Die Europawahlen und die Krise der EU

Martin Suchanek, Neue Internationale 237, Mai 2019

Zwei Jahrzehnte
nach der Tagung ihrer Staats- und RegierungschefInnen in Lissabon im März 2000
ist die Europäische Union zum „schwächsten Glied“ unter den Großmächten in der
imperialistischen Weltordnung geworden. Tatsächlich wäre Unordnung ein besserer
Begriff für eine Welt rivalisierender Mächte mit deren Handels- und anderen
Kriegen sowie ihrer Weigerung, etwas Ernstes gegen Klimakatastrophe und globale
Konflikte zu tun. Und innerhalb der Union sind offene Kämpfe um die Art und
Zukunft der Vereinigung ausgebrochen (Brexit).

Euro-Einführung

Mit der
Einführung des Euro um die Jahrhundertwende und dem Lissabon-Vertrag im Jahr
2009 sollte der größte Wirtschaftsraum der Welt zu einem gemeinsamen europäischen
Kapitalblock werden. Das würde nichts Geringeres bedeuten als die politische
und militärische Vereinigung des Kontinents unter deutscher und französischer
Herrschaft. Seine führenden PolitikerInnen erklärten, wenn auch vorsichtig,
dass sie zu den USA aufschließen und ihre Rolle weltweit in Frage stellen
wollten.

Seit der großen
Krise sind EU und Euro-Zone trotz Austeritätspolitik, trotz Versuchen der
wirtschaftlichen Vereinheitlichung weiter hinter den USA und China
zurückgeblieben.

Das 21.
Jahrhundert hat die tiefen Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von
Anfang an prägten, an die Oberfläche befördert. Millionen von ArbeiterInnen,
Bauern/BäuerInnen und sogar große Teile der „Mittelschicht“ wurden von der
Politik der Europäischen Kommission, der EZB, der Staats- und
RegierungschefInnen und der SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte
enttäuscht.

Um die
Jahrhundertwende galt die neoliberale Politik als untrennbarer Bestandteil
dieser vermeintlichen neuen Weltordnung. Die Europäische Union erlebte eine
Hinwendung zu dem, was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt, den „Reformen
des freien Marktes“. Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines
„sozialeren Europas“, „wohlhabender“, „demokratischer“ und
„humanitärer“ als dreiste Lügen offenbart.

Seit der Agenda
von Lissabon

Die
Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren Schwerpunkten Sparsamkeit,
„Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit markierte auch eine Ablehnung von
„Sozialstaat“ und Keynesianismus durch die europäischen Bourgeoisien. Die
konservativen Parteien sowie Labour-Parteien und Sozialdemokratie passten sich
dem Neoliberalismus an. Ohne Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“
wäre die Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder
zumindest auf viel mehr Widerstand gestoßen.

Die führenden
Mächte und die EU-Kommission haben nicht nur die Lissabon-Agenda durchgesetzt,
sondern zielten auch auf eine neoliberale Verfassung der Europäischen Union ab.
Diese wurde jedoch in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden
abgelehnt.

Die Antwort der
europäischen Regierungen und Institutionen war jedoch lehrreich. Dem massiven
Widerstand und der Ablehnung der Verfassung wurde durch ihre Einführung als
„Vertrag“ gegen den Willen des Volkes begegnet.

Dies machte Millionen
das „demokratische“ Defizit der EU ebenso deutlich wie „soziale“, ökologische
und viele andere Mängel, die hinter diesem Manko an europäischer Demokratie
stehen. Es unterstrich, dass die herrschenden Klassen den europäischen
Kontinent nicht auf demokratische, geschweige denn auf „soziale“ Weise vereinen
können und werden, stattdessen den „Willen des Volkes“ völlig ignorieren.

Das Gleiche gilt
umso mehr für die Bereiche Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege.
Die europäischen Regierungen haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie
Syrien oder Libyen bombardieren oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder
anderen afrikanischen Staaten intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine
einmischen sollen. Sie haben auch nicht „ihre“ Völker konsultiert, ob sie neue
europäische Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO
unterstützen und Truppeneinsätze an den Grenzen Russlands durchführen und einen
neuen Kalten Krieg beginnen sollen.

Das letzte
Jahrzehnt hat jedoch gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen
die EU konfrontiert ist.

