Reisefreiheit unter Stacheldraht: EU verschärft Migrationsregime

Jürgen Roth, Infomail 1050, 9. April 2019

Am EU-Sondergipfel Juni 2018 zu Migration herrschte in einer
zentralen Frage Einigkeit. Nahezu alle Teilnehmerstaaten wollten die Zahlen der
nach Europa kommenden MigrantInnen senken bzw. noch stärker kontrollieren.
Einig waren sich die EU-Staats- und RegierungschefInnen in der engeren
Kooperation mit „PartnerInnen“ wie dem ägyptischen Al-Sisi-Regime, der
Aufrüstung der Grenzschutzagentur Frontex von 1.500 auf 10.000 Mitarbeiterinnen
– Anfang Dezember 2018 erst einmal von Ende 2020 auf 2027 verschoben – und der
Einrichtung „kontrollierter Zentren“, also Massenlagern für MigrantInnen. Der
Streit mit den Visegrad-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, die im
Rahmen der Umverteilung innerhalb der EU keine Menschen aufnehmen wollen,
schwelt indes weiter. Die angekündigte Reform der Dublin-Verordnung ist
ebenfalls gescheitert.

Im Vergleich zu 2015 und 2016 ist die Zahl derjenigen, die
es nach Europa schaffen, stark gesunken. Zudem haben sich die Migrationsrouten
vom Balkan über Italien nach Spanien verschoben. Ein Grund dafür ist der im
März 2016 unterzeichnete EU-Türkei-Deal, ein weiterer seit Juni mit Antritt der
neuen italienischen Regierung die Kriminalisierung der privaten Seenotrettung.
Im Südosten, so auf den griechischen Inseln und in Nordbosnien, leben immer
noch etliche, die 2015 auf der „Balkanroute“ stecken geblieben sind.
Gleichzeitig wurde/n in zahlreichen Mitgliedsstaaten der Union das Asylrecht
geschliffen und restriktivere Regeln für MigrantInnen eingeführt.

Dänemark

Im März 2017 wurde die 50. Verschärfung des Ausländerrechts
beschlossen, keine zwei Jahre später ist die Zahl 100 übertroffen. Im Dezember
beschloss der Folketing offiziell die Abkehr vom Prinzip der Integration als
Ziel der dänischen Ausländer- und Asylpolitik. Stattdessen konzentriert sich
die von der rechten Danske Folkeparti unterstützte rechtsliberale Regierung auf
einen vorübergehenden Aufenthalt.

Das Integrationsgeld wurde gekürzt. Abgelehnte AsylantragsstellerInnen
sollen ab 2021 auf der kleinen Ostseeinsel Lindholm untergebracht werden. 2019
tritt das „Ghetto-Gesetz“ in Kraft, dem zufolge bis 2030 sog. migrantische
Stadtviertel abgeschafft gehören. Als Ghetto gelten Bezirke mit mind. 50 %
EinwohnerInnen aus „nicht westlichen“ Ländern, einer Arbeitslosigkeit über
40 % und in denen die Kriminalitätsrate höher als anderswo im Staate
Dänemark ist. In solchen Gegenden soll künftig Kita-Besuch Pflicht werden. Eine
Extra-Justiz bestraft einige Delikte doppelt so streng wie in anderen
Wohnvierteln. Der Schlachtruf „Bekämpfung von Parallelgesellschaften“ ist nicht
das Einzige, was in diesem Staat faul ist.

