Arbeiter:innenmacht

SPD-Bundesparteitag: Alles kann, nix muss?

Tobi Hansen, Neue Internationale 243, Dezember 2019/Januar 2020

In der Stunde der Not ist auf „linke“ SozialdemokratInnen Verlass. Auf dem Altar der „Einheit“ der Sozialdemokratie opferten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken ihren bei der Urabstimmung um den Parteivorsitz gerade errungenen Erfolg. Ein „Kurswechsel“ fand auf dem Parteitag nicht statt. Er wurde vertagt, verschoben – die Große Koalition macht samt Olaf Scholz weiter.

Dabei hatte der Sieg der beiden keynesianisch orientierten KandidatInnen Walter-Borjans und Esken für einige Tage den SPD-Apparat, die Bundestagsfraktion ebenso wie die bürgerliche Konkurrenz verunsichert. Womöglich würden die beiden „unerfahrenen“ AußenseiterInnen nicht nur Scholz/Geywitz übertrumpft haben, sondern auch noch die SPD-Politik ändern und die Große Koalition beenden.

Nicht nur AfD, FDP und CDU, sondern auch etliche bürgerliche Medien malten den „Linksschwenk“ der SPD an die Wand. Der Partei drohe der Untergang, wenn sie keine „staatspolitische Verantwortung“ zeige, also den Kurs beende, der sie an den Rand der politischen Existenz gebracht hatte. Genährt wurden diese Befürchtungen durch die teilweise „radikalen“ Forderungen der neuen Vorsitzenden und ihrer UnterstützerInnen.

Einige davon gingen zwar in die Beschlüsse des Parteitags ein. Sie stellen jedoch angesichts der wichtigsten politischen Entscheidung des Parteitages wenig mehr dar als eine Beruhigungspille für Jusos, Parteilinke und GroKo-GegnerInnen. Entgegen den Hoffnungen und Forderungen des linken Parteiflügels entschieden sich die neuen Vorsitzenden und der Parteitag dafür, über die Fortführung der Bundesregierung erst gar nicht abzustimmen. Der Parteitag verpflichtete die SPD-Regierungsmitglieder zu – nichts.

Einigkeit über alles

Dies entsprach der Parteitagsregie, auf die sich die neuen Vorsitzenden und der alte Vorstand, Parlamentsfraktion und Apparat im Vorfeld geeinigt hatten. Kampfabstimmungen sollten zu allen Fragen vermieden werden – und das wurden sie auch.

Relativ rasch nach der Urabstimmung wurde klar, dass im gemeinsamen Antrag des geschäftsführenden Vorstandes und der neu gewählten Vorsitzenden kein Ende der Bundesregierung gefordert wurde. Stattdessen soll es „Nachverhandlungen“ und Gespräche mit der Union geben, so die Kompromisslinie. Vor allem die DGB-Bürokratie hatte ihre Vorstellungen für den Fortbestand der Großen Koalition deutlich geäußert.

Der neue Vorstand wurde relativ einhellig gewählt: Norbert Walter-Borjans erhielt 89,2 % und Saskia Esken 75,9 % der Stimmen.

Die gesamte „Einhelligkeit“ wurde bei der Wahl zu den stellvertretenden Vorsitzenden deutlich. Da jedoch eine Kampfabstimmung zwischen Juso-Chef Kühnert und Arbeitsminister Heil „drohte“, wurde die Zahl der StellvertreterInnen einfach erhöht. Eine Kampfabstimmung hätte schließlich den „Burgfrieden“ zwischen dem Regierungslager und den neuen Vorsitzenden ziemlich gefährdet. Daher wurde noch am ersten Tag die Anzahl der zu Wählenden auf 5 erhöht. Beide Kandidaten, Heil und Kühnert, kamen durch, wenn auch mit den schlechtesten Ergebnissen. Kühnert landete mit 70,4 % knapp vor Heil mit 70 %.

Klara Geywitz, die mit Scholz zuvor gescheitert war, wurde ausdrücklich auf Vorschlag der neuen Vorsitzenden als Vizechefin gewählt (76,8 %) genau wie die eher „links“ verortete Landesvorsitzende aus Schleswig-Holstein Serpil Midyatli (79,8 %) und die Landeschefin aus dem Saarland Anke Rehlinger (74,8 %).

Der erweiterte Parteivorstand, welcher von 36 auf 24 verkleinert wurde, inkludiert zum einen einige Kabinettsmitglieder (Giffey, Schulze, Roth, Maas). Außerdem wurden „Fraktionslinke“ wie Miersch, der bei der Wahl das beste Ergebnis erzielte, neben rechten SozialdemokratInnen wie Pistorius gewählt. Berlins Bürgermeister Müller oder Ex-Parteivize Stegner flogen immerhin deutlich aus dem Vorstand.

