Nach dem Sturz der Regierung Kurz in Österreich: Klassenkämpferische Perspektive!

Michael Märzen, Neue Internationale 2019, Juni 2019

Nach dem
Ibiza-Skandal am 17. Mai ging es sehr schnell – FPÖ-Chef Heinz-Christian
Strache ist zurückgetreten, die schwarz-blaue Regierung zerbrochen, der Bundeskanzler
Sebastian Kurz gestürzt. Ein Grund zur Freude, keine Frage, aber schon mit den
Neuwahlen im September droht die Fortsetzung der
konservativ-rechtspopulistischen Allianz. Die sozialdemokratische Opposition
steckt selbst in der Krise und scheint unfähig, die Regierungskrise für eine
fortschrittliche Offensive zu nutzen. Was also tun?

Ein Rückblick

Das Ibiza-Video
um Vizekanzler H. C. Strache und FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus wird als einer
der größten Skandale in die Geschichte der österreichischen Republik eingehen.
Dort sieht man die beiden, wie sie mit einer angeblichen Oligarchen-Nichte
korrupte Deals aushandeln. Am brisantesten scheint, wie hier die verdeckte
Einflussnahme von GroßkapitalistInnen auf die FPÖ beschrieben wird: in Form von
Großspenden an gemeinnützige Tarnvereine. Mit einer solchen Indiskretion kann
eine Regierung der herrschenden bürgerlichen Klasse selbstverständlich nicht
leben. Strache und Gudenus mussten abtreten. Der folgende Machtkampf um das
FPÖ-geführte Innenministerium kostete nicht nur dem Innenminister Herbert Kickl
den Kopf, sondern schließlich dem Bundeskanzler selbst, dem die FPÖ gemeinsam
mit der SPÖ und der Liste Jetzt das Misstrauen aussprach.

Das Video

Am Freitag, den
17.5., veröffentlichten Süddeutsche Zeitung und Spiegel Videoausschnitte, in
denen der FPÖ-Parteiobmann und Vizekanzler Strache sowie der Klubobmann Gudenus
gegenüber einer vermeintlichen russischen Investorin Einblicke in die korrupten
Pläne und Spendenkonstruktionen ihrer Partei geben. Konkret steht der Vorschlag
im Raum, die Frau solle die größte Tageszeitung Österreichs, die
Kronen-Zeitung, übernehmen, unangenehme JournalistInnen entlassen und
Wahlkampfhilfe für die FPÖ leisten. Außerdem solle sie über Tarnvereine Geld an
die Partei spenden, wie das angeblich auch einige österreichische
KapitalistInnen tun würden. Strache spricht von Beträgen in der Höhe von
500.000 bis 2 Millionen Euro. Im Gegenzug würde die angebliche Nichte eines
Oligarchen lukrative Staatsaufträge im Straßenbau erhalten, die im Moment an
die STRABAG (an der ein Unterstützer der liberalen NEOS, Hans Peter
Haselsteiner, beteiligt ist) gehen. Auch eine Privatisierung der
österreichischen Wasserversorgung, gegen die sich die FPÖ offiziell ausspricht,
wird angeboten.

Zusammengefasst
lassen Strache und Gudenus in dem Ausschnitt die Maske der „sozialen
Heimatpartei“ fallen und sprechen Klartext über ihr wirtschaftsfreundliches und
klientelpolitisches Programm.

Eine vorsichtige
Bilanz

Eine
tatsächliche Bilanz der Ereignisse ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wo sich
Enthüllungen und parlamentarische Manöver halbtäglich ändern, nur begrenzt
sinnvoll. Einige Aspekte der letzten Tage sind aber von entscheidender
Bedeutung.

Am
offensichtlichsten ist das politische Problem für die FPÖ, deren Führungsspitze
zeigt, wie sie Politik für KapitalistInnen auf Kosten der lohnabhängigen
Bevölkerung macht. Dazu kommen abstoßende Details wie die geplante
Gleichschaltung der Medienlandschaft und die staatliche Auftragsvergabe an
politische UnterstützerInnen.

