Freiheit für Kapitänin Rackete! Schluss mit dem Massenmord im Mittelmeer!

Martin Suchanek, Infomail 1060, 30. Juni 2019

Die Festnahme
der Kapitänin der Sea Watch 3 löste in ganz Europa einen Sturm der Empörung
aus. Auf Lampedusa empfingen nicht nur die SchergInnen des rassistischen Innenministers
und Lega-Chefs Salvini die 31-jährige Carola Rackete, die ihr Schiff in der
Nacht vom 28. zum 29. Juni den Hafen anlaufen ließ. Auch viele DemonstrantInnen
solidarisierten sich lautstark mit der mutigen Frau.

Zwei Wochen lang
verweigerte die italienische Regierung dem Schiff, anzulegen und die
Geflüchteten von Bord gehen zu lassen. Die Kapitänin zog schließlich die Reißleine
und fuhr „auf eigene Verantwortung“ in den Hafen ein. Italiens Innenminister
und „starker Mann“, Salvini, empört sich über diesen angeblich „kriminellen“
Akt und den „Angriff“ auf ein Boot der italienischen Finanzpolizei, das für
wenige Minuten zwischen Kaimauer und Sea Watch eingeklemmt war. Der Lega-Chef
empörte sich darüber, dass Rackete und die Crew des Rettungsschiffes „fast
Menschen getötet“ hätten und lieferte damit einen weiteren Beweis für seinen
eigenen Zynismus. Während er eine vergleichsweise ungefährliche Situation im
Hafen aufbauscht, betrachtet er den Massenmord im Mittelmeer, von den
europäischen Regierungen billigend in Kauf genommene libysche Foltergefängnisse
und das Aushungern der Menschen, die es doch auf ein Boot wie die Sea Watch
geschafft haben, als geeignete Mittel zur „Abschreckung“ Geflüchteter.

Öffentliche
Empörung und Zynismus

Die öffentliche
Empörung in vielen Ländern Europas zeigt zweifellos, dass sich Millionen
Menschen bis heute nicht mit dem Rechtsruck und der erbarmungslosen Abriegelung
der EU-Außengrenzen abfinden wollen.

Die rassistische,
mörderische Politik eines Salvini und seiner HelfshelferInnen, eines Seehofer,
Orbán und Kurz, des Nationalkonservativismus, Rechtspopulismus und
Neofaschismus erregt zu Recht Abscheu. Deren aggressiver, pseudo-radikaler,
„volksnaher“ Rechtspopulismus artikuliert die Stimmung eines wachsenden Teils
der BürgerInnentums, kleinbürgerlicher Schichten und auch von Teilen der ArbeiterInnenklasse,
die fürchten, in der globalen Konkurrenz unter die Räder zu kommen. Er versucht
sie zu einer politischen Kraft zu bündeln. Anders als die noch dominierenden
Parteien und Organisationen der „Mitte“ – ob nun Mainstream-Konservative,
Liberale, Grüne oder auch die Sozialdemokratie – versuchen sie die Abschottung
der EU-Außengrenzen und rassistische Gesetze nicht länger „humanitär“ zu
verklären. Sie fordern nicht nur nationale und „europäische“ Abschottung, sie
setzen sie auch euphorisch um. Tausende Tote im Mittelmeer geraten ihnen zum
Beweis der Überlegenheit „unserer“ „abendländischen“, „christlichen“ oder sonstwie
„höheren“ Kultur. Der Massenmord im Mittelmeer wird zum Beweis dafür, dass sie
es mit der „Verteidigung der Heimat“ Ernst meinen.

Solche
erz-reaktionären Kräfte, die sich längst zum Sammelpunkt für
rechtspopulistische Bewegungen bis hin zur faschistischen Mobilisierung
entwickelt haben, fechten Verweise auf einen „Tabubruch“ oder
„Grenzüberschreitungen“ nicht an. Dass ihnen „Gutmenschen“ einen Bruch der
Menschenrechte, mangelnde Humanität oder auch Menschenverachtung vorwerfen,
erscheint den europäischen Rechten nur als Bestätigung ihrer Gesinnungstreue.

