Algerien: Ein Volksaufstand gegen das alte Regime

Mo Sedlak, Neue Internationale 236, April 2019

Es gibt
Marionettenregierungen, und dann gibt es Abd al-Aziz Bouteflika. Der algerische
Präsident kann seit einem Schlaganfall 2014 nicht mehr sprechen und ist ein
offensichtlich machtloses Feigenblatt der herrschenden algerischen Eliten.
Trotzdem wurde er am 22. Februar für eine fünfte Amtszeit aufgestellt. Dieser
Tropfen hat das Fass in Algerien zum Überlaufen gebracht: Seitdem gehen
Millionen auf die Straßen. Sie kämpfen gegen weit mehr als die mittlerweile
zurückgezogene Kandidatur, nämlich gegen extrem ungleich verteilten Reichtum
und eine kaum versteckte Diktatur von MilliardärInnen, ManagerInnen und
Militärs.

Charakter,
Erfolg, Aufgaben

Die
bisherigen Erfolge der algerischen Bewegung unterstreichen die zentrale Rolle
der ArbeiterInnen und Jugendlichen in sozialen und politischen Kämpfen. Die
Mehrheit der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Sie hatte die
Massendemonstrationen dominiert. Und obwohl Teile der Gewerkschaften der
herrschenden Nationalen Befreiungsfront FLN die Treue halten, wurde Bouteflikas
Kandidatur genau am 11. März zurückgezogen, nachdem die Kampagne für einen
Generalstreik immer mehr Fahrt aufnahm. Dafür wurden die Wahlen auf unbestimmte
Zeit verschoben, was die Bewegung weiter anstachelt.

Auch die
VeteranInnen der algerischen Befreiungsbewegung aus den 1960er Jahren
mobilisieren gegen die herrschende Ein-Parteien-Ordnung, die den Namen der
antikolonialen KämpferInnen, der FLN für sich beansprucht.

Aber auch
Teile der KapitalistInnen und des Staatsapparats haben sich von ihrer
ehemaligen Marionette distanziert. Kleine Gewerbetreibende nahmen am
Generalstreik am 22. März teil und der Armeechef verkündete, das Militär werde
auf Seiten der protestierenden Bevölkerung stehen. Das ist natürlich unrichtig
– die Freitagsdemonstrationen richten sich gegen das ganze herrschende System
aus OligarchInnen, ÖlmanagerInnen und Staatsapparat. Es zeigt aber, wie viel
Angst die Generalstreikforderung und die anhaltende Massenmobilisierung den Herrschenden
einjagt.

Die
Bewegung in Algerien ist ein Massenaufstand gegen ein System, das exemplarisch
für den kapitalistischen Imperialismus steht. Trotz der Weigerung der
Gewerkschaften und des Unvermögens der Linken, die Bewegung anzuführen, treiben
Jugendliche, ArbeiterInnen, Arme und unteres Kleinbürgertum den Kampf voran.
Mit ihren weitestgehend friedlichen Massendemonstrationen haben sie dem Regime
bereits Niederlagen zugefügt.

Gleichzeitig
fehlt eine Organisierung, die mehr als die Überwindung der himmelschreiendsten
Ungerechtigkeiten bringen kann. Die Gefahr besteht, dass die Bewegung wie in
Ägypten, Tunesien und Libyen in einem konterrevolutionären Rückschlag
vernichtet wird. Aber selbst wenn das nicht eintreten sollte, wird auch die
Einführung einer formaleren bürgerlichen Demokratie die Grundprobleme der
Bevölkerung nicht lösen. Für eine darüber hinausgehende Perspektive, in der die
Macht und der relative Reichtum im Land in den Händen der ArbeiterInnen liegt,
fehlt aber die Organisation, um sie umzusetzen. So eine Organisation zu
schaffen und den Aufstand nicht versanden zu lassen, ist heute die wichtigste
Aufgabe.

Die FLN

Die heute
herrschende FLN (Nationale Befreiungsfront) führte den Unabhängigkeitskampf
gegen Frankreich an, der 1962 gewonnen wurde. Davor begingen die BesatzerInnen
vor allem seit dem Erstarken der Bewegung ab 1945 brutale Massaker mit
insgesamt Hunderttausenden oder sogar mehr als einer Million Toten. Folter,
Massenhinrichtungen und das Zerstören ganzer Dörfer gehörten zur französischen
Strategie. Der Sieg gegen die UnterdrückerInnen war ein zentraler
antiimperialistischer Erfolg des 20. Jahrhunderts.

