Azadi-Marsch in Pakistan: „Zivile Herrschaft“ und die Widersprüche der herrschenden Klasse

Revolutionary Socialist Movement Pakistan, Infomail 1075, 3. November 2019

Der Azadi-Marsch
(Freiheitsmarsch), der am 27. Oktober in Karatschi unter Führung des JUI-F
(Vereinigung islamischer Gelehrten)-Chefs Maulana Fazlur-ur-Rehman startet, bringt
die inneren Widersprüche der Bourgeoisie deutlich zum Ausdruck. Die menschenverachtende
Politik der derzeitigen pakistanischen Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische
Bewegung für Gerechtigkeit)-Regierung erschwert das Leben des größeren Teils
der Bevölkerung, weshalb in den Massen gegen die Regierung Frustration und Wut
zu spüren sind. In dieser Situation führt die gesamte bürgerliche Opposition zugleich
einen Kampf um die Verteidigung ihrer eigenen Interessen. Sie will von der
bestehenden schwierigen Lage profitieren, indem sie nicht nur spezifische
Zugeständnisse für sich selbst gewinnt, sondern sich auch als Alternative
präsentiert.

Die Hauptursache
für das Scheitern und die Ungeeignetheit der von der PTI geführten Regierung
liegt in Pakistans Position in der imperialistischen Weltordnung als
Halbkolonie und der bestehenden Form des Imperialismus. Die von der PTI
geführte Regierung gab sich am Anfang sehr zuversichtlich und war nicht bereit,
irgendwelche Verhandlungen mit Maulana Fazlur-ur-Rehman aufzunehmen, als er für
den Azadi-Marsch zu mobilisieren begann. Aber jetzt sind Verhandlungen im Gange
und die verschiedenen Teile der herrschenden Klasse sind damit beschäftigt,
eine gemeinsame Lösung auszuarbeiten. Die schnell wachsende Krise des
kapitalistischen Systems bedeutet, dass die verschiedenen Teile der Bourgeoisie
in der Lage sein könnten, einen Kompromiss miteinander einzugehen. In diesem
Fall werden in den kommenden Tagen die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse,
die städtischen und ländlichen Armen und Studierenden zunehmen.

Wirtschaftlicher
Streik

Die
Wirtschaftskrise in Pakistan entwickelt sich beschleunigt. Die eigentliche
Bedeutung der Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) besteht
darin, dass der Preis für diese Krise von der arbeitenden Klasse und unteren
Mittelschicht sowie von den städtischen und ländlichen Armen getragen werden
sollte. Aber die Krise trifft nun auch die HändlerInnen und LadenbesitzerInnen
sowie die mittleren und in einigen Sektoren die großen KapitalistInnen. Dies
geschieht, obwohl die Regierung ihr Bestes getan hat, um den Großunternehmen
und ExporteurInnen maximale Ausnahmegenehmigungen im Haushalt zu gewähren. Aber
die Wirtschaftskrise hat sich so sehr verschärft, dass ihre Auswirkungen
überall zu spüren sind. Auch die HändlerInnen waren bereits früher in den
Streik getreten und tun dies immer noch. Diese Situation ist in der Tat
lukrativ für die Protestpolitik von Maulana Fazlur-ur-Rehman und verschiedenen
anderen bürgerlichen Oppositionsparteien. Gleichzeitig liegt darin eine große
Gefahr, die der jetzigen Regierung drohend vor Augen tritt.

Privatisierung,
Abbau und Beendigung von Arbeitsverhältnissen

Tausende von
Menschen haben bereits ihren Arbeitsplatz verloren, während zahlreiche andere
aufgrund der Wirtschaftskrise und der menschenfeindlichen Politik der Regierung
unter die Armutsgrenze gefallen sind. In der aktuellen Wirtschaftslage gibt es
keine Chance auf kurzfristige Besserung. Stattdessen wird sich die Situation
wahrscheinlich nur noch verschlimmern. Die Regierung arbeitet an einer
Privatisierungsagenda. Aus diesem Grund hat die PTI-geführte Regierung das
Medical Teaching Institute (MTI) Reforms Act (Gesetz zur Reform der
medizinischen Ausbildung) in Krankenhäusern durchgesetzt. Ziel dieses Gesetzes
ist es, Krankenhäuser im Namen der Reformen nach einem neuen Geschäftsmodell zu
führen. Auf der einen Seite wird dies dazu führen, dass der ohnedies
eingeschränkte Zugang zu kostenloser und erschwinglicher Gesundheitsversorgung
für die ArbeiterInnenklasse und die

