Irak: As-Sadr bereitet blutige Konterrevolution vor

Jeremy Dewar, Infomail 1095, 17. März 2020

Die
revolutionäre demokratische Protestbewegung des Irak, die am 1. Oktober 2019
begann, steht vor ihrer bisher größten Bewährungsprobe, da der
Interimspremierminister Mohammed Allawi ankündigen lässt, dass seine Regierung
den Aufstand beenden will.

SchülerInnen und
StudentInnen haben die Bewegung mit einer Welle von Streiks, die zur
Annullierung des gesamten akademischen Jahres zu führen drohte, sowie mit
Besetzungen von Plätzen angeführt, einschließlich des symbolischen Tahrir-Platzes
(„Befreiungsplatz“) in Bagdad. Aber die Bewegung ist in den neun südlichen und
zentralen Provinzen mit schiitischer Mehrheit sowie in anderen Zentren des
Aktivismus in Basra und Nasariya weit verbreitet.

Die Repression
war brutal und blutig. Über 550 DemonstrantInnen (und 13 Sicherheitskräfte)
wurden von Armee und Polizei getötet, unterstützt von Mitgliedern der
schiitischen al-Haschd asch-Scha‘bi-Milizen, der iranisch beeinflussten
Volksmobilisierungseinheiten (PMU). Schätzungsweise 25.000 wurden verletzt.

In jüngerer Zeit
haben die „blauen Hüte“, Mitglieder der Saraya al-Salam-Miliz
(Friedenskompanien, Mahdi-Armee) des schiitischen Klerikers Muqtada as-Sadr,
die die Protestierenden vor den von Iran unterstützten Milizen schützten, bis
sie die Seite wechselten, ebenfalls Protestierende getötet. Insbesondere
wendeten sie sich nach dem gescheiterten Millionen-Menschen-Marsch von as-Sadr
gegen sie, als die DemonstrantInnen ein Restaurant auf dem Tahrir-Platz
eroberten, in dem sich der Radiosender der Bewegung befand.

Psychologie der
Protestierenden

Die Psychologie
der Protestierenden muss im Zusammenhang damit verstanden werden, dass die
Hälfte der 40 Millionen EinwohnerInnen des Irak unter 21 Jahre alt ist. Das
heißt, sie kennen nur die sektiererische Regierung des Irak nach der
US-Invasion. Sie sind ebenso wütend auf den Iran wie auf den US-Imperialismus,
weil sie die Infrastruktur des Landes zerstören, das politische System
korrumpiert und öffentliche Dienstleistungen und Arbeitsplätze vergeudet haben.

Aus diesem Grund
gibt es auch eine starke Voreingenommenheit gegenüber politischen Parteien, da
diese alle in die Korruption verwickelt sind, die ein unvermeidliches
Nebenprodukt des politischen Systems der Machtteilung ist. Dabei teilen sich
sunnitische, schiitische und kurdische Parteiblöcke im Parlament die Beute und
belohnen ihre AnhängerInnen mit Posten und Geld.

Ein
Protestierender erklärte dazu: „Wenn wir einen Führer hätten, dann wäre diese
Bewegung schon vor langer Zeit zu Ende gewesen. Es ist leicht für eine/n
FührerIn, von den Kräften, gegen die er/sie kämpft, kompromittiert oder
kooptiert zu werden“.

Eine andere
Person stellte ihre Ziele so dar: „Heute bedrohen die DemonstrantInnen das
Finanzimperium der Parteien. Das Volk will eine Volksregierung, und das bedroht
die [Parteien] …, da sie dann nicht in der Lage sein werden, [es] zu
berauben“.

Ein weiteres
wichtiges Merkmal der Bewegung ist die herausragende Beteiligung von Frauen. Am
14. Februar, als Antwort auf as-Sadrs Tweet, dass die Protestierenden getrennt
werden sollten, widersetzte sich ein Frauenmarsch ihm mit den Sprechchören:
„Stoppt die Diskriminierung von Frauen, stoppt die Geschlechtertrennung!“

Eine ältere
Anhängerin erklärte die Tiefe des Wandels und sagte, dass diese jüngeren Frauen
„all diese Stammesnormen, die religiöse Fatwa [Rechtsauslegung], die Hegemonie
der männlichen Mentalität gegen sie gebrochen haben. Dies ist eine neue Ära, in
der wir leben“.

Aus all diesen
Gründen, neben der wachsenden Krise und Armut, mit der die neue Generation
konfrontiert ist, bleiben die Protestierenden entschlossen, für ihre
Forderungen zu kämpfen: für Arbeitsplätze und öffentliche Dienstleistungen,
gegen die Korruption der Regierung, für den Rückzug aller ausländischen Mächte
aus dem Irak und für demokratische, freie Wahlen und ein Ende der
sektiererischen Aufteilung der Posten.