Österreich

Die seit über einem Jahr amtierende ÖVP/FPÖ-Bundesregierung
hatte versprochen, Abschiebungen zu forcieren und die Regeln für Eingewanderte
in der Alpenrepublik zu ändern. Sie hielt Wort:

Seit 1. September 2018 kann Bargeld bis zu 840 Euro pro
Person bei der Asylantragstellung beschlagnahmt werden. Neu ist ein automatisch
einsetzendes Aberkennungsverfahren, wenn Asylberechtigte einen Reisepass ihres
Herkunftslandes beantragen oder in dieses reisen. Die Wartepflicht für die
Verleihung der StaatsbürgerInnenschaft wurde von 6 auf 10 Jahre verlängert. Ein
im April 2019 in Kraft tretendes Gesetz sieht vor, dass für AusländerInnen 300
von 863 Euro der Mindestsicherung an Bedingungen wie Sprachkenntnisse geknüpft
sind. Ab Januar diesen Jahres soll das Kindergeld für EU-AusländerInnen
(jährlich mehr als 100 Millionen Euro) gekürzt werden. Betroffen davon sind
v. a. Arbeitskräfte aus Polen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn. Dagegen
drohen EU-Kommission und –Parlament mit einem Vertragsverletzungsverfahren.
Österreich zählt zur „Achse der Willigen“ – jener, die dafür eintritt, an den
Landesgrenzen innerhalb der Union MigrantInnen abzuweisen. Bundeskanzler Kurz
sieht diese ohnehin besser auf Anlandeplattformen außerhalb des Kontinents
festgehalten. Die Achsenpolitik deckt sich mit Seehofers Zielen, die schon
teils in Bayern verfolgt werden.

Italien

Lega-Innenminister Salvini untersagte binnen kürzester Zeit
das Anlegen von Schiffen voller EinwanderInnen, verfolgte Seenotretterinnen und
beschnitt gleichzeitig Rechte von im Land lebenden AusländerInnen. Begleitet
wurde das Ganze von einer Reighe rassistischer Überfälle. Die Zahl der in
Italien ankommenden MigrantInnen sank drastisch.

Im November wurde ein „Dekret für Einwanderung und
Sicherheit“ verabschiedet, das laut UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR)
internationale Menschenrechtsprinzipien grundlegend verletze. Das humanitäre
Bleiberecht soll abgeschafft werden. Dieser Status für bisher mehr als ein
Viertel der AsylbewerberInnen ermöglichte den legalen Aufenthalt. Die Zahl der
ordentlichen Asylbescheide liegt weit darunter. Abschiebungen sollen erleichtert
werden, die Unterbringungsdauer in Abschiebezentren wurde von 90 auf 180 Tage
verdoppelt. Kommunale Integrationszentren wie in Riace dürften bald der
Vergangenheit angehören. Im Oktober wurden hieraus 200 gut integrierte
Migrantinnen in Flüchtlingsunterkünfte zwangsumgesiedelt.

Frankreich

Im Frühjahr 2018 passierte ein Gesetzespaket zur
Verschärfung des Asyl- und Einwanderungsrechts Nationalversammlung und Senat
trotz Kritik auch aus den Reihen der Regierungspartei Macrons La République en
Marche (LREM). Asylanträge sollen demnach innerhalb von 6 Monaten entschieden
werden, die Einspruchsfrist gegen einen negativen Entscheid wurde verkürzt, die
Dauer der Abschiebehaft von 45 auf 90 Tage erhöht. Es soll schärfer zwischen
Flüchtlingen und „Wirtschaftsimmigration“ unterschieden werden. Der
Aufenthaltstitel für subsidiär Geschützte, denen zuhause Tod und Folter drohen,
soll für 4 Jahre statt bisher eines verliehen werden. Letztere sollen nach dem
Vorbild der BRD „besser“ aussortiert und eher abgeschoben werden. Während in
der übrigen EU die Asylanträge seit 2016 zurückgingen, nahm deren Zahl in
Frankreich 2017 auf über 100.000 zu. Die Studiengebühren für ausländische
Studierende sollen von knapp unter 200 Euro auf über 2.700 jährlich angehoben
werden. (NEUES DEUTSCHLAND/ND, 29.30.12.2018, S. 4)