Vor allem aber
erweisen sich die Vorwürfe, die das bürgerliche Establishment, die europäischen
Regierungen und die EU an Salvini richten, als zahnlos und verlogen. Dass die
italienische Regierung die Häfen abriegelt, eine rigorose Abschottungspolitik
durchzieht, Flüchtlinge und FluchthelferInnen bekämpft und kriminalisiert,
bildet einen, wenn auch gern unter den Tisch gekehrten, Teil der „Sicherung der
EU-Außengrenzen“, wie sie die EU-Kommission, die deutsche und französische
Regierung beschlossen haben. Das Abkommen mit der Türkei oder mit dem Sudan
haben schließlich nicht Orbán oder Salvini geschlossen, sondern die EU unter
Führung deutscher und französischer „HumanistInnen“ wie Merkel und Macron.

Anlässlich der
Festnahme von Kapitänin Rackete empörte sich SPD-Außenminister Heiko Maas.
„Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden,“ twitterte er – und vergaß
dabei, dass die EU und „seine“ Regierung fest an deren Kriminalisierung und
Behinderung mitgewirkt haben. Maas hat offenbar auch „vergessen“, dass sein
Ministerium und die SPD alle rassistischen Gesetzesverschärfungen mitgetragen
haben, die in Seehofers Innenministerium ausgebrütet wurden. Allenfalls hat die
Sozialdemokratie diese mit etwas Sozialschaum ausgestaltet und „gemildert“. Die
nach Afghanistan, Nordafrika oder andere „sichere Drittstaaten“ Abgeschobenen werden
es danken.

Vergessen hat
Maas – und mit ihm die gesamte Bundesregierung – offenkundig auch, dass über
zwei Wochen nicht nur Italiens Salvini alle Häfen für die Sea Watch 3 sperren
ließ, sondern auch, dass sich kein EU-Land bereitfand, die 53 (!) Geflüchteten,
die auf dem Schiff ausharren mussten, aufzunehmen. So viel zur „Humanität“
unserer Regierungsleute.

Solidarität und
Bewegung

Humanität, Mut
und Entschlossenheit zeigten jedoch Menschen wie Rackete und ihre Crew im
Übermaß. Sie wussten, dass ihnen bei der Einfahrt in den Hafen Festnahmen,
rassistische Hetze, Anklagen und sogar Haftstrafen von bis zu 10 Jahren
drohten. Gefahr laufen die HelferInnen von Geflüchteten freilich nicht nur bei
ihrem Einsatz auf hoher See oder beim Einlaufen in Häfen. Selbst in Deutschland
sind ihre Büros rassistischen Anschlägen ausgesetzt, so dass das Berliner Büro
von Sea Watch mehrmals umziehen musste.

Der Kampf zur
Unterstützung der HelferInnen und gegen deren Kriminalisierung muss daher
einhergehen mit dem gegen rassistische Hetze – sei es durch rechte und auch
„etablierte“ bürgerliche Medien, Parteien, aber auch Anschläge.

Von den linken
und sozialdemokratischen Parteien, von den Gewerkschaften, die richtigerweise
die Festnahme von Rackete verurteilen und ihre Freilassung fordern, müssen wir
freilich mehr als schöne Worte für die Fälle einklagen, wo Rassismus
skandalisiert wird. Den eigentlichen Skandal stellt die „Normalität“ dar. Die
gesamte Abschottung der EU-Außengrenzen muss fallen. Die Grenzen müssen für
alle Geflüchteten geöffnet werden! Diese dürfen nicht länger in
menschenunwürdigen Lagern untergebracht werden, sondern ihr Bleiberecht, ihre
vollen StaatsbürgerInnenrechte, vor allem das auf Bewegungsfreiheit, auf
Ausbildung, Arbeit, Wohnraum und medizinische Betreuung müssen unverzüglich
anerkannt und realisiert werden. Das ist keine Utopie. Es erfordert aber einen
Bruch mit Neo-Liberalismus, Austeritätspolitik, Umverteilung zugunsten der
Kapital- und VermögensbesitzerInnen. Durch einen solchen, europaweiten Kampf
könnte zugleich auch die von Staat, Kapital und Rechten forcierte Spaltung von
„heimischen“ und migrantischen Menschen überwunden werden.

Lasst uns daher
die Solidarität mit Kapitänin Rackete und ihrer Crew mit dem Aufbau einer
europaweiten Bewegung gegen Rassismus, Abschottung, Festung Europa und die
Angriffe des Kapitals verbinden!