Bundeskongress ver.di: Kampfansage oder Fortführung der Sozialpartnerschaft?

Helga Müller, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Vom 22.-28.
September fand der 5. Bundeskongress der Vereinigten
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di unter dem Motto „zukunftsgerecht“ statt.
Dieser Kongress war sicherlich einer der wichtigsten in der kurzen Geschichte
der Organisation. Zum einen stellt ver.di eine der wichtigsten
gesellschaftlichen Kräfte dar. Mit 1,9 Mio. Mitgliedern ist sie nach der IG
Metall die zweitgrößte Gewerkschaft in der Bundesrepublik und mit der
Digitalisierung und der heraufziehenden neuen tiefen wirtschaftlichen Krise
kommen ganz neue Herausforderungen auf sie zu.

Eine große
Verantwortung für die 1.000 Delegierten, die in den 7 Tagen über die
gewerkschaftspolitische Ausrichtung der nächsten 4 Jahre entscheiden mussten.
Gleichzeitig erfolgte ein Führungswechsel. Der langjährige ver.di-Vorsitzende
Frank Bsirske trat nicht mehr an und Frank Werneke, einziger Kandidat für den
Posten, wurde mit großer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden gewählt. Werneke ist
kein Neuling in ver.di-Kreisen. Er war langjähriger Chef des noch existierenden
Fachbereichs 8 (Medien) und im Bundesvorstand zuständig für Finanzen und
Mitgliederentwicklung. Gleichzeitig wurden die Führungsgremien (Bundesvorstand
und Gewerkschaftsrat) neu gewählt. Auch hier hätte das höchste
Entscheidungsorgan – der Bundeskongress – durchaus die Möglichkeit gehabt, eine
bestimmte Richtung vorzugeben (und auf seine Weise tat er das auch).

Wofür steht
Werneke?

Frank Werneke
hielt zwar nach Aussagen der meisten Zeitungen eine kämpferische Rede, in der
er wichtige Fragen wie den Kampf gegen die zunehmende Erosion der Tarifbindung,
für die Durchsetzung eines Mindestlohns von 12.- Euro ebenso wie durchaus
politische – z. B. den gegen Klimawandel und Rechtsrutsch in der Gesellschaft –
aufwarf. Schließlich gilt ver.di gemeinhin als die politischste der
DGB-Gewerkschaften – und dem wollte er zumindest in einer radikal, aber
unverbindlich gehaltenen Antrittsrede entsprechen.

Wer Frank
Werneke aus dem Fachbereich 8 kennt – er war zuständig für die
Tarifverhandlungen bei den Zeitungsverlagen und in der Druckindustrie – weiß,
dass er dafür bekannt war, lange Verhandlungsmarathons zu führen und einen
gerade noch akzeptablen Kompromiss für beide Seiten rauszuholen. Zuständig für
Finanzen und Mitgliederentwicklung im Bundesvorstand, war er zudem derjenige,
der die letzte noch nicht vollständig umgesetzte große Strukturreform gegen
größte Widerstände innerhalb der Organisation durchgesetzt hatte. Statt 13
Fachbereiche wird es nun 5 ungefähr gleich große geben. Der Anlass dafür war
nicht etwa die notwendige Anpassung der Strukturen an die Änderungen in
Wertschöpfungsketten und Technik (Stichwort Digitalisierung).

Die „Reform“ war
und ist vor allem getrieben durch finanzielle Probleme aufgrund der stetigen
Mitgliederverluste, also eine rein bürokratische Antwort auf diesen seit
Gründung von ver.di anhaltenden Trend und den Verlust an Gewerkschaftsbindung
(siehe Helga Müller, Sinnvolle Reform oder bürokratische Flickschusterei, in:
Neue Internationale 229, Juni 2018 ). Ver.di hat seit Gründung der Organisation
ca. 900.000 Mitglieder verloren. Es gibt zwar durchaus Mitgliederzuwächse
gerade in Bereichen, die früher nicht als kampfstark galten wie bei
ErzieherInnen und Krankenhäusern. Aber die Eintritte kompensieren den
Austrittstrend bei weitem nicht und dieser wird sich auch 2019 fortsetzen.

Ver.dis
tarifpolitischer Kurs

Nun ist ver.di
im Gegensatz zur IG Metall, die in der (noch) gut florierenden Exportindustrie
aktiv ist, in Bereichen tätig, die von massiven Umstrukturierungsprozessen
(Handel), von Verdrängungswettbewerb (Druckindustrie, Zeitungsverlage) oder von
einem massiven Privatisierungsdruck (Gesundheitsversorgung, Müllabfuhr,
Wasserversorgung…. kurz: die öffentliche Daseinsvorsorge) und oft von prekären
Arbeitsverhältnissen (Handel) gekennzeichnet sind. Zugegebenermaßen sind diese
schwer zu organisieren und tarifpolitisch zu erschließen und viele Unternehmen
haben aufgrund der verstärkten Konkurrenz und Kapitalkonzentration kaum noch
Interesse an Flächentarifverträgen, die gleiche Arbeitsbedingungen über die
Branche hinweg garantieren und damit für sie gleiche Konkurrenzbedingungen.

