SPD: Neubestimmung oder neue Illusionen?

Tobi Hansen, Infomail 1044, 1. März 2019

Die bürgerlichen Medien standen für die Regierungsparteien Spalier. Alle berichteten über die „Profilschärfung“ bei „Debattencamp“ und Vorstandsklausur der SPD. Bei der CDU heißt das „Werkstattgespräche“. Sozialdemokratie und Unionsparteien war es schließlich schon vor einiger Zeit „gelungen“, in den Meinungsumfragen gemeinsam unter die 50-Prozent-Marke zu sinken. Die SPD sackte an ihrem Tiefpunkt gar auf 12 oder 13 % ab – deutlich hinter die Grünen. Die Partei will nun Hartz IV „hinter sich lassen“ – Grund genug, dass am „Debattencamp“ Jubel ausbrach. Schließlich beschloss der Vorstand einstimmig das Papier „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ .

Bei der CDU hatte zwar die neue
Vorsitzende Kramp-Karrenbauer (AKK) die Anwesenden zunächst als SozialdemokratInnen
begrüßt. Nach diesem Lapsus wusste sie aber sehr wohl, was der mittlere und
obere Funktionärsstamm der Union hören wollte. Als Botschaft blieb übrig, dass
sich „ein 2015“ nicht wiederholen solle. Dies ist explizit nicht auf den
syrischen Bürgerkrieg gemünzt, sondern auf die Grenzöffnung der damaligen
Bundesregierung. Grenzen zu, Abschiebezentren, die „funktionieren“, und soziale
Auslese bei möglichen EinwanderInnen – das war die Botschaft für die CDU. Dort
fiel im Nachklang speziell der „Merz-Jünger“ Carsten Linnemann, Vorsitzender
der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT; „Mittelstandsunion“) der
CDU/CSU und deren Stellvertretender Fraktionschef, auf, welcher noch mehr
direkten staatlichen Rassismus einforderte.

Als Ergebnis stiegen beide
„GroKo“-Parteien in der WählerInnengunst. Glaubt man den aktuellen Umfragen,
könnten sie sogar wieder eine Mehrheit erreichen und die SPD holt gegenüber den
Grünen auf.

Im Chor der Hofberichtserstattung
wurde die „Profilschärfung“ allgemein begrüßt. Wenn die SPD wieder
sozialdemokratischer wäre und die CDU die innere Sicherheit vertreten würde,
könnte die AfD eingedämmt werden. Stabile demokratische Verhältnisse wären für
immer gesichert. „Vergessen“ wurde dabei, dass diese Parteien weiterhin
regieren, den Aufstieg der AfD wie auch den eigenen Niedergang zu verantworten
haben und die Probleme, die zu ständig neuen Regierungskrisen geführt haben,
nicht verschwinden werden.

Auch wenn die aktuellen Manöver
der Regierungsparteien Stabilität vortäuschen, bleibt ihr Zustand äußerst
fragil, doch zumindest scheint die Koalition bis zu den EU-Wahlen gesichert.
Die Fraktions- und Parteichefin der SPD, Nahles, feierte mit dem
Vorstandsbeschluss die programmatische „Erneuerung“. Somit herrschen auch in
der SPD erst mal „Burgfrieden“ und „Einigkeit“.

In beiden Regierungsparteien haben
sich die Vorstände zunächst durchgesetzt, die parteiinternen KritikerInnen
besänftigt und gezähmt. Speziell beim „Forum Demokratische Linke 21“ (DL21) in
der SPD erwuchs danach beinahe Begeisterung für die aktuelle Führung.

Bei allem Spott, der für diese
AkteurInnen nur allzu gerechtfertigt scheint, dürfen wir die aktuelle
Führungskrise des deutschen Imperialismus nicht vergessen. Inmitten der
globalen Spannungen erweist sich die EU als schwaches Glied innerhalb der
imperialistischen Ordnung. Die Führungsmächte Deutschland und Frankreich präsentieren
sich als Getriebene der inneren Widersprüche der Europäischen Union – nicht als
deren schlagkräftige Führung. Neben Brexit, italienischen Staatsschulden,
selbsternannten neuen FührerInnen des Volkes wird die deutsch-französische
Führung vor allem durch den aggressiven US-Imperialismus, aber auch den
Aufstieg Chinas herausgefordert.

In den aktuellen Handelskonflikten
finden Deutschland und Frankreich keinen gemeinsamen Handlungsauftrag für die
EU-Kommission. Zwar wollen beide Schutzzölle des US-Marktes möglichst
verhindern (z. B. gegen Autos, landwirtschaftliche Erzeugnisse),
allerdings strebt Deutschland einen umfassenden Vertrag an, z. B. eine
Neuauflage eines TTIP, während die französische Regierung dies derzeit ablehnt –
auch aus Furcht davor, dass dadurch die aktuellen Proteste gegen Macron
nochmals an Fahrt aufnehmen könnten.

