Feminismus für die 99 Prozent – eine Kritik

Urte March, Red Flag, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung, Nr. 8, März 2020

Frauenbewegungen auf der ganzen Welt sind auf dem Vormarsch.
Seit 2017 haben Frauenstreiks Millionen auf die Straße gebracht, um eine
gleichberechtigte Gesellschaft zu fordern und die geschlechtsspezifischen
Auswirkungen des Neoliberalismus und der Austerität aufzuzeigen.

Während konservative und populistische Regime von Indien bis
zu den Vereinigten Staaten hart erkämpfte soziale und reproduktive Freiheiten
als Teil eines globalen Wandels hin zu konservativem Nationalismus attackieren,
greifen feministische Bewegungen zunehmend nach systemischen Erklärungen für
die Unterdrückung von Frauen.

Dies ist die historische Konjunktur, für die der „Feminismus für die 99 % – Ein Manifest“ (1) geschrieben worden ist. Cinzia Arruza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser, drei in den USA ansässige Akademikerinnen, die in der Frauenstreikbewegung einflussreich und als feministische Theoretikerinnen sehr etabliert sind, stellen sich die Aufgabe, „eine neue, antikapitalistische Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit“ zu „entwickeln – eine, die über die aktuelle Krise hinaus – und in eine neue Gesellschaft führt“. (S. 12)

Antikapitalismus und Internationalismus

„Feminismus für die 99 %“ wurde in über 20 Sprachen veröffentlicht und international weit verbreitet, so dass es sich lohnt, die Bedeutung der Popularität der Broschüre zu bewerten, bevor man die im Manifest dargelegten Perspektiven hinterfragt.

Die Autorinnen beginnen damit, dass sie den liberalen oder „korporativen“ Feminismus – beschrieben als den Wunsch nach einem besseren Gleichgewicht der Geschlechter innerhalb der ausbeuterischen Strukturen der Gesellschaft – als völlig unzureichend für die Lösung der drängenden sozialen Probleme der heutigen Welt abtun. Auf den ersten Seiten nennen sie den Kapitalismus, jenes „System, das den Chef hervorbringt, nationale Grenzen produziert und die Drohnen herstellt, die diese Grenzen überwachen“, als den Feind, der besiegt werden muss, um die Befreiung der Frauen zu erreichen. (S. 10 f.)

Die Autorinnen beschreiben die Unterdrückung der Frauen als wesentlich für das Funktionieren des Kapitalismus und betonen, dass die Befreiung der Frauen ein Kampf zwischen widerstreitenden Kräften in der Gesellschaft ist und nicht das langsame Wachstum der Chancengleichheit. Die Broschüre kehrt häufig zu der Idee der „Transformation des zugrunde liegenden Gesellschaftssystems“ zurück, das die Unterdrückung der Geschlechter diktiert. In der Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein globales System ist, bekräftigen sie die zentrale Bedeutung der Frauenstreiks für einen neuen globalen Widerstand und erkennen die Notwendigkeit internationalen Handelns an, indem sie erklären, dass der Feminismus für die 99 Prozent „entschieden internationalistisch ist“. (S. 27)

Hier gibt es viel, dem man zustimmen kann. Die rhetorische
Betonung von Antikapitalismus und Internationalismus in der Broschüre, wie vage
oder falsch sie auch immer definiert sein mag, zeigt ein wachsendes Bewusstsein
in der Frauenbewegung für die Beziehung zwischen kapitalistischen sozialen
Verhältnissen und Frauenunterdrückung auf. Gleichzeitig enthüllen die Mängel in
der Herangehensweise der Autorinnen den anhaltenden Einfluss der
Identitätspolitik und des postmodernen Akademismus auf die Frauenstreikbewegung.

Für den Erfolg einer weltweiten antikapitalistischen
Bewegung wird es nicht ausreichen, die destruktiven und unterdrückerischen
Tendenzen des Kapitalismus anzuerkennen – es muss die richtige Strategie für
seinen Sturz und seine Ersetzung durch ein neues System vorangetrieben werden.