Globale
Konkurrenz

Wirtschaftlich
fiel sie weit hinter die USA und China zurück. Nach der großen Rezession haben
Deutschland und andere wettbewerbsfähigere Länder die Kosten der Krise auf die
schwächeren europäischen Volkswirtschaften abgewälzt. Die Institutionen der
Eurozone haben im Namen der Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig
verarmt. Sie haben Griechenland und anderen Staaten brutale Sparpolitik
auferlegt und damit noch anfälliger für die Verheerungen einer neuen globalen
Rezession gemacht. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen hohen
Preis – die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der Eurozone nahmen
stark zu.

Militärisch und
geopolitisch bleibt die EU im Vergleich zu den USA, Russland oder China ein
Zwerg. Die Versuche der europäischen Mächte, dies zu überwinden, sind alle
halbherzig und spiegeln oft eher ihre inneren Spannungen als eine klare Politik
wider. Während die EU versuchte, eine Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in
der Ukraine zu spielen, konnte sie nicht verhindern, dass die USA sie in einen
neuen Kalten Krieg manövrierten und damit die Pläne Deutschlands für engere
Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und darüber hinaus zu China zunichtemachten.
Putin begann, unangenehme EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme
populistische Bewegungen auf dem ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig
hat die aggressive „America First“-Politik der Trump-Administration nicht nur
die Spannungen zwischen der EU und den USA in Bezug auf Handels-, Militär- und
internationale Politik verschärft, sondern auch innerhalb der EU und sogar
innerhalb der herrschenden Klassen der Großmächte.

Die EU wird so
auch zu einem potenziellen Schlachtfeld, auf dem ihre RivalInnen um politischen
und militärischen Einfluss kämpfen. Italien unter seiner rechtspopulistischen
Regierung hat gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs
eingegriffen und ein Abkommen mit China geschlossen, dessen Projekt der „neuen
Seidenstraße“ von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte
Flüchtlingskrise hat die Spannungen weiter verschärft. Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit sind zu einem echten Mittel geworden, um Massen von
desillusionierten kleinbürgerlichen Schichten oder sogar rückständigen Teilen
der Arbeiterklasse zu sammeln, die verarmt wurden oder es befürchten. Der
Aufstieg des Nationalismus und der Anti-EU-Sektionen der Bourgeoisie und der
Kleinbourgeoisie spiegelt die wachsenden Spannungen und inneren Widersprüche
wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch eine
Föderation von Nationalstaaten mit ihren konkurrierenden Interessen.

Kein Wunder,
dass dies zur Entstehung von rechtspopulistischen und rassistischen, gegen die EU
gerichteten Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die versuchen, sich
als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch dominierten Union zu
präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald kleinbürgerliche Kräfte
in die Szene eintreten, kann und wird diese Krise irrationale Formen annehmen –
die extremsten wahrscheinlich in Großbritannien -, wo das ganze Land mit
einem  Brexit festsitzt, den die
Mehrheit der Bevölkerung und der beiden Hauptklassen eigentlich nicht will.

Schicksalswahl?

Vor diesem
Hintergrund erscheint die Europawahl vom 23.-26. Mai als eine weitere
Schicksalswahl. Dabei wird die Zukunft der EU sicherlich nicht dort entschieden
– schließlich befinden sich die Machtzentralen der Union nicht im
Europaparlament und selbst nicht in der EU-Kommission, sondern in Berlin und
Paris.

Aber diese
Zentralen schwächeln – nicht zuletzt aufgrund der inneren Widersprüche in ihren
Ländern, aufgrund einer fehlenden gemeinsamen „Europastrategie“, was eine
Verschärfung der Konflikte, Gegensätze, ja ein Zerfallen der EU und selbst der
Euro-Zone entlang nationaler Interessen wahrscheinlich macht. Die europäischen
Bourgeoisien können offenkundig Europa nicht einigen, selbst wenn die
Wirtschaft, der Austausch zwischen den Menschen längst über die Nationalstaaten
hinausdrängen.

Auch wenn es im
eigentlichen Sinn keine europäischen Parteien gibt, so zeichnet sich doch eine
klare Polarisierung bei den Wahlen ab und eine deutliche Verschiebung nach
rechts.