Großbritannien

Seit Wochen nimmt die Zahl derjenigen zu, die Großbritannien
auf dem Wasserweg über den Ärmelkanal erreichen wollen. Der Grund dafür:
personell verstärkte und technisch verfeinerte Kontrollen der Fähren und
Eisenbahnen im Eurotunnel auf blinde PassagierInnen! 2 britische Kriegsschiffe
wurden vom Auslandseinsatz zurückgerufen, um die hier eingesetzten 2
Küstenschutzboote zu verstärken. 539 ausländische Geflüchtete versuchten 2018,
das Land auf dem besonders gefährlichen Seeweg über den Kanal zu erreichen,
darunter allein 80 % im letzten Quartal. Die französische Kommunalpolizei
in Boulogne-sur-Mer überwacht vermehrt die Fischerboote, damit sie nicht für
diese riskanten Unternehmen gestohlen werden, und fordert gemeinsame
Patrouillen zwischen der britischen und französischen Seepolizei. Ein Fischer
meinte, die Londoner Regierung locke MigrantInnen dadurch an, dass sie
praktisch nichts gegen „Schwarzarbeit“ sich illegal auf der britischen Insel
Aufhaltender unternehme – „splendid isolation“? (ND, 4.1.2019, S. 6)

Salzburger Gipfeltreffen im September 2018

28 EU-Mitgliedsstaaten trafen sich am 19.9.2018 in Salzburg
und debattierten Wege zu einem einheitlichen Asylsystem. Im Mittelpunkt standen
Debatten über Flüchtlingsdeals, Lager in Nordafrika, die Behinderung und
Ausschaltung der zivilen Seenotrettung. Die österreichische EU-Präsidentschaft
erneuerte ihren Vorschlag, Flüchtende außerhalb der EU-Grenzen in
„Rückkehrzentren“ festzusetzen und auf europäischem Boden überhaupt keine
Asylanträge mehr zu akzeptieren.

Bis Mitte September 2018 hatten 74.388 Schutzsuchende Europa
übers Mittelmeer erreicht, 1.600 kamen dabei zu Tode. Ankünfte gingen zurück,
die Todesrate stieg – das Ergebnis rigorosen Vorgehens staatlicher Behörden
gegen die zivile Seenotrettung und ihrer Zusammenarbeit mit der libyschen
Küstenwache. Der Europäische Rat gewährte den libyschen „PartnerInnen“ im Juni
2018 völlige Handlungsfreiheit und forderte, im Mittelmeer verkehrende Schiffe
dürften diese nicht stören. In libyschen Flüchtlingslagern hatte sich die Zahl
der Schutzsuchenden von März bis Ende Juli von 4.400 auf über 10.000 mehr als
verdoppelt – darunter 2.000 Frauen und Kinder. Folterungen, Vergewaltigungen
und Morde sind hier an der Tagesordnung.

Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals herrscht
Ausnahmezustand auf den griechischen-Ägäisinseln. Allein auf Lesbos saßen ca.
10.000 Flüchtende fest, 60 % der Ankommenden sind Frauen und Kinder, die
aufgrund restriktiver Familiennachzugsregeln wieder auf Schlepperboote
zurückverwiesen sind. Von den 55.000 in Libyen beim UNHCR Registrierten wurden
zwischen November 2017 und Ende Juli 2018 1.536 nach Niger im Rahmen des
Emergency Transit Mechanism (Notüberführungsmechanismus) evakuiert. Nur 339
Schutzsuchende fanden Aufnahme in Europa und Nordamerika.