Unter diesen Gesichtspunkten muss
auch der Versuch der Regierungsparteien betrachtet werden, sich zu
stabilisieren. Für die EU-Wahlen, die Zusammenstellung einer neuen Kommission
braucht der deutsche Imperialismus zumindest eine stabile politische
Vertretung.

Gleichzeitig sortieren sich die
Regierungsparteien neu sowohl für ein mögliches vorzeitiges Ende der GroKo wie
für die kommenden Europa-, Landtags- und Bundestagswahlen. Mit der aktuellen
„Profilschärfung“ versuchen beide, wieder mehr „Selbstständigkeit“ zu
suggerieren. Dies erklärt z. B. die aktuelle Gesetzesoffensive der SPD.

SPD – Erneuerung abgeschlossen?

Schon nach dem Debattencamp wurde
der Abschied von Hartz IV verkündet. Das Bürgergeld sollte dieses Kapitel für
die SPD beenden.

Hauptsächlich wird hier allerdings
inhaltliche Kosmetik betrieben. Dem aktuellen Vorstand scheint es sicher, dass
mit der Weiterführung von Hartz IV, „Agenda 2010“ und aktueller GroKo-Teilhabe
keine Wahlen mehr gewonnen werden können. Eine „soziale“ Neuorientierung soll
nun der SPD aus dem Dilemma helfen. Allerdings können wir keine konkreten
Forderungen erwarten. Nur hier und da scheint etwas Erkenntnis durch, was das
Hartz-IV-System angerichtet hat. So heißt es in „Ein neuer Sozialstaat für eine
neue Zeit“ auf Seite 14: „Das Bürgergeld wird Regelungen beinhalten, mit
denen speziellen Bedarfen und Härten begegnet werden kann, zum Beispiel für den
Fall, dass plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht und gleichzeitig die alte
Winterjacke aufgetragen ist.“

Hartz IV hat
Armut „produziert“, der angegliederte Niedriglohnbereich wird weiterhin
Generationen in die „Armutsrente“ schicken. Zehntausende wurden obdachlos,
Millionen mussten sich an der „Tafel“ anstellen, wurden sozial ausgegrenzt und
ausgeschlossen. Mit Winterjacken und Waschmaschinen sieht’s dann auch schlecht
aus. Das abgeschaffte System der Sozialhilfe kannte „Sondermittel“ für Dinge
des täglichen Bedarfs. Diese wurden abgeschafft durch Hartz IV – durch die SPD.
Wir erfahren in der Aneinanderreihung mancher sozialer Phrasen in dem Beschluss
auch nichts über konkrete Erhöhungen der Geldmittel. Anscheinend wird das
Bürgergeld in Höhe des Hartz-IV-Satzes bleiben – da bleiben Winterjacke und Waschmaschine
Illusion.

Die konkretesten
Maßnahmen sind bei zwei Sachverhalten geplant. Einmal sollen die Ersparnisse
aus dem Arbeitsleben beim Bürgergeld bis zu 2 Jahren geschont werden, während
sie bislang bei Hartz IV zuerst aufgebraucht werden mussten. Des Weiteren soll
das Sanktionsregime zumindest verändert werden. Dazu wird folgendes formuliert:

„Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen gehören
abgeschafft. Die strengeren Sanktionen von unter 25-Jährigen sind sogar
offenkundig kontraproduktiv. Auch darf niemand wegen Sanktionen Angst haben,
obdachlos zu werden, daher wollen wir die Kürzung der Wohnkosten abschaffen.
Eine komplette Streichung von Leistungen soll es nicht mehr geben.“

Es
bleibt wohl das Geheimnis der SPD, was unter einer „sinnvollen“ oder gar
„würdigen“ Sanktion zu verstehen ist – von einer Komplettabschaffung des
aktuellen Regimes ist jedenfalls nicht die Rede.

Wir
wollen außerdem daran erinnern, dass einer sechsstelligen Zahl von
EmpfängerInnen die „Leistungen“ komplett gestrichen wurden und Millionen
Teilkürzungen hinnehmen mussten, dass sicherlich eine fünfstellige Zahl in den
15 Jahren durch das Hartz-IV-Regime obdachlos wurde, dass viele unter 25-Jährige
Schikanen erlebt haben und vor allem in den Niedriglohnbereich gehetzt wurden.
Unerwähnt bleibt auch die „voraussetzende“ Kürzung von ALG 1 und Hartz IV. Wer
sich nämlich nicht rechtzeitig gemeldet hatte, wird von der Arge mit 3 Monaten
kompletter Sperre bestraft.

