Hongkong: Massendemonstrationen, chinesische Truppen an der Grenze

Peter Main, Infomail 1065, 20. August 2019

Eine
Demonstration durch das Zentrum Hongkongs, die elfte seit Anfang Juni, zu der
von der Civil Human Rights Front (Bürgermenschenrechtsfront) für Sonntag, den
18. August, aufgerufen wurde, war von den Hongkonger PolizeichefInnen verboten
worden. Trotzdem folgten rund 1,7 Millionen Menschen dem Aufruf und
marschierten durch die Stadt. Die Repressionsorgane schritten nicht ein. Die
Konfrontation geht weiter.

Zentrale
Forderungen und Zusammenstöße

Die zentralen
Forderungen der Demokratiebewegung sind die vollständige Rücknahme des
vorgeschlagenen Auslieferungsgesetzes, die Freilassung aller noch inhaftierten
DemonstrantInnen, die Einstellung der Anklagen gegen mehr als 600 Personen und
eine unabhängige Untersuchung der polizeilichen Zusammenarbeit mit den Triaden,
der Mafia von Hongkong. Die Front rief zu dem Marsch jedoch ausdrücklich auf
aus Protest gegen Polizeigewalt während der Straßendemos letzte Woche und gegen
den Angriff auf den Protest auf dem internationalen Flughafen am Montag und
Dienstag.

Vor allem für
Tausende von jungen AktivistInnen sind es die Taktiken der Polizei, die die
Demonstrationen ebenso stark vorantreiben, wie es die Forderungen der Kampagne
tun. Die Besetzung des Flughafens zum Beispiel war eine Reaktion auf den
Einsatz von Hunderten von Tränengasgranaten, auch in sehr engen Räumen wie
U-Bahn-Stationen, und das Abfeuern von Gummigeschossen und sogenannter
Beanbag-Munition (Power Punch; Schockgeschosse aus Schrot in Beuteln, die ihre
Wirkung vollständig auf die Körperoberfläche übertragen, jedoch nicht
eindringen sollen) in Menschenmengen aus nächster Nähe während der
Demonstrationen der vergangenen Woche. Die Anwesenheit von internationalen
Reisenden auf dem Flughafen gab den DemonstrantInnen nicht nur die Möglichkeit,
ihre Forderungen einem breiteren Publikum zu erläutern, sondern bot auch einen
gewissen Schutz vor der Polizei.

Dennoch gab es
mehrere blutige Zusammenstöße, einige davon ausgelöst durch die Anwesenheit von
verdeckter Polizei, die sich als Protestierende ausgab, aber die Verhaftung
einzelner AktivistInnen leitete. Die Zahl der Schwerverletzten führte sogar
dazu, dass medizinisches Personal in sieben Krankenhäusern der Stadt am
Dienstag aus Protest gegen die Gewalt der Polizei Sitzstreiks veranstaltete.

Diese physische
Gewalt fand ihre propagandistische Entsprechung durch immer aggressivere
offizielle Erklärungen sowohl von der Hongkonger Regierung als auch von den
Behörden des chinesischen Festlandes und verstärkte sie möglicherweise noch. So
gab beispielsweise das Verbindungsbüro Pekings in Hongkong eine Erklärung
heraus, in der es hieß, dass sich die Aktionen der DemonstrantInnen am
Flughafen „nicht von denen der TerroristInnen unterscheiden“. Dies soll eine
klare Warnung sein, dass die Polizei sie als solche behandeln darf. Die
provokante Sprache wurde auch durch Aktionen unterstützt wie bspw. die
publikumswirksame Stationierung von Tausenden von paramilitärischen PolizistInnen
in einem Sportstadion in Shenzhen, gleich hinter der Grenze zu Hongkong.

