Die Krise der Europäischen Union, Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 1: Einleitung, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019
Auf ihrem Sondergipfel in Lissabon im März 2000 verpflichteten sich die Staats- und RegierungschefInnen der Europäischen Union auf Initiative ihrer dominierenden Mächte Deutschland und Frankreich, „Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Zwei Jahrzehnte später ist die Europäische Union stattdessen das „schwächste Glied“ in der imperialistischen Weltordnung geworden. Tatsächlich wäre „Unordnung“ ein besserer Begriff für eine Welt rivalisierender Mächte, die in Handelskriege, neue kalte und heiße Kriege verwickelt sind und die sich weigern, irgendetwas Ernsthaftes zur Verhinderung einer Klimakatastrophe und globaler Konflikte zu tun. Innerhalb der Union selbst sind offene Kämpfe um die Art und Zukunft ihrer Verfasstheit ausgebrochen, einschließlich des Versuchs der drittgrößten Volkswirtschaft auszutreten.
Nur die ArbeiterInnenklasse, die soziale Kraft, die heute weltweit größer ist als je zuvor, kann die drohenden gesellschaftlichen, politischen, militärischen und ökologischen Katastrophen stoppen – durch eine revolutionäre Machteroberung und einen sozialistischen Produktionsplan. Doch die Führungen ihrer Massenorganisationen, der politischen wie gewerkschaftlichen, haben sich wiederholt als unfähig erwiesen, sich diesen Aufgaben überhaupt zu stellen, geschweige sie zu erfüllen.
Mit der Einführung des Euro um die Jahrhundertwende und dem Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 sollte der schon damals größte Markt der Welt zu einem gemeinsamen europäischen Kapitalblock werden. Das würde nichts Geringeres bedeuten als die politische und militärische Vereinigung des Kontinents unter deutscher und französischer Herrschaft. Seine führenden PolitikerInnen erklärten, wenn auch vorsichtig, dass sie zu den USA aufschließen und sie weltweit herausfordern wollten.
Sie verabschiedeten eine Reihe von Maßnahmen zur wirtschaftlichen Vereinheitlichung der EU:
All dies erforderte eine ideologische Rechtfertigung wie die Schaffung eines Raums der „Demokratie“ und des „Friedens“, des Fortschritts, des sozialen Wohlstands, der Menschenrechte und in jüngster Zeit der weltweiten Führungsrolle bei der Bewältigung der Umweltkrise.
Diese Ansprüche waren immer falsch. Vom Vertrag von Rom bis zu den heutigen rassistischen Grenzkontrollen waren die EU und ihre Vorgängerinnen stets Projekte der großen imperialistischen Mächte des Kontinents, zunächst in enger Zusammenarbeit mit den USA, später aber in einem zunehmend konkurrenzorientierten Verhältnis.
In den 1990er Jahren und sogar Anfang der 2000er Jahre war die EU eindeutig auf dem Vormarsch. Der Sieg des Westens im Kalten Krieg öffnete Osteuropa für das europäische Großkapital, wobei der deutsche Imperialismus eine Vorreiterrolle spielte. Die Wiedervereinigung machte ihn zur mit Abstand stärksten Macht des Kontinents, weit vor seinen französischen, britischen oder italienischen Partnern und Rivalen.
Der Aufstieg der EU war von der Allianz des deutschen und französischen Imperialismus vorangetrieben worden, verkörpert in der engen Zusammenarbeit zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand, dann zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder. Sie verkörperten auch eine europaweite Koalition zwischen Konservativen und SozialdemokratInnen, um das europäische Projekt voranzutreiben.