Gleichzeitig
etablierte sich der algerische bürgerliche Nationalismus als neue Herrschaft.
Die heldenhaft und aufopfernd Kämpfenden unter den algerischen ArbeiterInnen
und Armen fanden sich in einem nationalen Kompromiss und einer bürgerlichen
Herrschaft wieder. Die Rolle der Guerilla wurde hervorgehoben, die Arbeits- und
Straßenkämpfe wurden dagegen heruntergespielt.

Entwicklung
der Regimes

Dabei
hatten sie eine zentrale Rolle gespielt: Ab Mitte der 1950er Jahre
erschütterten eintägige Streiks die algerische Kolonie und das französische
Festland. 1955 besetzten Soldaten, die nicht gegen die algerische Bewegung
eingesetzt werden wollten, ihre Kaserne. Als die Polizei vorrückte, schlossen
sich mehrere Tausend ArbeiterInnen den Straßenkämpfen an. In Algerien waren es
vor allem HafenarbeiterInnen, deren Kämpfe bis hin zu einem gemeinsamen
Generalstreik mit tunesischen ArbeiterInnen 1956 eskalierten.

Leider
spielten linke Organisationen nicht immer eine rühmliche Rolle. Es waren
französische SozialdemokratInnen der alten SFIO (Französische Sektion der
ArbeiterInneninternationale, d. h. der II. Internationale) unter Guy Mollet,
die den terroristischen Ausnahmeberechtigungsakt, der Folter und Erschießungen
zur Folge hatte, durchsetzten. Die Französische Kommunistische Partei (PCF) und
die UdSSR unter Chruschtschow kooperierten mit de Gaulle in seinem verlogenen
„Selbstbestimmungsprozess“ ab 1959, dem noch 3 Jahre brutaler Krieg folgten.
Die Vierte Internationale unter Michel Pablo verharmloste derweil die
bürgerlich-nationalistische FLN-Regierung unter Ben Bella. Pablo trat ihr sogar
als Minister bei, statt eine unabhängige Organisation der ArbeiterInnen
aufzubauen und die Revolution voranzutreiben.

Nach
wenigen Jahren Unabhängigkeit gelang es der FLN-Fraktion um Houari Boumedienne
und der Nationalen Volksarmee ANP 1965, die Macht in einem Putsch an sich zu
reißen. Auf den Putsch folgte ein Ein-Parteien-Regime, ein korruptes Netz aus
Staatsapparat, Ölbranche und Militär.

Ab den
1980er Jahren zeigte der FLN-Nationalismus sein grausames Gesicht, als der
Widerstand der BerberInnen-Bevölkerung gegen die Unterdrückung ihrer nationalen
Identität brutal niedergeschlagen wurde. Ihnen wurden alle kulturellen
Veranstaltungen untersagt, der Anti-BerberInnen-Chauvinismus wurde zur
ideologischen Stütze des Regimes.

1988 kam es
zu einem Aufstand gegen die FLN, die unter dem Druck dieser Proteste Wahlen für
1991 ansetzte. Als sich ein Sieg der islamistischen „Islamischen Heilsfront“
FIS abzeichnete, wurden die Wahlen abgebrochen. Es kam zu einem blutigen
BürgerInnenkrieg zwischen FLN und FIS, in dem mehr als hunderttausend Menschen
starben. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die FLN selbst ab 1976
versuchte, den Islam in der Verfassung zu verankern, und damit die
islamistische Kanalisierung der Unzufriedenheit quasi vorprogrammierte.

Es war der
heutige Marionettenpräsident Bouteflika, 1999 vom Militär eingesetzt, der einen
Versöhnungsprozess anstieß und die FLN-Herrschaft stabilisierte. Ab 2002 führte
er umfassende Privatisierungen durch. Damit zerstreute er die Illusionen, die
auch manche Linke in den angeblichen „ArbeiterInnenstaat“ Algerien hegten, die
auf nichts mehr als ein paar Zugeständnissen an besonders gut organisierte
FabrikarbeiterInnen und einer staatskapitalistischen Industriepolitik
basierten. Nach ökonomischer oder demokratischer Kontrolle durch die
ArbeiterInnenklasse konnte unter der FLN lange gesucht werden.

