Ver.di: Tarifrunde Nahverkehr ausgesetzt – bis wann?

Lukas Resch, Neue Internationale 245, April 2020

Für 87.000 Beschäftigte, die gemeinsam den täglichen Transport von 13 Millionen Menschen in Deutschland ermöglichen – unter ihnen FahrerInnen und Beschäftigte in Verwaltung, Werkstätten und Service – stünde eigentlich im Juni dieses Jahres die größte Tarifrunde im Bereich Nahverkehr seit über 20 Jahren an. Das hat Sprengkraft und bietet die Gelegenheit, gleich mehrere Probleme unserer Zeit anzugehen, darunter Umweltschutz und die Frage der Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen.

Dass das passiert, ja dass es überhaupt zur Tarifrunde kommt, ist jedoch, besonders in der aktuellen Lage, ungewisser denn je. Schon in der Vergangenheit hat die Führung von ver.di gezeigt, dass sie im Zweifelsfall die ArbeiterInnenklasse für faule Kompromisse ausverkauft. Ganz getreu der Politik der Sozialpartnerschaft eben. Die Corona-Pandemie bringt diese erneut mit ganzer Stärke zum Vorschein.

Bereits zu Beginn der Pandemie ließ der DGB zusammen mit dem BDA in einer Presseerklärung verlauten, dass ihre gemeinsame Verantwortung wichtiger sei als ihre Differenzen. So sagte auch ver.di alle bisher geplanten Demonstrationen und (Warn-)Streiks schon jetzt ab. „Angesichts der dramatischen Entwicklung der Corona-Pandemie wird die Tarifkampagne #tvn2020 in Abstimmung mit den Tarifkommissionen vorerst ausgesetzt,“ heißt es auf der Homepage. Natürlich ist es wichtig, angemessen auf die aktuelle Situation zu reagieren und die Notwendigkeit und Durchführbarkeit von Aktionen aufs Genaueste zu prüfen. Das Ausbleiben jeder Verlautbarung, wie der Kampf stattdessen geführt werden kann oder unter welchen Umständen eine Demonstration und Streiks stattfinden können, setzt aber das deutliche Zeichen, dass erneut die Interessen des Kapitals über eine Chance für die ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Schließlich ist ja nicht damit zu rechnen, dass die Arbeit„geber“Innen aufgrund der Corona-Gefahr ihre Interessen zurückstellen werden.

Mutiges Vorgehen wäre nötig

Das Handeln von ver.di spielt für Zustandekommen oder Nichtzustandekommen der Tarifrunde also eine entscheidende Rolle. Um einen Erfolg ihrer Anliegen und für die ArbeiterInnenklasse allgemein zu erzielen, bedarf es eines mutigen Vorangehens. Die Gewerkschaft müsste ihre Mitglieder um klare, kämpferische Forderungen sammeln und andere politisch progressive Elemente, wie die Umweltbewegung, in ihren Kampf einbinden, beispielsweise durch gegenseitige Unterstützung von Streiks. Dabei sollte auch das Mittel des unbegrenzten Streiks zur Durchsetzung der Forderungen integraler Bestandteil einer Mobilisierungs- und Eskalationsstrategie sein. Bindet man rechtzeitig auch andere Gewerkschaften ein, die dann bei den Betroffenen um Solidarität werben oder selbst in Streik treten, reicht die Masse von 13 Millionen betroffenen Menschen, um einem Generalstreik zumindest in manchen Ballungsgebieten gefährlich nahezukommen.

Um diese Kampfkraft aufzubauen und aufrechtzuerhalten, müssen außerdem in den einzelnen Betrieben Streikkomitees gewählt werden, die über den Verlauf des Streiks und der Verhandlung beraten und auch entscheiden.

Hindernisse

Doch selbst wenn sich innerhalb der Gewerkschaften jene durchsetzen würden, die mit diesem Vorgehen brechen, stünden diese einigen bürokratischen Hürden gegenüber. So sind Gewerkschaften an eine mehrwöchige Friedenspflicht gebunden, während der sie verhandeln können und allenfalls  Warnstreiks durchführen dürfen. Außerdem sind nicht alle für die Beschäftigten relevanten Dinge verhandel- bzw. regulär bestreikbar. So sind zum Beispiel Streiks gegen Betriebsschließungen tariflich nicht zugelassen. Die Arbeitsniederlegung wäre zwar keine Straftat, aber der/die Arbeit„geber“In wäre in seinen/ihren Repressionsmaßnahmen auch weit weniger eingeschränkt als bei einem legalen Streik.