Soziale Reproduktion

Im Nachwort der Broschüre identifizieren sich die Autorinnen als soziale Reproduktionstheoretikerinnen, und der Inhalt, den sie dieser Identifikation geben, definiert ihre Methode und ihre Schlussfolgerungen. Wie andere TheoretikerInnen der sozialen Reproduktion argumentieren sie, dass die marxistische Tradition fehlerhaft ist, weil ihre Erklärung der Rolle der gebärenden, erziehenden und anderen unbezahlten sozialen Arbeit im Gesamtzyklus der Produktion unvollständig ist. Die zentrale Aussage ihrer besonderen Variante der Theorie der sozialen Reproduktion ist, dass „die kapitalistische Gesellschaft aus zwei untrennbar miteinander verwobenen und doch sich wechselseitig ausschließenden Imperativen besteht“ – der Notwendigkeit, Profit zu schaffen (Produktion), und der Notwendigkeit, dass die Menschen sich selbst erhalten müssen (soziale Reproduktion), und dass diese Spaltung auf eine tief sitzende „Spannung im Herzen der kapitalistischen Gesellschaft“ hinweist. (S. 87, 91)

Die praktische Bedeutung dieses Ansatzes wird in erster Linie durch den Kontrast zum „traditionellen“ marxistischen Denken gefördert, dem die Autorinnen vorwerfen, den Kapitalismus als „lediglich ein Wirtschaftssystem“ vorzustellen und nicht anzuerkennen, dass der Kapitalismus „eine institutionalisierte Gesellschaftsordnung“ ist, „zu der auch jene scheinbar ,außerwirtschaftlichen‘ Verhältnisse und Praktiken gehören, von denen die offizielle Ökonomie getragen wird“. (S. 82) Diese Aussage für sich genommen ist einfach eine eigennützige Vulgarisierung des Marxismus, der in der Tat immer erkannt hat, dass die Produktionsverhältnisse den Überbau der Ideologie, den Staat und eine Vielzahl anderer sozialer Institutionen, darunter die Familie, hervorbringen. Ebenso würde keinE MarxistIn der Aussage widersprechen, dass es „die entlohnte Arbeit des Plusmachens [ … ] ohne die (überwiegend) nicht entlohnte Arbeit des Menschenmachens nicht geben“ könnte. (S. 89 f.)

Die Autorinnen argumentieren ferner, dass MarxistInnen die Produktionssphäre fälschlicherweise als dominant über die Reproduktionssphäre betrachten und die „traditionelle ArbeiterInnenbewegung“ dazu bringen, den wirtschaftlichen Kampf um bessere Löhne gegenüber sozialen Kämpfen zu privilegieren, auf Kosten der Interessen der Frauen. Hier gibt es eine echte Meinungsverschiedenheit. Für MarxistInnen, wie Engels erklärt, geht „die materialistische Anschauung der Geschichte [ … ] von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist“. (2)

In diesem Sinne ist es die Sphäre der Produktion, die die
Sphäre der Reproduktion beherrscht und formt. MarxistInnen sehen die Gewinnung
von Profit und die Akkumulation von Kapital als treibende Kraft und
bestimmendes Merkmal des kapitalistischen Systems. Es war die Entwicklung der
Klassengesellschaft, die zur Entstehung der Familie als einer für die
herrschende Klasse wesentlichen Institution führte. Der Übergang zum
Kapitalismus konsolidierte die Kernfamilie als die effizienteste Art und Weise
der Verwaltung der sozialen Reproduktion.

Dies bedeutet nicht, dass die Familie nicht ein Ort der
Unterdrückung ist oder soziale und politische Forderungen zweitrangig sind. Der
revolutionäre Marxismus versucht, den Kampf der ArbeiterInnenklasse nicht nur
für bessere Arbeitsbedingungen, sondern für die Abschaffung des gesamten
sozialen Systems, das die ArbeiterInnen unterdrückt und ausbeutet, anzuführen.
Der politische Kampf über jede Manifestation der aus dem kapitalistischen
System resultierenden Ungerechtigkeiten, einschließlich der sozialen
Unterdrückung der Frauen und der Aneignung ihrer unbezahlten Arbeit durch das
Kapital, ist wesentlich für die Bildung von Klassenbewusstsein und den
Zusammenhalt einer sozialistischen Bewegung.