Masse der Armen
endet. Auf der anderen Seite werden die im Gesundheitswesen beschäftigten Lohnabhängigen
ihren festen Arbeitsplatz verlieren. All dies geschieht unter den Bedingungen
des IWF, dessen Ziel es ist, den großen KapitalistInnen zu helfen. Damit soll
eine Welle der massenhaften Privatisierung in diesem Sektor vorbereitet werden.
Auch andere Bereiche sind mit den Angriffen der Privatisierung konfrontiert.
Auch das Budget für die Hochschulbildung von Jugendlichen, die die Zukunft
einer jeden Gesellschaft sind, wurde stark gekürzt. ArbeiterInnen und StudentInnen
lehnen diese Kürzungen allerdings ab und leisten Widerstand.

Angriffe auf die
demokratischen Freiheiten

Der Staat ist
nicht bereit, die Äußerung von Meinungsverschiedenheiten zu tolerieren,
insbesondere über den Charakter des Militärs, den chinesisch-pakistanischen
Wirtschaftskorridor und die Vereinbarung mit dem IWF. Die Mainstream-Medien
sind allein von Korruption und wirtschaftlichem Niedergang besessen. Aber
niemand spricht über die Angriffe auf die demokratischen Freiheiten in
Pakistan. Die wenigen abweichenden Stimmen, die wir hatten, wurden zum
Schweigen gebracht. Die Einrichtung einer Medienregulierungsbehörde und das harte
Vorgehen gegen die sozialen Medien zeigen, dass die herrschende Klasse nicht
bereit ist, jede Art von Dissens zu tolerieren, und sie wird ihr Bestes geben,
um ihn zu beenden. Der Staat wird immer autoritärer.

Lösungen finden
– in der bürgerlichen Demokratie?

Das Militär hat
in Pakistan eine dominante Stellung aufgrund von Faktoren wie dem
halbkolonialen Status des Landes, der Instabilität des kapitalistischen Systems
und der Untauglichkeit der herrschenden Klasse. Aus diesem Grund behaupten
liberale und verschiedene linke Organisationen, dass der größte Widerspruch in
Pakistan der zwischen ziviler Herrschaft und Militärdiktatur oder -kontrolle
ist. Solche Organisationen und Einzelpersonen betrachten die Wirtschaftskrise
des Kapitalismus, den Imperialismus und die Rolle der herrschenden Klasse als
praktisch unwichtige Themen. In Wirklichkeit sind diese Fragen der Grund für
die soziale Krise und das Fehlen demokratischer Grundrechte in Pakistan.

Diese liberalen
und linken Organisationen und Individuen präsentieren den Charakter des
Militärs als unabhängig in diesem bürgerlichen Staat und begrenzen so die
inneren Widersprüche der Bourgeoisie auf einen einfachen Gegensatz zwischen
ziviler Vorherrschaft und militärischer Herrschaft. Nach ihnen sind Nawaz Sharif
und die kapitalistische Sektion des Punjab, die ihn unterstützt, sowie die PPP
(Pakistanische Volkspartei) als seine Verbündeten die einzigen Kräfte, die in
der Lage sind, eine bürgerliche Demokratie durch Niederlage und Zügeln des
Militärs zu erreichen. Wir wollen Attacken auf die demokratischen Freiheiten
bekämpfen und treten für demokratische Reformen ein. Wir befürworten dies
jedoch auf Basis politischer und organisatorischer Unabhängigkeit der
ArbeiterInnenklasse und Linken, nicht durch politische Unterordnung unter PPP
oder Nawaz Sharif.

