spitzenzeiten zu überfüllt ist, was die Ansteckungsgefahr weiter erhöht.

Die BewohnerInnen der Vorstädte und Favelas (Elendsviertel) wurden praktisch aufgegeben. Für sie gibt es kein Programm zur Eindämmung der Pandemie. In einem Video auf der Website der Zeitung Estadão auf YouTube prangerte ein/e GemeindevorsteherIn aus der Favela Paraisópolis in São Paulo ihre Verlassenheit durch die Behörden an und ergriff die Initiative zur Organisation der Favelas. Es gibt 420 lokale AnführerInnen, die jeweils für bestimmte Straßen zuständig sind. In diesen Straßen hat jede/r von ihnen Kontakt zu etwa 300 EinwohnerInnen. So verstehen sie die Situation in der Favela. Sie haben Teams zur Verteilung von Nahrungsmitteln gebildet und richten improvisierte Orte ein, an denen sie sich um die BewohnerInnen kümmern, die von der Krankheit befallen sind. Dies ist ein Beispiel dafür, wie man sich organisieren muss, nicht nur, um die Pandemie zu bekämpfen, sondern auch, um demokratische Rechte zu verteidigen, die täglich vom Staat selbst missachtet werden.

Am 24. März verharmloste Präsident Bolsonaro im nationalen Fernsehen in Opposition zu Fachleuten und Weltgesundheitsbehörden erneut die Pandemie und rief das brasilianische Volk auf, aus der sozialen Isolation herauszukommen, und forderte eine „Rückkehr zur Normalität“ und ein Ende der „Gefangenschaft“. Er erklärte auch, dass „die Medien“ für die Verbreitung der Angst verantwortlich seien.

Es wird erwartet, dass der April der Spitzenmonat für die Übertragung des Coronavirus in Brasilien sein wird, und der Gesundheitsminister selbst sagt bereits einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems voraus, der eine ähnliche Situation wie in Italien zeigen könnte. Brasilien hat bis dato (30.03.) einen Rekord von 159 Toten und 4.579 Infizierten, mit einer Sterberate von 3,5 % (El País, 31.03.2020).

Leider braucht es wenig Phantasie, um zu erkennen, dass es der Regierung Bolsonaro nur darum geht, die Interessen von UnternehmerInnen und Bankiers zu verteidigen und zu versuchen, eine Wirtschaft zu retten, die bereits vor die Hunde gegangen ist.

Kapitalismus: eine tödliche Gefahr

Angesichts dieses Rahmens müssen wir die demokratischen Rechte sichern, die bereits bedroht waren und jetzt durch provisorische Maßnahmen und Dekrete noch schneller angegriffen werden. Die KapitalistInnenklasse und ihre Vertreterin, die Regierung Bolsonaro, wollen und werden den Massen die Lasten der Krise und damit auch die Risiken der Pandemie aufhalsen. Wir dürfen die allgemeine Einschränkung der demokratischen Rechte nicht passiv hinnehmen. Stattdessen sollten wir diese hart erkämpften Rechte nutzen, um ein wirksames Programm zur Bekämpfung der Pandemie umzusetzen. Der Kampf um unsere Gesundheit ist eng mit der Gegenwehr gegen die Ausbreitung der Wirtschaftskrise verbunden. Um erfolgreich zu sein, reicht es nicht aus, unsere Forderungen auf Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit zu beschränken. Wir müssen uns auch auf die sozialen Ursachen konzentrieren, die das Virus so gefährlich machen. Es ist kein Zufall, dass der Kampf gegen die Krankheit ein entschlossenes Vorgehen gegen Ausbeutung und Marktwirtschaft erfordert. Es ist mehr denn je klar, dass der Kapitalismus selbst zu einer tödlichen Gefahr für die Menschheit geworden ist.

Das Streik-, Versammlungs- und Demonstrationsrecht muss verteidigt werden. Wir sind gegen alle Maßnahmen, die die Kosten der Krise auf die ArbeiterInnen abwälzen und die rassisch Unterdrückten diskriminieren oder ausschließen. Wir brauchen auch jedes Mittel zum Kampf. Wenn wir dafür sorgen wollen, dass Millionen von Menschen ihre Löhne und Rechte nicht verlieren, müssen wir kämpfen – weder die Regierung noch das Kapital werden uns Zugeständnisse machen. Wir brauchen also eine Organisation in einem viel größeren Maßstab, um unsere Interessen zu verteidigen. Wir brauchen Gremien zum Kämpfen wie Aktionsräte und ArbeiterInnenkontrollausschüsse, die demokratisch organisiert und ihrer Basis gegenüber rechenschaftspflichtig sind.

