Arbeiter:innenmacht

Der Charakter der EU und die Ursachen der aktuellen Krise

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 4, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Die EU befindet sich in einer historischen Krise. Großbritannien hat sich entschieden, die EU zu verlassen, auch wenn der Brexit noch verschoben werden könnte. Der Brexit würde nicht nur bedeuten, dass die EU ihre drittgrößte Volkswirtschaft und eine Nuklearmacht verliert, sondern dürfte auch viele der verbleibenden Industrien des Vereinigten Königreichs selbst zerstören, insbesondere angesichts einer Konjunkturabschwächung und einer neuen sich abzeichnenden Rezession.

Die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 und die „Schuldenkrise“ 2010/2011 haben die kapitalistischen Widersprüche in der EU verstärkt und verschärft. Mit massiven Finanzmitteln wurden das Europäische Finanzaufsichtssystem, das ESFS, und der Europäische Stabilitätsmechanismus, ESM, eingerichtet, um Banken, Finanzinstitute und die Aktienmärkte in Gang zu halten. Dies führte zu einem Anstieg der Staatsverschuldung und zur Auferlegung von Sparprogrammen für große Teile Europas.

Das neoliberale Dogma des Sparens und Kürzens wurde den Haushalten der verschiedenen Staaten aufgedrückt, die sogenannte „schwarze Null“ (ein Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen) wurde zum Hauptziel der EU-Institutionen. Die wirtschaftlich schwächeren Staaten der EU, deren Wirtschaft größtenteils durch Neuverschuldung expandiert war, wurden damit ökonomisch ruiniert, während die wirtschaftlich stärkeren Staaten relativ stabil blieben oder sich sogar stärken konnten.

Das deutsche Industriekapital konnte seine Vormachtstellung innerhalb der EU ausbauen, seine Produktionsketten und Marktmacht konsolidieren und die Konkurrenz aus anderen EU-Staaten schwächen. Insbesondere in den Bereichen Maschinenbau, Automobilindustrie, Elektronik, Chemie und Energie konnte die Marktmacht ausgebaut werden, während die Konkurrenz aus Frankreich, Großbritannien und Italien an Boden verlor.

Der mit Deutschland wirtschaftlich verbundene Block, d. h. Österreich, Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei sowie teilweise Skandinavien und Benelux, konnte die Krise im Bereich der Industrieproduktion schneller überwinden und die Werke in Osteuropa sogar ausbauen. In Südeuropa, aber auch in Frankreich und Großbritannien kamen die Industriemonopole unter Druck. Aufgrund des Brexit begannen ausländische InvestorInnen, die Produktion für den europäischen Markt in die 27 EU-Staaten zu verlagern, was massive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt Großbritanniens haben könnte.

So führte die Krise sowohl zu einer weiteren Kapitalkonzentration als auch zu einer neoliberalen Offensive gegen den öffentlichen Sektor sowohl in Bezug auf Beschäftigung als auch auf Dienstleistungen, vor allem auf Kosten der ArbeiterInnenklasse und der lohnabhängigen Mittelschichten. Diese Krisenergebnisse waren kein „Zufall“, sondern vom gemeinsamen Binnenmarkt und vom Währungsraum vorprogrammiert. Neben den Kreditprogrammen für die Banken, Börsen und Staatsanleihen wurde eine europäische Schuldenbremse eingeführt ebenso wie verschiedene Mechanismen zur Vertiefung der neoliberalen Politik auf dem Kontinent, sei es im Kampf gegen Gewerkschaftsorganisierung, Tarifverträge, Rechte oder für den weiteren Abbau von Arbeitsschutz und Rentenansprüchen.

Während eine solche Politik weiterhin auf dem Rücken der LohnempfängerInnen und der südeuropäischen Volkswirtschaften durchgesetzt wird, gibt es auch viele Risse innerhalb der bürgerlichen Klassen und ihrer angeschlossenen kleinbürgerlichen Schichten, die ebenfalls Teil des imperialistischen Projekts der EU sind. Die verhängten Maßnahmen konnten die Ursachen der globalen kapitalistischen Krise, die zu Finanzkrise und Rezession führte, nicht aufheben. Das globale Kapital ist nach wie vor von einer Kapital-Überakkumulation und sinkenden Gewinnmargen betroffen. Die Politik der USA und der EU, der Aufstieg Chinas als imperialistische Macht sowie die expandierenden halbkolonialen Volkswirtschaften (vor allem Indien) führen dazu, dass die Probleme der Überakkumulation in der nächsten Rezession noch stärker zum Tragen kommen werden. Die Finanzblase ist in jeder Beziehung größer als die vor 2008, und der Industriesektor hat nicht die notwendige Zerstörung von Sachkapital erfahren. Gleichzeitig sind die Reserven zur Bewältigung der nächsten Rezession begrenzter, mit bereits niedrigen Zinssätzen und massiven Schulden im staatlichen und privaten Sektor.