Vor
allem vergisst die SPD, dass die entwürdigenden Sanktionen keinen Betriebsunfall
der rot-grünen „Reformen“ darstellen, sondern ein unerlässliches Mittel zum
Zweck – die Schaffung eines Niedriglohnsektors von Millionen und Abermillionen
Menschen, um das deutsche Kapital richtig konkurrenzfähig zu machen.

Die
zwangsmäßige Beschäftigung in Leih- und Zeitarbeit stellt nicht zufällig die
hauptsächliche „Sanktion“ gegen die Arbeitslosen dar. Hiermit wurde
festgeschrieben, dass die Ware Arbeitskraft eben nicht bestmöglich qualifiziert
wurde, sondern möglichst billig verkauft werden musste. Dass der SPD nach 15
Jahren auffällt, dass die strengeren Sanktionen und Vorschriften für unter 25-Jährige
sogar „offenkundig“ kontraproduktiv sein könnten, stellte eine kaum
überbietbare  Heuchelei und Verhöhnung
ebendieser Jugendlich dar. Besonders jugendliche MigrantInnen waren und sind einer
massiven Hetze ausgesetzt. Sie wären zu dumm, zu faul, um zu arbeiten. Daher
galten für sie besonders scharfe Vorschriften zur „Wiedereingliederung“ in den
Arbeitsmarkt.

Nach
mehreren Jobs in der Leih- und Zeitarbeit sehen viele jüngere Menschen keine
Perspektive in diesem System der Lohnarbeit. Da gleichzeitig das Klagen über
den „Fachkräftemangel“ quartalsweise auftaucht, muss sich wahrscheinlich sogar
ein SPD-Vorstand fragen, ob nicht eine „Korrektur“ nötig wäre, ob nicht
Qualifikation vor der Hilfsarbeit stehen sollte.

Welche
Sanktionen „sinnwidrig und unwürdig“ sind, lässt die SPD offen. Immerhin stellt
sie fest, dass es eine komplette Streichung der „Leistungen“ nicht mehr geben
soll. Ansonsten warten wir brav auf das Bundesverfassungsgericht. Dies will „in
einigen Monaten“ eine Entscheidung fällen. Stellen wir uns vor, dass vor den
drei ostdeutschen Landtagswahlen das Sanktionsregime insgesamt für
verfassungswidrig erklärt wird (höchst unwahrscheinlich, wahrscheinlich aber,
dass z. B. die komplette Streichung der Mittel fällt), wird die SPD ihren
„neuen Sozialstaat“ vielleicht wieder reformieren müssen.

Mit
ihrem Beschluss tut die SPD-Führung so, als ob sie einen ungerechten Zustand
beenden will, endlich wieder mehr Respekt und Teilhabe gegenüber den
Arbeitslosen einfordert. Sie stellt fest, dass dieses System nicht zu „besserer
Arbeit“ geführt hat. Aber sie verliert auch kein Wort darüber, warum es eine
SPD-geführte Regierung gegen den Widerstand einer Massenbewegung der
Arbeitslosen durchsetzte.

Vielmehr
entblödeten sich VertreterInnen der damaligen Führung nicht, gegen die aktuelle
SPD-Spitze, speziell gegen Nahles, zu poltern. Die SPD müsse aufpassen, dass
sie nicht zur Linkspartei mutiere und Nahles tauge nicht zur Kanzlerkandidatin.
Ihr fehle, ließ der Agenda-Kanzler Schröder ausrichten, der große ökonomische
Sachverstand. In der aktuellen Lage begeisterten sich freilich nur wenige für
die Ratschläge des Ex-Kanzlers. Ja, solche Querschläge nutzten dem Ansehen der
SPD-Spitze bei Mitgliedern wie WählerInnen eher, als ihr zu schaden.

So
wissen wir zumindest, dass die aktuelle Führung relativ „stabil“ ist. Die sog.
„Parteilinke“ applaudiert und stellt ihren kaum vorhandenen Widerstand gegen
den Vorstand wieder ein.

Und
die Mindestrente kommt auch noch

Nach
Jahren der Rentenkürzung, der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, der Agenda
2010, der Ausweitung des Niedriglohnbereichs, der Pfändung der Vermögen von
Arbeitslosen will die SPD nun eine Mindestrente einführen. Von mindestens 950
Euro ist die Rede. Diese soll als „AufstockerInnen“-Rente vor allem den sog.
ArmutsrentnerInnen zugutekommen – inzwischen rund 20 Prozent aller
RuheständlerInnen.

