Lesben- und Schwulenbefreiung – 50 Jahre Stonewall- Rebellion

Dave Stockton, Neue Internationale 239, Juli/August 2019

Um 1:30 Uhr am Morgen des 28. Juni 1969 stürmten Polizeikräfte der NYPD
unter der Leitung des Vizeinspektors Seymour Pine das Stonewall Inn in der
Christopher Street in Manhattans Greenwich Village. „Wir übernehmen den Platz!“
Die PolizistInnen befahlen den KundInnen, sich in Reihen aufzustellen und ihre
Personalausweise parat zu halten. Viele wurden verbal misshandelt, einige grob
behandelt und verhaftet. Andere wurden aus der Bar geschleppt und die Bullen
begannen, sie in Autos zu verfrachten.

Die Bar war ein beliebter Treffpunkt für das gesamte Spektrum der
Homosexuellenszene, darunter Männer, Lesben, Trans-Personen und solche, die
sich heute als queer oder nicht-binär identifizieren. Stonewall war ein Ort, an
dem die Menschen tanzen, sich nach Belieben kleiden und küssen konnten, ohne
verspottet, belästigt oder hinausgeschmissen zu werden, wie es in „Hetero“-Bars
der Fall war. Wie andere schwule Treffpunkte wurde sie jedoch wegen dieser
damals rechtswidrigen Aktivitäten unter der Kontrolle der Mafia geführt, deren
Mitglieder sowohl die Kundschaft ausnutzten wie auch beschützten. Dies und die
Tatsache, dass SexarbeiterInnen dorthin „drängten“, lieferten der Polizei
mehrere Vorwände, regelmäßig Razzien durchzuführen, aber auch Bestechungsgeld
einzustreichen.

Doch am 28. Juni ändert sich die Situation. Als Gäste von der Polizei
angegriffen und beleidigt wurden, begannen sie sich zu wehren – zum Erstaunen
der PolizistInnen. Die Menge, die sich in der Christopher Street versammelt
hatte, begann laut zu protestieren, zu spotten und dann die Polizei zu
behindern. Der Auslöser war nach den meisten Berichten der heftige Widerstand
einer Lesbe dagegen, in ein Polizeifahrzeug geschoben zu werden.

Bald flogen Gegenstände und „New Yorks Feinste“ – die Polizei – fand sich
auf einmal zurückgedrängt und im Stonewall Inn belagert durch eine
Menschenmenge, die zu Hunderten ihren Frust entlud. Die Auseinandersetzungen
dauerten drei Nächte lang an, einige sagen, länger.

Nicht nur schwule Männer, sondern auch Lesben, Trans-Frauen und
TransvestitInnen sowie obdachlose junge Menschen, die im Christopher Park
lebten, traten bei den Unruhen an die Spitze. Zwei beteiligte
Trans-Aktivistinnen, die Latina Sylvia Rivera und die schwarze Marsha P.
Johnson, gründeten 1970 eine Organisation namens STAR, die Street Transvestite
Action Revolutionaries (der Begriff „Transgender“ war damals nicht üblich).

Die Auswirkungen von Stonewall

Auch 50 Jahre später steht Stonewall für all jene, die gegen Unterdrückung
aufgrund ihrer Sexualität und Geschlechtsidentität kämpfen, die nicht den
patriarchalen heterosexuellen Normen entsprechen. Wie der Internationale
Frauentag (8. März) und die noch älteren ArbeiterInnenfeiern am 1. Mai ist der
28. Juni in vielen Ländern und zu vielen Zeiten zu einem Tag des Kampfes
geworden trotz der Versuche, ihn durch Staat und sogar Polizei zu integrieren.

In vielen Städten der Welt wie in Istanbul werden Menschen, die versuchen,
Pride Events zu organisieren, bis heute, mit brutaler, manchmal mörderischer
Unterdrückung konfrontiert. Das ist ein guter Grund dafür, dass der Christopher
Street Day in Ländern, die heute demokratische Rechte für LGBTIA-Menschen
zumindest formal garantieren, nicht an die Unternehmen oder die Liberalen,
geschweige denn an die Polizei ausgeliefert werden sollte, nur um zu zeigen,
„wie weit wir gekommen sind“. Das sind wir allein schon jenen schuldig, denen
nach wie vor extreme Repression, Schläge und Mord, Illegalität, Gefängnis oder
gar die Todesstrafe drohen, nur weil sie schwul, lesbisch oder trans sind.

Es ist also ein guter Zeitpunkt, sich daran zu erinnern, wie die von der
Stonewall-Rebellion inspirierte „Homosexuellenbewegung“ weit über die
respektable Lobbyarbeit und die „Homosexuellengesetzesreformkampagnen“ der
vorhergehenden Jahrzehnte hinausging.

Die 1950er Jahre waren eine besonders schwere Zeit für alle
LGBTIA-Menschen. Der Angriff auf Linke durch den McCarthyismus beinhaltete auch
eine Hexenjagd, die als Lavendelschreck bekannt war. Guy George Gabrielson, der
Vorsitzende des republikanischen Nationalkomitees, behauptete beispielsweise,
dass „sexuell Perverse, die in den letzten Jahren unsere Regierung infiltriert
haben, vielleicht so gefährlich wie die tatsächlichen KommunistInnen“ seien.