Schließlich sind die Chancen für eine koordinierte Reaktion der Großmächte wie 2009/2010 gering. Die nächste Rezession wird vor dem Hintergrund eines verschärften Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ausbrechen. Die großen kapitalistischen Mächte werden zwar weiterhin darauf abzielen, einen Zusammenbruch des Welthandels und des Finanzgeschäfts zu verhindern, gleichzeitig aber darauf, ihre KonkurrentInnen mit den Kosten der Rezession zu belasten.

Vor diesem Hintergrund werden nicht nur die EU, sondern auch deren einzelne Volkswirtschaften massiv unter Druck geraten. Die EU und die nationalen Regierungen werden vor der Wahl stehen, ob sie ihren US-amerikanischen und chinesischen KonkurrentInnen eine gemeinsame Antwort erteilen oder die Kosten der Krisen auf die halbkolonialen oder auch schwächeren imperialistischen Volkswirtschaften abladen wollen. Auch die bereits angespannten deutsch-französischen Beziehungen werden auf die Probe gestellt werden.

Der Charakter der Europäischen Union als Block von Nationalstaaten und nicht als Bundesstaat wird sich bemerkbar machen. Dies spiegelt sich in der Tatsache wider, dass sich in der Bourgeoisie wenig „europäisches Bewusstsein“ entwickelt hat. Das Großkapital und die Finanzhäuser werden nach wie vor von den in den dominierenden Ländern verwurzelten Monopolen dominiert. „Europäisches“ Kapital ist eigentlich deutsches, französisches, italienisches oder sonstiges Kapital, das noch immer in den jeweiligen Volkswirtschaften verwurzelt ist.

Die Kapitale der schwächeren kapitalistischen Staaten, vor allem Ost- und Südeuropas, unterliegen dem dominanten imperialistischen Kapital, das sich während der Krise erweitert und gestärkt hat. Teile der britischen und italienischen Bourgeoisie suchen nun nach Auswegen auf nationaler Ebene. Italien will seinen Status als imperialistische Macht behaupten, steht aber unter dem Druck seiner GläubigerInnen. Der ständige Wettbewerb mit dem deutschen Imperialismus hat nicht zu einer „Annäherung“, geschweige denn zu einer Abschwächung der inneren Spannungen geführt, wie es sich der französische Imperialismus erhofft hatte. Vielmehr ist das genaue Gegenteil eingetreten: Im Kapitalismus überwiegt der/die stärkste MarktteilnehmerIn und wirtschaftliche Ungleichgewichte werden reproduziert und sogar verstärkt.

Die kommende Wirtschaftskrise wird die EU und die Eurozone auf den Prüfstand stellen. Was das Projekt der Vereinigung Europas betrifft, so gibt es mehrere mögliche Szenarien. Wenn die EU in konkurrierende Blöcke mit jeweils „eigenen“ Sonderwirtschaftszonen zerfällt, würde die deutsch-französische Führung sicherlich zerbrechen. Andererseits dürfte ein kleiner „Kerneuropa“-Block um Deutschland oder gar Deutschland-Frankreich weiterhin große Teile Europas wirtschaftlich dominieren, wenn auch in anderer Form. Im schlimmsten Fall könnten die EU in zahlreiche „unabhängige“ Staaten implodieren, die bereits geschaffenen Wirtschaftsbeziehungen sich auflösen und dies zum völligen Zerfall der Produktivkräfte führen und damit eine Form der Balkanisierung des gesamten Kontinents heraufbeschwören.

Schließlich kann auch eine Form der Vereinigung unter deutsch-französischer Führung nicht völlig ausgeschlossen werden, aber dies könnte nur eine vollständige politische Unterordnung der anderen EU-Staaten, insbesondere der wirtschaftlich schwächeren, bedeuten. Sie könnte nur durch wirtschaftliche Gewalt und politischen Zwang zustande kommen und wäre daher eine „Vereinigung“, die früher oder später zu Spannungen, Konflikten und Auseinanderfallen führen würde.