In der Tat geht es in Lenins Schlüsselwerk „Was tun?“ fast ausschließlich darum, dieses Argument vorzubringen: „Daher ist es begreiflich, dass die Sozialdemokraten sich nicht nur nicht auf den ökonomischen Kampf beschränken können [ … ] Es ist notwendig, jede konkrete Erscheinung dieser Unterdrückung auszunutzen [ … ] auf den verschiedensten Lebens- und Tätigkeitsgebieten, dem beruflichen, dem allgemein-bürgerlichen, dem persönlichen, dem der Familie, dem religiösen, dem wissenschaftlichen usw.“ (3)

Wo die Autorinnen „altmodische Verständnisse“ des
Kapitalismus kritisieren, denen gemäß sie sich die ArbeiterInnenklasse
„ausschließlich aus denen zusammensetze, die für Löhne in Fabriken oder
Bergwerken arbeiten“, antworten sie nicht auf die marxistische Tradition,
sondern auf die stalinistischen und reformistischen Entstellungen des
Marxismus. Die Tendenz zum Ökonomismus ist nicht ein Merkmal revolutionärer,
sondern einer im Wesentlichen bürgerlichen Politik, die sich darauf beschränkt,
bessere Bedingungen für die ArbeiterInnen innerhalb der Grenzen des
Kapitalismus zu suchen.

Die wirtschaftlichen Auseinandersetzungen durch den Kampf um
die soziale Reproduktion zu ersetzen, ohne eine revolutionäre Strategie
voranzutreiben, das kann diesen Fehler nicht überwinden, sondern verlagert ihn
lediglich auf ein anderes Terrain von Teilreformen.

Kapitalismus und Krise

Die Ablehnung des „Feminismus für die 99 %“ dessen, was das Manifest als den ökonomischen Determinismus der marxistischen Tradition bezeichnet, führt dazu, dass es den Begriff der kapitalistischen Krise neu theoretisiert und lässt die Autorinnen einer sinnvollen Definition des Kapitalismus beraubt bleiben. Sie behaupten, dass die allgemeine Krise historisch gesehen bedeutende Möglichkeiten für eine gesellschaftliche Transformation geboten hat und dass die Existenz von Krisenbedingungen den Imperativ für FeministInnen und Radikale schafft, darauf zu reagieren und den Prozess zu „lenken“. Die Autorinnen stellen ihr Manifest als Strategie zur „Lösung“ der allgemeinen Krise vor, die wir heute durchleben.

Obwohl die Autorinnen sagen, dass sie auf eine „Krise des Kapitalismus“ reagieren, bestehen sie darauf, dass sie „diese Begriffe nicht im üblichen Sinn“ (S. 82) verstehen, und zeigen mit dem Finger auf die marxistische Konzeption der inneren Widersprüche des Kapitals. Stattdessen erkennen sie „als Feministinnen“ an, dass der Kapitalismus auch „weitere, außerökonomische Widersprüche und Krisentendenzen“ (S. 83) beherbergt, was bedeutet, dass die kapitalistische Krise „nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine ökologische, politische und auf die gesellschaftliche Reproduktion bezogene“ ist. (S. 84) Für sie besteht die Wurzel all dieser Krisen im Bestreben des Kapitals, freie Ressourcen aus verschiedenen Quellen (Frauen, Umwelt, ärmere Länder) zu extrahieren und sie in den Prozess der Akkumulation einzubringen, der auf lange Sicht nicht nachhaltig ist und Krisen in jeder dieser parallelen sozialen Sphären verursacht.

MarxistInnen würden zustimmen, dass die Tendenz zur Krise in
die Natur des kapitalistischen Systems selbst eingebettet ist und die
Überausbeutung „freier“ Arbeit und Ressourcen ein Merkmal des Kapitalismus ist.
Aber die Marx’sche Theorie hat eine viel spezifischere Definition von Krise. Sie
behauptet, dass die Quelle der Krise der innere Widerspruch des Kapitals selbst
ist, definiert durch die Ausbeutung der lebendigen Arbeit. In ihrer ständigen
Suche nach Mehrwert werden die KapitalistInnen dazu getrieben, die
Arbeitsproduktivität zu erhöhen, indem sie das Niveau der in der Produktion
eingesetzten Technologie erhöhen.

Dabei sinkt der Anteil des Kapitals, der in die
Arbeitskosten fließt, im Vergleich zu dem, der in Maschinen und Rohstoffe eingeht.
Da es aber nur  ArbeiterInnen aus
Fleisch und Blut sind, die einen Mehrwert schaffen, bedeutet dies im Laufe der
Zeit einen Rückgang der Rentabilität des Kapitals – die Profitrate sinkt tendenziell.
Wenn die Profitrate sinkt, kann das Kapital kein ausreichendes
Rentabilitätsniveau aufrechterhalten, und eine Krise bricht aus. Die Symptome dieser
Wirtschaftskrise – Kapitalabzug, Zins- und Preiserhöhungen – sind das Ergebnis
des verzweifelten Versuchs des Kapitals, seine Rentabilität aufrechtzuerhalten,
was für die ArbeiterInnen verheerende Auswirkungen in Form von Arbeitslosigkeit
und sinkenden Lebensstandards mit sich bringt und in soziale und politische
Unruhen übergreift.