Der Aufstieg von
as-Sadr

Der Einfluss von
Muqtada as-Sadr nimmt seit über 15 Jahren stetig zu. Er wurde als Anführer der
Mahdi-Armee bekannt, die es mit den US-amerikanischen und britischen
Invasionstruppen zunächst in Basra und ab 2004 auch weiter entfernt aufnahm.
Nachdem er zunächst versucht hatte, sich mit den sunnitischen GegnerInnen der
US-InvasorInnen zusammenzuschließen, wandte er seine Kräfte in einem
sektiererischen Konflikt, der auf allen Seiten Gräueltaten sah, gegen die
SunnitInnen.

Er befehligt
eine große Zahl irakischer SchiitInnen, zunächst wegen seines verehrten Vaters,
des Großajatollahs Muhammad Sadiq as-Sadr, dessen Widerstand gegen Saddam
Hussein 1999 zu seiner Ermordung führte, aber zunehmend auch wegen seines
eigenen politischen und militärischen Gewichts. Er ist jedoch nicht der
mächtigste Kleriker im Irak.

Großajatollah
Ali as-Sistani, der nur selten politisch interveniert und dann meist auf der
Seite der Protestbewegung steht, ist sein Vorgesetzter. Muqtada studiert jedoch
in Ghom, im Iran, um selbst Ajatollah zu werden. Tatsächlich verlässt er den
Iran in diesen Tagen nur selten; zuletzt wurde er Ende Oktober in Nadschaf
gesehen. Als er von den DemonstrantInnen feindselig empfangen und als Teil des
korrupten Establishments wahrgenommen wurde, kehrte er schnell nach Ghom
zurück.

Ab 2011 nahm er
sowohl über seinen parlamentarischen Block als auch über seiner Bewegung ergebene
Minister an der Regierung teil. Gleichzeitig unterstützte er (seit 2011 spontan
ausgebrochene) Proteste gegen dieselbe Regierung, in der er so etwas wie ein
Königsmacher geworden ist. Im Jahr 2014, als Sistani die IrakerInnen aufrief,
gegen ISIS (heute: Islamischer Staat) zu den Waffen zu greifen, wurde die
Mahdi-Armee als „blaue Hüte“ wiedergeboren.

Die derzeitige
Bewegung hat as-Sadr jedoch Probleme bereitet. Die Jugendlichen haben den
Schutz seiner Saraya al-Salam-Miliz vor der Unterdrückung durch die Regierung
und die vom Iran unterstützten Kräfte unter der Führung von General Qasem
Soleimani, dem Chef der Quds-Truppe des Korps der Islamischen Revolutionsgarden
des Iran, akzeptiert, aber sie haben seine politischen Interventionen und seine
„Charta der Reformrevolution“ nicht begrüßt.

Sadrs Versuch,
die Bewegung durch einen „Millionen-Menschen-Marsch“ im Januar zu
hegemonisieren, wurde weithin als Fehlschlag angesehen. So erklärten
Protestierende: „Dieser Marsch ist anders als das, was die Straße will. Er
unterstützt das gegenwärtige politische System im Land, er ist nicht gegen es“.

Jüngste
Ereignisse, wie der Marsch der Frauen, der as-Sadrs Versuchen, die
Geschlechtertrennung in der Bewegung einzuführen, trotzte, haben bestätigt, dass
sein einst mächtiger Einfluss auf der Straße schwindet. Sogar einer seiner
Kleriker, gefangen zwischen den DemonstrantInnen und den blauen Hüten, rief
aus: „Ich werde den Turban aus Liebe zum Irak und zur Stadt Nasiriya und zu den
RevolutionärInnen abnehmen, und ich bin bei den IrakerInnen“.

Ablehnung des
Ausverkaufs

Die politische
Ermordung von Soleimani und des PMU-Führers Abu Mahdi Al-Muhandis am 3. Januar
auf dem Flughafen von Bagdad hat die politische Landschaft dramatisch
verändert. Sadr ist nicht zuletzt ein gerissener Opportunist und hat dabei die
Gunst des Augenblicks erkannt. Er hatte seine Unterstützung dafür, dass der
Iran eine offensichtliche Rolle in der irakischen Innenpolitik spielt, längst
aufgegeben und bezeichnet sich nun als irakischer Nationalist.

Nun, da der Iran
einen schweren Schlag für seine Ambitionen im Land erlitten und selbst mehrere
Führer durch den Angriff verloren hatte, waren die PMU zu Kompromissen bereit.
Nach dem Rücktritt des provisorischen Premierministers Abd al-Mahdi Ende
Oktober 2019 war der Weg frei für das Wiederauftauchen von Mohammed Allawi,
einem ehemaligen Minister im Kabinett der Regierung von Nuri al-Maliki von 2006
bis 2010.