Massive
Ungleichheit

In Algerien
besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung 80 % des Vermögens. Zum Vergleich:
In Österreich, nicht gerade einem Vorreiterland, was gleiche
Vermögensverteilung angeht, sind es etwas über 50 %. Vor allem die Renten aus
dem Öl- und Gasgeschäft, das etwas weniger als ein Drittel des
Bruttoinlandsprodukts ausmacht, gehen an die mit der FLN verbundenen Eliten.
Die Arbeitslosenrate liegt bei etwa 6 %, unter Jugendlichen bei fast 24 %.

Die
Unzufriedenheit nimmt derweil nicht ab. Seit dem Beginn der Proteste waren
Schätzungen zufolge 10-15 Millionen auf der Straße. In Algerien leben etwa 41
Millionen Menschen. Seit mehreren Wochen gibt es umfassende Bildungsstreiks.
Die Generalstreikwelle konnte ursprünglich mehrere Hunderttausende
mobilisieren. Auch die besonders privilegierten und speziell von Repression
betroffenen ArbeiterInnen der Ölindustrie legten die Arbeit nieder. Trotzdem
dürfte die Streikbewegung abschwellen, nicht zuletzt weil die
Gewerkschaftsbewegung ihre teilweise Loyalität zur FLN nicht abgelegt hat.

Die
Erfolge, auf denen eine algerische Revolution aufbauen könnte, sind ebenso
offensichtlich wie deren Hindernisse. Die ArbeiterInnenklasse hat ihre Macht
bewiesen und dürfte sich ihrer auch bewusst werden. Sie muss sie jetzt in
Organisationsformen unabhängig vom Regime gießen und die Gewerkschaften auf
einen radikalen Oppositionskurs zwingen. Eine Partei, die den Aufstand in die
Revolution übergehen lässt, kann ArbeiterInnen, Jugendliche und arme Bäuerinnen
und Bauern vereinen und die Macht erobern.

Gleichzeitig
werden in Algerien die Lehren der permanenten Revolution offensichtlich, die
Leo Trotzki als erster systematisch ausformuliert hat. Im Widerspruch zwischen
entwickelten kapitalistischen Klassenverhältnissen und Machtstrukturen abseits
der bürgerlichen Demokratie kann nur die ArbeiterInnenklasse die Aufgaben einer
bürgerlich-demokratischen Revolution durchführen. Sie muss sie aber, wenn sie
die demokratische Revolution mit der Macht in den Händen vollenden will, zur
sozialistischen Revolution weiterführen.

Permanente
Revolution

Das
bedeutet, dass die ArbeiterInnenklasse selbst demokratische Forderungen – nach
Organisationsfreiheit, Gleichheit von Mann und Frau, Selbstbestimmungsrecht für
nationale Minderheiten, Abschaffung des Präsidialsystems, Einberufung einer
verfassunggebenden Versammlung – aufstellen muss, um die Masse der
Lohnabhängigen, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, der städtischen und ländlichen
Armut für sich zu gewinnen. Doch selbst die demokratischste Konstituierende
Versammlung wird die Frage nicht lösen, welche Klasse herrscht. Daher müssen
RevolutionärInnen für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung
kämpfen, die sich auf Räte und bewaffnete Milizen stürzt. Der bürgerliche Staatsapparat
muss zerschlagen, die einfachen Soldaten für die Revolution und zur Bildung von
Soldatenräten gewonnen werden. Eine ArbeiterInnenregierung muss unmittelbar die
demokratischen und sozialen Forderungen der Massen durch ein Notprogramm zu
Linderung der Not und sozialen Ungleichheit angehen. Dies ist freilich nur
möglich durch die Enteigung der Superreichen und großen Unternehmen unter
ArbeiterInnenkontrolle und das Erstellen eines demokratischen Plans.

Die größte
Fallgrube ist hier die Allianz mit den Bürgerlichen und der Eliten, die sich
jetzt von Bouteflika abwenden, wo seine Niederlage glasklar geworden scheint.
Sie versuchen mit Wahlverschiebung und ähnlichen Manövern den Aufstand
versanden zu lassen.

Die Emeute
in Algerien zeigt: Eine Revolution im 21. Jahrhundert ist möglich. Sie ruft
aber auch die Fehler des 20. Jahrhunderts, die Kapitulation vor den
Bürgerlichen und die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse wieder in
Erinnerung. Es muss gelingen, aus den Niederlagen zu lernen und die objektiven
Möglichkeiten in zukünftige Siege umzuwandeln.