Kräfteverhältnis?

Ausgeschlossen von dieser Regie des Parteitages versuchte das Forum Demokratische Linke 21 (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis, den Antrag für den sofortigen GroKo-Ausstieg doch durchzubringen. Dies wurde sehr deutlich abgelehnt. Kühnert, zuvor die „Führungsfigur“ des No-GroKo-Lagers, verteidigte und veranschaulichte den Kompromiss vor dem Parteitag. „Er verspüre keine Oppositionssehnsucht in der Partei“, ließ er verlauten – und sprach sodann gegen die Parteilinken. Keine Oppositionssehnsucht verspüren zweifellos Kabinett, Fraktion und die bisherige Führung in Bund und Ländern. Die neuen Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken konnten sich durch die Einbindung der vormaligen Konkurrenz und den Aufstieg von Kühnert zunächst eine Machtbasis schaffen, zuvor hatten sie de facto keine. Unisono waren auch alle SozialdemokratInnen aus fast allen Lagern überzeugt, dass sie nur gemeinsam die programmatische Erneuerung schaffen, an Glaubwürdigkeit wiedergewinnen und alles aus der GroKo rausholen können. Neu im Amt landeten sie somit bei einer Neuauflage der gescheiterten Nahles-Politik, das Land zu regieren und im „Erneuerungsprozess“ zugleich virtuelle Opposition zu spielen. Diese Politik scheiterte auf ganzer Linie – eine Wiederholung wird die Sache nicht besser machen.

Die neuen Vorsitzenden werden zunächst gemeinsam mit Vizekanzler Scholz und Fraktionschef Mützenich im Koalitionsausschuss die „Gespräche“ führen. Dies gilt schon mal als „Erfolg“ einer anspruchslos gewordenen Sozialdemokratie. Esken betonte, dass „die Parteien die Verträge machen“ werden. Walter-Borjans/Esken vertreten zwar eine klassische keynesianische Umverteilungspolitik und wollen mit der neoliberalen Agenda der Regierungszeit brechen – aber nicht jetzt und nicht in der Praxis. Nach den Beschlüssen des Parteitages zeigt sich nun auch Finanzminister Scholz bereit, für Investitionen die „schwarze Null“ hinter sich zu lassen. Selbst Kreise der Union würden die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro bis 2021 zunächst unterschreiben. Ein unverbindliches „Mehr“ für Klimaschutz und Digitales ließe sich für die Große Koalition ohnedies gut verkaufen.

Dies soll allen Ernstes eine „strategische“ Ausrichtung darstellen. Das Profil soll „geschärft“ werden, die „sensationellen Ergebnisse“ der SPD-MinisterInnen, allen voran die Grundrente von Hubertus Heil, sollen gewürdigt werden. Walter-Borjans/Esken stünden zwar weiterhin für ein frühzeitiges Ende der GroKo zur Verfügung – aber sie wollen und werden es selbst nicht aktiv in Angriff nehmen. Die Führungen der DGB-Gewerkschaften, ihre Apparate und FunktionärInnen scheinen derzeit die verlässlichsten Agenturen für den Erhalt der Bundesregierung zu sein, auch wenn – ähnlich wie in der SPD – unter der Oberfläche auch dort Konflikte schwelen.

Auch wenn der Parteitag die „Einheit“ erhalten sollte, so versuchen beide Seiten, BefürworterInnen wie GegnerInnen der GroKo, die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. Eine wichtige Rolle wird dabei die Fraktion einnehmen, die sich zuvor noch recht deutlich für Scholz/Geywitz als neue Vorsitzende ausgesprochen hatte. Dort stellt die „Parlamentarische Linke“, der auch Saskia Esken angehört, ca. ein Drittel der Abgeordneten. Zusammen mit dem „Netzwerk“ und dem „Seeheimer Kreis“ sind das ihre tragenden internen Zusammenschlüsse.

Die „Parlamentarische Linke“ war zwar nie sonderlich „links“, jedoch im Unterschied zum „Seeheimer Kreis“ immer stark an den Forderungen der Gewerkschaften, Verbände, NGOs orientiert. Was die neuen Gespräche in der Bundesregierung im Koalitionsausschuss angeht, wird die entscheidende Frage sein, ob die neuen Vorsitzenden eine Basis in der Fraktion erobern können. Die neuen Vorsitzenden sind nur auf Zeit bestellt. Die endgültige Haltung zur Bundesregierung ist noch nicht festgelegt, wie auch Entscheidungen zu den nächsten Wahlen noch anstehen. Der Parteitag stellte nur eine weitere Station der tiefen Krise der SPD dar.