Dennoch hält
fast die gesamte Linke an dieser Illusion fest, dass, wenn das Parlament die
Oberhand gewinnt und die Institutionen in ihren Grenzen arbeiten, die
bestehende Krise angegangen werden kann. Deshalb spricht der Großteil der
Linken, auch wenn er im Gegensatz zu den Liberalen nicht für die Teilnahme an
der Kundgebung von Maulana Fazlur-ur-Rehman eintritt, immer noch in Bezug auf
die aktuelle Krise von einem Kampf zwischen demokratischen und undemokratischen
Kräften. Dies erklärt, warum sie zum einen gerne ihre Unterschriften unter eine
Erklärung setzen, die das bürgerliche Parlament als Lösung präsentiert und die
Unterschriften von allen Führungen der bürgerlichen Parteien wie PML-N
(Pakistanische Muslimliga-Nawaz), PPP usw. enthält, und andererseits verurteilen
sie nicht, diese Erklärung Maulana Fazlur-ur-Rehman vorzulegen. Es zeigt auch,
wie sie Illusionen in eine Lösung innerhalb dieses bestehenden kapitalistischen
Systems hegen. Sie unterstützen weiterhin bürgerliche PolitikerInnen und
ignorieren die Tatsache, dass die aktuelle Krise ein Spiegelbild der inneren
Widersprüche der herrschenden Klasse ist. Die Lösung liegt nicht in der
Unterstützung von Typen wie Nawaz Sharif oder Asif Ali Zardari, sondern in der
Politik gegen den Kapitalismus selbst. Eine bürgerlich-demokratische Bewegung
ist nicht die Antwort auf die Krise. Stattdessen müssen wir eine sozialistische
Bewegung aufbauen. Die meisten Linken sind ideologisch für den Aufbau einer
sozialistischen Bewegung, aber ihre praktische Politik ist oft der bürgerlichen
demokratischen Bewegung unterworfen.

Programm

Wir müssen die
Grenzen von demokratischen Bewegungen erkennen und ein Programm für die Macht
der ArbeiterInnenklasse entwerfen:

Das eigentliche
Problem liegt in der begrenzten Natur der bürgerlich-demokratischen Bewegungen,
weshalb die zivile Vorherrschaft keine Garantie für unsere demokratischen
Freiheiten sein kann. Wir müssen darüber hinausgehen. Die herrschende Klasse
ist derzeit in ihre eigenen Widersprüche verwickelt. In der gegenwärtigen
Situation ist es wahrscheinlich, dass Kämpfe gegen die Privatisierung,
StudentInnenproteste und die Kämpfe unterdrückter Nationen bürgerlichen
Bewegungen untergeordnet werden können, da die Mehrheit der Linken die
Vormachtstellung des Parlaments und die Eindämmung von Institutionen wie dem
Militär als Lösung darstellt. Für sie sind die Bewegungen der ArbeiterInnen und
StudentInnen Kämpfe mit einem einzigen Thema. Trotz ihrer Feiertagsreden werden
Sozialismus und der Sturz des Kapitalismus nicht zu Fragen von heute, und sie
sehen die bürgerliche Opposition als die politische und regierende Alternative.

Derzeit wird im
Gesundheitswesen ein heftiger Kampf geführt, die ArbeiterInnen der Wasser- und
Energiebehörde sind gegen die Privatisierung organisiert, und die
Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen in der Post und anderen Institutionen
steigt. Die Solidarität zwischen den Kämpfen nimmt ebenfalls zu. Die Linke
schließt sich diesen Bewegungen an, aber es ist wichtig, dass sie interveniert,
um diesen ökonomischen Kampf in einen politischen zu verwandeln. Dazu müsste
die Linke über die Betrachtung des bürgerlichen Parlaments als Lösung für die
soziale Krise innerhalb dieses Systems hinausgehen. Sie muss ein Programm für den
Sturz der von der PTI geführten Regierung und ihre Ersetzung durch eine
ArbeiterInnenregierung vorlegen. Dieses Programm wird der ArbeiterInnenklasse
die Frage nach staatlicher Macht und Regierung vor Augen führen. Wir brauchen
eine revolutionäre Partei der ArbeiterInnenklasse wie auch eine Strategie, die
auf dem Sturz des kapitalistischen Systems und Durchführung einer
sozialistischen Revolution basiert.