Schaffen es trotz der von der EU vorangetriebenen Pläne zur
Schließung der Mittelmeerroute doch Flüchtlinge nach Europa, gilt das Motto:
Festsetzung, Sortierung, Abschiebung. Das bedeutet Lager, Haft und entweder
vermehrte Abschiebung in die Heimat oder die „Auslagerung“ in Drittstaaten. Die
EU-Kommission legte am 28.7.2018 ein Konzept für die Einrichtung von
„Kontrollierten Zentren“ innerhalb und „Regionalen Ausschiffungsplattformen“
außerhalb der EU-Grenzen vor. In ersteren sollen gerettete Bootsflüchtige bis
zu 8 Wochen untergebracht werden, „Asyl-Screening“ und Verteilung stattfinden.
Ein Schnellverfahren soll binnen 72 Stunden über Anerkennung, Ablehnung oder
Unzulässigkeit der Anträge entscheiden. Letztere unterscheiden sich davon nur
dadurch, dass die EU die Verantwortung und die Plattformen auf Nordafrika
abwälzt. Die österreichische Hardcorevariante dessen sind „Rückkehrzentren“.
Hier sollen alle Asylanträge gestellt werden, in Europa keine mehr. Dort sollen
auch alle Personen untergebracht werden, die um Bleiberecht ersuchen bzw.
abgewiesene AusländerInnen, die aus in ihrer Person liegenden Gründen
(subsidiäre Schutzbedürftigkeit) oder mangels Aufnamebereitschaft ihrer
Herkunftsstaaten nicht wieder in die Heimat geschickt werden können.

Mehr Geld und Einsatzkräfte für Frontex stand ebenfalls in
der Brüsseler Vorlage vom 12.9.2018. Hier herrschte einhellige Akzeptanz. Der
Beginn dieser Maßnahmen verzögert sich indes (s. o.). Die Verhandlungen über
eine umfassende Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS),
v. a. die Dublin-IV-Verordnung, verliefen dagegen zäh und erzielten kein
Ergebnis. PRO ASYL hatte die GEAS-Vorlage aus dem Jahre 2016 als Orbánisierung
der europäischen Flüchtlingspolitik bezeichnet: kollektive Aushebelung des
Zugangs zum Asylverfahren und Auslagerung der Verantwortung auf Drittstaaten
v. a. Nordafrikas, Unterbindung der Weiterwanderung von Asylsuchenden und
Geflüchteten innerhalb der EU. Die Organisation spricht von einem
Paradigmenwandel im europäischen Flüchtlingsschutz, der das individuelle
Asylrecht in der Union infrage stelle. Dass das EU-Parlament am 12.9.2018 mit
deutlicher Mehrheit für die Einleitung eines Strafverfahrens nach Artikel 7 des
EU-Vertrages gegen Ungarn gestimmt hat, dürfte ein schwacher Trost für diese Orbánisierungsgegnerin
bleiben.

Für eine Aktionskonferenz!

Die rassistischen Gesetzesverschärfungen in der EU und der
Vormarsch rechtsextremer Kräfte verdeutlichen die Dringlichkeit des Aufbaus
einer europaweiten anti-rassistischen Bewegung. Nur so können
Klassensolidarität mit den Geflüchteten, der Kampf gegen die Abschottung und
Militarisierung der EU-Außengrenzen sowie gegen Angriffe der RassistInnen, der
KapitalistInnen und der Regierung nachhaltig und erfolgreich werden. Wir
schlagen daher eine Aktions- und Strategiekonferenz vor, die folgende
Forderungen diskutieren sollte:

  • AfD, Pegida, rassistischen und faschistischen Mobilisierungen entgegentreten! Organisierte Selbstverteidigung und Solidarität gegen rassistische Angriffe!
  • Gegen alle Abschiebungen! Rücknahme aller Verschärfungen der Asylgesetze! Nein zum sog. „Integrationsgesetz“! Keine rassistischen Sondergesetze wie „Burkaverbot“ oder Einschränkung des Nachzugs von Verwandten! Bereitstellung von sicherer Unterbringung (z.  B. in Frauenhäusern) für Frauen und sexuell Unterdrückte! Für offene Grenzen! Seenotrettung ist kein Verbrechen – weg mit der Festung Europa!
  • Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle Geflüchteten und MigrantInnen! Recht auf Arbeit und Mindestlohn von 12,- Euro netto/Stunde für alle! Öffentliches Wohnungsbauprogramm! Beschlagnahme leerstehender Wohnungen und entschädigungslose Enteignung von ImmobilienspekulantInnen, um Wohnraum für alle zu schaffen! Gewerkschaftliche Organisierung der Geflüchteten!