Schwerwiegend
ist sicher, dass Strache ausplaudert, welche KapitalistInnen den rechten Umbau
der Republik zahlungskräftig unterstützt haben. Mit Heidi Goess-Horten, René
Benko und dem Glücksspielkonzern Novomatic nennt er hier SpenderInnen, die eher
als ÖVP-nahe gelten. Diese Indiskretion wird ihn als Person für wichtige Teile
der herrschenden Klasse untragbar machen (zumindest für einige Zeit).

Die Reaktion von
Kurz ließ auf sich warten, wohl weil er die Koalition gerne fortgeführt hätte.
Schließlich kündigten sich Kurz und Kickl die Koalition gegenseitig und
schrittweise auf. Der Bundeskanzler forderte den Abzug des FPÖ-Ministers
Herbert Kickl vom Innenministerium, worauf die FPÖ mit ihrem geschlossen
Rückzug aus der Koalition antwortete. Die ÖVP versucht jetzt, in die
Wahlkampfoffensive zu gehen, und hebt das „gelungene Projekt“ Schwarz-Blau
hervor. Eine Neuauflage der Koalition, die die restlichen geplanten Reformen
(Steuersenkungen für Reiche, Zerschlagung des Sozialversicherungssystems,
Angriffe auf die ArbeiterInnenkammer) zu Ende führt, ist also alles andere als
ausgeschlossen.

Regierungssturz und SPÖ-Debakel

Die Frage des
Misstrauensvotums hat die Sozialdemokratie selbst in eine (kleine) politische
Krise geworfen und sogar links davon Verwirrung gestiftet. Die SPÖ war und ist
hin und her gerissen zwischen einer Fundamentalopposition zu Kurz‘ „neuer
Volkspartei“ und einer staatstragenden, sozialpartnerschaftlichen Politik. Aus
der Logik der Fundamentalopposition musste sie den Bundeskanzler stürzen, aus
der staatstragenden Logik müsste sie ihn stützen. Letztlich scheint es der
drohende Gesichtsverlust vor der eigenen Parteibasis gewesen zu sein, der sie
zum Misstrauensantrag bewegte. Doch selbst noch im Misstrauensantrag hat sie
ihre staatstragende Haltung nicht aufgegeben und ihr Misstrauen damit
begründet, dass die ÖVP die restlichen Parlamentsparteien in die Bestellung der
Übergangsregierung nicht genügend einbezogen habe, somit keine stabilen
Verhältnisse geschaffen hätte.

Daher solle es
eine neue „ExpertInnenregierung“ geben. Diese Argumentation war selbst für
viele sozialdemokratische WählerInnen nicht nachvollziehbar, wenngleich hier
eine gewisse opportunistische Angst mitschwang. Natürlich konnte und sollte die
SPÖ die ÖVP-Übergangsregierung nicht unterstützen. Nicht aber weil sie nicht
sozialpartnerschaftlich genug agierte, sondern weil sie die Behüterin der schon
umgesetzten schwarz-blauen Verschlechterungen ist. Diese Verschlechterungen –
12-Stundentag, Kürzung der Mindestsicherung, Angriff auf die
Sozialversicherung, diverse rassistische Maßnahmen – müssten jetzt mit der
Krise des schwarz-blauen Projekts wieder zurückgenommen werden. Der richtige
Weg dafür wäre eine klare klassenkämpferische Offensive unter Mobilisierung der
ArbeiterInnenklasse. Eine solche Strategie ist aber unvereinbar mit einer
sozialpartnerschaftlichen Orientierung bzw. einer Zusammenarbeit von
Sozialdemokratie und Gewerkschaften mit offen bürgerlichen Parteien – Stichwort
Rot-Grün-NEOS. Das gilt ebenso für die „ExpertInnenregierung“, die hinter einer
vorgeblichen unpolitischen Fassade den politischen Status quo zementiert.