Für MarxistInnen ist das, was der „Feminismus für die 99 %“ als „Krise der sozialen Reproduktion“ beschreibt – wenn „eine Gesellschaft der gesellschaftlichen Reproduktion die öffentliche Unterstützung“ entzieht und „zugleich diejenigen, die das Gros der Reproduktionsarbeit leisten, für anstrengende, aber niedrig bezahlte Arbeit, die zudem noch mit langen Arbeitstagen einhergeht“ (S. 93 f.), rekrutiert – ein untrennbarer Teil der Krise des Kapitals. Das Kapital versucht, sinkende Gewinnraten auszugleichen, indem es den Mehrwert auf Kosten der ArbeiterInnen zurückgewinnt, sowohl die tatsächlichen Löhne als auch den Soziallohn kürzt (einschließlich kostenloser oder subventionierter Kinderbetreuung, staatlicher Bereitstellung von Sozialleistungen usw.). Dies hat den beschriebenen Effekt, dass die Belastung durch unbezahlte soziale Reproduktionsarbeit zunimmt und überwiegend auf Frauen entfällt. Daher sind die Kämpfe gegen die Schließung öffentlicher Dienste, für die Sozialisierung der Kinderbetreuung usw. kein gesonderter feministischer Imperativ, sondern Teil des Klassenkampfes insgesamt.

Im „Feminismus für die 99 %“ hingegen liegt die Notwendigkeit eines antikapitalistischen Ansatzes nicht in einer Antwort auf die Gesetze des Kapitalismus begründet, sondern in einer allgemeinen sozialen Krise, die sich aus einer Vielzahl von Krisen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zusammensetzt und sich zu einer „gesamtgesellschaftlichen Krise“ (S. 27) summiert. Obwohl sie argumentieren, dass FeministInnen in jeder dieser Arenen kämpfen müssen und es für alle diese Kämpfe wesentlich ist, sich miteinander zu verbinden, sehen sie jede dieser Auseinandersetzungen in einer eigenen und separaten Sphäre stattfinden. Als Feministinnen sind sie am meisten damit beschäftigt, in der Krise der sozialen Reproduktion eine Führungsrolle zu übernehmen und die Führung von Kämpfen in parallelen Bereichen wie Antirassismus oder Umweltschutz anderen zu überlassen.

Aber wenn jeder Kampf in einer separaten Sphäre stattfinden
kann, um eine bestimmte Krise zu lösen, dann ist jeder soziale Kampf
gleichermaßen wichtig für die „Überwindung“ des Kapitalismus, und der Erfolg
der „sozialen Transformation“ erfordert nur eine bessere Koordination zwischen
den verschiedenen Bewegungen, nicht aber eine bewusste Strategie zur
Entmachtung der herrschenden Klasse. Die Frage, was die Bewegungen wirklich tun
müssen, um zu einer „nichtkapitalistischen Gesellschaft“ zu gelangen, wird
weiter dadurch verdunkelt, dass die Broschüre den Kapitalismus nie wirklich
definiert. Obwohl die Arbeitswerttheorie zusammengefasst wird, erscheint der
Kapitalismus im gesamten Buch vor allem unter dem Deckmantel seiner Symptome,
einer Ansammlung schrecklicher sozialer Folgen, gegen die verschiedene
Bewegungen sich aufzustellen ermutigt werden.

Wo in der Broschüre vom Kapitalismus als System gesprochen
wird, tritt er als eines in Erscheinung, das aus miteinander verbundenen,
konstitutiven Teilen besteht, und nicht als eines, das als ein einziges nach
den Gesetzen der kapitalistischen politischen Ökonomie funktioniert. Wenn sie
ihre Erklärung dafür, warum sich der Kapitalismus in einer so tiefen Krise
befindet, ausarbeiten, beziehen sie sich manchmal auf den Neoliberalismus, das
Finanzkapital oder den Imperialismus. Aber diese Begriffe werden nicht klar
definiert oder mit politischem Inhalt versehen – Neoliberalismus wird nur als
eine „besonders räuberische Form des Kapitalismus“ (S. 27) und Imperialismus
als wirtschaftlich ausbeuterische Beziehungen zwischen Ländern definiert, die
durch Rassismus bedingt sind.