„Die Unzucht” in den USA

Menschen konnten entlassen werden, wenn ihre Sexualität oder
Geschlechtsidentität von ihren „ArbeitgeberInnen“ entdeckt wurden. In den
Schulen, in der Armee, in den Kirchen, im öffentlichen und politischen Leben,
ganz zu schweigen von der Familie, war die Enthüllung meist verheerend. Und
jene, die „enttarnt“ wurden, wurden oft misshandelt, auf die „Toilette“
gezwungen, von Angst und psychischer Bedrängnis heimgesucht.

Verschiedene Bundesstaatengesetze verbaten das öffentliche Tanzen mit
gleichgeschlechtlichen PartnerInnen und erzwangen das Tragen von mindestens
drei Teilen „geschlechtsadäquater“ Kleidung. Die Polizei nutzte diese Gesetze,
um diejenigen zu belästigen und einzuschüchtern, die sie überschritten, und
überfiel regelmäßig Clubs, die von Schwulen, Lesben, Transgendern oder
-vestitInnen besucht wurden.

Homosexualität wurde noch bis 1973 von der American Psychiatric Association
als psychische Störung definiert. PsychiaterInnen sahen ihre Aufgabe darin,
Schwule oft mit der schrecklichen Aversionstherapie zu „heilen“. Die Kirchen –
und die USA waren und bleiben ein Land, in dem die Kirchen trotz der
verfassungsmäßigen Trennung vom Staat enormen Einfluss ausüben – , wiesen
ebenfalls die „Unzucht“ als eine der abscheulichsten Sünden zurück.

So dachten viele LGBTIA-Menschen, dass, wie sie sich selbst fühlten, eine
schändliche Perversion und/oder eine Todsünde sei. Viele junge Menschen wurden
von ihren Familien verstoßen oder verließen ihr Zuhause für ein Leben auf der
Straße. Viele begingen Selbstmord. Brutale Prügel („queer bashing“) und Morde
waren nicht nur häufig, sondern wurden auch gerade von der Polizei nicht ernst
genommen (ähnlich wie häusliche Gewalt).

Coming Out

Stonewall inspirierte eine Reihe von öffentlichen Aktionen in den USA und
darüber hinaus. Es fiel auf fruchtbaren Boden wegen der massiven Antikriegs-,
der Black-Power- und Antirassismusbewegung und der Sit-ins und Teach-ins, die
in den Jahren zuvor an Hochschulen abgehalten wurden. Die sexuelle Befreiung
wurde zu einem großen, öffentlichen Thema. Obwohl vieles davon, wie
FeministInnen betonten, auch sexistisch war, öffnete es den Weg für die
Wiedergeburt der radikaleren Ideen der 1970er Jahre. In den USA führte
Stonewall zur Gründung der Gay Liberation Front (GLF) und zum Erscheinen der
Zeitung „Come Out“.

Die GLF nahm rasch radikale Positionen ein, die ihre Solidarität mit der
Black Panther Party und Kämpfen gegen den Vietnamkrieg zum Ausdruck brachten.
Und die „Panthers“, die damals mit mörderischer Unterdrückung durch den
US-Bundesstaat konfrontiert waren, antworteten positiv.

Schwulenbefreiung bedeutete notwendigerweise Befreiung von
Selbstunterdrückung, vom Leben auf Klosetts. Die von der GLF vorgeschlagenen
Mittel waren, dass immer mehr Schwule ihr „Coming out“ (Selbsterklärung)
vollziehen sollten, damit Homophobie herausgefordert und überwunden wird. Diese
Strategie beruhte auf dem Mut des Einzelnen – natürlich unterstützt von lokalen
Gruppen.

Carl Wittmans „Ein schwules Manifest“, das kurz vor Stonewall geschrieben,
aber erst im Januar 1970 veröffentlicht wurde, verurteilte den männlichen
Chauvinismus und die Familie als Unterdrückung sowohl für Frauen wie für
schwule Männer. Das Manifest erklärte, dass Frauen, die für ihre Befreiung
kämpfen, „unsere engsten Verbündeten sind“ und schlug die Notwendigkeit eines
lesbischen Caucus (Recht auf gesonderte Treffen nur für Lesben) vor. In Bezug
auf das Verhältnis der Bewegung zur ArbeiterInnenklasse war es vorsichtiger,
aber nicht feindselig.

Tatsächlich war Wittman ein Linker, aber seine Vorsicht muss im Kontext
einer Zeit betrachtet werden, in der ArbeiterInnenparteien reaktionäre
Positionen zu Homosexualität und nicht-konformen Geschlechteridentitäten
eingenommen hatten – und zwar nicht nur die sozialdemokratischen Parteien,
sondern vor allem auch die stalinistischen Staaten, die Homosexualität unter
Strafe stellten und als „westliche Perversion“ betrachteten.

Veränderung

Die neuen militanten Bewegungen dehnten sich auf viele Länder aus und
halfen, die Aufhebung einer Reihe von brutal repressiven und diskriminierenden
Gesetzen zu erzwingen.

