Armut und Prekarisierung: Hartz IV muss weg!

Tobi Hansen, Neue Internationale, Dezember 2019/Januar 2020

Im November verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen. Ausgehend von einem Urteil des Sozialgerichts von Gotha musste überprüft werden, ob die umfangreichen Sanktionen des Hartz-Regimes noch mit dem Auftrag vereinbar wären, das „Existenzminimum“ zu sichern.

Selbst dem Gericht kamen diesbezügliche Zweifel. Es zog
damit immerhin eine banale Wahrheit in Erwägung, die Menschen, die auf Hartz IV
angewiesen sind, längst bekannt ist. Ein wie auch immer definiertes
„menschenwürdiges“ Leben gibt es für diese Bevölkerungsgruppe letztlich nicht.

Sanktionen

Die seit 2004 ausgesprochenen Sanktionen gehen in die
Hunderttausende, ja Millionen – pro Jahr! Für Arbeitslose war stets klar, dass
auch der „volle“ Satz ein „Existenzminimum“ mehr schlecht als recht sichert.
Das belegt allein schon der Ansturm auf die Geldautomaten an jedem Monatsende
in der Hoffnung, wieder Geld zu bekommen. Der Regelsatz für Alleinstehende
betrug 2004 335 Euro, 15 Jahre später liegt er bei 422 Euro. Zusätzlich werden
nur die Miete für eine „angemessene“ Wohnung und die Versicherungskosten
übernommen.

Was die Existenz noch sichern soll, welche Wohnung als
angemessen gilt, darüber entscheidet eine Bürokratie, deren Willkür alle
EmpfängerInnen ausgeliefert sind. Die sog. Sachverständigen rechneten rund um
den Warenkorb, versuchten dabei, die „soziale Teilhabe“ zu integrieren, und
hegten nach 2004 auch den Plan, bis zu zwei Drittel vom Regelsatz als
Sanktionen zu kürzen. Auch das würde nach ihren Berechnungen zum Überleben noch
reichen.

Diese Willkür wurde auch bei den Sanktionen umgesetzt.
Erscheint der/die stigmatisierte Hartzi nicht zum Termin, erfolgt eine Kürzung
von 10-30 %. Auch bei Verspätungen dürfen die SachbearbeiterInnen nach eigenem
Gutdünken entscheiden. Wer zu wenige Bewerbungen pro Monat schreibt oder
angebotene Billigjobs „verweigert“, gilt als „unwillig“ – und kann auch
sanktioniert werden.

Wenn die Entwürdigung und Bestrafung mit
Lebensmittelgutscheinen anstelle von Geld den/die Arbeitslose/n noch immer
nicht gefügig gemacht hat, wird auch die Leistung für die Wohnung gestrichen
bzw. eine Mieterhöhung nicht übernommen.

Mit diesem System wollte die damalige SPD-Grünen-Regierung
den Standort Deutschland für die 
Globalisierung fit machen. Der damalige SPD Fraktionschef Müntefering
brachte mit der Aussage „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ nicht nur
seine Menschenverachtung zum Ausdruck, sondern auch, wie weitreichend die SPD
dem deutschen Kapital bei der Verarmung der ArbeiterInnenklasse behilflich sein
kann. Das Hartz- und Agenda-System markiert eine strategische Niederlage für
alle Lohnabhängigen, nicht nur die Erwerbslosen. Ohne dieses System wäre die
Ausdehnung „prekärer“ Arbeit, des Billiglohnsektors und erhöhter
Konkurrenzdruck auf die tariflich Beschäftigten unmöglich gewesen.

Dieses System wird grundsätzlich auch vom Verfassungsgericht
nicht in Frage gestellt. Nur seine schlimmsten, menschenverachtenden
„Auswüchse“ sollen abgeschafft oder gemildert werden.

Was wird umgesetzt?

So wird nach 15 Jahren festgestellt, dass die komplette
Streichung der Geldmittel und Zahlungen für die Unterkunft verfassungswidrig
gewesen sind und dem Menschenrecht und der Auslegung des Begriffs
Existenzminimum widersprechen. Nur Kürzungen bis zu 30 % sollen erlaubt sein.
Ausgenommen davon wären noch immer Menschen unter 25, da deren Situation gar
nicht verhandelt wurde.