Dies zeigt, dass – trotz der ständigen Betonung ihrer „antikapitalistischen“ Ausrichtung – der Ausgangspunkt der Autorinnen eine Ablehnung des historischen Materialismus und der Kapitalkritik von Marx ist. Da diese Konzepte am Ende den revolutionären Charakter und die Aufgaben des Subjekts in Gestalt der ArbeiterInnenklasse innerhalb des Kapitalismus umreißen, folgt daraus natürlich, dass die Autorinnen die ArbeiterInnenklasse als geschichtliche Trägerin des gesellschaftlichen Wandels ablehnen. Keine Passage fasst dies besser zusammen, als die, wo die Autorinnen, nachdem sie anerkannt haben, dass ihr Manifest auf den Schultern von Marx und Engels steht, ihre Anerkennung sofort einschränken: „Da wir uns heute einer gespalteneren und heterogeneren politischen Landschaft gegenüber sehen, ist es für uns nicht so einfach, uns eine weltweit geeinte revolutionäre Kraft vorzustellen.“ (S. 78)

Populismus

Nachdem er so die Zentralität der Klasse im Kampf gegen den Kapitalismus beseitigt hat, ersetzt „Feminismus für die 99 %“ diese durch „einen Universalismus, der seine Form und seinen Inhalt aus der Vielzahl der Kämpfe von unten erhält“. Konkret wird dies durch eine aggregierte Masse von sozialen Bewegungen verkörpert, die die „99 %“ repräsentieren. Die Autorinnen skizzieren die Konturen ihrer Allianz, indem sie sagen „Wir lehnen nicht nur den reaktionären Populismus ab, sondern auch den fortschrittlichen Neoliberalismus. Tatsächlich beabsichtigen wir unsere Bewegung genau dadurch aufzubauen, dass wir das Bündnis mit diesen beiden aufkündigen“. (S. 72) Die Schreiberinnen berufen sich auf einen progressiven oder „antikapitalistischen“ Populismus, die politische Ideologie der Mittelschichten.

Ihr erklärtes Ziel ist es, die Frauenstreiks zu verstärken und Sympathie und Unterstützung zwischen der Frauenbewegung und anderen sozialen Kämpfen aufzubauen, um „sich jeder Bewegung anzuschließen, die für die 99 % kämpft“. Da die Autorinnen ihre antikapitalistische Strategie als ein Bündnis von sozialen Bewegungen definiert haben, die in verschiedenen Bereichen kämpfen, steht es ihnen frei, die Tugenden der verschiedenen Bewegungen nacheinander zu preisen, wobei sie der Frage ausweichen, wie sich die Bewegungen zueinander verhalten sollen, und sich stattdessen auf die Aufgaben von FeministInnen im Kampf um die soziale Reproduktion konzentrieren.

In der gesamten Broschüre gibt es eine Spannung zwischen dem Wunsch der Schreiberinnen, FeministInnen als FührerInnen dieser antikapitalistischen Allianz zu positionieren, und ihrer Neigung zu einem diffusen Horizontalismus. Manchmal wird die Frage „Werden dann Feministinnen an vorderster Front beteiligt sein?“ (S. 31) als entscheidend für den Erfolg ihres antikapitalistischen Aufstandes gestellt. Doch im gesamten Buch bleibt die Frage unbeantwortet, wer die kollektiven Aufgaben ihres so genannten „antikapitalistischen Aufstands“ festlegen oder leiten wird, und es gibt keine Diskussion über die Organisationsformen, die notwendig sind, um ein Bündnis so unterschiedlicher Bewegungen aufrechtzuerhalten. Das Zusammentreffen der Vielzahl von Bewegungen wird als eine spontane Annäherung von Subjekten vorgestellt: „Nur durch bewusste Bemühungen, Solidarität aufzubauen, durch den Kampf in und durch unsere Vielfalt, können wir die kombinierte Kraft erreichen, die wir brauchen, um die Gesellschaft zu transformieren“.

Obwohl wir  mit „Feminismus für die 99 %“ darin übereinstimmen, dass es wichtig ist, Solidarität zwischen den verschiedenen Bewegungen aufzubauen, ist unser Endziel nicht nur, die Vielfalt zu feiern und voneinander zu lernen, sondern unsere Unterschiede zu überwinden und die große Vielfalt spontaner und themenspezifischer Bewegungen zu einer einzigen, facettenreichen Bewegung zu vereinen, die sich ihres gemeinsamen Ziels bewusst wird. Das Ziel muss der Sturz des Kapitalismus sein, der notwendig sein wird, um eine dauerhafte Befreiung aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erreichen, einschließlich derer, die auf der Grundlage von Geschlecht, Gender und Sexualität unterdrückt werden. Es ist gerade die politische Führung, die durch die Zusammenführung der verschiedenen Elemente unter einem gemeinsamen Programm die politischen Ziele der verschiedenen Bewegungen erhöhen und sie auf den Sozialismus ausrichten kann.