Ergebnisse und Perspektiven

Auch wenn Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken und Kevin Kühnert de facto zunächst den Nahles- Kurs fortsetzen, so haben sie dafür aber erst mal neue Mehrheiten. Recht langsam soll eine Verabschiedung von der „Agenda-Politik“ hin zu einer der Umverteilung (Mindestlohn, Grundrente, Hartz IV) eingeleitet werden – und all das bei laufender Regierungsbeteiligung inklusive aller anfallenden Widersprüche zwischen Beschlüssen und Praxis.

In der kommenden Periode wird diese an sich schon widersprüchliche und selbstmörderische Politik erst recht fatal. Erstens wird die Union selbst den Preis für die GroKo und damit für Zugeständnisse der SPD – z. B. in Fragen der Rüstungs- und Verteidigungspolitik – nach oben treiben. Zweitens verengt die kommende Krise den Verteilungsspielraum selbst für eine zahme keynesianische Politik.

Bemerkenswert ist nicht so sehr, dass sich auch in der SPD mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken der Wunsch der Mehrheit der Parteimitglieder manifestierte, mit der offen neoliberalen Politik Schluss zu machen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der vorsichtige, kompromisslerische Versuch, den „Sozialstaat“ wiederzubeleben, vom deutschen Kapital, den Unternehmerverbänden wie auch den bürgerlichen Medien heftig denunziert und diskreditiert wird. Glaubt man manchen LeitartiklerInnen, so erscheinen die vorsichtigen Reformbeschlüsse als Weg zu Sozialismus und Chaos. Die mediale Schlammschlacht gegen Saskia Esken, ihre teuren Schuhe und ihre soziale Unverträglichkeit im Landeselternbeirat von Baden-Württemberg wird aufgebauscht. Eine ähnliche Neugier gibt es nicht, wenn es um Friedrich Merz geht, wahrscheinlich wäre das Material zu umfangreich.

Die Nervosität der deutschen Bourgeoisie erklärt sich natürlich vor allem aus der Krise der gesamten bürgerlichen Parteienlandschaft, der EU und des drohenden Zurückfallens in der internationalen Konkurrenz.

Bezüglich der SPD zeigt sie sich gespalten. Einerseits könnten die Sozialdemokratie, die liebgewonnene Marionette, und die mit ihr eng verbundenen Gewerkschaften in der kommenden Krise noch einmal zur Befriedung der ArbeiterInnenklasse gebraucht werden. Daher könnte das Auslaufmodell GroKo noch nützlich werden, auch wenn abzusehen ist, dass sich die treue Dienerin SPD nach Kriegen gegen Jugoslawien und Afghanistan, Agenda 2010, EU-Formierung, Krisenpaketen, Austerität verbraucht hat.

Zum anderen fürchtet die herrschende Klasse, dass sich ein Machtwechsel in der SPD zu einer späten Wiederbelebung eines linken Reformismus à la Corbyn auswachsen könnte. Die Niederlage der Labour Party kommt daher auch innenpolitisch durchaus zur rechten Zeit. Vor allem aber möchte die Bourgeoisie verhindern, dass die unter Schröder vollzogene Wende der SPD zur „neuen Mitte“ revidiert wird.

Konflikte

Auch wenn die neuen Vorsitzenden die grundsätzlich bürgerliche Ausrichtung der Sozialdemokratie keineswegs in Frage stellen wollen, so ist es vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet schon ein Skandal, dass sie zu einer keynesianisch orientierten Umverteilungspolitik zurückkehren und die Agenda-Politik hinter sich lassen wollen.

Diesen Konflikt, diese Krise der SPD sollten auch die sozialen Bewegungen und GewerkschafterInnen für ihre Ziele nutzen. Der Gegensatz zwischen den über 100.000, die mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken auch gegen die Fortsetzung der GroKo stimmen wollten, und der Parteiführung muss zugespitzt werden – auch mit dem Ziel, ihr Ende zu erzwingen.

2020 kann durch Kämpfe gegen Massenentlassungen, Tarifrunden, Klimakatastrophe, Mietenwahnsinn und weitere soziale Bewegungen ein Ende der GroKo herbeiführen. Das erfordert aber, diese Kämpfe und Konflikte in die DGB-Gewerkschaften zu tragen, die Basis von Linkspartei und SPD zum gemeinsamen Kampf aufzufordern gegen Klimawandel, für Mindestlohn, Vermögens- und Reichensteuer.

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