Sie waren radikal, verbanden die Kritik an der bürgerlichen Familie mit der
an reaktionären Geschlechternormen und Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit.
Sie versuchten bewusst, sich mit der zweiten Welle des Feminismus, der
antirassistischen Bewegung zur Befreiung der Schwarzen und der
antiimperialistischen Opposition gegen imperialistische Kriege zu vereinen oder
in sie zu integrieren.

In vielen Ländern konnten wichtige Verbesserungen und wenigstes rechtliche
Gleichstellung durchgesetzt werden. Aber einige VeteranInnen der Bewegung haben
die Gelegenheit des 50. Jahrestages genutzt, um die Aufmerksamkeit auf einige
der Schattenseiten zu lenken.

Der langjährige Aktivist und Historiker Martin Duberman (Autor von
„Stonewall“, Penguin Books, 1. Auflage, 1993) veröffentlichte 2018 das Buch:
„Has the Gay Movement Failed?“.

Er kritisiert „die jüngste assimilatorische Agenda der Bewegung – Eherecht
und Erlaubnis, offen in der Armee zu dienen…“ und stellt sie in Gegensatz zur
„…- weitaus umfassenderen Agenda, die die Front der Homosexuellenbefreiung zu
ihrer Gründerzeit unmittelbar nach den Stonewall-Aufständen nach diesen Unruhen
charakterisiert hatte. GLF hatte zu einem harten, umfassenden Angriff auf
sexuelle und geschlechtsspezifische Normen, auf imperialistische Kriege und
kapitalistische Gier und auf die schändliche Misshandlung von rassischen und
ethnischen Minderheiten aufgerufen.“

Und es hat dazu geführt, dass die großen – ja utopischen – Perspektiven der
GLF von 1970-1973 für reformistische und liberale Ziele aufgegeben wurden, die
sich auf die Forderung nach Integration in die Gesellschaft und ihre
Institutionen konzentrieren, die einst angeprangert wurden.

Dasselbe gilt natürlich für viele der radikalen Bewegungen der 1960er und
1970er Jahre. Eine erste revolutionäre und utopische Phase wich schließlich
einem Prozess der Zersplitterung und Fragmentierung, der zu sehr
reformistischen und bürgerlichen Zielen führt.

Wie der Feminismus der zweiten Welle konzentrierte sich die Befreiung der
Homosexuellen stark auf die Bekämpfung der Auswirkungen der Unterdrückung für
die Einzelnen. „Bewusstseinsbildung“, „Outen“, „Schaffen von Subkulturen“,
„gemeinsame Lebensweisen“ usw. – obwohl notwendig und gerechtfertigt – wurden
den sozialen und Klassenkämpfen dieser Zeit entgegengesetzt. In Großbritannien
wurde dies vorübergehend und inspirierend durch die Unterstützung des
Bergarbeiterstreiks durch Lesben und Schwule überwunden. Damit wurde ein echter
Durchbruch für die britischen Gewerkschaften und ihre Mitglieder sowie für die
Labour Party erzielt.

Fazit

MarxistInnen sollten sich positiv und kritisch auf diese frühe Periode der
Schwulen- und Frauenbefreiungsbewegung Anfang der 1970er Jahre beziehen.
Tatsächlich half diese Bewegung den MarxistInnen, den umfassenden radikalen
Implus eines Marxismus wieder zu entdecken, der von Sozialdemokratie und
Stalinismus bürokratisch erstickt und mit einer im Kern kleinbürgerlichen
Zukunftsvision mit „proletarischer“, heteronormativer Familie verkommen war.

Sie hätte jedoch auch an der Erkenntnis des Marxismus anknüpfen müssen,
dass reaktionäre Geschlechterrollen sexuelle Unterdrückung auf einer
patriarchalischen Familie beruhten, die Frauen stark auf Kindererziehung und
Hausarbeit beschränkt. Es ist die Verteidigung dieser Arbeitsteilung, die auch
für frühere Formen der Klassengesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist, im
Kapitalismus, die ideologische Kontrolle und im buchstäblichen Sinn Überwachung
der binären Geschlechterrollen und die Verfolgung derjenigen, die sie
überschreiten, erfordert.

Aber um dieses System auszumerzen, bedarf es der radikalen Beseitigung
kapitalistischer Ausbeutung und dann der Aufhebung der privaten Familieneinheit
und ihres Haushalts. Die grundlegende Akteurin, die für eine solche
Transformation notwendig ist, ist die ArbeiterInnenklasse – männliche und
weibliche – Schwule und Hetero- sowie Menschen aller Geschlechtsidentitäten.

Natürlich spielen diejenigen, die die Last der Unterdrückung tragen, eine
zentrale Rolle bei ihrer Bekämpfung. Aber sie können dies nicht allein oder
isoliert tun. Sie brauchen die soziale Kraft der ArbeiterInnenklasse, der
Mehrheit. Aber diese wiederum kann sich nur dann für diese Aufgabe wappnen,
wenn sie sich als Verfechterin aller Menschen erweist, die unter diesen
Unterdrückungen leiden.