Sind diese Widrigkeiten überwunden, gibt es da noch die Hürden, die die Gewerkschaften sich selbst auferlegt haben. So muss, um einen Streik auszurufen, eine sog. Urabstimmung durchgeführt werden, bei der alle Mitglieder stimmberechtigt sind und dafür eine Stimmenzahl von 75 % zu überwinden ist. An sich ist ein Einbeziehen aller Mitglieder ein positiver Schritt, stellt man diesem jedoch die Schwelle von 25 %, die es in einer zweiten Urabstimmung braucht, um einen verhandelten Vorschlag anzunehmen, wird der Eingriff, der hier in die Dynamik der Gewerkschaftsbasis vorgenommen wird, deutlich.

So braucht es einen großen Moment der Einheit, um einen Streik zu initiieren und nur einen kleinen Moment der Uneinigkeit, um einen vielleicht fatalen Vorschlag oder einen faulen Kompromiss anzunehmen. Eine wichtige Alternative wäre hier die tatsächliche Entscheidungskraft der Gewerkschaftsbasis über Anfang, Ende und Verlauf eines Streiks durch einfache Mehrheit. So wäre es schwerer, dass eine Gewerkschaftsführung beim ersten verkraftbaren Angebot einknickt und einen Streik abbügelt. Das wäre aber für einen Streik im Nahverkehr momentan essentiell.

Gesellschaftliche Frage

Von den Forderungen her ginge es erstmal um den massiven Ausbau sowohl der Infrastruktur als auch des Personals. Dabei sollte letzteres nicht nur proportional zu den neu entstehenden Aufgaben einer Verbesserung der Infrastruktur eingestellt werden, auch die bereits bestehenden Bereiche müssen aufgestockt werden, um einen zuverlässigen, effizienten und sicheren Ablauf des Fahrbetriebs gewährleisten zu können. Neue sowie bestehende Stellen müssen gleichzeitig attraktiver gemacht werden durch Verringerung der Arbeitszeit auf 30 Stunden bei gleichem Lohn sowie die automatische Anpassung der Einkommen an Teuerungen.

Auch müssen jegliche (Teil-)Privatisierungen und Finanzoptimierungen zurückgenommen werden. Auch die Forderung von ver.di nach Änderung des Personenbeförderungsgesetzes und der Bevorzugung von kommunalen Verkehrsunternehmen stellt zweifellos einen Schritt in die richtige Richtung dar. Um wirklich gut und reibungslos zu funktionieren, braucht der Nahverkehr keinen künstlichen Wettbewerb, sondern eine bundesweite Vereinheitlichung unter Kontrolle der Beschäftigten und NutzerInnen des ÖPNV.

Die Ausweitung des Nahverkehrs, insbesondere des Schienennetzes, ist zudem von grundlegender gesellschaftlicher Bedeutung. Hier gibt es die Möglichkeit, eine Verkehrswende zu initiieren, die im Gegensatz zu Elektroautos tatsächlich klimafreundlich ist. Um all das zu erreichen, bedarf es eines Kampfs innerhalb ver.dis. Beschäftigte, die sich für solche Ziele einsetzten möchten, müssen den Aufbau der „Vernetzung kämpferischer GewerschafterInnen“ (VKG) nutzen, um eine Oppositionsbewegung zum Apparat aufzubauen, zu vernetzen und so ihrer Sache eine gemeinsame Stimme zu verleihen. Auch muss der Status quo der Finanzierung angegriffen werden. Nicht Kommunen und Länder sollen für dieses Projekt aufkommen, sondern diejenigen, die sich durch Umweltzerstörung bereichert haben. Allen voran die Auto- und Energiekonzerne müssen drastisch besteuert und, falls die sich weigern oder mit Schließungen oder Stellenabbau drohen, enteignet werden.

Auf dieser Grundlage kann auch ein öffentlicher, kostenloser Nahverkehr finanziert werden – ein Projekt, das nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern im Interesse der gesamten ArbeiterInnenklasse, der Beschäftigten wir auch der Millionen NutzerInnen liegt. Dafür lohnt es sich zu streiken – und dafür sollten wir in der nächsten Tarifrunde auch einen Arbeitskampf organisieren, die die Arbeit„geber“Innen in die Knie zwingt.