Von Wut zu Widerstand – Erfolgreiche Hausbesetzung im Stuttgarter Westen

Martin Eickhoff, Infomail 1047, 18. März 2019

Fast 4500 Stuttgarter Haushalte stehen auf der Warteliste
für eine Sozialwohnung – so viele wie noch nie und dreimal so viele wie
2007. Selbst nach Schätzungen der Stadt befinden sich rund 3000 Wohnungen im
Leerstand.

Gegen diese Missstände fand vor knapp einer Woche eine große
Demonstration im Stuttgarter Westen statt. Nach dieser zogen einzelne DemoteilnehmerInnen
weiter und besetzten ein Mehrfamilienhaus in der Forststraße 140. Das
dreistöckiges Backsteinhaus steht seit vielen Jahren, in einzelnen Wohnungen seit
über 10 Jahre komplett leer, was Zeitungen mit DM-Preisangabe belegten, die aus
den Briefkästen rausguckten. In Angesicht der bevorstehenden Kommunalwahlen und
aus Angst vor Ausschreitungen vermeintlicher „LinksextremistInnen“ hielten sich
bislang die Bullen und auch die PolitikerInnen im Stuttgarter Gemeinderat mit
Kritik zurück.

Unklar bleibt auch, warum die Stadt sich nicht auf das seit 2016
bestehende sogenannte Zweckentfremdungsverbot bezieht? Sie könnte, wenn sie
sich trauen würde, Bußgelder verhängen, wenn Eigentümer Wohnungen länger als
ein halbes Jahr leer stehen lassen. Doch offensichtlich hat die Stadt mehr
Hemmungen, sich mit Immobilienhaien anzulegen als mit verzweifelt Wohnraum
suchenden MieterInnen. Sogar eine Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ wäre
zulässig, hier würde ein Blick in das sonst immer hochgehaltene Grundgesetz
helfen.

Die HausbesetzerInnen machten jedoch auch deutlich, dass die Besetzung keinen symbolischen Charakter hat, sondern von Dauer sein soll, denn diese stellt klare Forderungen, wann die Aktion beendet würde. Darunter zählen unter anderem klare Aussagen darüber, wann genau mit der Sanierung des Hauses Forststraße 140 begonnen und wann diese abgeschlossen sein soll. Ebenso wollen sie verbindlich wissen, was „bezahlbarer Wohnraum“ heißen und wie hoch die Quadratmetermiete sein soll. Hierzu soll auf Druck der Stadt ein Gespräch mit dem unbekannten Besitzer, Oberbürgermeister Kuhn (Grüne) und mit den AktivistInnen auf Willen der Stadt stattfinden. Da sich der Besitzer scheinbar sich in buchstäblich „in die Hose scheißt“, sollen diese jedoch nicht öffentlich sein.

Gentrifizierung

Jedoch kaum tauchen auf einmal BesetzerInnen auf, stehen
plötzlich Renovierungen, Sanierungen, Verschönerungen und sogar
Aufstockungsarbeiten unmittelbar bevor. Auch sehr seltsam bleibt, dass
plötzlich eine, angeblich seit längerem geplante größere Umbauarbeiten anstehe.
Hierfür soll sogar schon eine Baugenehmigung erteilt worden sein, wozu sich das
städtische Bauamt bislang noch nicht geäußert hat. Scheinbar sollen schon im
April die Handwerker anrücken und es werden sogar für die Menschen bezahlbare
Mieten versprochen – was immer das heißen mag, denn in der Stuttgarter
Forststraße wurde vor kurzem einer MieterIn eine Mieterhöhung in Höhe von 136 %
angekündigt.

An einem Hausfest nahmen auch viele Menschen aus der
Nachbarschaft statt. Diese spendeten auch Lebensmittel, Bettdecken, Heizkörper
und vieles mehr. Teilweise fanden auch Liederabende schon im besetzten Haus
statt. Eine Genosse der Gruppe ArbeiterInnenmacht bot eine kostenlose
Sozialberatung für betroffene oder verängstigte Menschen an.

Inzwischen war auch der Stuttgarter Abgeordnete und
Bundesvorsitzende der Linken Bernd Riexinger vor Ort, schließlich stehen die
Gemeinderats- und Europawahlen stehen vor der Tür. „Diese Besetzung ist meiner
Meinung nach legitim und geschieht aus Notwehr der Betroffenen“, erklärte er.
Die Stadt Stuttgart sei trotz der immensen Wohnungskrise seit Jahren untätig.
Auch wenn er zu Recht der Stadt Untätigkeit vorwar, ist die Frage, was die
Partei Die Linke unternommen hat.

Klar ist, dass eine Hausbesetzung, wie jetzt in Stuttgart
letztlich „nur“ einen symbolischen Charakter hat und eine breite, in der
ArbeiterInnenklasse verankerte Massenbewegung notwendig ist, um Wohnraum für
alle Menschen zu erzwingen und im Interesse der Mehrheit der Menschen und gemäß
der Nachhaltigkeit umzubauen.

Daher ist die Forderung nach sofortiger und entschädigungsloser Enteignung aller Wohnungsbauunternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle von zentraler Bedeutung. Wer die Systemfrage nicht stellt, wird auch die Frage nach Wohnraum nicht lösen können. Der Widerstand darf sich nicht auf Stuttgart oder Berlin begrenzen, sondern muss bundesweit, ja international geführt werde. Um die Ohnmacht des/der Einzelnen zu überwinden, müssen wir uns massenhaft organisieren. Die Stuttgarter Großdemonstration gegen Mieterhöhungen in Stuttgart Immobilienspekulanten und untätigen PolitikerInnen am 6. April soll ein Schritt dazu werden.