Stellung von
Hongkong

Obwohl allein
ihre Präsenz den Ernst der Situation unterstreicht, glauben nur wenige, dass
diese Kräfte tatsächlich nach Hongkong selbst einfallen würden. Das könnte nur
von Peking entschieden werden, und die chinesische Festlandregierung hat ein
echtes Interesse daran, die Fiktion „ein Land, zwei Systeme“
aufrechtzuerhalten. Buchstäblich Milliarden von Dollar an Investitionen und
Handel fließen jedes Jahr durch Hongkong, gerade weil ausländische
InvestorInnen und Unternehmen sein eigenes Rechtssystem als eine zuverlässigere
Verteidigung ihrer Interessen betrachten als das des Festlandes.

Die USA zum
Beispiel haben ihren Hong Kong Policy Act, der es US-Unternehmen erlaubt,
Hongkong als Drehscheibe für Handelsgeschäfte zu nutzen, aber nicht direkt mit
dem Festland in Verbindung zu treten. Das wurde 1992 beschlossen, als
Washington erkannte, dass es die in China zu erzielenden reichen Gewinne
verpassen könnte, wenn es die nach dem Massaker von Tian’anmen (Platz des
Himmlischen Friedens) 1989 eingeführte pauschale Sanktionspolitik beibehalten
würde.

Heute liegt ein
Vorschlag vor, das Gesetz jedes Jahr zu erneuern, damit bei einem Verstoß gegen
die Autonomie Hongkongs Sanktionen verhängt werden können. Eine Besetzung durch
die paramilitärische Polizei, geschweige denn durch die Volksbefreiungsarmee,
wäre natürlich ein solcher Verstoß, und das wird bei den Berechnungen Pekings
schwer wiegen.

Eine noch
schwerwiegendere Überlegung ist jedoch die Möglichkeit, dass eine erfolgreiche
Missachtung der Zentralregierung durch eine Massenbewegung, die demokratische
Rechte fordert, eine solche auf dem Festland selbst auslösen könnte. Solange
die Demokratiebewegung als eine von den USA oder der alten Kolonialmacht, dem
Vereinigten Königreich von Großbritannien, organisierte Mittelstandskampagne
dargestellt werden kann, wird es wenig Sympathie für sie geben, aber eine
Bewegung, die offen demokratische Rechte fordert und die ArbeiterInnenklasse
mobilisiert, wäre ein anderes Kaliber.

Generalstreik

Das ist die
Bedeutung des Protesttages am Montag, den 5. August, der durch den Aufruf zum
Generalstreik durch den Gewerkschaftsverband Hong Kong Confederation of Trade
Unions, HKCTU, unterstützt wurde. In vielen Bereichen des Territoriums kam es
zu erheblichen Stillständen, was die tatsächliche Feindseligkeit nicht nur
gegenüber dem vorgeschlagenen Auslieferungsgesetz, sondern ganz allgemein auch
gegenüber der Unfähigkeit der Hongkonger Regierung, die Erosion der Autonomie
zu verhindern, zeigt.

Es handelte sich
jedoch nicht um einen Generalstreik im Sinne einer Mobilisierung des vollen
Gewichts der ArbeiterInnenorganisationen für die Schließung des Gebiets, bis
ihre Forderungen erfüllt waren. Die HKCTU ist die kleinere der beiden
Gewerkschaftsorganisationen. Die größere, die Hong Kong Federation of Trade
Unions, HKFTU, ist pekingfreundlich und feindlich gegenüber der
Demokratiebewegung eingestellt. Am 5. August rief die HKCTU die ArbeiterInnen,
dazu auf, die bestehende Führung der Bewegung, der Civil Human Rights Front, zu
unterstützen, die sich größtenteils aus VertreterInnen von NGOs und
berufsständischen Organisationen zusammensetzt.

Dennoch ist die
Erkenntnis, dass es mehr als nur Demonstrationen am Wochenende braucht, ein
wichtiger Schritt nach vorn, auf dem die Linke in Hongkong aufbauen sollte. Die
Gefahr besteht jetzt darin, dass die Behörden die gleiche Strategie wie gegen
die Besetzungsbewegung im Jahr 2014 verfolgen: die Repression entpolitisieren,
indem sie sich auf die Gerichte verlassen, um Unterlassungsklagen zu verhängen,
die dann eine selektive Inhaftierung rechtfertigen, um wichtige AktivistInnen
zu entfernen, und darauf warten, dass der Bewegung Ideen und Dynamik ausgehen, wenn
die Schulen und Universitäten im September wieder beginnen. Sie könnten sogar
feststellen, dass die harten Polizeitaktiken dazu beitragen, die Bewegung
derzeit aufrechtzuerhalten.