Das Versagen
links der SPÖ

Die sich
überstürzenden und politisch neuen Ereignisse haben offenbar auch die Kräfte
links der Sozialdemokratie überfordert. Unter dem Motto „Neuwahlen sind gut,
weil es besser werden könnte“ orientiert sich die KPÖ voll auf eine linke
Opposition im Parlament. Dass sie diese Opposition nicht einfach so stellen
wird (siehe EU-Wahlen) und dass die verzweifelte Hoffnung darauf kein Hebel
ist, um jetzt etwas zu ändern, zeigt ihre Perspektivlosigkeit.

Das andere
Extrem beschwört den Aufbau von unmittelbarem oder langfristigem Widerstand auf
der Straße und einer neuen revolutionären Kraft (RKOB, RSO, …). Wenngleich
abstrakt richtig, fehlen hier konkrete Forderungen des „Widerstands“ (gegen
was?) und konkrete Ansätze zum Aufbau einer revolutionären Partei. Die
Perspektive wird zur inhaltslosen Formel. Die „Sozialistische Linkspartei“ gibt
mit der Rücknahme der Verschlechterungen und darüber hinausgehenden Forderungen
wie Arbeitszeitverkürzung und Mindestsicherung eine Perspektive für eine
Bewegung, sie lehnt es aber ab, entsprechende Forderungen an die
Sozialdemokratie zu stellen, denn von der dürfe man sich gar nichts mehr
erwarten. Damit wird ein wichtiger Ansatz ignoriert, über den wir die lähmende
Dominanz der SPÖ über die ArbeiterInnenbewegung in Österreich brechen könnten.
Auch wird keine klare Opposition zu einer „ExpertInnenregierung“ formuliert.
Der „Funke“ schweigt dazu gänzlich und die SLP streut die Illusion, dass so
eine Regierung angreifbarer wäre für die Rücknahme von Verschlechterungen.

Ein Ansatz zur
Offensive

Trotz all dieser
Schwächen wollen wir eine Forderung der SLP aufgreifen, nämlich die nach einer
Konferenz noch im Juni für eine Kampagne, die mit Offensivforderungen in einem
Aktionstag vor den Wahlen münden soll. Das würde die Klärung einer
klassenkämpferischen Perspektive ermöglichen, insbesondere die Frage einer
„linken Kandidatur“ (die uns gegenwärtig unrealistisch erscheint). Viel
wichtiger wäre dabei, verschiedene soziale Bewegungen (Donnnerstagsdemos,
Fridays for Future, Gleicher Lohn für gleiche Arbeit), Kräfte der radikaleren
Linken und linke SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen in einer
Einheitsfront gegen Schwarz-Blau zu vereinigen.

Wir schlagen
daher allen AktivistInnen vor, eine Einheitsfront um die folgenden Forderungen
zu bilden, die insbesondere auch an die Sozialdemokratie gerichtet werden
müssen:

  • Offenlegung aller politischen Spenden, um das Ausmaß der Klientelpolitik in der kapitalistischen Politik zu untersuchen. Ebenso Offenlegung der Geschäftsbücher der Konzerne und Banken für VertreterInnen der ArbeiterInnenbewegung.
  • Rücknahme aller schwarz-blauen unsozialen und rassistischen Verschlechterungen – 12-Stunden-Tag, Sozialhilfe, Zerschlagung der Kassen, Abschieberegime, etc. -, gestützt auf Mobilisierungen auf der Straße und gewerkschaftlichen Kampf bis hin zum Generalstreik. Statt Steuergeschenken für die Reichen, Vermögenssteuern und Enteignung zur Finanzierung einer „sozialstaatlichen“ Offensive.
  • Schluss mit der sozialpartnerschaftlichen Anbiederung, nein zu jeglicher Unterstützung der „ExpertInnenregierung! Deren Bildung muss durch den Aufbau einer klassenkämpferische Opposition und Mobilisierungen in den Betrieben und auf der Straße beantwortet werden.