Die sozialen Internetmedien bieten Möglichkeiten, die Isolation der Menschen zumindest teilweise zu durchbrechen. ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen, Kampagnen und politische Initiativen können diese Medien auch nutzen, um sich zu vernetzen, Audio- und Videokonferenzen abzuhalten, und sogar Menschen, die in Unternehmen zur Arbeit gezwungen werden, wie auch informelle ArbeiterInnen können ihre Aktivitäten am Arbeitsplatz unter Berücksichtigung von Sicherheitsanweisungen koordinieren.

Angesichts dieser chaotischen Situation müssen die Organisationen der ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaftsdachorganisationen, Konföderationen, Verbände und Einzelgewerkschaften folgende Maßnahmen verteidigen:

  • Verteidigung der Rechte, die wir bereits gewonnen haben!
  • Sofortige Aufhebung von EC 95, das eine Obergrenze für die Ausgaben für den öffentlichen Dienst festlegt!
  • Aufhebung des Gesetzes über die fiskalische Verantwortung, das bereits unter normalen Bedingungen die Ausgaben für öffentlich Bedienstete begrenzt!
  • Gegen MP 927 – das Gesetz darf im Senat nicht verabschiedet werden!
  • Sofortige Aussetzung aller nicht wesentlichen Arbeiten und Ausweitung der Tätigkeiten auf Distanz!
  • Stabilität und volle Auszahlung der Löhne und Gehälter für formelle ArbeiterInnen, einschließlich derer, die durch Quarantäne weggesperrt wurden, solange die Auswirkungen der Pandemie andauern!
  • Ein Einkommen in Mindestlohnhöhe für alle informellen, arbeitslosen ArbeiterInnen und Scheinselbstständigen sowie für KleinunternehmerInnen (Geschäfte, Restaurants und andere), die vorläufig geschlossen bleiben müssen!
  • Aussetzung der Zahlung von Rechnungen und der Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen (Wasser und Abwasser, Energie, Telefon und Internet),
  • Zusatzzahlungen für andere Ausgaben wie Mieten, Gesundheitspläne, öffentliche Verkehrsmittel, Kredite und Finanzierungen, für die Dauer der Krise!
  • Notfallplan für die öffentliche Gesundheitsfürsorge in den Favelas, Vorstädten und den Siedlungen der MST und MTST (Land- und Obdachlosenbewegungen)!
  • Kostenlose Gesundheitsdienste für alle – von Tests über Krankenhausunterbringung bis hin zur Intensivpflege!
  • Stärkung des SUS (Nationaler Gesundheitsdienst)! Steigerung der Produktion von Arzneimitteln, Testkits, Desinfektionsmitteln, Atemschutz zur Bekämpfung der Pandemie, Bereitstellung von Informationen für die Bevölkerung und Einstellung von medizinischem Personal und AssistentInnen unter der Kontrolle von Gewerkschaften und ArbeiterInnen!
  • Abschaffung von Geschäftsgeheimnissen und Geheimhaltung aller Forschungsergebnisse staatlicher und privater Institute! Internationale Koordinierung der Bemühungen um die Entwicklung eines Impfstoffs, der allen Menschen kostenlos zur Verfügung steht!
  • Verstaatlichung der privaten Sektoren des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie ohne Entschädigung, um Ressourcen zu bündeln und sie unter die Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen!
  • Aussetzung aller Arbeiten und Aktivitäten, die nicht notwendig sind, um die Grundversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten! Diese Maßnahmen müssen von der arbeitenden Bevölkerung festgelegt werden, nicht von den EigentümerInnen des Kapitals und ihren Regierungen!
  • Bedingungslose Lohnzahlung für alle ArbeiterInnen, deren Arbeit eingestellt wird!
  • Zusätzliche Zahlungen für alle Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen Bereichen, die weiterhin mit Gesundheitsrisiken arbeiten müssen! Wenn Unternehmen sich weigern, diese Maßnahmen zu befolgen, müssen sie entschädigungslos enteignet werden!
  • Nein zur Aussetzung der ArbeiterInnenrechte durch vorläufige Maßnahmen, Dekrete und/oder durch Entscheidung der Unternehmen selbst mit der Begründung, dass Überstunden, Heimarbeit, Samstags- oder Sonntagsarbeit, Versetzungen erforderlich sind usw.!
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