Hier ist die Frage der Handlungsfähigkeit von größter
Bedeutung. Welche Gruppe kann sich vereinen und eine globale
antikapitalistische Bewegung anführen? Die Antwort, die der Marxismus gibt, ist
die ArbeiterInnenklasse – sowohl Frauen als auch Männer, die aus allen
Nationalitäten und Rassen stammen. Ihr revolutionäres Potenzial ergibt sich aus
ihrer Rolle in der Produktion, durch die die Klasse die kollektiven Fähigkeiten
und das Ethos erwirbt, um sich gegen ihre AusbeuterInnen zu vereinigen. Der
familiäre Rahmen spaltet und atomisiert, anstatt die Klasse zu vereinen, wenn er
vom Arbeitsplatz und der Gemeinschaft der ArbeiterInnenklasse getrennt ist.

Aber die Notwendigkeit unbezahlter und bezahlter Arbeit für
die KapitalistInnen gibt den ArbeiterInnen und ihren Familien – als Klasse und
nicht nur als Belegschaft – die Macht, sich zu wehren. Die ArbeiterInnenklasse
hat gezeigt, dass sie wie keine andere Klasse ihre eigenen Organisationen
aufbauen kann, und sie ist die einzige soziale Gruppierung, die eine
sozialistische Revolution erfolgreich geführt hat. Kein heterogenes „Volk“,
keine „Bewegung von Bewegungen“, die von Klassenunterschieden und Antagonismen
zerrissen ist, kann diese ersetzen und die Agentur eines wirklich
antikapitalistischen Projekts sein.

Indem sie die ArbeiterInnenklasse als universelles Subjekt
innerhalb des Klassenkampfes ablehnen, weisen die Autorinnen das Ziel des
Sozialismus zurück, d. h. die Übernahme der Staatsmacht durch die
ArbeiterInnenklasse und die demokratische Planung der Wirtschaft. Da sie sowohl
den bürgerlichen Feminismus als auch den Marxismus ablehnen, ist ihre Ideologie
letztlich eine solche des kleinbürgerlichen Feminismus, der Klasse nur als eine
von vielen Identitäten mit überlappenden und konkurrierenden Interessen sieht
und daher unfähig ist, eine Einheit im Kampf zu schmieden. Ihr Machtanspruch
kann nur ein allgemeiner „antisystemischer“ Linkspopulismus sein, in dem den 99 %
– d. h. allen Bevölkerungsklassen, die durch die sozialen Bewegungen
vertreten werden mit Ausnahme der MilliardärInnen – die zentrale Rolle
zugeschrieben wird, aber notwendigerweise ohne ein gemeinsames Ziel, geschweige
denn eine Strategie zur Erreichung dessen. Und genau hier, in der Frage der
Taktik und Strategie, zeigt sich die eklatanteste Schwäche des Buches.

Frauenstreiks

„Feminismus für die 99 %“ stellt die Frauenstreiks als eine wesentliche Taktik für den Aufbau einer „neuen, nichtkapitalistischen Gesellschaftsform“ dar und argumentiert, dass sie die Vorstellung der Menschen von Streiks auf der ganzen Welt neu beleben können. In Übereinstimmung mit der eklektischen Methode der Autorinnen bleibt im Buch unklar, ob die Frauenstreiks als eine Protestbewegung aufgebaut werden sollten, um den halbautonomen Kampf für Reformen im Bereich der sozialen Reproduktion voranzutreiben, oder ob sie ein bewusster Versuch sind, den Kapitalismus zu schwächen.