Gerade diese
Situation müsste in ver.di ein Anlass sein, Schluss zu machen mit dem üblichen
Tarifritual, wie es zuletzt im öffentlichen Dienst noch unter der Führung von
Bsirske vorgeführt wurde. Dieses läuft regelmäßig etwa so ab: Ein paar
Warnstreiks werden organisiert, damit die Belegschaften Dampf ablassen können.
Dann wird in Marathonverhandlungen ein Tarifvertrag abgeschlossen, der für die
Beschäftigten gerade noch akzeptabel ist und den Arbeit„geber“Innen nicht
wehtut, in der Regel mit einer langen Laufzeit (zwei Jahre oder mehr), der
diesen vielmehr langfristige Planungssicherheit garantiert. Ein Abschluss also,
geprägt von der klassischen Sozialpartnerschaft, an dem die überwiegende
Mehrheit des Kapitals gar kein Interesse mehr hat und der auch den
Beschäftigten immer weniger bringt. Gerade der Umstand, dass das Kapital (aber
auch die öffentlichen Arbeit„geber“Innen) eine härtere Gangart einschlagen,
führt in der Logik der Bürokratie nicht zu einem Kurswechsel, sondern dazu, die
Sozialpartnerschaft beispielsweise durch lange Laufzeiten auch den Unternehmen
schmackhafter zu machen.

In anderen
Bereichen wie der Gesundheitsversorgung geht ver.di ein wenig voran, um wieder
in der Mitte steckenzubleiben. Hier hat die Gewerkschaft zusammen mit den
Belegschaften in 15 Kliniken Abkommen für mehr Personal (vor allem
Pflegepersonal) durchsetzen können. In den meisten Unikliniken konnten diese
nicht in die Tat umgesetzt werden, da die Klinikleitungen daran kein Interesse
haben und es für die Belegschaften keinen Hebel gibt, die vereinbarten
Sanktionen bei Nichteinhaltung durchzusetzen. Gerade hier zeigt sich deutlicher
als anderswo, dass der Kampf gegen den aus der Privatisierungspolitik
resultierenden Druck auf die Belegschaften nicht rein ökonomisch, betrieblich
gegen das Kapital durchgesetzt werden kann. Ver.di selbst betont immer wieder
zu Recht, dass diese Abkommen einen Eingriff in das Direktionsrecht der
Klinikleitungen darstellen und diese aufgrund der Konkurrenzsituation unter den
Krankenhäusern kein Interesse daran haben, mehr Geld für Personal auszugeben.
Hier zeigt sich ganz deutlich, dass gegen die Profitlogik, die im
Gesundheitswesen Einzug gehalten hat – auch in Bereichen, die noch unter
öffentlicher Aufsicht stehen – ein politischer Kampf notwendig ist. Und zwar
ein politischer Massenstreik. Volksbegehren, die in mehreren Stadtstaaten und
Ländern initiiert wurden, mal ohne ver.di, mal unter ihrer Führung, sind
allesamt an den Landesverfassungsgerichten gescheitert. Kein Wunder, sind doch
die Sparmaßnahmen beim Personal eines der Herzstücke der
Privatisierungspolitik.

Oder nehmen wir
die Zeitungsbranche. Seit Jahren, um nicht zu sagen seit Jahrzehnten, kämpfen
die Belegschaften und ver.di gegen Personalabbau, Verlagerungen ohne
Tarifbindung etc. Aber solange sich die Zeitungen hauptsächlich durch
rückläufige Werbeeinnahmen finanzieren, werden die Angriffe auf die
Arbeitsbedingungen kein Ende haben. Jeder rein ökonomisch geführte Kampf wird
daran längerfristig eine Grenze finden müssen. Gerade in diesem Bereich wäre
eine politische Kampagne nötig, die Zeitungsbranche wie überhaupt die
Medienindustrie den profitorientierten KapitaleignerInnen zu entreißen – oder,
anders ausgedrückt, zu enteignen – unter Kontrolle der Beschäftigten und
LeserInnen fortzuführen und aus Steuergeldern zu finanzieren.

Nächste Krise

Verschärfend
kommt hinzu, dass die nächste tiefgehende Krise vor der Tür steht: die
Angriffswelle der Kapitalseite wird kommen. So hat – um nur ein Beispiel zu
nennen – die CSU-Landesregierung in Bayern bereits angekündigt, eine Initiative
im Bundesrat zu ergreifen, um die Arbeitszeiten zu deregulieren.