Die europäische Wirtschaft und das soziale Leben haben sich zwar stärker europaweit verzahnt und integriert, so dass die Freizügigkeit der Menschen auf dem gesamten Kontinent möglich werden konnte und als Folge davon die nationale Engstirnigkeit sich bis zu einem gewissen Grad verringert hat, insbesondere bei den jungen Menschen und denjenigen, die in international organisierten Dienstleistungen und Industrien tätig sind. Aber die kapitalistischen Klassen waren nicht in der Lage, den Kontinent zu vereinheitlichen, da dies auch die Überwindung seiner ungleichen Entwicklung und die Anhebung der sozialen und wirtschaftlichen Standards auf das höchste Niveau erfordern würde. Das ist auf kapitalistischer Ebene unmöglich, ebenso wie es für die imperialistischen Bourgeoisien aus Deutschland, Frankreich und die schwächeren Mächte unmöglich ist, den Kontinent organisch zu entwickeln. Für sie ist die Vereinigung Europas nur dann sinnvoll, wenn sie auf der Dominanz ihres Kapitals beruht, auf der Fortsetzung der Ausbeutung halbkolonialer Räume durch Integration dieser in ihre Produktions- und Vermarktungssysteme. Während die deutsche und die französische herrschende Klasse sich vielleicht darauf einigen könnten, die schwächeren Teile des Kontinents unter sich aufzuteilen, streben dennoch beide KapitalistInnenklassen, beide imperialistischen Staaten danach, der dominante Teil in dieser Beziehung zu sein – ein Widerspruch, der nicht auf der Grundlage des kapitalistischen Systems überwunden werden kann.

Darüber hinaus versuchen die HauptkonkurrentInnen der EU bereits, diese Krise zu nutzen und in sie einzugreifen. Die USA unter Trump wollen die EU als eine Reihe von einzelnen Handels- und IndustriepartnerInnen behandeln und so zerlegen. China strebt den Zugang zur EU an und nutzt die Bedeutung seines Marktes für das europäische Kapital im Kampf mit den USA. Russland will auch eingreifen, wenn auch mit dem bescheideneren Ziel, Wirtschaftssanktionen und eine politische Isolierung durch die USA und einige EU-Staaten zu überwinden. Selbst schwächere imperialistische Mächte außerhalb der EU suchen Zugang zu ihren Märkten. Schließlich versuchen nicht nur Staaten, sondern auch einige Teile der globalen Rechten, wie z. B. die Alt-Right aus den USA, sich in die Krise Europas einzumischen.

Die aktuellen Spannungen und inneren Widersprüche drücken sich darin aus, dass die EU an einer Reihe von Fronten nicht vorankommt. Ihre Struktur und Verfassung spottet nicht nur selbst bürgerlichen Formen der Demokratie. Der Verbleib entscheidender Kompetenzen bei den nationalen Regierungen hat auch zu inneren Blockaden, Verzögerung von „Reformprojekten“ und einer Reihe halbherziger Entscheidungen geführt. Die vermeintlichen „Lösungen“ für diese Probleme haben selbst zu einer Abschaffung der demokratischen Kontrolle, vor allem im Finanz- und Wirtschaftsbereich, oder zu „Ausnahmen“ von den EU-Vorschriften geführt, die die Verhandlungsmacht der verschiedenen Staaten widerspiegeln.

Je größer die Krise der Institution, je geringer ihre Legitimität in der Bevölkerung, desto mehr „ermuntert“ dies einen reaktionären Antieuropäismus der populistischen oder gar faschistischen Rechten. Die Salvinis, Orbáns, Straches der Welt, obwohl sie alle AnhängerInnen ihres nationalen Kapitals und der Interessen ausländischer InvestorInnen sind, nutzen die wirkliche arbeiterInnenfeindliche und antisoziale Politik der EU oder der Großmächte aus einem erzreaktionären, nationalistischen und rassistischen Blickwinkel.

Andererseits stellen die liberalen, grünen, proeuropäischen Konservativen sowie die Mehrheit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften die derzeitige EU und ihre Reform als eine ultimative Leistung dar. Sie bezeichnen alle, die die EU ablehnen, als neoliberal, undemokratisch, rassistisch oder imperialistisch und als „antieuropäisch“.

Beide Lager versuchen, die Massen für ihre eigenen Zwecke zu täuschen, aber für die europäischen KapitalistInnenenklassen steht der entscheidende Moment bevor. Sie brauchen eine „Reform“ der EU, um ihre inneren Blockaden zu überwinden, um eine politische und militärische Vereinigung von oben herbeizuführen und die EU zu einer echten Konkurrentin gegenüber den USA oder China zu machen. Oder sie müssen sich für eine andere Strategie entscheiden.

Diese könnte in einer untergeordneten „Partnerschaft“ mit einer der stärkeren Mächte bestehen und darin, die Rolle einer „Juniorpartnerin“ in der Weltpolitik zu spielen, wenn die EU weiter stagniert. Natürlich könnte es eine „privilegierte Partnerschaft“ mit den USA geben ebenso wie enge Beziehungen zu einem expandierenden China oder eine engere Zusammenarbeit mit Japan. Gleichzeitig wird die anhaltende Krise auch zu „Blöcken“ innerhalb der EU führen, sei es um eine dominante europäische Macht wie Deutschland herum oder um andere imperialistische Mächte herum, wie den USA. Nichts ist sicher außer der Tatsache, dass sich die Dinge nicht mehr so wie bisher hinziehen können. Europa ist bereits in einer tiefen Krisenphase und diese wird sich fortsetzen und verschärfen.

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