Sicher ist, dass
die derzeitige Führung der Bewegung, die sich nicht nur auf ihre Unterstützung
durch die breite Öffentlichkeit, sondern auch durch die Geschäfts- und
Handelsklassen stützt, niemals in der Lage sein wird, den Umfang der Maßnahmen
zu fordern und zu organisieren, die notwendig sind, um Peking echte Zugeständnisse
abzutrotzen. Ihre Kampagne basiert letztlich auf dem Glauben, dass, wenn sie
beweisen können, dass ihre Forderungen die überwältigende Unterstützung der
Bevölkerung von Hongkong finden, die Regierung diesen Forderungen am Ende
nachgeben muss.

Wie 2014 gezeigt
hat, ist das einfach nicht wahr. Nach den riesigen Demonstrationen im Juni und
Juli, bei denen bis zu zwei Millionen Menschen auf den Straßen waren,
unterstützen die Menschen zweifellos die Forderungen, aber selbst wenn das bei
Hongkongs Regierungschefin, Carrie Lam, Gewicht hatte, tut es das sicherlich
nicht bei ihren eigentlichen politischen TaktgeberInnen in Peking. Der
Fortschritt der Bewegung hängt nun nicht mehr von der Kraft des Arguments ab,
sondern vom Argument der Kraft. Das bedeutet vor allem, die Funktion Hongkongs
als wichtige Schnittstelle für Handel und Finanzen zwischen China und dem Rest
der Welt zu lähmen.

Nur ein echter
Generalstreik, ein Streik, der die gesamte Produktion, den gesamten Verkehr,
alle Publikationen, alle Fernseh- und Radioanstalten lahmlegt, kann das tun.
Ein solcher Streik kann nicht aus dem Nichts mobilisiert werden, er muss in
Betrieben und Wohnsiedlungen selbst aufgebaut werden. Das ist die Aufgabe, der
sich die Linke und die Tausenden von StudentenaktivistInnen stellen sollten.
Dafür dürften die bestehenden Kampagnenparolen nicht ausreichen.

Insbesondere
gegen die pekingfreundlichen Gewerkschaften und deren Führung muss die Bewegung
Forderungen gegen die klaffende Ungleichheit in Hongkong erheben, für eine
massive Aufstockung der Mittel für Sozialwohnungen, Sozialdienste, Gesundheit
und Bildung. Bereits jetzt wird bei den Demonstrationen die Forderung nach
allgemeiner Wahl und einer gewählten, nicht ernannten Regierung in Hongkong
gehört, und die ArbeiterInnenbewegung sollte dies zu einer zentralen Forderung
machen, aber nicht nur für Hongkong, sondern für ganz China. Sie muss diese
Verbinden mit der Forderung nach Organisationsfreiheit für eine illegal oder
halblegal existierenden ArbeiterInnenbewegung.

Beschränkungen

Die bestehende
Kampagne stößt an ihre Grenzen, und in ihr wird ständig über das weitere
Vorgehen diskutiert. In dieser Gärung von Ideen müssen sich diejenigen, die
sowohl die Notwendigkeit als auch die Dringlichkeit der Mobilisierung der
ArbeiterInnenklasse erkennen, die die utopische Fantasie der Unabhängigkeit für
Hongkong durchschauen und die Notwendigkeit verstehen, den Kampf gegen Pekings
bürokratische Einparteiendiktatur auf das Festland selbst zu führen, sich als
Kern einer neuen ArbeiterInnenpartei organisieren, die sich dem Sturz sowohl
dieser Diktatur als auch der der KapitalistInnen in Hongkong und ganz Chinas
widmet.