Vor diesem
Hintergrund sind die Beschlüsse des Bundeskongresses zu bewerten: Gibt sich
ver.di für die nächsten vier Jahre die adäquaten Mittel in die Hände, um die
Belegschaften auf die nächste Periode von Angriffen vorzubereiten oder möchte
sie nur weiter so wie bisher verfahren?

Bis
Redaktionsschluss waren uns nicht alle Beschlüsse des Kongresses bekannt, aber
die bisherigen deuten nicht darauf hin, dass ver.di die Signale verstanden hat,
auch wenn es einige positive darunter durchaus gibt.

So hat die
Gewerkschaft nach drei vergeblichen Anläufen endlich einen Beschluss zum Verbot
von Leiharbeit gefasst. Der Bundeskongress hat ein weiteres Mal beschlossen,
den politischen Streik zu nutzen und ihn auch wahrzunehmen. Es bleibt abzuwarten,
ob dieser wie ein ähnlicher Beschluss aus dem Jahr 2011 nur auf dem Papier
besteht oder tatsächlich auch umgesetzt wird. Möglichkeiten wären genug da.
Genutzt wurden sie allesamt in den letzten Jahren nicht, wie z. B. die
Weigerung zeigte, den Klimastreik von Fridays for Future für einen öffentlichen
Aufruf zur Mobilisierung der Gewerkschaft zu nutzen.

Bei den
fortschrittlichen Beschlüssen ist also Vorsicht geboten. Bei deren Umsetzung
können wir uns auch weiterhin nicht auf die Führung und den Apparat verlassen.
Im Gegenteil: Ohne massiven Druck der Basis, ohne deren selbstbewusstes und
organisiertes Auftreten und Einfordern drohen sie wie schon viele ähnliche in
den Protokollen der Vergessenheit anheimzufallen. Diese Befürchtung ist umso
ernster zu nehmen, als eine Reihe von Beschlüssen des Gewerkschaftstages in die
andere Richtung weist.

Die zahlreichen
Anträge auf Arbeitszeitverkürzung für alle und mit Lohn- und Personalausgleich
wurden nicht angenommen, obwohl gerade sie als Hebel gegen den kommenden Abbau
von Arbeitsplätzen hätten dienen können. Stattdessen wurde die im Leitantrag
des Gewerkschaftsrates stehende sehr vage Formulierung durchgesetzt, das Ziel
einer „kurzen Vollzeit mit Lohn- und Personalausgleich“ weiterzuverfolgen (zit.
nach: www.junge-welt.de vom 26.9.19).

Hinsichtlich der
weiteren Digitaloffensive der Unternehmen, die zu Arbeitsplatzabbau führen
wird, hat der Bundeskongress lediglich eine Erweiterunge der Mitbestimmung bei
der Umsetzung und einen regulierten Einsatz der neuen Technik gefordert. Dieser
Beschluss verharrt genau in der alten Sozialpartnerschaftslogik und wird den
betroffenen Belegschaften im Kampf gegen Arbeitsplatzabbau auf der einen und
Arbeitsverdichtung auf der anderen Seite nicht wirklich weiterhelfen.

Basisbewegung
notwendig

Der Kongress
hat, so die grundlegende Bilanz, die Weichen für eine Fortsetzung des
bisherigen Kurses der Gewerkschaft gestellt. Das drückt sich in den Beschlüssen
wie auch in der Wahl des neuen Vorsitzenden aus.

Damit sind
weiterer Niedergang und Fortführung aller Probleme vorprogrammiert. Von der
Gewerkschaftsführung und vom Apparat ist ein Kurswechsel nicht zu erwarten.
Zugleich zeigte sich in den letzten Jahren auch, wo die Ansätze einer
Erneuerung und einer Trendwende in der Politik der zweitgrößten
DGB-Gewerkschaft herkommen können – von jenen, die z. B. in den Kämpfen im
Gesundheitswesen oder bei anderen Mobilisierungen aktiv geworden sind. Im
Großen und Ganzen drohen sie aber, auch vereinzelt im Kleinkrieg mit den
Unternehmen und öffentlichen Arbeit„geber“Innen aufgerieben zu werden und an
den Hürden des Apparates zu scheitern. Es bedarf daher einer eigenständigen,
bundesweiten, anti-bürokratischen Organisierung dieser Schicht, des Aufbaus
einer klassenkämpferischen Basisbewegung. Nur so kann der Kampf für eine
grundlegende „Revolutionierung“ der Strukturen, die politische Ausrichtung von
ver.di erfolgen. Nur so wird ein Bruch mit der Sozialpartnerschaft und damit
eine klassenkämpferische, demokratische Gewerkschaft möglich werden.

Die Strategiekonferenz der Gewerkschaftslinken am 25. und 26. Januar stellt dazu eine zentrale Möglichkeit dar.

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften: https://www.vernetzung.org