Die europäischen
rechts-populistischen Parteien werden mit Sicherheit einen deutlich größeren
Block darstellen. Dabei zeichnet sich eine Umgruppierung bzw. Vereinigung der
Rechten um „Europa der Nationen und Freiheit“ (ENF) mit „Europa der Freiheit
und der direkten Demokratie“ (EFFD) und „Europäischen Konservativen und
Reformern“ (EKR) ab, was einer Verbindung von französischem „Rassemblement
National“ (RN), italienischer Lega, der FPÖ, der AfD, der dänischen Volkspartei
und der „Wahren Finnen“ gleichkäme.

ENF umwirbt
außerdem die ungarische Fidesz, die noch noch der „Europäischen Volkspartei“
(EVP) angehört, und die polnische PiS. Die Stärkung der ENF als
Gravitionszentrum des Rechtspopulismus wird außerdem durch den wahrscheinlichen
Austritt Britanniens aus der EU verstärkt, da die beiden konkurrierenden
rechten Fraktionen (EFFD, EKR) mit den UKIP und Tories ihre mandatsstärksten
Parteien verlieren würden.

Gegen die
Rechten treten gleich drei Fraktionen/Parteienbündnisse der „bürgerlichen
Mitte“ an.

Die größte
Fraktion des EU-Parlaments dürfte wieder die EVP werden. Ihr Erfolg gilt als
ziemlich sicher – zugleich wird sie jedoch Stimmen und Mandate verlieren.
Wahlprognosen vom April gehen davon aus, dass sie künftig 176 Mandate erhalten
würde (bisher 217), bei einer Wahl in Britannien sogar nur 165.

Aber die
vereinigten rechten und rechtspopulistischen Parteien werden insgesamt etwa
gleich stark wie die EVP, bei einer Wahl in Britannien womöglich sogar stärker.

Neben der
Volkspartei treten mit der „Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“
(ALDE), der neben FPD und „Freien Wählern“ auch Macrons „La République en
Marche“ angehört, und den „Die Grünen/Europäische Freie Allianz“ (DG/EFA) zwei
weitere Fraktionen der bürgerlichen „Mitte“ an. Beide gerieren sich
pro-europäisch und reden einem „demokratisch“ bemäntelten imperialistischen
Europa das Wort, einmal in seiner offen neo-liberalen Variante, das andere Mal
mit einem „Green New Deal“.

So werden die
Europawahlen vordergründig zu einem Kampf zwischen „pro-europäischen“ und
nationalistischen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, zwischen Pest
und Cholera.

Die
ArbeiterInnenbewegung?

Das liegt jedoch
auch daran, dass die Parteien der ArbeiterInnenbewegung und der Linken selbst
wenig mehr als Anhängsel dieser beiden Lager bilden.

Die Europäische
Sozialdemokratie tourt weiter mit ihren Versprechungen von einem „sozialen
Europa“. Nur glauben immer weniger daran. Sie führt ihren Wahlkampf erst gar
nicht mit dem Ziel, die Politik der EU zu bestimmen, sondern als
Koalitionspartnerin der „pro-europäischen“ offen bürgerlichen Parteien zu
fungieren. Auch wenn niemand eine „Große Koalition“ in Europa wollen sollte, so
steht die Sozialdemokratie dafür schon mal in den Startlöchern. Dass sie dabei
für jede Schweinerei zu haben ist, dass ihre „sozialen“ Versprechungen auf
europäischer Ebene noch wertloser als im nationalen Maßstab sind, hat sie
hinlänglich bei der Erpressung Griechenlands bewiesen.

Doch auch die
europäischen „Linksparteien“ vermögen keine Alternative zu präsentieren. Im
Gegenteil. Während sich die europäische Sozialdemokratie fest dem
„pro-europäischen“ Flügel der Bourgeoisie anschließt, hadern sie bezüglich
ihrer Europastrategie. Ein Teil versucht es mit der Neuauflage eines
„europäischen Reformprogramms“, das eine reformistische Reformstrategie für die
EU vertritt. Da sich dafür keine Bündnispartnerin (offen bürgerlich oder Labour
bzw. Sozialdemokratie) anbietet, kann sich dieser Flügel noch vergleichsweise
„internationalistisch“ und kämpferisch geben und stellt sich zumindest in
Worten der Wende zum Nationalismus in vielen Ländern entgegen.