Für MarxistInnen hat ein Streik eine spezifische Funktion
als direkte Konfrontation zwischen ArbeiterInnen und Kapital. Durch den Streik
berauben die ArbeiterInnen die Bosse ihrer Profite und versuchen durch die
Androhung weiterer Störungen einige Zugeständnisse seitens der KapitalistInnen
zu erreichen. Wenn ein Streik zu einer Massenstreikbewegung verallgemeinert
wird, stellt sich die Frage, wer in der Gesellschaft die Macht. Unter den
richtigen Bedingungen und unter der richtigen Führung kann sie der Auslöser für
einen revolutionären Aufstand sein. Streiks am Arbeitsplatz haben diese
störende Wirkung, weil der Rückzug der produktiven Arbeit die Produktion von
Mehrwert behindert, der das Wesen des Kapitalkreislaufs ausmacht. Unbezahlte
Arbeit im Haushalt bringt per Definition keinen Profit, daher ist ihre
Niederlegung kein direkter Schlag gegen das Kapital.

„Feminismus für die 99 %“ scheint diese Prämisse zu akzeptieren, wenn es sagt, dass die Rolle der Frauenstreiks darin besteht, „die unverzichtbare Rolle“ sichtbar zu machen, „die geschlechtsspezifische, unbezahlte Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften spielt“ (S. 17). In Wirklichkeit werden die Frauenstreiks als eine Protestbewegung dargestellt und nicht als ein bewusster Versuch, Kapazitäten zur Störung der kapitalistischen Wirtschaft aufzubauen. Aber da „Feminismus für die 99 %“ keine Vorstellung von den Gesetzen und Grenzen des Kapitals hat, sondern nur „ehrgeizige Projekte der sozialen Transformation“, behauptet es, dass ein solcher Protest immer noch ein transformativer Akt sein kann, „vor allem durch eine Erweiterung der Vorstellung dessen, was überhaupt als Arbeit zählt“. (ebd.)

Obwohl der Marxismus beschuldigt wird, eine künstliche Aufteilung der Bewegung in den wirtschaftlichen und sozialen Kampf als getrennte Sphären aufrechtzuerhalten, begeht „Feminismus für die 99 %“ in Wirklichkeit den gleichen Fehler in umgekehrter Richtung, indem es versucht, den sozialen reproduktiven Kämpfen Vorrang einzuräumen. Die Autorinnen übertreiben zwar die Fähigkeit des Entzugs von sozialer reproduktiver Arbeit, den Kapitalismus zu stören, untergraben aber gleichzeitig das tatsächliche politische Potenzial der Frauenstreiks, indem sie ihre Funktion künstlich auf die einer Protestbewegung zur Hebung des feministischen Bewusstseins beschränken. Selbst die grundlegendsten politischen Forderungen, die auf eine Verbesserung der materiellen Position der Frauen in der Gesellschaft abzielen wie allgemeine kostenlose Kinderbetreuung und gleiche Bezahlung, fehlen auffallend außer in ihrer negativen Form, als Beispiele für Dinge, die der Gesellschaft derzeit fehlen.

Tatsächlich kann die Nutzung der Rolle der Frauen in der
kapitalistischen Wirtschaft als Lohnarbeiterinnen
zur Organisation von Frauenstreiks die Grundlage einer Strategie zur Ausweitung
der Bewegung sein, die eine größere Zahl von ArbeiterInnen – einschließlich
Männern – in die Streiks hineinzieht. Einige der erfolgreichsten Frauenstreiks
haben in Ländern stattgefunden, in denen sie von großen Gewerkschaften
unterstützt wurden wie in Spanien und der Schweiz. Die Frauen hörten nicht nur
mit der Hausarbeit auf, sondern verließen ihre Arbeit auf der Grundlage
sozialer und wirtschaftlicher Forderungen: gleiche Bezahlung, soziale
Absicherung der Kinderbetreuung, Beendigung der Schikanen am Arbeitsplatz und
der häuslichen Gewalt.

Die Verbindung von sozialen und wirtschaftlichen Forderungen
verleiht der Bewegung einen politischen Charakter und stellt Frauen an die
Spitze eines Kampfes, der die Frage aufwirft, welches Sozialsystem all diese
Forderungen gleichzeitig erfüllen und die Errungenschaften dauerhaft machen
könnte. Wenn sich die Streiks am Arbeitsplatz ausbreiten, wird die
Unterstützung von arbeitslosen Frauen, die zu Hause arbeiten, die Umwandlung
der Bewegung in einen allgemeinen politischen Konflikt beschleunigen.

Wenn eine solche Bewegung erfolgreich wäre, würde sie
zweifellos auf den Widerstand des bürgerlichen Staates stoßen. Dieser Punkt
wäre ein entscheidender. Die Bewegung müsste sich entweder auf die
Machtübernahme oder auf eine Niederlage vorbereiten. Auch über das Wesen des
Staates schweigt „Feminismus für die 99 %“. Das Beste, was man daraus
schließen kann, ist, dass der Staat irgendwie obsolet wird, wenn verschiedene
soziale Bewegungen eine bestimmte Schwelle des Radikalismus und der
Zusammenarbeit überschreiten.