Somit werden zunächst nur Kürzungen über 30 % ausgesetzt.
Die „Fachebene“ soll nun entscheiden, wie das Urteil praktisch umgesetzt werden
kann und ob die unter 25-jährigen Arbeitslosen auch darunter fallen könnten.
Die TechnokratInnen kapitalistischer Unterdrückung, z. B. im SPD-geführten
Arbeitsministerium, waren schon findig. Möglicherweise gebe es „Lücken“ im
Urteil des Verfassungsgerichts. Gemeinsam mit der Bild-Zeitung, welche nach dem
Urteil den Notstand ausrief, da jetzt die „FaulenzerInnen“ und
„SchmarotzerInnen“ wieder ganz einfach mit Hartz IV überleben könnten,
überlegen BeamtInnen des Arbeitsministeriums, inwieweit addierte Sanktionen
weitergeführt werden können. Die Idee ist so simpel wie zynisch. Wenn die
Kürzung um 60 % verboten ist, dann wäre vielleicht eine sechsmal ausgestellte
10%-ige legal.

Weder bei der Urteilsverkündung noch in der anschließenden
öffentlichen Debatte wurde die Frage gestellt, wie eigentlich mit den
vollstreckten illegalen Sanktionen jenseits der „erlaubten“ 30 % umgegangen
wird? Ein Recht auf Rückerstattung der Leistungen, auf Entschädigung für den
Verlust von Wohnungen, für Obdachlosigkeit … wurde offenbar erst gar nicht in
Erwägung gezogen. Dabei betrafen allein von 2009-2019 die nun als
verfassungswidrig festgestellten Sanktionen insgesamt zwischen 700.000 und eine
Million Menschen pro Jahr.

An dieser Fortschreibung des Unrechts lässt sich ermessen,
wie ernst „linke“ SPD-Versprechungen zu nehmen sind. Während Malu Dreyer als
Interimsvorsitzende mit dem Satz „Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen“
hausieren ging, beriet das sozialdemokratisch geführte Arbeitsministerium über
die Fortführung des Sanktionsregimes.

Die Linkspartei fordert die Umsetzung des Urteils und fände
es schön, wenn auch alle Sanktionen abgeschafft würden – eine
Aktionsperspektive zur Abschaffung des Hartz- und Agenda-Systems präsentiert
aber auch sie nicht.

Eine breite Empörung über die staatliche Abzocke der
Arbeitslosen bleibt aus, obwohl es viele drastische Fälle gibt, wo Menschen
aufgrund von Kürzungen ruiniert wurden. So wurden erst vor kurzem die
Leistungen für eine physisch und psychisch erkrankte Hartz-IV-Bezieherin in
Bayern auf 4,24 Euro gekürzt, weil das Einkommen ihres Mitbewohners, eines
Gelegenheitsjobbers, gegen Hartz-IV verrechnet wurde. Da ihr Betreuer
fürchtete, dass sie zu Hause verhungern oder sich das Leben nehmen könnte, wurde
sie in die Psychiatrie eingewiesen.

So geht die Pauperisierung und Verelendung breiter Teile der
Klasse weiter, daran ändert auch der Mindestlohn wenig. Höhere Kosten für
Wohnung, Energie und Verkehr fressen für die Masse jede Erhöhung von Lohn und
Lohnersatzgeldern weg.

Was tun?

Schon 2004 stellte sich die DGB-Spitze gegen die
Anti-Hartz-Bewegung und die Montagsdemos. Die Gewerkschaften nahmen das Urteil
des Verfassungsgerichts zwar positiv auf, aber in den letzten 15 Jahren haben
sie praktisch keinen Finger für die Arbeitslosen krummgemacht.

Im Kampf gegen das gesamte Hartz-IV-System sollten wir uns
daher auch heute auf DGB, SPD, ja selbst auf die Linkspartei nicht verlassen.
Sie müssen vielmehr zu Gegenaktionen getrieben werden.

Gerade den Linken in den Gewerkschaften wie den
AktivistInnen in den sozialen Protesten (Mieten, Sozialinitiativen), aber auch
in neuen Bewegungen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Es geht um einen Neuanlauf gegen alle Hartz- und
Agenda-Gesetze. Dieser muss mit Themen wie Kampf gegen Altersarmut oder prekäre
Beschäftigung verbunden werden. Die Forderung nach Abschaffung von Hartz IV
müsste dabei mit dem Kampf um ein Mindesteinkommen von 1.100 Euro plus
Warmmiete für alle Erwerbslosen und RentnerInnen verknüpft werden, das jährlich
entsprechend der Steigerung der Lebenshaltungskosten erhöht wird.