Zunächst einmal
bot Sadr Anfang Januar eine „vereinigte Widerstandsfront“ mit den vom Iran
unterstützten Milizen an und bildete sie, natürlich unter seiner Führung. Dann
unterstützte er Allawi, der am 1. Februar als Interimspremier die Macht
übernahm.

Gleichzeitig
leitete er geheime Gespräche mit Allawis Vertretern und den Führern der
PMU-Milizen ein; ein Abkommen, das um den 1. Februar in Ghom ausgehandelt
wurde. Es scheint, dass keine iranischen Regierungsvertreter anwesend waren.
Die Nachricht über seinen Inhalt verbreitete sich schnell, nicht zuletzt wegen
der großmäuligen Milizenführer.

Allawi selbst
kündigte am 14. Februar die bevorstehende Bildung einer neuen Regierung an, die
seiner Meinung nach „unabhängig“ und mit „kompetenten und unparteiischen
Leuten, ohne die Intervention irgendeiner politischen Partei“ besetzt sein
würde.

Er hat auch
Arbeitsplätze, ein Ende der Korruption und Neuwahlen versprochen sowie, die
Mörder der DemonstrantInnen vor Gericht zu bringen und alle ausländischen
Streitkräfte vom irakischen Territorium zu entfernen, um die Protestierenden zu
beschwichtigen oder zumindest zu spalten.

Wenn dies das
Zuckerbrot ist, dann liegt die Peitsche buchstäblich in den Händen der blauen
Hüte, die sich „vom Bock zum Gärtner verwandelt“ haben, indem sie sich gegen
ihre ehemaligen Verbündeten wandten und die DemonstrantInnen angriffen, um die
zu vertreiben, die as-Sadr als „Eindringlinge“ und „AnstifterInnen“ bezeichnet.

Die Abmachung
zwischen as-Sadr und Allawi ist ein riesiger Betrug. Ein vom Iran unterstützter
politischer Führer sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Middle East Eye:
„[Allawi] ist schwächer als Abd al-Mahdi, und sie wählten ihn gerade deshalb,
weil er schwach ist. Es ist ihm nicht erlaubt, echte Korruptionsakten zu
öffnen, und seine Regierung ist nicht befugt, strategische Entscheidungen zu
treffen, einschließlich der Entfernung ausländischer Truppen aus dem Irak.“

Darüber hinaus
will die Regierung Allawi offenbar die Integration der PMU-Milizen in die
irakische Armee vorantreiben – ein Schritt, der zu Recht die Protestierenden,
die durch ihre Hand Folter, Vergewaltigung und Schlimmeres erlitten haben,
empören wird.

Die
DemonstrantInnen müssen die Bewegung, die kürzlich in ihrem schiitischen
Kernland nachgelassen hat, rasch wieder aufbauen und die Proteste in Mossul,
Falludscha und Ramadi, die sich im vergangenen Herbst erhoben haben, wieder
aufnehmen. Sie sollten auch versuchen, die Gewerkschaften zu einer aktiveren
Unterstützung zu zwingen. Die LehrerInnen haben an der Seite ihrer Schülerinnen
und Schüler einen längeren Streik durchgeführt, aber auch die ÖlarbeiterInnen
müssen zu einem Arbeitskampf bewegt werden.

Jede Spaltung
entlang religiös-sektiererischer Linien wird aufgegriffen, nicht nur vom Iran,
sondern auch von den USA, deren militärische FührerInnen über eine Teilung des
Landes und die Einnahme der Provinz al-Anbar unter ihre Obhut diskutieren.

Es müssen echte
Aktionskomitees aus VertreterInnen der gesamten ArbeiterInnenklasse und der
Jugend gebildet werden, möglicherweise aus den Versammlungen der besetzten
Plätze heraus, und sie müssen national vereint werden.

Trotz des
gerechtfertigten Hasses auf „Führer“ und „politische Parteien“ kann nur eine
vereinte Bewegung, die ihre eigenen AnführerInnen wählt, die reaktionäre
Koalition, mit der sie derzeit konfrontiert ist, besiegen. Aber innerhalb einer
solchen Bewegung muss eine revolutionäre Partei gebildet werden, die in der
Lage ist, die unmittelbaren wirtschaftlichen und demokratischen Forderungen zu
einem Programm zusammenzuschweißen, das auf einen Übergang zum Sozialismus
hinweist.

Es ist
unwahrscheinlich, dass as-Sadr und Allawi in naher Zukunft in der Lage sein
werden, „die Demonstrationen zu beenden“, wie sie gedroht haben. Dennoch
funktioniert die Repression letztendlich, es sei denn, sie wird durch einen
organisierten und entsprechend bewaffneten Widerstand desorientiert,
demoralisiert und besiegt. Das ist die Aufgabe des Tages.