Schlussfolgerungen

„Feminismus für die 99 %“ beginnt mit der Behauptung: „Die Organisatorinnen des huelga feminista [Frauenstreiks] bestehen darauf, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen“ (S. 10). Doch trotz ihrer Rhetorik ist der Antikapitalismus der Autorinnen eher ein utopischer Anspruch als eine revolutionäre Strategie.

Wie soll der Kapitalismus beendet werden? Kein Streik –
weder ein Streik, der die Produktion stoppt, noch einer, der in erster Linie
eine Massendemonstration ist – kann dies allein erreichen.
Massendemonstrationen von Frauen als Hausfrauen wie auch als Lohnarbeiterinnen
sind als Beweis unserer potenziellen Macht von unschätzbarem Wert. Aber wenn
diese wirklich auf der Beendigung des Kapitalismus „bestehen“ sollen, müssen
sie sich zunächst in politische Streiks verwandeln, die bewusst eine Regierung
und den Staat zur Kapitulation zwingen wollen und dann in einen Aufstand, eine
Revolution.

Wenn der Streik wirklich ein wesentliches Element der
Vorbereitung und ein potenzieller Katalysator für eine antikapitalistische
Revolution ist – und tatsächlich ist er das –, dann muss die
ArbeiterInnenklasse die zentrale oder führende Kraft darin sein. Sicherlich
wird sie Verbündete aus anderen unterdrückten und ausgebeuteten Klassen
brauchen, aber die ArbeiterInnenklasse muss die hegemoniale Klasse sein, weil
der Kapitalismus historisch gesehen nicht ohne sie auskommt, während die
ArbeiterInnenklasse auf den Kapitalismus verzichten kann.

Nur die ArbeiterInnenklasse kann die Massenproduktion und -verteilung und damit auch die Reproduktion sozialisieren, die Frauen von der Hausarbeit im individuellen Familienhaushalt befreien und die jahrhundertealte Unterdrückung der Frauen beenden. Seit den Tagen von Marx und Engels haben die RevolutionärInnen erkannt, dass diese Ziele untrennbar miteinander verbunden sind: „Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche“. (4)

Demzufolge müssen die revolutionären Ziele von Anfang an
anerkannt und hervorgehoben werden und dürfen nicht hinter verwirrender
populistischer Rhetorik oder in der Rede von Bündnissen unterdrückter Schichten
oder „Identitäten“ versteckt werden, von denen jede über ihre eigenen, nicht
miteinander verbundenen Ideologien, Tagesordnungen und bereits bestehende
Führungen und Organisationen verfügt. Für antikapitalistische Frauen muss der
Ausgangspunkt die proletarische Frauenbewegung sein, an der Frauen sowohl als
Produktionsarbeiterinnen wie auch als Dienstleisterinnen im Haushalt
teilnehmen. Als die Hauptorganisatorinnen im Bereich des Konsums, der
Kinderbetreuung und der Bildung spüren Frauen die Auswirkungen der
kapitalistischen Krise am unmittelbarsten. Es ist kein Zufall, dass sich in
jedem großen Klassenkampf, der die engen Grenzen eines Tarifstreits
überschreitet, Frauen organisiert haben.

Der Zweck der proletarischen, im Gegensatz zu einer
kleinbürgerlichen Frauenbewegung, liegt darin, Frauen in den Kampf für den
Sturz des Kapitalismus zu ziehen, basierend auf einer Strategie für die
revolutionäre Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse. Ihre Aufgabe ist es,
politische Forderungen zur Beseitigung der materiellen Basis der
Frauenunterdrückung zu formulieren, die in jedem gesellschaftlichen Kampf auftauchen,
der nach dem Prinzip handelt: kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, keine
Frauenbefreiung ohne Sozialismus!

Endnoten

(1) Cinzia
Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser, Feminismus für die 99 %:
Ein Manifest, Matthes & Seitz, Berlin 2019; alle Zitate nach der
deutschsprachigen Ausgabe.

(2) Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von
der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, Berlin/O. 1974, S. 210

(3) Lenin, W. I.: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung,
LW 5, Berlin/O. 1955, S. 413

(4) Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des
Privateigentums und des Staats, MEW 21, Berlin/O. 1975, S. 77