Arbeiter:innenmacht

Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 2, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Das 21. Jahrhundert hat jedoch die tiefen Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von Anfang an verkörperte, an die Oberfläche gebracht. Millionen von ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, ja sogar große Teile der „Mittelschicht“, sind von der Politik der Europäischen Kommission, der EZB, der Staats- und RegierungschefInnen und der SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte enttäuscht worden.

Um die Jahrhundertwende, als die FührerInnen der Welt eine Ära der Globalisierung bejubelten, wurde die neoliberale Politik als unverzichtbarer Bestandteil dieser angeblich neuen Weltordnung angesehen. Die Europäische Union erlebte eine Hinwendung zu dem, was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt. Die Großmächte und die EU-Institutionen haben den Weg der „Reformen des freien Marktes“ eingeschlagen. Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines „sozialen Europas“, das wohlhabend, „demokratisch“ und „humanitär“ sei, als schamlose Lügen offenbar.

Die Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren Schwerpunkten Sparpolitik, „Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit markierte nicht nur einen deutlichen Wandel in der Politik der EU, sondern auch eine Ablehnung von „Wohlfahrtsstaat“ und Keynesianismus durch alle europäischen Bourgeoisien. Nicht nur konservative Parteien, sondern auch Labour- und sozialdemokratische Parteien passten sich an den Neoliberalismus an. Ohne Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“-Politik wäre die Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder zumindest auf viel mehr Widerstand und Schwierigkeiten gestoßen.

Die führenden Mächte und die Europäische Kommission wollten nicht nur die Lissabon-Agenda, sondern auch eine neoliberale Verfassung für die Europäische Union durchsetzen. Dies stieß jedoch auf massiven Widerstand in der Bevölkerung und wurde in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt.

Die Antwort der europäischen Regierungen und Institutionen war aufschlussreich. Nachdem die von ihnen vorgeschlagene Verfassung abgelehnt worden war, führten sie sie in Form eines „Vertrages“ ein. Dadurch wurde das Demokratiedefizit der EU für Millionen deutlich. Es wurde auch deutlich, dass es soziale, ökologische und andere Defizite gibt, die hinter diesem Mangel an europäischer Demokratie stehen. Es bestätigte sich, dass die herrschenden Klassen den europäischen Kontinent weder auf demokratische, geschweige denn „soziale“ Weise vereinen können noch wollen. Ja, sie sind bereit, den „Willen des Volkes“ völlig zu ignorieren.

Dies gilt insbesondere für die Bereiche Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege. Die europäischen Regierungen haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie Syrien oder Libyen bombardieren oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder anderen afrikanischen Staaten intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine einmischen sollten. Sie konsultierten ihre Bevölkerung auch nicht, ob sie neue europäische Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO unterstützen und Truppenaufmärsche an den Grenzen Russlands durchführen und damit einen neuen Kalten Krieg beginnen sollten.

Das letzte Jahrzehnt hat die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist, deutlich gemacht.

Wirtschaftlich ist sie weit hinter den USA und China zurückgeblieben. Gleichzeitig haben die neoliberale Agenda und die insbesondere vom deutschen Imperialismus der EU auferlegte Anti-Krisenpolitik die Ungleichheit und Ungleichmäßigkeit innerhalb der Union selbst verstärkt. Nach der großen Rezession haben Deutschland und andere wettbewerbsfähigere Länder die Kosten der Krise auf die schwächeren europäischen Volkswirtschaften abgewälzt. Die Institutionen der Eurozone ließen im Namen der Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig verarmen. Sie verhängten eine wüste Sparpolitik gegen Griechenland und andere Staaten, was deren Erholung weitgehend verhinderte und sie noch anfälliger macht, falls eine neue globale Rezession eintritt. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen hohen Preis, weil sie die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der Eurozone verstärkten.

Militärisch und geopolitisch bleibt die EU ein Zwerg, der nicht in der Lage ist, eine Rolle zu spielen, die ihn als ebenbürtig  gegenüber den USA, China oder Russland ausweisen würde. Die Versuche der europäischen Mächte, dies zu überwinden, sind alle halbherzig und spiegeln oft eher ihre Spannungen untereinander als eine klare Politik wider. Als die EU versuchte, eine Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in der Ukraine zu spielen, konnte sie nicht verhindern, dass die USA sie in einen neuen Kalten Krieg hineinziehen konnten und damit die Pläne Deutschlands für engere Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und darüberhinaus zu China zunichte machten.

Als Antwort darauf begann Putin, unbotmäßige EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme populistische Bewegungen auf dem ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig verschärfte die aggressive „America-First“-Politik der Trump-Administration nicht nur die Spannungen zwischen der EU und den USA bezüglich der Handels-, Militär- und internationalen Politik, sondern auch innerhalb der EU und sogar innerhalb der herrschenden Klassen derer Großmächte. Die EU entwickelt sich damit zu einem potenziellen Schauplatz, auf dem externe Mächte einige Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielen können. Italien hat unter seiner rechtspopulistischen Regierung gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs eingegriffen und ein Abkommen mit China zu seiner „Neuen Seidenstraße“ (one belt, one road) geschlossen, das von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte Flüchtlingskrise machte die Spannungen noch deutlicher. Einwanderung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind zu einem Mittel geworden, um Massenkräfte von desillusionierten kleinbürgerlichen oder sogar von rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse zu sammeln, die verarmt sind oder die Armut fürchten. Der Aufstieg des Nationalismus und der EU-feindlichen Teile der Bourgeoisie und des KleinbürgerInnentums spiegelt diese wachsenden Spannungen und inneren Widersprüche wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch eine Föderation von Nationalstaaten, jeder mit seinen konkurrierenden Interessen.

Kein Wunder also, dass dies zur Bildung von EU-feindlichen, rechtspopulistischen und  rassistischen Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die versuchen, sich als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch dominierten EU zu präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald kleinbürgerliche Kräfte die Szene betreten, kann und wird diese Krise irrationale Formen annehmen, die extremsten derzeit in Großbritannien, wo das ganze Land in einem Brexit festsitzt, den die Mehrheit der Bevölkerung und die Mehrheit der beiden großen Klassen eigentlich nicht will.

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