Der andere
Flügel der europäischen Linken setzt hingegen auf eine Hinwendung zu nationaler
Politik, auf den Austritt aus der EU, eine Abkehr von „Klassenfixierung“ hin zu
einer linkspopulistischen Politik. Hierfür stehen Kräfte wie „La France
insoumise“ oder „Aufstehen“ in Deutschland, die selbst – bei aller berechtigter
Kritik an den utopischen Seiten des „pro-europäischen“ Reformismus – auf
nationale Anpassung setzen und die reformistischen bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
durch linke „Volksparteien“, also klassenübergreifende Organisationen, ersetzen
wollen.

Diese
grundlegende Kritik bedeutet jedoch nicht, dass wir den Wahlen zur EU einfach
den Rücken kehren dürfen. Ein Wahlsieg der Rechten, eine Stärkung der
verschiedenen offen bürgerlichen Fraktionen wird auch das Kräfteverhältnis
ungünstiger gestalten. Wo reformistische Parteien eine bedeutende Verankerung
in der Klasse haben und Illusionen der Lohnabhängigen auf sich ziehen, sollten
sie daher kritisch unterstützt werden (wie z. B. Labour in Britannien), ohne
die Kritik an ihrem Programm und ihrer reformistischen, d. h. letztlich
bürgerlichen Ausrichtung zu verschweigen. In Deutschland rufen wir zu einer
kritischen Unterstützung der Linkspartei auf – trotz ihres reformistischen
Programms und ihrer Illusionen in eine Reformierbarkeit nicht nur der EU,
sondern auch des Kapitalismus. Unseren Aufruf verbinden wir mit der Forderung
an die Linkspartei, sich aktiv am Widerstand und Mobilisierungen gegen die laufenden
und kommenden Angriffe zu beteiligen und die Organisierung einer europaweiten
Aktionskonferenz des Widerstandes aktiv zu unterstützen, die an die besten
Seiten der europäischen Sozialforen anknüpft.

Alternative

Dabei gibt es
trotz des Aufstiegs der extremen Rechten keinen Mangel an Kämpfen. Die
existenzielle Krise in der EU, der Ansturm auf die demokratischen Rechte in den
Mitgliedsstaaten, hat ArbeiterInnen, Jugendliche und unterdrückte Minderheiten
immer wieder zu Hunderttausenden, ja Millionen auf die Straße getrieben. Die
nächste Rezession und die Verschärfung der interimperialistischen Rivalität
sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht werden dies noch
verstärken.

Dies ist keine
Zeit, in der der Kapitalismus große Reformen zulassen kann, außer beim Ausbruch
großer Klassenkämpfe, die zu eine revolutionären Zuspitzung führen könnten. Die
derzeitigen Führungen der Gewerkschaften und reformistischen Parteien – rechten
wie linken – sowie der „linken“ PopulistInnen haben zweifellos ihre
Unfähigkeit bewiesen, dieser Herausforderung zu begegnen. Es bedarf vielmehr
einer europaweiten revolutionären Alternative, neuer revolutionärer Parteien,
die in einer Internationalen vereint sind. Natürlich kann ein solcher Prozess
nicht ohne das Bestreben stattfinden, die antikapitalistischen und
internationalistischen AktivistInnen der bestehenden reformistischen Parteien
zu gewinnen. Eine solche Partei braucht jedoch Einheit im Handeln und damit ein
Aktionsprogramm, das diese Kämpfe mit dem Kampf für die Vereinigten
Sozialistischen Staaten von Europa verbindet.

Genau diese
grundlegende Alternative zur imperialistischen Vereinigung wie zur
nationalistischen Abschottung fehlt jedoch der ArbeiterInnenklasse wie auch der
“radikalen” Linken. Ohne ein solches Programm, ohne eine solche Perspektive
erweist sie sich regelmäßig als unfähig zur Lösung aller großen Probleme des
Kontinents, verurteilt sich selbst zu Ohnmacht oder Nachtrabpolitik hinter
einen Flügeln der herrschenden Klasse.

Die Losung der
„Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“, eines Europas auf der Basis
demokratischer Planung und von ArbeiterInnenregierung, stellt daher in der
aktuellen Krise keine „abstrakte“ oder ferne Zukunftsvision dar, sondern die
einzige realistische Alternative zu Nationalismus und Imperialismus – mag sie
auch noch so schwer zu erkämpfen sein.