Die
SPD veranschlagt die Zusatzkosten auf rund 5 Mrd. Euro pro Jahr, die Union auf
15. Finanzierbar wäre dies allemal. Mit der großen Koalition wird es aber
selbst das SPD-Modell nicht geben. Die bürgerlichen Medien rechnen schon jetzt
vor, wie der SPD-Vorschlag missbraucht werden könne.  Dafür soll das Beispiel „Zahnarztgattin“ herhalten. Diese
wäre nicht nur durch die Rente des Mannes abgesichert, sondern hätte auch noch
Anspruch auch eine Mindestrente. Mit solchen Tricks soll selbst das ohnedies
bescheidene SPD-Modell madig gemacht werden, würden doch in Wirklichkeit nach
wie vor Millionen RentnerInnen, die keine 35 Jahre Beiträge zahlen konnten,
leer ausgehen.

Viele
der Medien sprachen von einem „Linksschwenk“ der aktuellen Führung. Manche
versuchten, dies zusammen mit der alten Spitze als Bedrohung darzustellen. Der Rest
verortete dies als „Profilschärfung“, welche vor allem bei künftigen Wahlen
helfen könnte.

In
jedem Fall feiert die SPD ihre neue gewonnene „Einigkeit. Die interne
Auseinandersetzung wurde – vorerst – beendet Die „Partei-Linke“ sammelt sich
hinter dem Beschluss des Vorstands. Dies gibt dem auch freie Hand zum einen, um
in der Regierung jeden Tag gegen die gefassten Beschlüsse zu verstoßen, zum
anderen, um die somit „links blinkende“ SPD wieder als Regierungsoption
prozentual aufzuwerten und Hoffungen in einen „Politikwechsel“ und „Mehrheiten
jenseits der Union“ wieder zum Leben zu erwecken.

Verbliebene
„Linke“ wie Simone Lange, welche bei „Aufstehen“ mitmischt, sollten zwar
wissen, was ein Vorstandsbeschluss wert ist, wenn zugleich die Große Koalition fortgesetzt
wird – das ändert aber nichts daran, dass auch sie wieder stärker auf die SPD
orientieren werden.

Das
Entscheidende am Vorstandbeschluss besteht freilich nicht in der offenkundigen
Widersprüchlichkeit zwischen leichtem Blinken nach „links“ und der Fortsetzung
der GroKo. Es liegt vielmehr darin, dass er auch die Handschrift der
Gewerkschaftsbürokratie trägt – bis hin in einzelne Begriffe zur
Qualifizierung, „Zukunft der Arbeit“ usw. usf. Die SPD-Spitze bereitet sich
also nicht nur auf die Zeit nach der GroKo vor, sondern suchte in diesem
Zusammenhang offenkundig auch den Schulterschluss mit der betrieblichen und
gewerkschaftlichen ArbeiterInnenbürokratie.

Umsetzen?

Die
SPD hat sich mit den Beschlüssen einen Notausgang für die GroKo aufgebaut.
Daher versucht sie, sich auch mit sozialen Forderungen verlorengegangene „Glaubwürdigkeit“
zurückzuholen – auch wenn sie natürlich weiß, dass sie jeden Tag in der GroKo
diese untergraben muss. Die „Lösung“ besteht einerseits darin, in der Koalition
so zu tun, als würde sie dafür eintreten oder gar „kämpfen“. Andererseits
werden die Zukunftsvorstellungen bewusst vage gehalten, um nicht durch allzu
konkrete Formulierungen von Mitgliedschaft oder WählerInnen auf konkrete
Versprechen festgenagelt werden zu können.

Die
Linkspartei macht sich zugleich Sorgen darüber, ob ihr die SPD mögliche
WählerInnen abspenstig machen könnte. Schließlich liegen die beiden Parteien in
der Regierungspraxis  auf
Länderebene – siehe Berlin, Brandenburg, Thüringen – näher beieinander, als der
Linkspartei lieb sein kann.

Was
jedoch die Linkspartei und erst recht die SPD-Linke oder die Gewerkschaften
unterlassen, ist Folgendes: Sie fordern von der SPD nicht einmal ein, jetzt für
ihre Verbesserungsvorschläge zu mobilisieren, sie fordern von ihr keinen Bruch
der Großen Koalition oder die Unterstützung für die Forderungen der
Gewerkschaften im öffentlichen Dienst. Kein Wunder, denn dort verhandeln
SPDlerInnen schließlich für die Arbeiter„geber“Innenseite.

Eine
solche klare Positionierung wäre aber nötig. Dafür müssen linke SPDlerInnen,
SPD-Gewerkschaftsmitglieder und die Jusos mobilisieren. Ansonsten setzten sie
bloß ihre unrühmliche Politik der letzten Monate als linke Flankendeckung einer
SPD-Spitze fort.